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ISBN 978-3-7751-7345-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2016

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

INHALT

Vorwort von Peter Strauch

Liebe Leserin, lieber Leser,

I. Im Käfig meiner Angst

Eine heile Familie?

Mein Vater

»Papis Mädchen«

»Jesus ins Herz gemalt«

»Onkel Karl«

Eine große Spielwiese

Leben in zwei Welten

Was ist nur mit mir los?

Der Panther

Zwischen Empathie und Gefühllosigkeit

Das einsame Küken Kott-Kott

Das eingeschlossene Gefühl

Sichere Orte

Nachgeholter Abschied

Mit dem Fernglas unterwegs

Vis-à-vis mit Adele & Auguste

Augenhöhe

Die Decke des Schweigens

Schuld und Schuldgefühle

Schulzeit

Dazugehören

Furchtbar sensibel?

Die Hand auf der Schulter

Im falschen Zug

»Ist das deine Oma?«

»Oma Wetter«

Schritte vor der Tür

Verdrehte Sexualität

Vierbeinige Seelentröster

Hasso & Co

Der Hund muss weg

Der Hund – ein Bild für meine Seele

Weichenstellung

Die Flucht geht weiter

Das Clicker-Prinzip

Berufswahl

Immer gleich auf hundert

Wieder auf der Flucht

Verletzte Menschen verletzen Menschen

Ein kraftraubendes »Spiel«

Ich und die Gruppe

Theologische Ausbildung

Richtungswechsel

Erneuter Fluchtversuch

Verliebt, verlobt, verheiratet

Frau eines Pastors

Eine neue Qualität der Angst

Mein Kind-Engel-Erlebnis

Die Symptome kehren zurück

Eine neue Gotteserfahrung

Der Tod meiner Mutter

Licht und Schatten

II. Flügelschläge

Die Wende

Gefangen im Kofferraum

Die Farbe Blau

Erster Hinweis auf meinen Vater

Leiser Verdacht

Es verdichtet sich

Die Stoffpuppe

Die Entscheidung

Step by Step

Das innere Kind

Die Sache mit dem Gefühl

Emotionale Bindung

Verzerrte Gottesbilder

Der »falsche« Jesus

Ein entscheidender Tag

Die Beerdigung

Der Kampf meines Vaters

Spur des Segens oder Schneise der Verwüstung?

Spur des Segens

Schneise der Verwüstung

Alles nur Fassade?

Wo beginnt sexueller Missbrauch?

Andere werden doch auch damit fertig

Traumatisiert und hochsensibel

Meine Scham – seine Scham?

Heilende Begegnungen

Verlorenes Urvertrauen

III. Flug in die Freiheit

Was trägt

Ich will doch fliegen!

Aus dem Boden in die Luft

Der Boden des Vertrauens

»Teste meinen Boden!«

Neue Wege

Volkshochschule

Willkommen im Klub

Die Ausbildung

Klientenkompetenz, Feedback und Sharing

Ein weites Feld

IV. Wachsende Flügel

Entdeckungen

Achtsamkeit

Aufrichtung

Bedeutungsräume

Der intime Raum

Der persönliche Raum

Raum der Begegnung

Der öffentliche Raum

Das heilsame UND

Sinn und Unsinn von Vergebung

Gott anklagen?

Eine neue Freiheit

Zum Fliegen bestimmt

Vom Loslassen und Staunen

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Ein besonderes Geschenk

Und jetzt ein Buch?

Schlusswort und Dank

ANHANG

Beratungsstellen für Traumabewältigung

Literaturverzeichnis

Allen Kindern gewidmet, die tief in ihrer Seele verletzt wurden und sich danach durchs Leben kämpfen.

Vorwort von Peter Strauch

Selten hat mich ein Buch so bewegt. Kein Wunder, werden einige sagen, schließlich ist die Autorin deine Schwester. Ich räume ein, zweifellos spielt das mit. Ille ist 11 Jahre jünger als ich, da fühlt man sich als großer Bruder besonders verantwortlich. Vieles von dem, was sie hier schreibt, habe ich nicht mitbekommen. Irgendwie lebte ich in einer anderen Welt, genoss die freikirchliche Gemeinde im Haus als große Familie, fand dort Möglichkeiten, meine Begabungen zu entfalten, durfte mich ausprobieren, auch in musikalischer Hinsicht. Ille hat das zwar ähnlich erlebt, aber nicht so positiv und unbelastet wie ich. Außerdem verließ ich bereits mit 18 mein Elternhaus und war danach nur noch sporadisch zu Hause. Meine »kleine« Schwester war damals gerade mal sieben Jahre alt, ihre Kinder- und Teenagerzeit habe ich also kaum miterlebt. Die Geschichte ihres Erwachsenwerdens, die Spannungen zwischen dem »verhätschelten« Nesthäkchen und dem missbrauchten Kind, dem Gefühl der Überlegenheit und der bedrückenden Minderwertigkeit, vor allem ihre innere Einsamkeit, von alldem ahnte ich damals nichts. Mich bewegt sehr, mit welcher Sensibilität sie in diesem Buch davon erzählt – nicht in grellen Farben, sondern mit behutsamen Zwischentönen, die uns auf die Verletzungen des Opfers, aber auch auf die Gespaltenheit des Täters blicken lassen, ohne dabei die harten Konturen der schrecklichen Tat zu verwischen.

Es mag beschämend sein, aber früher hatte ich keine Ahnung, wie zerstörerisch die Folgen eines sexuellen Missbrauchs sind. Als ich 1974 zum ersten Mal von der Tat meines Vaters erfuhr, war ich zwar geschockt, begriff aber nicht wirklich die Tragweite für die Opfer. Erst als klar wurde, dass der Missbrauch auch in unserer eigenen Familie stattfand, und als ich schmerzhaft miterleben musste, wie schrecklich die Folgen für die Betroffenen sind, begriff ich etwas von der zerstörerischen Wirkung einer solchen Tat. Meine Schwester berichtet offen und schonungslos darüber, zeichnet aber auch sorgfältig den Weg ihrer Heilung nach – nicht als Kopiervorlage für betroffene Leserinnen und Leser, sondern als Hilfe für Menschen, die selbst Opfer wurden und verzweifelt nach einem Ausweg suchen. Es ist aber auch ein Buch für solche, die eher hilflos danebenstehen und nicht selten gerade aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus falsch reagieren. So kommt es immer wieder zur Bagatellisierung einer solchen Tat, manchmal auch zum stillschweigenden Wegsehen, was kaum weniger schlimm für die Opfer ist.

