Patrick M. Lencioni

Die 3 Tugenden idealer Teamplayer

 

Aus dem Englischen von Andreas Schieberle

WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA

 

 

 

Gewidmet Tracy Noble,

die mich beim Schreiben dieses Buchs angeleitet hat und

jeden Tag bescheiden, hungrig und smart lebt.

Einleitung

Wenn ich eine Liste mit den wertvollsten Eigenschaften aufzustellen hätte, die eine Person entwickeln sollte, wenn sie in der Arbeitswelt – und genauso in ihrem Privatleben – vorankommen will, dann würde ich die Eigenschaft, Teamplayer zu sein, an die Spitze stellen. Die Fähigkeit, mit anderen effektiv zusammenzuarbeiten und in der Dynamik einer Gruppenunternehmung Werte beizusteuern, ist in der sich schnell verändernden heutigen Welt entscheidender denn je zuvor. Wenige Menschen haben ohne diese Qualität Erfolg in Arbeitswelt, Familie oder anderen sozialen Kontexten.

Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen dem zustimmen würden; umso überraschender ist es allerdings, dass gute Teamplayer so selten sind. Ich denke, das Problem ist, dass es keine echte Definition dafür gibt, was einen guten Teamplayer ausmacht; dadurch bleibt die Idee ein wenig vage, wenn nicht gar schwammig.

Das ist nicht ganz unähnlich wie beim Teamwork selbst, für das es nach wie vor eher Lippenbekenntnisse als praktische Bemühungen gibt. In Die 5 Dysfunktionen eines Teams habe ich erklärt, dass echtes Teamwork greifbare, spezifische Verhaltensweisen voraussetzt: ein Vertrauen, das auf Verletzlichkeit basiert; gesunde Konflikte; aktives Engagement; Verantwortung von Kollege zu Kollege; und eine Konzentration auf die Ergebnisse. Mit ausreichend Coaching, Geduld und Zeit können die meisten Menschen glücklicherweise lernen, diese Ideen umzusetzen.

Allerdings muss ich zugeben, dass manche Menschen besser darin sind als andere, Teamplayer zu sein und diese fünf Verhaltensweisen umzusetzen. Das sind sie nun aber nicht von Geburt an, sondern sie haben durch Lebenserfahrung, Berufsleben oder echtes Engagement für die eigene persönliche Entwicklung die drei Grundeigenschaften erworben, die sie zu idealen Teamplayern machen: Sie sind bescheiden, hungrig und smart. Diese drei Wörter mögen einfach klingen, allerdings ist keine dieser drei Eigenschaften genau das, was sie zu sein scheint. Ein Verständnis der Bedeutungsnuancen ist aber entscheidend für die effektive Nutzung dieser Eigenschaften.

In den bisher zwanzig Jahren meiner Zusammenarbeit mit Führungskräften und ihren Teams habe ich immer wieder gesehen, dass es schwieriger als nötig, manchmal sogar unmöglich ist, ein zusammenhaltendes Team aufzubauen, wenn einem Teammitglied eine oder mehrere dieser drei Eigenschaften fehlen. Wir verwenden dieses Prinzip für Einstellungen und Menschenführung bei The Table Group seit unserer Gründung im Jahr 1997, und es hat sich als bemerkenswert aussagekräftig für die Vorhersage von Erfolgen ebenso wie für das Erklären von Scheitern erwiesen. Aus diesem Grunde sind wir zu dem Schluss gelangt, dass diese drei scheinbar naheliegenden Eigenschaften für Teamwork dasselbe bedeuten wie Schnelligkeit, Kraft und Koordination im Sport: Sie machen alles leichter.

