Zum Buch
Brighton, Südengland 1984: Moose, ein ehemaliger Spitzensportler, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat und nun als Hotelmanager im hiesigen Grand Hotel arbeitet, kann sein Glück kaum fassen: Das Hotel wurde ausgewählt, Regierungschefin Margaret Thatcher sowie ihr gesamtes Kabinett für ein paar Tage zu beherbergen. Alles soll reibungslos klappen bei Ankunft der eisernen Lady in 24 Tagen. Mooses Tochter Freya, die an der Rezeption sitzt, wird bis dahin ihre Manieren entdeckt, der Portier seinen Bourbonkonsum im Griff, und der Koch ein paar französische Gerichte auf der Pfanne haben, die gerade so en vogue sind, hofft Moose. Was er nicht ahnt: Soeben hat ein Mann unter dem Namen Roy Walsh in Zimmer 629 eingecheckt und dort eine Bombe platziert, die genau in 24 Tagen detonieren soll ... Jonathan Lee verwebt Fakten und Fiktion, Komödie und Tragödie zu einem eindringlichen Roman um Gewalt, Gewissen und Loyalität – von großer Aktualität.
Zum Autor
Jonathan Lee, geboren 1981 in Surrey, studierte englische Literatur, lebte eine Zeitlang in Südamerika und arbeitete in einer Anwaltskanzlei in London. 2007 wurde er nach Tokio versetzt. Zurück in England ließ er sich beurlauben und schrieb seinen ersten Roman »Wer ist Mr Satoshi?«, der Leser und Presse gleichermaßen begeisterte. Inzwischen lebt Jonathan Lee in New York City, arbeitet nebenbei für das das Literaturmagazin A Public Space. Seine Texte und Geschichten erscheinen unter anderem in Granta, Tin House & Narrative, im Guernica Magazine und The Paris Review Daily; eine seiner Kurzgeschichten war auf der Longlist für den Sunday Times Short Story Award. Sein zweiter Roman »Joy« wird derzeit von der BBC verfilmt. Der Guardian nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.
Jonathan Lee
High Dive
Roman
Aus dem Englischen von
Cornelia Holfelder-von der Tann
Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »High Dive« bei William Heinemann, an imprint of Penguin Random House Ltd., London.
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1. Auflage
Copyright © 2015 by Jonathan Lee
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2018
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: picture alliance/empics
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16352-5
V002
www.btb-verlag.de
Inhalt
Initiation
ERSTER TEIL
Menschen im Naturzustand
ZWEITER TEIL
Flugphase
DRITTER TEIL
Abteilung Herz
VIERTER TEIL
Das Grand
Anmerkungen des Autors
Dank
Für Alfreda May Lee
(1915 –1996)
… wie schwer es ist, nur eine Person zu bleiben, denn unser Haus steht offen, die Tür ist schlüssellos, und unsichtbare Gäste gehen ein und aus.
Czesław Miłosz, »Ars Poetica?«
Initiation
1978
Als Dan achtzehn war, holte ihn ein Mann, den er nicht kannte, zu einem Ausflug über die Grenze ab. Es war 1978, in der letzten Juniwoche, sechs Tage, nachdem die britische Armee an der Ballysillan Road drei Katholiken erschossen hatte. Im Auto roch es nach Essig von Fish and Chips, und der Mann mit der narbigen Glatze hatte zwei Witze auf Lager, einen über Brits und einen über Priester. Er schien Dan irgendwo in die Nähe von Clones zu bringen. Seine mächtigen, eckigen Finger trommelten aufs Lenkrad, und in seinen Augen blitzte manchmal Überraschung auf, wenn die Straße sich ihren Weg suchte. Er hatte ein enorm hässliches Blumenkohlohr, das er beim Fahren öfter berührte. Die dicht stehenden grauen Häuser des protestantischen Ulster machten Platz für Licht und Farbe. Hier konnte man den Wind spüren und das Gras riechen. Aus Fenstern von Bussen voller Derry-Fans flatterten rot-weiße Schals. Grün-weiß-goldene Fahnen hingen in Bäumen.
Der glatzköpfige Mann ließ einen prachtvollen Rülpser los, als er auf einen Feldweg abbog. Der Feldweg führte zu einer von Ulmen umgebenen Wiese. Dan sah Gänseblümchen, Heuballen. Das Glitzern einer Colaflasche im Unkraut. Jenseits der Flasche, in einem Schattenstreifen, parkte ein Land Rover.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Glatzkopf. »So ein Auto hält keiner an. Zu Weihnachten gönnt er sich vielleicht sogar einen Saracen.«
Dan schaffte es zu lächeln. »Dann ist das …«
»Was denn?«
»Das ist Mr McCartland, oder?«
»Oh«, sagte der Glatzkopf, »würd ich doch mal annehmen.« Den Gurt noch immer umgelegt, kramte er jetzt in seiner Jeanstasche, wobei sich sein bulliger Körper wand, als wäre er auf einem Folterstuhl gefangen. Doch alles, was seine Hand zutage förderte, war ein platt gedrücktes Päckchen Kaugummi. Er sah Dan an und lachte. »Hätte dir eine Dose Bier spendieren sollen, was? Hilft immer gegen Hose-voll-Scheißeritis.«
An diesem Vormittag herrschte reinstes Bilderbuchwetter. Große gelbe Sonne. Gleichmäßig blauer Himmel. Eine einzige weiße Wolke, wie von einem Kind gemalt. Es sah nach einem Tag aus, an dem nichts Ernsthaftes passieren konnte. Ein Tag, um acht Pints zu trinken und sich einen Sonnenbrand zu holen. Ein irisches Jahr hatte nicht viele solcher Tage, deshalb wollte jeder in Erinnerung bleiben. Der Glatzkopf und er traten mit ihren Stiefeln scharfkantiges Gras nieder, als sie auf den Land Rover zugingen. In dieser Gegend standen verstreute Cottages, einzelne Häuser mit schiefen Zaunpfählen, offenen, niedrigen Toren, in müden Angeln hängenden Fensterläden. Häuser, die die Idee geschützter Privatsphäre vermittelten, aber der Schutz war nur symbolisch, und auch er fühlte sich ungeschützt, offen. Furchtbar schlecht vorbereitet. Niemand hatte ihm angekündigt, dass er abgeholt werden würde. In seinem Kreuz sammelte sich bereits Schweiß. Seine Lederjacke war kühl, aber schwer. Er hatte so viele Geschichten über diese Initiationen gehört: Was man durchstehen musste, bevor sie einen richtig aufnahmen. Aber er wusste auch, dass Lügengeschichten zum Belfaster Leben gehörten, dass das Wahre oft mit Erfundenem angereichert wurde.