Aber meine innere Bewegung beim Lesen dieses Buches hat noch einen weiteren Grund. Hätte man mich als 18-Jährigen gefragt, was charakteristisch für unsere Familie ist, dann hätte ich von der Liebe Gottes erzählt. »Jesus liebt dich!« – mit diesem Satz sind wir als Kinder aufgewachsen, aber prägte er uns wirklich in der Tiefe unseres Herzens? Hat er unsere Eltern geprägt? Illes Buch macht deutlich, dass man mit Worten der Liebe und Gnade Gottes bestens vertraut sein kann, ohne dass unser wirkliches Leben davon berührt und durchdrungen wird. Aus der Pädagogik wissen wir, dass uns das Unausgesprochene stärker prägt als das gesprochene Wort. Das gilt auch und vielleicht gerade für fromme Elternhäuser. Dogmatische Sätze, die sich nicht mit Erfahrungen verknüpfen lassen, berühren uns nicht. Mehr noch, sie stoßen uns ab. Dabei müssen uns unsere Eltern nicht einmal mutwillig täuschen. Manchmal handelt es sich um eine Lebenslüge, die ihnen selbst nicht bewusst ist. Kinder haben ein untrügliches Empfinden für echte bzw. unechte Frömmigkeit.

Was unseren Vater betrifft, so haben meine Geschwister und ich nicht den Eindruck, dass er bloß vorgab, ein überzeugter Christ zu sein. Er glaubte wohl wirklich, was er an uns und andere weitergab. So hinterlässt er trotz allem auch eine Segensspur; angesichts der verheerenden Folgen für die Opfer wage ich das kaum zu schreiben. Aber wie sonst ist zu erklären, dass uns immer wieder Menschen beteuern, durch die Arbeit unseres Vaters gesegnet worden zu sein? Vermutlich war er eine in sich selbst gespaltene Persönlichkeit.

Ich weiß, wirklich erklären lässt sich das nicht. Und keine Frage: Unser Vater ist für seine Taten verantwortlich, wie auch jeder von uns verantwortlich ist für das, was er tut. Und doch hindert uns dieses Unerklärbare daran, allzu vollmundig aufzutreten, so als hätten wir den totalen Durchblick über das, was uns und unsere Mitmenschen im Innersten bewegt. Auch die Ursache böser Handlungen ist oft schwer zu durchschauen, so wenig, wie unsere guten Taten immer gute Taten sind. David betet im 139. Psalm: »Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.«

So kann dieses Buch über das Thema »Sexueller Missbrauch« hinaus beim Auffinden unseres eigenen Weges und Verstehens eine wichtige Hilfe sein. Das geht nicht ohne Offenheit. Sie macht verletzbar und ist nicht ohne Risiko. Danke, Ille, dass Du den Mut hattest, dieses Buch zu schreiben.

Liebe Leserin, lieber Leser,

stellen Sie sich einen kleinen, noch jungen Vogel vor, der in einem engen Käfig kauert. Diesen Wohnort hat er sich nicht selbst ausgesucht. Nein, ein »Jemand« hat ihn gewaltsam dort hineingebracht. Dieser »Jemand« hat Grenzen überschritten, vielleicht einmal, vielleicht mehrere Male durch geistlichen, emotionalen oder sexuellen Missbrauch – vielleicht auch durch alles auf einmal – und hat den kleinen Vogel damit bis ins Mark getroffen, ihm tief in seiner Persönlichkeit und Würde eine schmerzende Wunde zugefügt.

Möglicherweise hat der kleine Vogel einmal zaghaft seine Stimme erhoben. Ein leises Piepen: »Hier stimmt etwas nicht.« Doch er wurde nicht gehört, man glaubte ihm nicht. Der kleine Vogel war tatsächlich ein Opfer, doch als solches fühlt er sich nicht, eher selbst wie ein Täter: schmutzig und schuldig. Und langsam beginnt er, sich mit seinem Käfigdasein zu arrangieren und wächst auf diese Weise, ohne es zu merken, in eine Opferhaltung hinein. »Alles ist ruhig, alles ist gut.«

Doch irgendwann, vielleicht erst nach Jahren – wodurch auch immer ausgelöst – richtet sich dieser Vogel in seinem Käfig auf, schlägt wild mit den Flügeln und krächzt, so laut er kann: »Ich sitze hier zu Unrecht, dieser Käfig gehört mir nicht. Ein ›Jemand‹ hat mich verletzt und mich meiner Bestimmung beraubt. Ich bin aber zum Fliegen bestimmt, und jetzt will ich es lernen. Ich will raus aus diesem Käfig, ich suche mir Hilfe.« Ein erster, wichtiger Schritt des Vogels in die Freiheit. Doch was passiert? Federn fliegen herum und machen Dreck, durch den Flügelschlag wird eine Menge von altem, längst vergessenem Staub aufgewirbelt. Das laute Krächzen schmerzt unangenehm in den Ohren.