Die Konsequenzen sind unbestreitbar. Führungskräfte, die in der Lage sind, Mitarbeiter zu erkennen, einzustellen und zu fördern, die bescheiden, hungrig und smart sind, haben echte Vorteile gegenüber solchen, die das nicht können. Sie sind imstande, viel schneller und leichter starke Teams zu bilden, und sie verringern erheblich die schmerzlichen und spürbaren Kosten, die durch Probleme mit Taktieren, Fluktuation und Arbeitsmoral verursacht werden. Und Mitarbeiter, die diese Eigenschaften aufweisen, machen sich ihrerseits für jeden Betrieb, der auf Teamarbeit Wert legt, wertvoller und interessanter.

Dieses Büchlein soll Ihnen helfen zu verstehen, wie die schwer fassbare Kombination dieser drei einfachen Attribute die Verwirklichung von Teamwork in Ihrem Unternehmen oder Ihrem Leben beschleunigen kann, sodass Sie die außerordentlichen Vorteile, die Teamwork mit sich bringt, effektiver erreichen können.

Ich hoffe, dass es Ihnen gute Dienste leistet.

DIE GESCHICHTE


1. Teil:
DIE SITUATION


Es reicht

Nach zwanzig Jahren Arbeit im Silicon Valley hatte Jeff Shanley das Gefühl, dass es allmählich genug sei. Die langen Arbeitszeiten. Der viele Verkehr. Die ganze Großspurigkeit. Es war an der Zeit, etwas Neues anzufangen.

Fairerweise muss gesagt werden, dass es keineswegs die Arbeit war, von der Jeff genug hatte. Er hatte eine interessante und erfolgreiche Laufbahn hinter sich. Nach einigen Jobs im Hightech-Marketing hatte er mit 35 ein Technology-Start-up mitgegründet. Zwei Jahre später hatte er das Glück gehabt, in die zweite Reihe zurückversetzt zu werden, nachdem der Vorstand beschlossen hatte, »einen richtigen und erfahrenen CEO« zu berufen, wie er sich ausdrückte. In den anschließenden vier Jahren hatte dieser CEO, Kathryn Petersen, Jeff mehr über Menschenführung, Teamwork und das Geschäftsleben beigebracht, als er in einem Jahrzehnt an der Uni hätte lernen können.

Als Kathryn dann in den Ruhestand ging, verließ auch Jeff das Unternehmen und arbeitete die nächsten Jahre in einer kleinen Consulting-Firma in Half Moon Bay, das vom Silicon Valley aus gesehen einmal über den Berg lag. Jeff wurde dort bald zur Stütze des Betriebs und stand kurz davor, zum Partner berufen zu werden. Allerdings waren Jeff und seine Frau in dieser Zeit das Prestigeduell mit ihren Nachbarn leid geworden, die in dem überteuerten Bungalow nebenan wohnten.

Jeff war definitiv reif für einen Tapetenwechsel. Wohin er gehen sollte und was er dort machen würde war noch eine offene Frage. Dass ihm ein Telefonanruf seines Onkels Bob die Antwort liefern würde, damit hatte er mit Sicherheit nicht gerechnet.

Bob

Robert Shanley war schon seit drei Jahrzehnten der prominenteste und vielseitigste Bauunternehmer im ganzen Napa Valley. Ob es nun eine Weinkellerei war, eine Schule oder ein Einkaufszentraum – wenn im Napa Valley gebaut wurde, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Valley Builders (VB) in nennenswerter Form beteiligt waren.

Zu Bobs Kummer war aber leider keines seiner Kinder daran interessiert, das Familienunternehmen später einmal weiterzuführen; sie wollten lieber Gastronom, Börsenmakler und Lehrer werden. Und so war Bob auf die Idee gekommen, seinen Neffen anzurufen, ob er vielleicht jemanden wüsste, der in der Lage wäre, das Unternehmen zu führen, wenn Bob selbst sich in ein paar Jahren zur Ruhe setzen würde.

Es war nicht das erste Mal, dass sich Bob seinen Neffen um Rat fragte. Jeff hatte ihm schon bei einigen Gelegenheiten weiterhelfen können und hatte sogar vor einem Jahr das Managementteam in einem großen Projekt zum Thema Teamwork beraten – Teamwork war eine der großen Stärken des Unternehmens. Jeff hatte seine Bemühungen damals darauf konzentriert, auf der höchsten betrieblichen Ebene effektivere Teams zu schaffen.