Ein dünner Typ stieg aus dem Land Rover. Er trug eine Brille und ein adrettes Hemd, sandfarbene Hosen. War das wirklich Dawson McCartland? Er sah aus wie ein Buchhalter. Er zog zwei große Hunde an einer langen Doppelleine aus dem Rover. Der eine war golden, der andere braun. »Guten Morgen«, sagte er in näselndem, gleichförmigem Ton und nickte, wie um zu zeigen, dass er es ernst meinte.
In Erwartung eines Händedrucks ging Dan auf ihn zu. Stattdessen bekam er die Hundeleine. »Ich bin Dan.«
»Ah«, sagte Dawson und nahm die Brille ab, »da bin ich ja froh.« Seine formlosen Augenbrauen waren zusammengewachsen, ein Sims, unter dem er hervorblickte. In den Augen ein flimmerndes Funkeln. Die Mundwinkel nach oben gezogen. Mit einem Taschentuch putzte er seine Brille. Die Hunde bellten und zerrten an der Leine. Er sah aus, als bemühte er sich, ein rätselhaftes Amüsement über die Welt im Zaum zu halten, und blickte jetzt seufzend auf seine Hunde hinab. »Sind schon ganz verrückt, die beiden. Ich liebe sie mehr als meine Frau, diese Tiere. Ist das falsch? Die Tiere mehr zu lieben als sie?«
»Hundeliebhaber«, sagte Dan.
»Gibt’s noch mehr davon?«
»Mehr?«
»In Irland, Leute, die ihre Hunde lieben. Klang, als meinten Sie’s als Kategorie.«
Dan wartete kurz. »Ist nur so ein Ausdruck«, sagte er.
»Insgesamt halte ich uns eher für Katzentypen, Dan. Unabhängig. Die Loyalisten sind die Hunde. Haben Sie Haustiere?«
»Ich?«
»Du.«
»Nein.«
»Kein Kaninchen oder was?«
»Nein.«
»Chinchilla vielleicht? Wellensittich? Wird schwer, dich als Volunteer aufzunehmen, ganz ohne irgendwas. Freiheitskämpfer brauchen ein Maskottchen.«
Lange Pause.
»Ich ziehe dich nur auf, Dan. Du bist hier unter Freunden. Dieses Aufnahmegespräch wird sehr informell verlaufen.«
Der Glatzkopf gähnte zufrieden, wobei sein Blick verrutschte und in die Bäume ging, und die nervösen Krämpfe in Dans Magen ließen etwas nach. »Ist kein großer Redner, der Junge, Dawson.«
»Was Sie nicht sagen«, sagte Dawson. »Dann vielleicht eher ein Macher?« Er zog ein Päckchen Newport aus der Tasche. »Auch eine, Dan? Ich bin sehr fürs Schweigen.«
»Nein, danke.«
»Sie?«
Der Glatzkopf kaute Kaugummi. »Hab doch damit aufgehört.«
»Zu leben?«
»Zu rauchen.«
Dawson zündete sich eine an und tat einen Zug. »Ein und dasselbe, würde ich sagen.« Er stand da und rauchte, knisternd von diesem eigentümlichen Charisma, jener Art Selbstsicherheit, die vorzutäuschen Dan erst vor Kurzem gelernt hatte. Jede Bewegung mit der Zigarette war elegant, bewandert, wohlüberlegt und effizient, wie dafür bestimmt, Gerüchte zu entkräften, er sei womöglich ein grausamer Unmensch. Mit allem Feingefühl klopfte Dawson ein wenig Asche ab, während Dan sich in den Wind zurücklehnte, und ließ dann Rauch durch ein Lächeln entweichen. »Also«, sagte er zu dem Glatzkopf. »Zur Sache. Erzählen Sie mir von unserem jungen Freund Dan. Was hat er zu bieten, außer seinem hübschen Gesicht und seiner Größe? Wer hat ihn empfohlen?«
»Mad Dog«, sagte der Glatzkopf.
»Aber welcher Mad Dog?«
Jetzt kicherte der Glatzkopf. Paddy war still, zierlich, immer darauf aus, Dinge zu verstehen, ein Mann mit einem sorgfältig getrimmten Schnurrbart und kleinen blauen Augen, die die Gabe hatten, ruhig und stet zu bleiben. Er war zehn Jahre älter als Dan, und wenn er wirklich Mad Dog genannt wurde, musste es ein Witz sein, dachte Dan. Wie wenn man einen besonders kleinen Mann Big Tony nannte. Oder einen Weiberhelden Gay Sam.
Dawson sagte: »Du musst entschuldigen, Dan. Die besten Spitznamen werden zu oft verwendet. Wie in jeder Armee. Man vergisst die Entstehungsgeschichte, und dann ist da dieser Mangel an Fantasie. Ein Mangel, an dem die ganze Welt leidet. Woher kennst du Paddy Magee?«
»Vom Einsammeln der Kugeln«, erklärte Dan.