Und spätestens hier springt das »Gemeindekarussell« an: Die »Verfolger« betreten die Bühne. »Wie kannst du es wagen, ›Jemand‹ so böswillig zu beschuldigen? Weißt du nicht, was du damit anrichtest? Damit schadest du nicht nur ihm, sondern der ganzen Gemeinde. Schließlich ist ›Jemand‹ seit Langem ein verantwortungsvoller Leiter …!« Doch auch die »Retter« bleiben nicht aus. Sie kommen mit Kehrschaufel und Besen oder – noch schneller und wirkungsvoller – gleich mit dem Staubsauger und machen sich unverzüglich daran, den entstandenen Dreck zu entfernen. Dies tun sie mithilfe von Bibelversen und Ratschlägen: »Man muss auch vergeben können. Bring die Sache zu Jesus und vergib ›Jemand‹. Vielleicht war es ja auch gar nicht so gravierend, wie du jetzt glaubst, wir können uns das von ›Jemand‹ eigentlich gar nicht vorstellen.«

So oder ähnlich läuft es nicht selten ab. Und glauben Sie mir, ich verstehe die Argumente und habe sie sogar selbst schon gebraucht. Doch wenn wir uns ehrlich fragen: Was liegt diesen Rettern und Verfolgern wirklich am Herzen? Das Opfer? Wohl eher nicht. Der Täter? Auch nicht wirklich. Geht es nicht in Wahrheit um den Ruf der Gemeinde? Wie steht sie denn da, wenn das nach außen dringt? Liegt dann nicht alles in Scherben?1

Diese Vogelgeschichte schrieb ich für das im Jahr 2010 erschienene Buch »Das Gemeindekarussell« von Gerti Strauch. Darin geht es um krank machende Beziehungsmuster, wie wir sie häufig auch in unseren christlichen Gemeinden erleben, verdeutlicht an einem Interaktionsmodell, dem sogenannten »Drama-Dreieck« von Stephen Karpmann. Damals hatte mich meine Schwägerin Gerti gebeten, einen kurzen Artikel über das Thema »Missbrauch« zu schreiben. Ich hatte es in diese Vogelgeschichte eingebettet und damit eher allgemein gehalten. Weitaus schwerer fällt es mir nun, über mein eigenes Erleben zu schreiben. Denn die Geschichte des Vogels ist auch meine persönliche Geschichte.

Dieses Buch ist keine Abrechnung, das ist mir wichtig, weder mit dem Täter, in diesem Fall mit meinem Vater, noch mit den »Verfolgern« und »Rettern« aus meiner Vogelgeschichte. War ich doch selbst lange genug mit »dem Staubsauger« unterwegs. Es soll hingegen ehrlich und offen die ganze Tragik aufzeigen und nichts verharmlosen oder beschönigen. Missbrauch, ob religiös, emotional oder sexuell, hat gravierende Folgen, auch wenn sie nicht immer sichtbar sind.

Andererseits möchte ich mit diesem Buch meinen Weg der Heilung und Aufarbeitung beschreiben, der immer nur durch die Wahrheit und niemals an ihr vorbeiführen kann. Und in der Tat, ohne Scherben wird es dabei nicht gehen. Da kann manches zu Bruch gehen. Scherben sind nicht schön, wir können uns an ihnen verletzen. Doch haben Sie schon einmal gesehen, welche ungeheure Leuchtkraft Glasscherben entwickeln können, wenn sich das Sonnenlicht in ihnen spiegelt?

Mein Buch ist vor allem an Menschen gerichtet, die ähnliches erlebt haben, damit zu Opfern wurden und deren Mund möglicherweise bis heute verschlossen ist. Gerade sie möchte ich ansprechen, ernst nehmen und ihren Schmerz würdigen. Denn das Schlimmste für Opfer insbesondere sexuellen Missbrauchs ist es, damit allein zu sein, nicht ernst genommen zu werden.

In meinem Blickfeld sind aber auch jene, die innerlich zerrissen sind, die am liebsten wegschauen möchten, weil sie es zwar einerseits für richtig halten, die Wahrheit ans Licht zu bringen, andererseits aber Angst vor den Konsequenzen – auch für sich selbst – haben. In vielen Gesprächen ist mir bewusst geworden, dass auch Menschen, die selbst keinen Missbrauch erlebt haben, dennoch Opfer sind, wenn ihnen Vorbilder genommen wurden, die sie als Kinder verehrten, wie das im Falle meines Vaters als Leiter vieler Kinderfreizeiten der Fall war. Auch sie brauchen Trost, weil in ihnen etwas gestorben, das kindliche Vertrauen von damals zerbrochen ist.

Zu welchen Menschen Sie auch immer gehören mögen, wenn Sie dieses Buch lesen, haben Sie meinen vollen Respekt. Denn ich weiß, es braucht Mut, sich einem solchen Thema zu stellen.

Eine heile Familie?

»Du kommst aus einer wahrhaft heilen Familie!« Wie oft habe ich diesen Satz wohl gehört? Lange Zeit ist er mir Musik in den Ohren. Ja, er erfüllt mich geradezu mit Stolz. Denn ich glaube es ja selbst, noch mehr möchte ich glauben, dass es so ist.

Es muss in den Achtzigerjahren gewesen sein. Wieder einmal feiern wir einen der vielen Familiengeburtstage. Eltern, Geschwister und Kinder, alle sind versammelt, ein Bild der Harmonie. Da sehe ich das Treiben plötzlich vor mir wie einen Film. Und es kommt mir in den Sinn: Irgendetwas stimmt hier nicht. Es scheint alles gut, doch in Wahrheit ist da etwas faul. Ja, ich komme zum Schluss: Unsere Familie ist irgendwie krank. Ich spreche mit niemandem darüber, auch nicht mit meinem Mann.

Doch gehen wir zurück in das Jahr 1954. Als ich die familiäre Plattform betrete, sind die anderen bereits ein eingespieltes Team. Da ist zunächst mein ältester Bruder Peter. Er ist schon seit elf Jahren dabei. Mein Bruder Diethelm, sieben Jahre, und meine Schwester, sechs Jahre alt, gehören ebenfalls dazu. Deshalb werde ich auch bald von Verwandten und Bekannten »das Nesthäkchen« genannt. Zwar habe ich noch keine Ahnung, was dieses Wort bedeutet, glaube aber, dass es etwas Positives sein muss, da alle, wenn sie es erwähnen, ein freundliches Gesicht machen. Ich werde an einem Sonntagmittag um Punkt zwölf Uhr geboren. Zum Zeitpunkt meiner Geburt sollen sogar die Kirchenglocken geläutet haben, so wird es mir zumindest berichtet. Eine Zeit lang halte ich es tatsächlich für bare Münze, dass sie auch noch wegen mir geläutet hätten.