Bob hielt große Stücke auf Jeffs Arbeit und gab bei Familientreffen gern mit seinem Neffen an, von dem er sagte: »Dieser Junge ist mein bester Berater!« Seine Cousins pflegten Jeff dann aufzuziehen und so zu tun, als ginge ihnen diese Begünstigung durch ihren Vater gegen den Strich.

Bob hatte eine so hohe Meinung von Jeff, dass er nie auch nur auf die Idee gekommen wäre, sein ehrgeiziger Neffe aus der aufregenden Hightech-Welt könnte sich auch nur im Geringsten für das Bauwesen interessieren. Und so war er auch völlig überrascht, als Jeff ihn nun fragte: »Könntest du dir da auch jemand Branchenfremdes vorstellen? Jemanden wie mich zum Beispiel?«

Übergangszeit

Binnen eines Monats hatten Jeff und Maurine Shanley ihr kleines Haus in San Mateo verkauft und waren mit ihren zwei Kindern und ihrem Hund ans nördliche Ende von Napa gezogen (der Stadt Napa, nicht des Napa Valley selbst). Von da aus hatte Jeff bis zu seinem neuen Büro bei VB nur gut sechs Kilometer zu fahren, und selbst bei genauester Einhaltung aller Geschwindigkeitsbeschränkungen war er in weniger als sieben Minuten da.

In diesen wenigen Minuten überkam Jeff zu Beginn allerdings immer ein gewisses Gefühl der Reue. Auf der familiären Seite war mit der Entscheidung zwar alles glattgelaufen, aber es erwies sich doch als eine größere Herausforderung als erwartet, sich mit den Feinheiten der Bauindustrie vertraut zu machen. Oder besser gesagt mit dem Fehlen solcher Feinheiten.

Denn im Bauwesen schien absolut alles mit physischen, materiellen Dingen zu tun zu haben. Da gab es keine Theoriedebatten, und es wurden auch keine Luftschlösser gebaut. Stattdessen lernte Jeff nun alles über praktische Themen wie Klimaanlagen, Bauholz oder Beton.

Aber bald fand Jeff sich mit seiner neuen Arbeitswelt nicht nur ab, sondern lernte ihre Vorzüge durchaus schätzen. So waren solche rein sachbezogenen Gespräche über greifbare Dinge zwar sicher weniger hochtrabend als Gespräche über Hightech-Themen, aber sie waren auch befriedigender. Und er lernte weit mehr, als er sich hatte vorstellen können, von seinem Onkel, der zwar nie ein Studium abgeschlossen hatte, aber dennoch mehr vom Geschäft verstand als viele der CEOs, mit denen Jeff im Technology-Sektor zusammengearbeitet hatte.

Nach acht Wochen des Beobachtens und Lernens war Jeff dann zu dem Schluss gekommen, dass der Umzug nach Napa doch das Richtige gewesen sei und dass er den Stress des Silicon Valley nun endgültig hinter sich gelassen hätte.

Da hatte er sich allerdings getäuscht.

2. Teil:
DIAGNOSE


Einarbeitung

Bob Shanley war nicht der Typ, der auf Sicherheit bedacht war, und das war auch einer der Gründe, warum seine Firma so gut lief. Er war beim Aufbau des Unternehmens entschlossen und kühn vorgegangen, wo andere lieber auf Nummer sicher gehen. Abgesehen von den gelegentlichen unvermeidlichen wirtschaftlichen Rückschlägen hatten Bobs Entscheidungen dem Unternehmen meist beträchtlichen langfristigen Nutzen gebracht.