»Ach?«
»Ja.«
Er hatte Cousins, die ganz in der Nähe von Ballymurphy wohnten. Als die RUC dort auf Republikaner schoss, kamen Nachrichtenteams aus aller Welt zum Zuschauen. Italiener, die im Europa Hotel wohnten, zahlten fünf US-Dollar für ein Plastikgeschoss. Sie wollten einem zuerst Lire geben, aber dann lachte man und sagte, so eine große Tasche habe man nicht; sie mochten dieses Geplänkel. Die Amerikaner zahlten über zehn. Wenn die Geschosse noch warm waren, konnte man Namen einritzen, was den Japanern gefiel – Souvenirs von einem gefährlichen Trip, dem aufregenden Abenteuer, Gewalt aus nächster Nähe mitzuerleben. Ein personalisiertes Geschoss, auf Bestellung für einen Asiaten besorgt und wunschgemäß graviert, brachte bis zu fünfzehn Dollar. Andererseits konnte der Auftraggeber leicht verschwinden, und dann blieb man auf unverkäuflicher Ware sitzen. Dans Freund Cal hatte seine halbe Jugend damit verbracht, nach einem zweiten Haruto Ausschau zu halten. Von Ballymurphy aus sah man den Black Mountain, tausend Schattierungen von Grün, die durch den Regen dunkel wirkten.
»Kein schlechtes Geschäft, würde ich meinen, Dan.«
»War ganz okay. Bin aber kaum noch dabei.«
»Nein?«
»Ich konzentriere mich jetzt auf Gelegenheitsjobs, Elektrik.«
»Das habe ich gehört. Du und ein anderer Bursche, richtig? Von der Geschosssammelei?«
»Ja.«
»Jemand, den ich kenne?«
»Cal.«
Dawson legte den Kopf schief. »Hat er auch einen Nachnamen, dieser Cal, oder hält er’s wie Cher, weil sie eure Eier zum Vibrieren bringt?«
Dan lachte. »Von Cher hat er echt nichts, Mr McCartland.«
»Dawson.«
»Er heißt Cal Doherty.«
Dawson betrachtete den Himmel. »Klingelt nichts«, sagte er. »Ich bin unkeuschen Bildern von singenden Engeln erlegen, das ist es.«
»Er leidet an –«
»Oh, ich kenne Cal. Netter Bursche, alles in allem. Gesicht wie eine Ladung Hämorrhoiden, aber trotzdem nett, oder? Ich bin hübschen Burschen gegenüber äußerst misstrauisch, Dan, ich sag’s dir ehrlich. Ein hübscher Bursche oder ein hübsches Mädchen hat immer was, worum er oder sie fürchtet, verstehst du? Meine Frau ist prima – du wärst froh, sie um dich zu haben, Dan –, aber sie hat nur ein Auge, das ist der Punkt.« Er ging in die Hocke, um seine Zigarette am Boden auszudrücken. Er packte die Kippe sorgsam in ein Papiertaschentuch, steckte sie in die Tasche und zündete sich eine neue Newport an. »Trägt eine Augenklappe. Schottin von Haus aus. Ich, ich habe sogar etwas englisches Blut. Bisschen walisisches auch. Manche Leute sagen, es disqualifiziert mich für diesen Job, aber das ist genau die Art verkorkstes Denken, die Kriege verursacht, oder? Kein Vertrauen ins menschliche Einfühlungsvermögen. Und du? Stehst du darauf?«
»Auf Einfühlungsvermögen?«
»Genau.«
»Ich weiß nicht. Wohl schon.«
Dawsons Lippen pressten sich aufeinander, widersetzten sich einem neuerlichen Grinsen, und seine Augen schienen wieder zu glitzern. »Lohnt sich, mal drüber nachzudenken. Wenn man keins hat, kein bisschen, kann man sich nicht in andere Leute reinversetzen. Kann sich beispielsweise nicht vorstellen, dass ich mich voll und ganz in dich reinversetzen kann.«
Er bückte sich, um seine Hunde zu streicheln, musterte ausgiebig Dans Stiefel und richtete sich dann wieder auf. »Nein«, sagte er. »Mangelndes Einfühlungsvermögen ist ein tragischer Charakterfehler. Schon mal was von Shakespeare gelesen, Danny?«
»Warum? Ist er der Erfinder der Charakterfehler?«
»Ha. Ich mag dich jetzt schon. Du taust ja richtig schön auf. Aber nein, ist er nicht. Nicht mal Gott, der alte Sack, könnte sich damit brüsten.« Er inhalierte und blies einen Rauchring aus. »Frage mich manchmal, wo der gerade Urlaub macht. Um Irland kümmert er sich nicht sonderlich, oder?«
»Hat wahrscheinlich viel um die Ohren.«
»Hängt deprimiert oder besoffen rum wie alle anderen. Aber nein, ich mag Shakespeare, Danny, das ist alles. Ich lese ihn heute nicht mehr, aber er ist in mir, wie der irische Slang. Seirbhís. Slán. Also. Mick. Würden Sie bitte die Taschen aus dem Rover holen? Die mit dem Zubehör. Das wäre großartig.«
Mick. Zubehör.
Dan sah Mick davongehen, dann wiederkommen und die Taschen im Gras abstellen. Ein Hemdsärmel war ein bisschen hochgerutscht, und ein Stück von einem blauen Tattoo blitzte hervor. Zunge einer herabhängenden Schlange vielleicht oder ein peitschender Meerjungfrauenschwanz.
Dawson sagte: »Tu uns einen Gefallen, ja, Dan? Spiel ein bisschen mit den Tieren. Die kommen nicht viel raus, geht ihnen wie unserem guten Mick hier. Und Mick und ich haben tiefgründige Dinge zu bereden.«
Auf Dawsons Anweisung öffnete Dan die grüne Tasche. Sie enthielt drei Tennisbälle, einen Baseballschläger, ein warmes Sixpack Bier. Er nahm den am wenigsten zerkauten Tennisball und ging zu den Bäumen hinüber.