Mit meinem Namen Ilse-Ruth, den meine Eltern für mich ausgesucht haben, bin ich nicht sehr glücklich. Zum einen ist er für mich nur schwer auszusprechen, zum anderen werden spätere Lehrer immer wieder erstaunt nachfragen, da dieser Name so ungewöhnlich ist. Hinzu kommt, dass der erste Teil meines Namens nicht selten mit der besagten Ilse verwechselt wird, die »der Koch ins Ofenrohr steckte«. Irgendwann entsteht daraus der Name »Ille«. Habe ich ihn mir selbst gegeben? Genau weiß ich es nicht. Jedenfalls wird sich diese Kurzform später mehr und mehr durchsetzen.

Mit meinem ältesten Bruder Peter verbringe ich nur ganze sieben Jahre unter einem Dach. Dann verlässt er unsere Familie und beginnt ein theologisches Studium in Ewersbach. Zu diesem Zeitpunkt habe ich gerade mal mein erstes Schuljahr hinter mir. Daher empfinde ich unsere Beziehung auch nicht so sehr geschwisterlich. Eher ist er für mich eine Art zweiter Vater oder nahestehender Onkel, ein Erwachsener eben. Und ich bewundere ihn, vor allem, wenn er an unserem alten, ächzenden Harmonium sitzt und seinen Improvisationen freien Lauf lässt. Dabei kommt mir eine Erinnerung, die mich im Nachhinein amüsiert. Wenn Peter völlig in die Musik versunken am Harmonium – später an der Orgel oder am Klavier – sitzt, ist er ganz und gar seinem Spiel hingegeben. Das zeigt sich auch in seiner Körperhaltung, besser gesagt, in seinen Körperbewegungen. Dann ermahne ich ihn als kleine Schwester: »Wackle doch nicht immer so herum!« Zu der Zeit ahne ich ja noch nicht, wie sehr ich später einmal selbst »wackeln« beziehungsweise herumspringen und tanzen würde. Wie dem auch sei, ich bin stolz, ihn als großen Bruder zu haben.

Mit meinem zweiten Bruder Diethelm verbringe ich die längste Zeit. Im Rückblick empfinde ich ihn fast als meinen Krisenmanager. Als ich mit knapp zwei Jahren mit schweren Verbrennungen beider Hände monatelang im Krankenhaus verbringe, getrennt von meinen Eltern, die mich nicht besuchen dürfen, ist er es, der kommt und mir von der Tür aus zuwinkt. Selbstverständlich habe ich daran keine Erinnerung, aber es wurde mir so erzählt.

Mit dreizehn Jahren liege ich wieder im Krankenhaus zu einer Nach­operation meiner Hand. Als ich aus der Narkose aufwache, mit dröhnendem Kopf und extremer Übelkeit, steht Diethelm an meinem Bett und setzt mir ein undefinierbares Tier aus sehr weichem, biegsamem Leder, gefüllt mit irgendwelchen Kügelchen, aufs Bett: »Guck mal«, sagt er, »wenn du traurig oder wütend bist, wirfst du das Tier einfach auf den Boden. Dann sieht es ganz komisch aus, und du musst wieder lachen.« Bis vor einigen Jahren hatte dieses undefinierbare Wesen immer noch einen Platz bei mir, bis es ganz und gar unansehnlich wurde.

Tatsächlich ist Diethelm mir immer ein Zufluchtsort gewesen, jemand, an den ich mich mit meinem Weltschmerz wenden kann, vor allem in der Teenagerzeit. Er ist es auch, der mein Interesse für Dinge weckt, die mir von meinen Eltern nicht mitgegeben wurden, zum Beispiel meine Liebe zur Barockmusik. Ich sehe uns noch gemeinsam auf dem Sofa sitzen. Wir hören die Wassermusik von Händel, und er malt mir ein Bild vor Augen von großen Gärten, Frauen in bunten, prächtigen Kleidern und Männern mit weißen Perücken.

Eines Tages bringt er dann eine Schallplatte des Musicals Hair in deutscher Fassung mit nach Hause. Ich bin fasziniert, einerseits von der Musik, andererseits von den Texten und dem Flair der damaligen Hippiebewegung. In diesen Momenten spüre ich auch eine Abgrenzung unseres »Teams« zu meinen Eltern, mit denen wir uns über so etwas nicht austauschen können. Diethelm gibt mir auch hin und wieder Nachhilfeunterricht, in Mathe allerdings wenig erfolgreich.

Seltsamerweise habe ich gleichzeitig immer das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, irgendwie verantwortlich für ihn zu sein. Meine Schwägerin Edelgard hat mir mehrfach eine Begebenheit erzählt, in der Diethelm auf einem Gerüst herumklettert. Ich bin ein kleines Mädchen und völlig verzweifelt. Flehe ihn an: »Komm sofort da herunter. Nachher fällst du, dann bist du tot, und ich krieg geschimpft.« Wenn ich mitbekomme, dass er von anderen kritisiert wird, mutiere ich bei aller Schüchternheit zur Löwin. »So sehr liebst du deinen Bruder?«, bemerkt einmal eine Frau aus der Gemeinde, als sie meinen ausgeprägten Beschützerinstinkt im Blick auf Diethelm bemerkt.

Dann wäre da noch meine Schwester Bärbel mit ihren langen, blonden Zöpfen. Es ist herrlich, eine Schwester zu haben – auch eine große. Allerdings wünsche ich mir immer noch eine kleine Schwester und beneide Bärbel sehr. Sie hat es gut, sie hat mich. Sie kann wunderbar spielen und erzählen, hat viel Fantasie. Oft bin ich mit ihr unterwegs, um ihre Freundin Monika zu besuchen. Dann werde ich in einer Ecke des Zimmers abgesetzt, zusammen mit einem kleinen Puppenhaus, mit dem ich mich beschäftigen darf. Es ist nicht immer angenehm für meine Schwester, mich im Schlepptau zu haben. Und sie hat manchmal ein schlechtes Gewissen deswegen. Doch mir macht es nichts aus, im Gegenteil: Ich finde es schön, dabei zu sein und mit einem fremden Puppenhaus spielen zu dürfen. Denn ich weiß, meine Schwester hat mich lieb, auch wenn ich sie manchmal nerve.