Die Firma hatte mehr als 200 Mitarbeiter und war damit einer der großen Arbeitgeber der Region. Diese Mitarbeiter, vom einfachen Bauarbeiter bis zum ausgebildeten Bauingenieur, wurden durchweg gut bezahlt und erhielten auch – was Bob besonders wichtig war – großzügige Leistungsprämien. Auch wenn diese Bonuszahlungen von Jahr zu Jahr schwankten, abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in der Region und von Bobs eigenem Geschäftserfolg, fühlte sich bei Valley Builders niemand unterbezahlt.

Die Mitarbeiter waren nicht die Einzigen, die vom finanziellen Erfolg von VB abhängig waren. Eine kleine Gruppe von Familienangehörigen, die Bob seine »Privataktionäre« nannte, war an der Firma finanziell beteiligt. Dabei handelte es sich um Bobs Frau und Kinder sowie einige seiner Geschwister, die ihm vor mehr als 30 Jahren bei der Gründung des Unternehmens geholfen hatten. Zu diesen Geschwistern zählte auch Jeffs Vater, der in seinem Ruhestand auf dieses Zusatzeinkommen baute.

In seinen ersten Monaten im neuen Job konzentrierte sich Jeff nahezu ausschließlich darauf, das Baugeschäft gründlich kennenzulernen. Dabei ging es in erster Linie ums taktische und finanzielle Tagesgeschäft, von Materialeinkauf über Terminplanung und Genehmigungen bis hin zu den Arbeitskosten. In die längerfristigen, strategischen Fragen zur finanziellen Gesundheit des Gesamtunternehmens und zur Entwicklung von Neugeschäft wollte Bob Jeff erst in ein paar Monaten einweihen. Jeff stellte natürlich ein paar Fragen zu diesen Themen, aber im Übrigen versicherte ihm Bob, dass er sich zu diesem Bereich des Geschäfts mit Jeff zusammensetzen würde, sobald sein Neffe erst einmal mit dem kleinen Einmaleins des Baugeschäfts vertraut wäre.

Jeff hatte keine Ahnung, wie bald dieser Tag kommen und was für einen Schock das Gespräch bedeuten würde. Bob übrigens auch nicht.

Eröffnung

Als sie zum Lunch in einem guten Grillrestaurant am Napa River Platz genommen hatten, kam Bob direkt auf den Punkt:

»Es geht um Folgendes. Ich bin unglaublich froh, dass ich dich an Bord geholt habe. Du bist schon jetzt ein Segen für mich und das Geschäft.«

Jeff freute sich über dieses Kompliment fast noch mehr als über alle Komplimente, die er in seiner bisherigen Karriere schon gehört hatte, wahrscheinlich weil es von einem Familienmitglied kam. Aber er spürte auch, dass sein Onkel noch mehr zu sagen hatte.

»Ich werde auch kein Jahr mehr warten, bis ich dir das Geschäft übergebe. Wir machen das jetzt sofort.«

Jeff, von dieser Ankündigung völlig unvorbereitet getroffen, versuchte abzuwiegeln: »Aber jetzt mal langsam! Ich denke doch, wir sollten nicht voreilig …«

Lächelnd winkte Bob ab: »Fang jetzt nicht an mir zu erzählen, dass du noch nicht so weit bist. Das weiß ich selber.«

Jetzt war Jeff doch ein wenig verwundert.

»Ich will gar nicht, dass du so weit bist, Jeff! Ich will, dass du aufgeregt bist. Und ein bisschen nervös. Das ist gut für dich.«

Irgendwie hatte Jeff das Gefühl, dass es seinem Onkel nicht gut ging: »Hm, ich denke, dass ich auch in sechs Monaten noch genügend aufgeregt und nervös sein werde. Warum warten wir denn nicht einfach, bis …«