Äste, die sich bogen und wieder entspannten. Der wispernde Widerstand von Blättern. Er dachte: Stufe eins des Aufnahmegesprächs war wohl vorbei. Tat, wie ihm geheißen.
Er warf den Ball hoch und nahm ihn den Hunden aus dem Fang. Wahnsinn, wie viel Sabber diese Tiere produzierten. Der braune Hund hatte gelbe Flecken auf der Zunge, bewegte sich aber im Ganzen flinker als sein goldener Kumpel. Sie konkurrierten darum, den Ball zu schnappen, wenn er aufprallte, lieferten sich ein geschicktes Rennen – Windschatten, Überholen, Windschatten, Überholen –, ohne je zu kollidieren, obwohl es immer aussah, als müsste das gleich passieren.
Hätte er mehr Fragen stellen sollen? Mehr Initiative zeigen? Cal hatte ihm geraten, nur zu reden, wenn er gefragt wurde. War vermutlich richtig.
Alle paar Minuten drehte er sich um. Dawson und Mick beachteten ihn gar nicht, was doch bestimmt ein gutes Zeichen war. Als er noch Heftchen las, hatte er sich nie gewünscht, fliegen oder mühelos Fassaden hinaufklettern zu können. Unsichtbarkeit war für ihn die höchste Superkraft gewesen.
Er hatte keine Lust mehr auf den feuchten Tennisball, nahm stattdessen ein Stück trockene Baumrinde. Die Hunde jagten hinterher und brachten es zurück. Dan rannte mit den Hunden los, das Rindenstück in der Hand, stoppte und rannte wieder los, hielt das Ding hoch, tief. Nach einer Weile brannte seine Lunge. Er ging in die Knie, um ihnen die Ohren zu kraulen und ihre Hechelzungen zu beobachten. Manche Leute sagten, Hunde seien dumm, nichts als dumpfe Bedürftigkeit und dumpfe Dankbarkeit, aber er sah im Funkeln ihrer Augen eine spezielle Intelligenz. Wie Fußballer, die Winkel berechneten, genau wussten, wie sie sich zu bewegen hatten.
»Wir sind so weit!«, rief Dawson. »Bring sie her.«
Dan nahm die Hunde an die Leine und joggte zurück. Die beiden Männer nickten und lachten und blinzelten in die Sonne.
Dawson sagte: »Habe gerade eine kleine Geschichte erzählt, die mir ein gewisser Clinkie erzählt hat. Ist ein Durchstarter, unser Clinkie. Willst du sie hören?«
»Klar«, sagte Dan.
»Also, Clinkies Geschichte geht so, Jesus, geht die Geschichte, hängt am Kreuz und die beiden Typen rechts und links von ihm sind keine Diebe. Was sind sie dann?«
Dan schüttelte den Kopf.
»Na ja, Dan, wenn man Clinkie kennt, würde man tippen, dass sie schwul sind. Aber nein. Clinkie hat mir erklärt, es sind politische Aktivisten, die gegen die römischen Machthaber kämpfen. Da sind also zwei Republikaner, die rechts und links von Jesus ans Kreuz geschlagen werden. Und Clinkie sagt –«
»Kenne ich.«
Dawson zog seine mächtige Augenbraue hoch. »Wie bitte?«
»Ich habe die Geschichte schon gehört«, sagte Dan, »von ein paar Leuten. Jetzt weiß ich’s wieder. Die Römer sind die Brits. Die Samariter sind die Katholiken. Die Juden sind die Protestanten. Der Erste, der heute in den Himmel käme, wäre ein paramilitärischer Kämpfer, so wie Jesus zu Dimas dem Dieb sagt, heute wirst du mit mir im Paradies sein, und so weiter.«
Schweigen.
»Hm«, sagte Dawson. »Das nenn ich eine Pointe verderben.«
Das träge Summen einer Hummel war zu hören. Mick kratzte sich ausgiebig im Gesicht. Als Dan aufs Gras hinabschaute, sagte Dawson: »War schön, dich mit ihnen zu beobachten, Dan. Meinen Hunden. Herrliche Tiere, was?«
»Ja.«
»Ich selbst bin nicht so sportlich. Bisschen kurzatmig, musst du wissen. Ich brauche so eine Patrone mit spezieller Luft.« Er nahm einen Asthma-Inhalator aus der Tasche und drehte ihn in der Hand. Einen Moment lang wirkte er abwesend. »Aber jetzt muss ich wirklich los. Habe leider noch eine Verabredung mit jemand, der schon zu lange lebt.« Er wartete einen Moment, schüttelte den Inhalator, verabreichte sich einen Sprühstoß und behielt die Luft im Mund. »Geburtstagsparty. Vierzigster. Ist total verrückt, der Kerl, aber wir haben ihm einen Pingpongtisch besorgt.«
»Und?«
Dawson lachte. »Na ja, wir legen natürlich noch zwei Schläger und einen Ball drauf.«
»Nein, ich meine –«
»Ja, was?«
»Ich – ich kriege doch Bescheid, oder? Ob ich aufgenommen bin? Ich will von ganzem Herzen, Mr McCartland. Ich werde alles tun. Ich – ich möchte der Sache dienen.« Er fühlte, wie sich wieder eine Zukunft verdüsterte.
Dawson hob das Kinn und blinzelte. »Hör zu, Dan. Ich habe gehört –« Der eine Hund bellte, und der andere jaulte. »Ich habe gehört, du seist brauchbar. Stimmt doch, oder? Jungs in diesem Matt-Talbot-Jugendclub. Die sagen, genau wie Patrick, das ist mal einer, der was draufhat.«
»Pool«, sagte Dan. »Snooker. Die haben wahrscheinlich nur das gemeint.«
»Ach, komm. Keine Spielchen. Irland ist schon zu lange bescheiden. Was kannst du noch, außer Pointen verderben? Meine Frau zum Beispiel, die Einäugige, ist ein echtes Genie am Herd.«
Hatten sie ihn wirklich hierhergebracht, um über Hobbys zu reden? Er kaute auf der Unterlippe, suchte ein paar Gedanken zusammen.