Gerade erst sieben Jahre bin ich alt, da verlässt auch meine Schwester unser Zuhause, um eine sogenannte Pflegevorschule, ähnlich einer Hauswirtschaftsschule zur Vorbereitung ins Berufsleben in der Bleibergquelle bei Velbert zu besuchen. Von nun an bilden Diethelm und ich ein Zweierteam. Er ist der große Bruder, ich als seine kleine Schwester bin und bleibe das Nesthäkchen.

So sehr ich die Vorzüge des Nesthäkchendaseins genieße, fühlt es sich auch manchmal seltsam an. Da erinnere ich mich zum Beispiel an folgende Szenen: Ich sitze neben meiner Schwester im Auto. Soweit ich weiß, hat sie ein paar Tage Urlaub zu Hause verbracht und muss nun wieder zurück zur Bleibergquelle. Sie ist in Tränen aufgelöst, während mein Vater auf sie einredet. Ich sitze zwischen den beiden, verstehe nicht wirklich, um was es geht, fühle mich aber äußerst unbehaglich und zerfließe vor Mitleid. Ebenso erinnere ich mich an eine Szene, in der Peter mit todernstem Gesicht im Wohnzimmer steht. Er ist durch eine Fahrprüfung gefallen, was in seiner Situation einem Fiasko gleichkommt. Meine Eltern und ein Freund stehen um ihn herum. Es herrscht Weltuntergangsstimmung. Ich beobachte das alles aus einem gewissen Abstand, verstehe nicht, was die Erwachsenen gerade umtreibt, habe aber meine kindlichen Antennen weit ausgefahren und nehme die eigenartige Stimmung wahr. In solchen Situationen meldet sie sich manches Mal ganz leise in mir, die Frage, die mir später so vertraut sein wird: »Bin ich schuld an dieser seltsamen Stimmung?«

Meine Mutter möchte ich durch folgende Begebenheit beschreiben: Als sie bei einer ihrer Schwangerschaften sozusagen auf den letzten Drücker im Kreißsaal erscheint, fragt die Hebamme etwas ungehalten: »Warum sind Sie denn nicht früher gekommen?« Darauf antwortet meine Mutter: »Ich wollte nicht stören!« Damit ist fast alles gesagt. Meine Mutter bleibt am liebsten unscheinbar im Hintergrund, arbeitet hart, erfüllt ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter. Sie dient im wahrsten Sinne des Wortes ihrer Familie und der Gemeinde, auf die ich noch zu sprechen komme. Was ich erst sehr viel später wahrnehme und was mich traurig macht, ist die Tatsache, dass meine Mutter eigentlich eine sehr kreative, künstlerisch begabte Frau war. Vor ihrer Heirat arbeitete sie als Kinderpflegerin in einem Ronsdorfer Kinderheim. Während dieser Zeit schrieb sie Gedichte. Ich weiß noch, wie erstaunt und überrascht ich bin, als ich meine Mutter auf einem Foto als junges Mädchen mit einer Gitarre entdecke. So vieles, was sie selbst ausmacht, was sie an Begabung in sich trägt, gibt sie mit ihrer Heirat auf, lebt es nicht mehr. All das zerbröselt nun mehr oder weniger in einer Fülle von notwendigen Aufgaben und Pflichten.

Als ich auf die Welt komme, ist meine Mutter bereits 42 Jahre alt. Sicher ist es nicht leicht für sie, noch einmal ein Kind großzuziehen. Einerseits erlebe ich sie als warmherzige, liebevolle Mutter, die mir ihre Zuneigung zeigt, mich tröstend in den Arm nimmt, mich lobt, wenn ich etwas geschafft habe. Andererseits ist sie kränklich, immer überfordert, ständig am Limit ihrer Kraft. Meine Mutter leidet an massiven Krampfadern. Später hat sie sogenannte »offene Beine«. Stoße ich versehentlich daran, stöhnt sie auf. »Sei schön lieb zu deiner Mutter!«, höre ich oft von Erwachsenen, oder: »Pass auf, dass du nicht an Mamis Beine kommst.« Doch ich bin ein kleines, quirliges Mädchen, möchte auf ihren Schoß klettern und dabei nicht immer auf der Hut sein müssen. Von Erwachsenen werde ich auch hin und wieder ermahnt: »Deine Mami hat so viel zu tun. Sei schön lieb zu ihr!«

Eigentlich wäre ich das sechste Kind meiner Eltern. Noch vor meinem ältesten Bruder Peter war meine Mutter schon einmal schwanger mit einem Zwillingspärchen. Der Älteste ist tot geboren, der Jüngere kurz nach der Geburt gestorben. Ich habe immer noch im Ohr, was mir zumindest eine Person aus unserer Gemeinde einmal sagte: »Wenn deine älteren Brüder überlebt hätten, würde es dich sicher nicht geben!«

Angesichts meiner vielen Schulprobleme – vor allem später auf dem Gymnasium – betont meine Mutter mehr als einmal: »Ich habe keine Kraft mehr für so etwas. Das wird mir alles zu viel!« Wenn sie völlig mit ihren Nerven am Ende ist, und das ist sie sehr oft, rutscht ihr sogar der Satz heraus: »Ich habe keine Kraft mehr für dich.« Deshalb versuche ich einmal, ihr mit kindlicher Logik das Leben zu erleichtern.

Meine Mutter hat ein festes Ritual. Jeden Mittag legt sie sich eine halbe Stunde ins Bett, um auszuruhen und für den Rest des Tages neue Energie zu tanken. Für uns Kinder heißt das, leise zu sein.

Einmal ist es wieder so. Meine Mutter schläft. Ich bin allein in unserer Wohnküche. Da kommt mir eine ausgezeichnete Idee. Ich habe zwei lange Zöpfe. Beim Durchkämmen und Flechten stöhnt meine Mutter nicht selten, vor allem wegen meiner Überempfindlichkeit, wenn es ziept. Um diesem Drama ein Ende zu setzen, hole ich mir die große Küchenschere aus der Schublade, öffne meine geflochtenen Zöpfe und beginne, mir meine Haare nach und nach abzuschneiden. Zugegeben, das Resultat ist nicht gerade ein Meisterwerk. Zwischen neu entstandenen Kratern baumeln ungleich lange Haarsträhnen. Doch ich bin mir hundertprozentig sicher: Mami wird sich riesig freuen. So kann ich es kaum erwarten, bis sie endlich aufsteht und mein Werk zu sehen bekommt.