»Weil wir das nicht können«, unterbrach ihn Bob erneut, diesmal in weit ernsterem Ton. Er hatte zu kämpfen, bis er den nächsten Satz herausbekam. »Jeff, mein Arzt hat mir gesagt, dass mein Herz in ganz schlechtem Zustand ist. Die Art von Zustand, die nicht von alleine besser wird. Ich verstehe zwar nicht die Hälfte von dem, was der Doktor mir gesagt hat. Irgendwas von Ischämie und Angina Pectoris. Aber was ich verstanden habe, ist, dass ich eine Operation brauche und dass ich mein Leben ändern muss. Und zwar sofort.«

Ausgerechnet in diesem Moment kam die Kellnerin, um die Bestellungen aufzunehmen. Bob hatte sich sofort wieder im Griff und bestellte einen Salat ohne Dressing und ein Glas Wasser. Und ermahnte Jeff augenzwinkernd:

»Aber du bestellst dir die Rippchen! Sonst trete ich dich hier vor allen Leuten in den Hintern.«

Jeff lachte und bestellte sich die Rippchen. Als die Kellnerin gegangen war, stellte er Bob die große Frage: »Kommst du denn wieder ganz in Ordnung?«

»Wenn die Operation gut verläuft und ich alles tue, was der Arzt mir sagt, müsste es mir danach wieder gut gehen. Aber das wird alles schwer für mich. Und deswegen muss ich mich auch sofort aus dem Geschäft zurückziehen.« Bob machte eine Pause. »Ich kann es kaum glauben, dass ich das sage. Ich nehme an, ich bin immer noch geschockt, dass ich nächste Woche nicht mehr dabei sein werde. Aber es muss sein, halbe Sachen sind nicht mein Ding.«

»Wann ist die OP?«

»Morgen in einer Woche, es sei denn, sie können mich noch früher dazwischenschieben.«

Jeff fehlten die Worte.

Auch wenn Bob wie üblich Zuversicht und Humor an den Tag legte, war er doch sichtlich besorgt:

»Ganz ehrlich, Jeff, ich wüsste nicht, was wir jetzt machen sollten, wenn wir dich nicht hätten.«

Jeff nickte. Er freute sich über das Vertrauen, aber ganz und gar nicht über den Kontext. Und dieser Kontext sollte noch weit schlimmer werden.

Ein Unglück kommt selten allein

Jeff entschloss sich, nach weiteren Details zu fragen. »Tja, das tue ich jetzt zwar nicht gerne, aber ich denke, dann wäre es wohl an der Zeit, dass wir mal über die Bilanz und die langfristige Finanzsituation des Unternehmens reden.«

Bob lächelte ein wenig verlegen und griff nach seiner Computertasche. »Ich denke, ich habe hier im Großen und Ganzen alles dabei, was du brauchst.«

Da er seinen Onkel gut kannte, bekam Jeff jetzt erstmals das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Er sondierte weiter: »Nach allem, was ich bisher gesehen habe, nehme ich ja an, das Unternehmen ist ganz gut aufgestellt.« Es kam eher wie eine Frage heraus als wie eine Feststellung.

Bob lächelte, und zwar genau so, wie er lächelte, wenn er den Kindern im Schwimmbad versicherte, er werde sie natürlich nicht am tiefen Ende ins Wasser schubsen, bevor er es doch tat: »Absolut.« Er klang nicht überzeugt. »Aber ich muss mit dir auch über ein paar neue Herausforderungen und Chancen reden.«

Trotz aller Besorgtheit musste Jeff jetzt doch lachen: »Also ich finde, das hört sich nicht besonders gut an!«

»Ach, du kommst schon klar! Das sind alles Dinge, die in der Branche eben so laufen.«

Die Kellnerin brachte Jeffs Bier und Bobs Wasser.

»Und über was für Herausforderungen und Chancen reden wir hier?«, fragte Jeff.

Bob hörte auf, in seiner Tasche zu kramen, und sah Jeff mit einem eigenartigen Blick an, in dem ebenso viel Aufregung wie Sorge lagen.