In der Schule war er nicht gut gewesen, aber es gab schon ein paar Dinge, die er konnte. Zum Beispiel konnte er sich gut Sachen merken. Er traute sich zu, die richtigen Stellen aus dem Grünen Buch herzusagen, wenn das hier gut ging und sie ihm den Eid abnahmen. Er konnte ihnen auch ganze Passagen aus der Bibel aufsagen. Bibelsprüche von der Kanzel schienen sich in seinem Kopf einzunisten, er mochte den komischen Klang der altertümlichen Sprache. Er konnte eine Karte aus dem Gedächtnis zeichnen, einen Reifen ohne Wagenheber wechseln, hundert Yards in einer passablen Zeit laufen und ziemlich schwere Gewichte heben. Er konnte dreimal am Tag masturbieren und sich vor dem Einschlafen trotzdem noch einen runterholen. Er war gut im Garten, gut im Sortieren der Pillen seiner Mutter, gut im Wetten mit anderen Jungs und die Hälfte der Zeit gut im Gewinnen. Er machte Handwerksarbeiten für die Nachbarschaft: Klempnern, Dachrinnenarbeiten, Elektrosachen, wie sie sein Vater gemacht hatte, nachdem sein Job bei Gallaher eingestampft worden war. Er war stolz auf sein Land, und er fand, es war okay, stolz zu sein.
»Ich bin nicht bescheiden«, sagte er. »Ich bin nur schüchtern, wenn ich Leute noch nicht lange kenne.«
Sie beschlossen, das als Witz zu nehmen. Einer der Hunde biss den anderen spielerisch in die Fellfalten am Hals.
»Kannst du mit einer Auto umgehen, Dan?«
Er merkte, wie er Mick ansah und darauf wartete, dass der antwortete. »Nein«, sagte er.
Schusswaffen. Viele Jungs, die er kannte, wollten zu den Provos, um mit Schusswaffen spielen zu können. Seine Gründe hingegen waren … Was waren seine Gründe? Etwas zu bewirken, langfristig. Der Besetzung ein Ende zu machen, das Denken der Menschen zu verändern. Mitzuhelfen, ausgebrannte Betriebe wieder flottzumachen und die katholischen Eckläden zu schützen. Zeigen, dass er nie vergessen würde, wie sein Vater gestorben war, und dass zwei Freunde seines Bruders, James Joseph Wray und Gerry McKinney, am Blutsonntag von der britischen Armee erschossen worden waren. Gerry, als er unbewaffnet und mit erhobenen Händen »Nicht schießen, nicht schießen« rief. James Joseph, als er bewegungsunfähig am Boden lag.
»Hab eine Pistole zu Hause«, sagte er. »Zur Selbstverteidigung. Ist aber keine Auto, und ich habe noch nie damit geschossen.«
»Interessant. Hören Sie das, Mick? Sammelt lieber Kugeln ein, als welche abzufeuern. Ich wette, unser Danny ist auf einer Party der Typ, der sich ans pure H2O hält.«
Mit einem Lachen, das wie aus dem Fernsehen geklaut klang, machte Mick die Tasche, in der die Bälle gewesen waren, wieder zu. Er öffnete die andere, entnahm ihr eine Flinte und eine Pistole. Die Pistole gab er Dan.
»Fühl mal«, sagte Dawson. »Liegt gut in der Hand, was? Neigen zur Ladehemmung, die Autos, ist das einzige Problem. Und jetzt, wenn’s recht ist, erschieß die Hunde.«
Dan lachte. Niemand lachte mit. Ihre Gesichter waren gerötet und aufmerksam, aber ohne jede Spur von Humor.
»Oder«, sagte Dawson, »du kannst auch nur einen von ihnen erschießen. Fünfzig Prozent. Du bist offenbar Linkshänder – stimmt das, Dan? Um einen Hund könnte ich mich wahrscheinlich kümmern. Aber für zwei habe ich einfach nicht die Zeit, verstehst du? Es ist Tierquälerei, sie zu halten.«
Ihre Gesichter verrieten noch immer nichts. Dawson schnäuzte sich die Nase.
»Ich würde mit der anderen Hand die Leine festhalten«, sagte Dawson. »Beim Schießen, meine ich. Sonst haben wir einen Hund, der durch die Gegend rennt und Unfug macht und voller Fetzchen von dem anderen Hund ist. Wäre doch hässlich.«
Mick klappte die Flinte auf. Er sah rein und klappte sie wieder zu. Seine Augen richteten sich auf den Boden, und seine Glatze glänzte.
»Ist das ein Scherz?«, fragte Dan.