Noch heute sehe ich es vor mir, das blanke Entsetzen auf dem Gesicht meiner Mutter, als sie in die Küche kommt: »Was hast du nur gemacht?« Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum freut sie sich nicht? Ich habe es doch nur gut gemeint.

Mein Vater

Februar 1991, die goldene Hochzeit meiner Eltern steht bevor, und ich mache mich daran, etwas Charakteristisches über die beiden aufs Papier zu bringen, das wir auf der Feier als Geschwister, Nichten und Neffen vortragen wollen. Doch diese Aufgabe gestaltet sich äußerst schwierig. Warum? Über meinen Vater könnte ich ein ganzes Buch voller Anekdoten verfassen, zu meiner Mutter fällt mir kaum etwas ein. Das typische Bild meiner Eltern. Im Vergleich zu meiner Mutter ist mein Vater so etwas wie ein schillernder Paradiesvogel – kontaktfreudig, lustig, unterhaltend, er fällt einfach auf.

Was seinen Beruf betrifft, könnte man ihn als fahrenden Bäcker oder als backenden Fahrer bezeichnen. Vor dem Krieg hat er Bäcker und Konditor gelernt. Später ist er als Kraftfahrer bei der Zulieferfirma Bomoro in Ronsdorf angestellt, backt aber in seiner Freizeit immer noch mit großer Leidenschaft. Doch er hat noch ein weiteres großes Interesse. Unsere Wohnung liegt über dem Gemeindesaal der Freien evangelischen Gemeinde, einer Freikirche mit überschaubarer Mitgliederzahl. Meine Eltern gehören nicht nur zu dieser Gemeinde, sondern erfüllen nebenbei auch den Posten als Hausmeisterehepaar.

Vor allen Dingen aber engagiert sich mein Vater als Leiter der Sonntagsschule (Kindergottesdienst) und führt regelmäßige Kinder­freizeiten in De Helle, einem Freizeitheim auf der Insel Schouwen-Duiveland in den Niederlanden durch. Davon ist unser Familienleben geprägt. Überhaupt sind Familie und Gemeinde aufs Engste mitei­nander verknüpft.

»Papis Mädchen«

Eines Morgens, ich bin bereits erwachsen, erwache ich aus einem seltsamen Traum. Ich lag auf einem Tisch, um mich herum waren einige Menschen versammelt. Nur eine Frau konnte ich identifizieren. Es war Waltraud, die Schwägerin meines Bruders Peter. Sie sagte zu den Herumstehenden: »Es ist einfach so. Sie ist nun mal sein absoluter Liebling.« Im Traum wusste ich: Mit »sein« ist mein Vater gemeint. Ihre Bemerkung erfüllte mich einerseits mit Stolz und einem wunderbaren Glücksgefühl und andererseits mit Angst und Ekel. Als ich wach werde, sind diese Gefühle noch präsent. Ich frage mich allerdings, warum ich im Traum auf dem Tisch lag. Da wird mir bewusst: Ich war ein Baby.

Diese widersprüchlichen Gefühle im Blick auf meinen Vater durchziehen mein ganzes Leben. Sie entsprechen der Realität. Auch mein Vater hat in dieser Zerrissenheit gelebt, dessen bin ich mir heute sicher.

Als Kind bin ich fest davon überzeugt, den besten Vater der Welt zu haben. Er lacht gern und viel und macht Späße mit mir. Spaziergänge mit ihm entpuppen sich als wahre Abenteuerreisen. Wir wandern durch die Wälder, mein Vater sucht nach einer Abkürzung. Nicht selten müssen wir anschließend über Zäune klettern oder durchs Unterholz robben. Sind wir zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs, lässt er es sich nicht nehmen, noch hier oder dort vorbeizuschauen. Er hat es nie eilig, kann sich ganz und gar im Hier und Jetzt verlieren. Ja, er hat sich bis ins hohe Alter etwas Kindliches bewahrt. Das habe ich immer an ihm geliebt. Er unternimmt gerne Ausflüge, am liebsten spontan und ungeplant. Seine Reiselust zeigt sich auch in der Gestaltung meiner Kindergeburtstage. Oft machen wir an diesem Tag einen Ausflug mit dem VW-Bus. Hierzu lade ich meine Freundinnen ein. Meistens weiß ich selbst vorher nicht, wohin es geht. Doch wir lieben diese Unternehmungen. Denn langweilig wird es mit meinem Vater nie. In der Adventszeit versteht er es, eine vorweihnachtliche Spannung aufzubauen, die sich bis zu unserer Bescherung am ersten Weihnachtstag immer mehr steigert. Einmal schenkt er mir ein wunderschönes, selbst geschreinertes Puppenhaus.

Als ich etwas größer bin, darf ich mit ihm in »seinem Lastkraftwagen« fahren. Was für ein erhabenes Gefühl, hoch oben im Lkw zu sitzen und sich wie eine Königin der Straße zu fühlen. Zu dieser Zeit steht ein Kraftfahrer noch nicht wie heute unter einem immensen Stress. So findet mein Vater immer noch Zeit, irgendwelche Umwege in Form kleiner Nebenstraßen zu erkunden, um dann in irgendeiner Gaststätte einzukehren. Mit einem »ausgewachsenen« Lkw ist das kein leichtes Unterfangen und manches Mal so gerade noch erlaubt. Ich liebe diese unkalkulierbaren Fahrten. Kommen wir dann zurück und fahren in die Garagenhalle der Firma Bomoro ein, sehe ich sie, alle in Reih und Glied geparkt, die großen Ungetüme. Sie sehen so gewaltig aus, und ich bin hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Angst. Noch heute überkommt mich ein eigenartiges Gefühl, wenn ich auf einem Rastplatz halte und die parkenden Trucks vor mir sehe.