»Jeff, wir haben gerade zwei Großprojekte an Land gezogen!«

Er machte eine kleine Pause, damit sein Neffe die Information verdauen konnte, dann fuhr er fort:

»Das ist total spannend. Das Projekt Queen of the Valley Hospital, von dem ich dir vor ein paar Wochen erzählt habe, ist seit Montag spruchreif, und gestern Morgen habe ich den Vertrag für das neue Hotelprojekt in St. Helena unterzeichnet.« Er machte eine Pause und versuchte, ein breites Lächeln aufzusetzen. »Wir bauen alle beide!«

Jeff war etwas durcheinander: »Und das ist gut, ja?«

»Das ist fantastisch!«, antwortete Bob in einem Tonfall, der allerdings nicht ganz so fantastisch klang.

»Wann hatten wir denn das letzte Mal zwei solche Projekte gleichzeitig in unseren Büchern?«, erkundigte sich Jeff, mehr als nur ein bisschen neugierig.

Bob zögerte, schaute auf sein Wasserglas und blickte dann wieder auf: »Das ist der Punkt. Zwei solche Großprojekte hatten wir noch nie gleichzeitig.« Er machte eine Pause. »Genau genommen gehört jedes für sich zu den größten Projekten, die wir je hatten.«

Jede Andeutung eines Lächelns war nun aus Jeffs Gesicht verschwunden. Dabei hatte er das Schlimmste noch gar nicht gehört.

Vertraglich verpflichtet

Jeff atmete einmal tief durch: »Tja, Bob, ich weiß, das wirst du jetzt nicht gerne hören, und ich will dir natürlich auch auf keinen Fall Stress machen. Aber wäre es nicht in dieser Situation einfach erforderlich, dass wir uns dann nur auf eines der beiden Projekte konzentrieren und das andere fallen lassen? Ich meine, das Ganze klingt ja so, als wäre es schon eine echte Herausforderung, wenn du selbst am Ruder wärst. Aber mit mir als neuem und unerfahrenem CEO ist das doch der sichere Weg in die Katastrophe!«

Bob nickte und trank einen Schluck Wasser. »Verstehe.«

Jeff wäre jetzt gern erleichtert gewesen, aber irgendwie hatte er das sichere Gefühl, dass da gleich noch ein Aber nachkommen würde. Und er hatte recht.

Sein Onkel lächelte jetzt nicht mehr, sondern verzog das Gesicht und erklärte: »Es ist nur so, dass wir aufgrund der Vertragsbestimmungen einen großen Haufen Kapital verlieren werden, wenn wir bei dem Krankenhausgeschäft einen Rückzieher machen. Und für das Hotel haben wir schon eine erste Anzahlung erhalten, die bereits teilweise in die Fertigstellung des Einkaufszentrums in Oak Ridge geflossen ist.«

Jeff wurde es plötzlich ganz heiß. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Es geht hier also um eine Cashflow-Geschichte? Und das Ganze ist zu groß, als dass wir da wieder rauskämen?«

Bob nickte: »Allerdings. Das wäre das K. o. für die Firma.« Aber dann kehrte sein Lächeln wieder zurück: »Aber sobald die Projekte einmal laufen, sind wir in puncto Cash wieder im grünen Bereich!«

Jeff hatte auf einmal keine ganz so hohe Meinung mehr von seinem Onkel.

Bob versuchte ihn aufzumuntern. »Du schaffst das schon, Jeff! Du bist klüger als ich. Du bist jünger als ich. Und du hast jede Menge Hilfe.«

Jeffs Tonfall änderte sich: »Wann war das eigentlich alles?« Er klang jetzt ein wenig anklagend.

»Ja, wie gesagt, der Hotel-Abschluss war gestern, und das mit dem Krankenhaus ist endgültig …«

»Nein, ich meine mit dem Arzt«, unterbrach ihn Jeff.