Dawson zuckte die Achseln. »Ich bitte dich, zwei Hunde für mich zu töten, mein Freund. Ich könnte es selbst tun, aber es sind meine Hunde, und ich habe sie jetzt genau ein Jahr. Also tu mir den Gefallen und erspar’s mir, sie selbst zu töten, ja?«
»Ist sie geladen?«
Dawson lächelte wieder. »Man hat mir gesagt, du seist brauchbar, Dan. War das eine Fehlinformation?«
»Wie gesagt, ich hab noch nie mit einer Auto geschossen.«
»Gleiches Prinzip. Automatisch. Manuell. Die Gemeinsamkeit ist, man zielt damit auf etwas, drückt ab, und das Etwas ist kein Problem mehr.«
»Diese Hunde sind doch kein Problem.«
»Sie sind ein Problem für mich, Dan.« Hart und tief jetzt, die Stimme. Ernst. »Ich frage mich jetzt doch, wie es um deine Teamfähigkeit bestellt ist. Ob es dir nicht ein bisschen an zwischenmenschlichen Tugenden fehlt.«
Dan blickte auf die beiden Hunde, und sie sahen ihn an. Feuchte Augen. Feuchte Nasen. Aufgeregt. »Ich könnte einen mit zu mir nehmen. Oder beide. Ich habe Zeit, mich um sie zu kümmern, Mr McCartland, und Geld für Futter auch.«
»Ich nehme immer gerne einen Schluck, aber deswegen bin ich noch lange kein armer Schlucker.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Du bist gerade in eine Armee eingetreten. Zeit, mal zu gehorchen, statt die Klappe aufzureißen, Dan.«
»Ich meine ja nur –«
»Du willst dir noch mehr abhängige Wesen zulegen, gerade jetzt? Reicht dir deine Ma nicht? Der Bruder im Heim?« Dawson schüttelte den Kopf. »Glaubst du, die britische Armee zögert auch nur eine Sekunde, Hunde auf unseren Straßen zu erschießen? Kadaver auf der Falls zu hinterlassen, um uns zu demonstrieren, dass sie wachsam sind? Zart besaitete Männer haben noch nie etwas verändert, Dan. Die Geschichtsschreibung wäscht das Blut weg, verzeichnet nur die Ergebnisse, aber das heißt nicht, dass da kein Blut war. Ein Irland unter britischer Besetzung wird nie frei sein. Und ein unfreies Irland wird nie Frieden haben. Oder bist du anderer Meinung? Möchtest du lieber Abstand halten und zuschauen? Bist du ein Zuschauer, Dan, ist es das, schaust du gern zu?«
Mick wirkte jetzt, als wäre es ihm irgendwie unangenehm, hier zu sein. Wieder fasste er sich ans deformierte Ohr. Um seine hängenden Mundwinkel lag jetzt etwas Mildes, das da vorher nicht gewesen war. Eine Form von Empfindsamkeit, das musste es sein. Dawson war jetzt der Rohere von beiden. Sein dünner Hals hatte sich gerötet, die dünnen Lippen waren geöffnet, seine silbrige Zunge arbeitete an einem neuen Schwall Wörter.
Vielleicht den Braunen mit den Flecken auf der Zunge. Vielleicht ist der ja krank. Er will, dass ich den kranken Hund töte. Hinterher wird er mir sagen, dass er krank war, Leukämie oder was, und dann habe ich den Test bestanden.
Mit ruhiger Hand, der linken, hob Dan die Waffe und zielte auf den Kopf des braunen Hunds. Sei jemand, der handelt, statt zu reden. Mit der Rechten fasste er die Hundeleine fest. Los jetzt.
Es wäre leichter, dachte er, wenn der Hund hässlich wäre, wenn der Hund eine Ratte wäre, wenn der Hund wütend oder unfreundlich aussähe, und diese Gedanken sagten ihm, dass er schwach war.
Wenn er ihn zwischen die Augen träfe – die intelligenten Augen, wach, wässrig –, wäre es ein schneller Tod. Aber wenn er auf den Körper zielte, war das Risiko, danebenzuschießen, geringer. Ein Schuss in den Körper, dann sofort ein zweiter hinterher? So machte es die RUC gern bei Leuten, die sie zu Terroristen erklären konnte. Aber der andere Hund würde an der Leine zerren, versuchen, sich loszureißen, vielleicht blutbespritzt? Panisch.
Der braune Hund sah Dan erwartungsvoll an, atmete durchs offene Maul. Der andere hatte sich flach hingelegt, die Nase im Gras vergraben. Mick schien sich – konnte das sein? – Klopapierfetzen in den Mund zu stecken. Dann stopfte er sich die feuchten Klumpen in die Ohren.
»Ich werde dich jetzt motivieren«, sagte Dawson. »Wenn du nicht einen meiner Hunde erschießt, wird Mick hier so nett sein, dich zu erschießen.«
»Nett?«
»Er kann sehr nett sein. Du müsstest ihn mal in den Bars von Belfast sehen. Was der schon alles geküsst hat!«
»Das ist ein Scherz.«
»Ach ja?«
»Warum sollten Sie mich erschießen wollen? Ich will doch beitreten!« Es war ein Scherz. Musste einer sein. Er senkte die Waffe. »Ich erschieße keine Hunde.«
»Deine Entscheidung«, sagte Dawson. »Ich habe dir die drei Optionen klar und deutlich aufgezeigt.«
»Drei?«
»Du erschießt einen Hund, Nummer eins. Du lässt dich erschießen, Nummer zwei. Und Nummer drei, du erschießt uns. Aber dafür musst du dich beeilen.«
»Das ist doch Blödsinn.«
»Wir geben dir drei Sekunden, dir eine endgültige Meinung zu bilden, Dan.«
»Aber das – welchen Sinn sollte das haben?«
»Drei.«
»Nicht doch.«
»Zwei.«
»Bitte.«
»Eins.«
Mick hob die Flinte. Er richtete sie auf Dans Brust und schoss.
Die Wucht des Treffers. Ein Schlag, der seinen Körper hintüber warf. Ein Krachen, das ihn tief in sich selbst hinabschleuderte.
Als er auf dem Boden aufschlug, versagten seine Sinne den Dienst. Dunkel, Stille. Nur ein winziges bisschen Licht, das sich schlierig durch die Finsternis wand, so langsam wie die Sahne, die seine Mutter in den Kaffee tat.
Er tastete nach der Wunde. Die Wunde. Das Blut abdrücken. Hätte die Hunde töten sollen.
Das Leder seiner Jacke fühlte sich gleichmäßig glatt an. Nichts Nasses. Nichts Zerrissenes. Eintrittsloch. Wo war das Eintrittsloch? Langsam tauchten Dinge auf, stellten sich scharf: windgeblähte Bäume, ein Vogel am blauen Himmel.