Ja, ich bin Papis Mädchen. Wenn wir beispielsweise seinen Arbeitskollegen begegnen, stellt er mich voller Stolz als seine Tochter vor. Mir ist es eher peinlich, denn ich bin extrem schüchtern. Diese Schüchternheit ist nun wiederum meinem Vater peinlich. So gibt er mir immer wieder klare Verhaltensmaßregeln auf den Weg. Ich solle doch bitte die Kollegen anschauen, wenn ich sie begrüße, mit einem festen Händedruck und nicht so lasch und vor allem nicht so piepsig sprechen. Mein Vater liebt mich, ist stolz auf mich und schämt sich gleichzeitig für mich.

Einmal schämt er sich so sehr, dass er mich wütend nach Hause zerrt. Diese Geschichte habe ich so oft von ihm gehört, dass ich nicht einmal weiß, ob ich mich wirklich an das Ereignis erinnere oder ob es nur die Erzählungen sind. Ich muss noch sehr klein gewesen sein. In Ronsdorf gibt es am Stadtrand ein Feuerwerk. Mein Vater hält mich auf dem Arm. Das Geballere geht los und nimmt, begleitet von den »Ooohs« und »Aaahs« der Zuschauenden, seinen Lauf. Doch anstatt die bunte Farbenpracht zu bewundern, schreie ich, von panischer Angst erfüllt, wie am Spieß. Mein Vater schämt sich vor den Leuten. Er gibt sich alle Mühe, doch ich lasse mich nicht beruhigen. So verlässt er wutentbrannt mit mir den Platz. Seinen Erzählungen nach hat er mich nicht geschlagen, aber vor allen Umstehenden angeschrien und wohl sehr grob angefasst.

Ich weiß nicht, wie viele Male er sich später für sein Verhalten entschuldigt. Jedes Mal, wenn er dies tut, hat er Tränen in den Augen. Mir ist es unangenehm, dass er diese Ereignisse immer wieder aufwärmt, die doch für mich eher belanglos sind. Da gibt es weitaus Schlimmeres, was er mir angetan hat. Und vielleicht ist ja auch für ihn diese Geschichte in Wahrheit eine vordergründige Reue für eine größere Schuld, die ihn quält.

Schon in meiner Kindheit, aber erst recht während meiner Pubertät, lerne ich: Mein Vater liebt mich vor allem dann, wenn ich fröhlich bin. Mit meinen depressiven Phasen, unter denen ich schon als Kind leide, kann er nicht umgehen. Und besonders in meiner Pubertät wird unsere Beziehung zunehmend schwierig. Nicht selten sagt er mir, wenn er nicht weiterweiß: »Du bist ein komisches Mädchen.« Andererseits ist er immer gleich zur Stelle, wenn es »brennt«. Ja, er würde um die halbe Welt fahren, um mich von irgendwo abzuholen, da bin ich mir sicher, mir Zuflucht geben, ganz gleich, was auch immer ich auf dem Kerbholz hätte.

Eine Szene ist mir noch deutlich vor Augen: Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Gemeinsam mit meinem Vater, meinem Bruder Diethelm und meinem Cousin Hans-Hermann, »Hansel« genannt, sitze ich am Abendbrottisch. Meine Tischmanieren lassen in dieser Zeit wohl zu wünschen übrig. Jedenfalls zeigt sich mein Bruder Diethelm von meiner Art zu essen ziemlich genervt und gibt es mir deutlich zu verstehen. Ich reagiere sauer auf diese brüderliche Ermahnung: »Lass mich in Ruhe«, entgegne ich schnippisch. Darauf ergreift nun Hansel das Wort und stellt sich meinem Bruder zur Seite. »Ja, Ille, ich beobachte dich jetzt auch schon eine Weile und muss zugeben, Diethelm hat recht.« In diesem Augenblick springt mein Vater für mich in die Bresche: »Lasst mir mein Mädchen in Ruhe!«, herrscht er sie an.

Auch hier begegnet mir wieder dieses zwiespältige Gefühl: Einerseits bin ich stolz, dass er mich verteidigt. Andererseits empfinde ich vor allem bei dem Begriff »mein Mädchen« eine gewisse Scham, ja sogar Ekel. Es ist mir unangenehm, in dieser Art vorgeführt zu werden.

»Jesus ins Herz gemalt«

Vor einigen Jahren traf ich eine ehemalige Freundin wieder. Lange hatten wir uns mehr oder weniger aus den Augen verloren. Wie es so ist, sprechen wir über »alte Zeiten« und kommen dabei auch auf meine Geburtstagsfahrten und auf unsere Erlebnisse in der Sonntagsschule zu sprechen: »Dein Vater hat mir Jesus ins Herz gemalt«, erzählt sie mir. Ja, das kann ich nachvollziehen. Damals tut er es durch Geschichten, die er beispielsweise in der Sonntagsschule erzählt, aber vor allen Dingen durch den geradezu kindlichen Glauben, den er lebt. Jesus ist so real in seinem und in unserem Familienleben, dass es keinen Moment in meiner Kindheit gibt, in der ich nicht von seiner Gegenwart überzeugt bin. Ich bin quasi mit ihm groß geworden. Jesus, mein großer unsichtbarer Freund, der zu mir hält, mich nicht enttäuscht, allerdings traurig wird, wenn ich ihn enttäusche und mich nicht so verhalte, wie er es möchte. Trotzdem vergibt er mir und bleibt treu an meiner Seite. Er ist wirklich mein fester Halt. Gott als Vater oder Schöpfer spielt eher eine untergeordnete Rolle. Vom Heiligen Geist ist so gut wie gar nicht die Rede, zumindest nicht in meiner Erinnerung. Dieser Jesus fungiert im Leben meines Vaters aber auch manches Mal wie eine Schmerztablette oder wie ein Pflaster. Gibt es Schwierigkeiten, beispielsweise Spannungen, Meinungsverschiedenheiten, Trauer und so weiter, ist mein Vater immer schnell mit dem Beten bei der Hand. Das Gebet als Ausweg, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen, auch das lerne ich von ihm.