Bob schaute verdutzt: »Na, das war gestern Nachmittag. Es sollte eigentlich nur eine kleine vorsorgliche Untersuchung sein, weil ich in der letzten Zeit ein wenig Schmerzen hatte …« Er bekam große Augen, als ihm plötzlich aufging, worauf Jeff hinauswollte: »Du glaubst doch nicht etwa, ich hätte das alles schon lange gewusst und wollte dich reinlegen, Jeff? Das würde ich dir doch nie im Leben antun!«

Bob klang jetzt, als kämen ihm gleich die Tränen: »Wenn ich vorher gewusst hätte, dass ich den Laden aufgeben muss, dann hätte ich diese Projekte doch niemals abgeschlossen und dich in dieses Dilemma gebracht!«

Jetzt fühlte sich Jeff ganz schrecklich, weil er seinem Onkel so misstraut hatte, aber eine Frage musste er ihm denn doch stellen: »Dann glaubst du also, ich kann das nicht schaffen?«

»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich meinte, dass ich dich doch nicht mit Absicht in eine solche Situation gebracht hätte. Das heißt aber nicht, dass du das nicht schaffen kannst! Du musst einfach nur ein paar neue Leute einstellen. Das ist alles nur eine Größenfrage. Alles wird gut!«

Jeff hoffte nur, dass Bob das auch wirklich so meinte. Überzeugt war er nicht.

Sprung ins kalte Wasser

Jeff trank sein Bier lieber nicht mehr aus. Er nahm an, er würde für die Arbeit heute wohl noch seine volle Konzentration brauchen, und das womöglich bis spät in den Abend hinein.

Bob sagte seinem Neffen, dass er seine zwei Top-Leute schon von dem bevorstehenden Wechsel unterrichtet habe, und riet ihm, die beiden gleich nach dem Mittagessen zu treffen. Jeff erklärte sich einverstanden und fragte dann, ob er bei der Führung der Firma völlig freie Hand habe.

Bob versicherte ihm: »Ohne alle Einschränkungen. Und das ab sofort.«

Jeff freute sich über diese Zusicherung und unterhielt sich den Rest der Zeit beim Mittagessen mit seinem Onkel nur noch über dessen Gesundheit und die Familie, nicht mehr über Geschäftliches. Zum Schluss entschuldigte er sich noch einmal dafür, dass er die guten Absichten seines Onkels angezweifelt hatte.

»Ich mache dir überhaupt keine Vorwürfe«, versicherte ihm Bob. »Ich hätte mir die gleiche Frage gestellt.«

Dann lächelte Bob und schaute Jeff in die Augen: »Weißt du was? Mit das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass ich jetzt nicht mehr dazukommen werde, mit dir zusammenzuarbeiten!« Er unterbrach sich, um nicht emotional zu werden. »Das ist dir vielleicht nicht klar, aber ich fand diese letzten Monate so aufregend wie seit Jahren nichts mehr.«

Jeff umarmte den Bruder seines Vaters ganz ungeschäftsmäßig und verließ das Restaurant mit schwerem Herzen.

Auf dem Rückweg in sein Büro bei VB rief Jeff die beiden Manager an, auf deren Unterstützung er fürs Überleben der Firma angewiesen sein würde, und vereinbarte für den Nachmittag ein Treffen. Einer der Gründe, warum er nicht gleich alle Hoffnung für seine Zukunft in der Firma aufgegeben hatte, war sein Vertrauen in die beiden langjährigen Mitarbeiter Clare Massick und Bobby Brady.

Clare war eine großgewachsene blonde Frau, ein paar Jahre jünger als Jeff, die den gesamten Verwaltungsbereich des Unternehmens führte; dazu gehörten Finanzen, Recht und Personal. Vor Clare hatte es bei VB gar keine Personalleitung gegeben; Bob hatte sie vor sieben Jahren eingestellt, nachdem ihn sein Anwalt überzeugt hatte, dass es in rechtlicher Hinsicht ein Risiko für das Unternehmen sei, keine Personalabteilung zu haben. Bob war es wichtig, jemanden zu finden, der zum Unternehmen stand und sich für die Bauindustrie interessierte. Wie er den Kandidaten im Vorstellungsgespräch erklärte: »Ich will keine Bäume streichelnden, wirtschaftsfeindlichen Aktivisten in meinen Betrieb holen, die mir hier die Unternehmenskultur versauen.«