Er rollte sich auf einen Ellbogen. Der Land Rover fuhr gerade an, die Reifen wühlten Staub auf. Mick stand über ihm, streckte ihm eine mächtige Hand hin. Da waren Sand und weißes Zeug auf dem Boden. Körner? Reis? Auf seiner Jeans auch. Roher weißer Reis.
Micks kühler Schatten. Sein Gesicht sah aus, als ob er brüllte. Ein Kiefermuskel sprang. »Kanone poliert«, schien er zu sagen. Das Klingeln in Dans Ohren nahm eine andere Tonhöhe an. Seine Brust tat weh, sein Schädel auch.
»Wir haben die Patrone manipuliert. Bisschen Basmati reingestopft.«
»Was?«
»Ruiniert den einheimischen Grundnahrungsmittelmarkt, der Reis, also stehlen wir ihn den Indien-Importeuren. Fliegt erheblich langsamer. Sorry, wenn du mit dem Kopf aufgeschlagen bist.«
Dan spuckte aus. »Ich hätte ihn töten können. Ich hätte es tun können.«
Mick lachte. »Yeah, aber als Initiation nicht schlecht, oder? Wenn das nächste Mal jemand mit einer Waffe auf dich zielt, wirst du einen Tick schneller sein.«
Er hatte keine Ahnung, wo die Pistole war. Sie war nicht in seiner Hand und auch nicht in der Nähe seiner Hand. Die Hunde sprangen wild und fröhlich herum, die Leine schlängelte sich durchs Gras.
»Ganz brauchbar, um seinen ersten Eindruck zu überprüfen«, sagte Mick. »Dazu dient es auch. Macht dich eher zu einem Mann für die Distanz. Deine handwerklichen Fähigkeiten. Sprengsatzbau. Er hat mehr und mehr die Hauptinsel im Auge. Du bist der Erste, der’s drauf ankommen hat lassen.« Er zog Dan hoch und schloss ihn herzlich in die Arme.
Dan blinzelte und versuchte, seine zitternden Hände zu verstecken.
»Es ist vorbei.«
»Was?«
»Willkommen in deinem neuen Leben.«
ERSTER TEIL
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Menschen im Naturzustand
1984
1
Nach ihren mittwochmorgendlichen Bahnen im Schwimmbad lief Freya Mr Easemoth über den Weg. Er war ihr alter Geschichtslehrer von der Blatchington Mill, der wohlwollende Diktator von Klassenzimmer 2D, ein Mann, für den Fakten das Höchste waren. Man hatte den Eindruck, dass es ihn befriedigte, falsch oder gar nicht verstanden zu werden.
Sie wechselten ein paar Worte über das Hotel. Er grinste matt in die Sonne und sagte, ihr stünden ja jetzt alle Möglichkeiten offen. Erwähnte auch verlegen, dass ihr Vater ihn angerufen habe. Sie hätten über die Frage der Universitätswahl geredet.
»Er ist sehr stolz auf Sie«, sagte Mr Easemoth. »Mit Recht.«
»Danke, Mr Easemoth.«
»In einigen Fächern dürften Sie mit Ihren Abschlussnoten wohl unter den Besten in ganz Brighton sein.«
Sie lächelte. »Danke, vielen Dank.«
»Nein«, sagte er.
»Was?«
»Ich danke Ihnen. Es war ein Vergnügen, Sie zu unterrichten.«
Über ihnen kreiste eine Möwe und schrie. »Also, ich muss dann mal …«
»Oh, natürlich.«
»Ist nur, weil …«
»Nein, nein, lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.«
Die Art, wie er lächelte, machte sie traurig. »Bis bald, Mr Easemoth.«
»Und grüßen Sie Ihren Vater von mir.«
Zu Fuß unterwegs. Der Wind an ihren Beinen. Salz in der Luft. Sie trug einen nagelneuen neonblauen Minirock. Aber würde sie Mr Easemoth je wiedersehen? Was seine Autorität auf den Schulfluren in erster Linie untergraben hatte, war weder seine Sinusitis noch seine fleckige Krawatte, ja nicht einmal sein Anti-Charisma. Es war das unselige Gerücht, er habe einen Mikropenis, was wahrscheinlich gar nicht stimmte.
An raren Septembertagen wie diesem trödelten die Leute in Brighton nicht unentschlossen herum. Sie warfen ihre nieselfeuchten Regenmäntel ab und kramten in Schubladen nach farbenfrohen Shorts. Sie ließen sich auf Handtüchern braten und von Wellen auf und ab tragen. Möwen staksten über Steine, wobei sie die Köpfe senkten und die Füße umso höher hoben, die Bewegung gespiegelt von einem Kind, das nachsah, ob unter seinen Schuhsohlen Kaugummi klebte. Alte Männer betrachteten durch wellige Eisengeländer das Wasser, und alte Frauen tranken draußen vor Cafeterias Tee.
Das lila-rosa Schild des Friseursalons kam jetzt in Sicht. Und der Eiswagen. Sie hatte Riesenlust auf ein Softeis mit zwei Borkenschokoladenröllchen, aber da war eine lange Schlange auf der linken Seite des Eiswagens.
Wendy Hoyt war die zweitbilligste Friseuse im Curl Up & Dye, eine vollbusige Hypochonderin, deren eigene wasserstoffblonde Locken – Werbung, Warnung – eine Menge Luftraum einnahmen. Bei Wendy waren Kopfschmerzen immer gleich Tumore. Rückenschmerzen wurden zu Osteoporose. Sie hatte schon so ziemlich alle Arten vermeintlichen Organversagens durchlebt, litt an einem trockenen Husten, der vom Kontakt mit Tieren kam, und im Nacken hatte sie einen Haarspray-Ausschlag, den sie lieber dem Seewind anlastete. Freya schenkte Wendys Katalog erfundener Katastrophen keine große Beachtung, hegte aber gleichzeitig spontane Sympathien für Leute, deren Katastrophen keine große Beachtung fanden, sodass das Ganze unterm Strich dazu führte, dass sie immer wiederkam.