Viele Kandidaten sprangen ab, nachdem sie ihn so reden gehört hatten, aber Clare wusste, dass sie hierher passte, als sie diese Worte hörte. Die Tochter eines Offiziers und einer Tanzlehrerin hatte nach dem College lange nach ihrer Berufung gesucht. Sie fand sowohl Psychologie als auch Wirtschaft faszinierend, allerdings nicht faszinierend genug, um sich in ihrer Karriere auf nur eines dieser Gebiete festzulegen, und schließlich kam sie zu der Überzeugung, dass das Personalwesen eine gute Kombination für sie sein könnte.

Ihre ersten Jahre im Personalbereich vor ihrer Zeit bei VB waren allerdings der Horror gewesen – ein Mix aus bürokratischem Papierkram und gefühligen Workshops. Clare stand kurz vor dem Aussteigen, als sie von dem Stellenangebot bei Valley Builders hörte. Nach 20 Minuten mit Bob hatte sie ihre Meinung geändert.

Jeff hatte Clare in den letzten Jahren bereits kennengelernt, besonders im Zuge seines Engagements für die Beratung des Unternehmens in puncto Teamwork. Bei den Sitzungen mit dem Managementteam war Jeff schnell klar geworden, warum Bob so große Stücke auf Clare hielt und ihr so viel Verantwortung übertragen hatte. Zum Glück schien sie sich auch zu freuen, als Jeff ins Unternehmen eintrat, und so nahm er an, dass sie wohl gut zusammenarbeiten würden.

Bobby Brady, ein Mann von 52 Jahren mit fröhlichem Gesicht, breitem Brustkorb und grau werdenden Haaren, war der Leiter aller Außenoperationen bei VB. Seine Gutmütigkeit stellte er gleich unter Beweis, als er vor elf Jahren zu VB kam und seine Kollegen fanden, es sei zu verwirrend, zwei Bobs im Führungsteam zu haben. Scherzhaft-boshaft beschlossen sie, ihn künftig Bobby zu nennen, in voller Kenntnis der Tatsache, dass Bobby Brady auch der Name des jüngsten Sohns in The Brady Bunch gewesen war, einer der bekanntesten Familienserien im US-Fernsehen.

Bob bzw. Bobby zuckte nicht mit der Wimper und nahm seinen Spitznamen mit selbstironischem Humor und erstaunlich anstandslos hin, in der Annahme, dass er ihn mit der Zeit schon wieder loswerden würde. Zu seiner eigenen Überraschung gewöhnte er sich aber bald an seinen neuen Namen und stellte fest, dass er ihm sogar dabei half, Kontakte zu Subunternehmern und Verkäufern zu knüpfen, die ihn aus Spaß gern damit aufzogen.

Es war mit Sicherheit vorteilhaft, dass Bobby das Baugeschäft in- und auswendig kannte. Er hatte sich in seiner Karriere den Ruf erarbeitet, bei seinen Projekten ehrlich, gewissenhaft und termingenau zu arbeiten, womit er sich von vielen Kollegen in seiner Branche abhob.

Als Jeff Clare und Bobby auf dem Weg in die Firma angerufen hatte, um sie zum Gespräch in Bobs Büro zu bitten, hatte er erfahren, dass Bob ihnen die Nachricht von seiner Krankheit und Jeffs plötzlicher Beförderung zum Chef schon diesen Morgen beim Frühstück mitgeteilt hatte. Jeff war mehr als nur ein bisschen neugierig darauf zu erfahren, was Clare und Bobby von der neuen Situation hielten, nachdem sie erst wenige Stunden Zeit gehabt hatten, die Nachricht zu verdauen. Ihre Reaktion sollte ganz anders ausfallen, als er erwartet hatte.