»Noch mal drüber nachgedacht?«, fragte Wendy, während sie den Umhang um Freyas Hals zumachte. Vorangegangen waren die Erörterung der Frage, warum ihr Haar schon »vorbefeuchtet« war, die daran anknüpfende Warnung vor der austrocknenden Wirkung von Chlorwasser und als Dreingabe noch die Geschichte von einem Mädchen, das beim Schwimmen schwanger geworden war, weil ein Junge ins flache Beckenende masturbiert hatte. Die Trockenhauben liefen. Wendy atmete schwer. Die Neonperlen ihrer Halskette wogten auf ihrem Busen. Von den oberen Ecken des Spiegels hingen zwei silberne Geschenkbandschlangen, die die neun Monate seit Weihnachten überdauert hatten.
»Ich glaube eher nicht«, sagte Freya.
»Bringt aber mehr Spaß«, sagte Wendy augenzwinkernd. »Wirkt in der Disco wie Katzenminze.«
»Hm.«
»Ich kann mich kaum retten. Außerdem würde Blond auch toll zu deinem Hautton passen.«
»Kann sein.«
»Mal was anderes, das wolltest du doch, oder? Aber wenn’s weiterhin das unauffällige Braun sein soll, bleibt uns ja immer noch ein seitlicher Pferdeschwanz oder ein Pony. Deine Freundin Sarah – an der Uni jetzt, oder? –, der hab ich eine tolle Cyndi-Lauper-Frisur gemacht.«
Wendy nahm einen Schluck Cranberrysaft, ein Getränk, von dem sie behauptete, es sei gut für die Infektabwehr. Die Wand hinter dem Spiegel war limettengrün. Eine andere Wand war pink, eine dritte lila. Ein Mädchen, das abgeschnittene Haare zusammenfegte, summte eine reine Refrain-Version von Madonnas »Borderline«, unbestreitbar ein Wahnsinnssong, und auf ihrem T-Shirt stand »All the Way to Wembley« unter dem Bild einer segelnden Möwe. Freya schloss die Augen und stellte sich einen Moment lang vor, in Mr Easemoths Alter hier zu sitzen, das gleiche Gespräch zu führen, dieselben Neonperlen um Wendys Hals zu zählen: drei überlappende Reihen, zwanzig Perlen in der unteren, achtzehn in der mittleren und sechzehn in der oberen.
Eine Menge Zeit verging. Mindestens eine halbe Minute.
»Okay«, sagte sie. Da war eine neue Wärme unter ihrer Haut. Lebe gefährlich, richtig? »Schneiden Sie alles ab, Wendy, und machen Sie mich blond.«
Wendy hob eine intensiv nachgezogene Augenbraue. Eine Kundin aus Hove kam herein. Es gab eine ganze Reihe Sachen, die einem verrieten, dass jemand aus Hove kam. In diesem Fall war es die Explosion von Seidentüchern um den Hals der Frau.
»Sicher?«, fragte Wendy.
»Jepp.«
»Ganz ab?«
»Nein! Bis hier so, und dann blondieren. Oder Highlights. Jepp, Highlights. Aber nichts, was rötlich aussieht.«
Wendys Gesichtszüge formten eine Grimasse. In Grimassen war sie spitze.
»An einem dünnen kleinen Ding wie dir«, sagte Wendy. »Einem Mädel mit dieser zerbrechlichen Note …« Sie trank noch einen Schluck Saft. Stellte das Glas supervorsichtig auf einen Sims. »Ich sag dir, was ich denke. Ich frag mich eins. Ob du dafür den Hals hast, Freya. Weil, als deine Beraterin muss ich dir sagen, dass der Hals da ganz schön prominent ist, und mit deinem netten kleinen Gesichtchen, also, was Kurzes wäre vielleicht ein bisschen sehr, wie soll ich sagen …«
»Jungenhaft?«
»Äthiopisches Waisenkind«, sagte Wendy.
Freya blickte auf und musterte sich. Welche waisenkindhaften Eigenschaften könnte ein Kurzhaarschnitt zum Vorschein bringen? Sie war blass, braunhaarig, braunäugig, ganz normal, aber aus dem Spiegel sah sie jetzt ein halb verhungertes äthiopisches Waisenkind an. Sie überkreuzte die Beine nach rechts, dann nach links. Spitze Bemerkungen waren Wendys Art von Freundschaftsbekundung, aber sie konnten auch infektiös sein. Dann ging man hier raus und schlug sich mit Problemen herum, die man wahrscheinlich gar nicht hatte.
Sie dachte ans Grand, ihre bald beginnende Schicht an der Rezeption. Ihr Vater, der stellvertretende Direktor, konnte es meistens arrangieren, dass sie mittwochs nur nachmittags arbeiten musste. Er war auch Kunde bei Wendy Hoyt. Einmal im Quartal ließ er sich Haar, Augenbrauen und Ohren machen, ein 3-zum-Preis-von-1-Deal, den der Herrenfriseur verweigerte.
»Wissen Sie was?«, sagte Freya. »Einfach nur Nachschneiden wie immer.«
»Echt?«
»Echt.«
Die Entscheidung wirkte wie ein Zauber: Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Sie fühlte, wie sie sich wieder in den gemütlichen Enttäuschungszustand entspannte, der ihr Leben war, seit sie die Schule beendet hatte.
»Vorsehen ist besser als Nachsehen, was?«
»Wahrscheinlich«, sagte Freya.
»Dann waschen wir jetzt mal, mit dem Erdbeershampoo, das du so magst, und du kannst mir von euren Plänen für Maggie Thatcher erzählen.«