In unserer Familie gibt es nach dem Abendessen regelmäßige Andachten. Mein Vater liest einen Text aus der Bibel oder aus einem Kalenderblatt mit einer Auslegung und betet zum Schluss. Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass meine großen Geschwister diese Tischandachten mögen. Mir dagegen sind sie häufig eine Qual. Bei den langen Gebeten meines Vaters rutsche ich ungeduldig von einer Pobacke auf die andere und freue mich immer, wenn die Formulierung kommt: »Segne das gedruckte Wort und das Wort durchs Radio.« Ich verstehe zwar nicht die Bedeutung dieses Textes, weiß aber, dass bald darauf das erlösende Amen kommen muss. Besonders schlimm finde ich die Gebetsgemeinschaften, in denen wir alle ein freies Gebet formulieren. Dann sitze ich da in ängstlicher Erwartung, er könnte mich direkt auffordern zu beten. Sind wir als Familie unter uns, was recht selten vorkommt, geht es ja noch. Richtig peinlich und angstbesetzt wird es für mich, wenn Gäste mit am Tisch sitzen.

Einmal haben wir Gäste und gerade eine Mahlzeit beendet. Wir schließen den Abend mit einer Gebetsgemeinschaft ab. Mein Vater formuliert es dann so: »Wollen wir noch zusammen beten?« Ich beteilige mich nicht daran, schäme mich vor den Gästen, habe Angst vor meiner eigenen Stimme. Außerdem weiß ich nicht, was ich beten soll, zumindest nicht vor den Besuchern. Alle haben ihr Gebet gesprochen. Mir ist diese Stille ziemlich peinlich. Ich warte auf das erlösende Amen meines Vaters. Doch stattdessen fordert er: »Ilse-Ruth, du darfst auch beten.« Noch heute spüre ich die Röte, die mir ins Gesicht steigt. Ich schäme mich in Grund und Boden. Ich weiß nicht mehr, ob ich mit piepsiger Stimme ein Gebet gesprochen oder es ebenso piepsig abgelehnt habe. An was ich mich aber deutlich erinnere, ist die abgrundtiefe Scham, als alle die Augen öffnen, verbunden mit dem innigen Wunsch, unter den Tisch zu kriechen oder mich auf andere Weise unsichtbar zu machen.

Mein Vater ist ein sehr extrovertierter Mensch. Wo er geht und steht, kommuniziert er gern mit allen möglichen Leuten. Kombiniert mit seinem missionarischen Eifer kommt er immer schnell über seinen Glauben und über Jesus ins Gespräch. Das meine ich keineswegs negativ. Es ist nicht aufgesetzt, sondern sein wirkliches Anliegen, ganz nach dem Motto: »Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über.« Heute würde ich mich ebenfalls als eher extrovertiert bezeichnen. Jedenfalls wird es mir von anderen gespiegelt. In meiner Kindheit und Jugend sieht es aber noch ganz anders aus. Da bekomme ich vor lauter Schüchternheit kaum den Mund auf.

So sehr ich die Spaziergänge mit meinem Vater liebe, hasse ich es geradezu, wenn wir unterwegs bekannten Leuten begegnen. Dann präsentiert er mich als seine Tochter. Vor allem aber sein Missionseifer ist mir äußerst peinlich. Er versteht es tatsächlich, ganz gleich, um welche Gesprächsthemen es sich handelt, letztlich immer bei Jesus zu landen. Dabei ist mir heute durchaus bewusst, dass es nicht wenige Menschen gibt, die genau das an ihm geschätzt haben. Gleichzeitig macht es mir aber ein schlechtes Gewissen. Müsste es nicht bei mir genauso sein? Also versuche ich hin und wieder, ihm nachzueifern und damit meine christliche Pflicht zu erfüllen. Doch jedes Mal, wenn ich dies tue, wird es zum furchtbaren Krampf und wirkt sicher nicht gerade einladend.

»Onkel Karl«

»Na, Ilse-Ruth, freust du dich schon auf die nächste Hollandfreizeit?« »Jaaa«, kommt es lang gezogen und wenig euphorisch aus meinem Mund. »Na, Vorfreude sieht aber anders aus«, meint mein Gegenüber, ein alter Freund meines Vaters. Tatsächlich hält sich meine Vorfreude auf diese Freizeiten in Grenzen.

Klar, ich liebe das Meer – auch heute noch – mit seinen vielen »Gesichtern«, einmal ruhig und gleichmäßig dahinplätschernd und dann wieder als aufgepeitschte, tobende See. In meiner Kindheit fühlt sich das Meer für mich an wie eine Person, ein guter verlässlicher Freund. Es hört mir zu, ist immer da. Komme ich den Dünen näher, höre ich mehr und mehr sein Rauschen. Es erwartet mich auf der anderen Seite. Und auch heute noch bin ich überwältigt von dem Blick, wenn ich oben auf einer Düne stehe. Das Meer ist und bleibt mein schönster Rückzugsort. Nirgendwo komme ich so zur Ruhe wie bei langen einsamen Strandwanderungen. Doch ich liebe als Kind auch unsere holländischen Freunde, und ich mag De Helle, unser Freizeitheim, mit der umgebauten Scheune. Noch heute habe ich den ganz speziellen Geruch in der Nase. Es ist spannend, in alten Seemannsbetten zu übernachten, Nachtwanderungen mit Pechfackeln zu unternehmen, Ausflüge nach Zierikzee und Rotterdam zu machen, spannende Fortsetzungsgeschichten zu hören, bunte Abende, Sängerwettstreit und vieles mehr mitzuerleben. Doch Hollandfreizeiten heißen in unserer Familie lange vorher viel Stress und mühsame Arbeit. Viele Wochen vorher gibt es dann zu Hause nur noch ein einziges Thema. Außerdem ist es der Jahresurlaub meines Vaters. Das heißt: Einen wirklichen Familienurlaub kenne ich eigentlich gar nicht. Ich weiß, dass wir einmal als Familie auf der Insel Texel gezeltet haben. Doch da bin ich noch sehr klein, kann mich so gut wie gar nicht erinnern.

In den Freizeiten erlebe ich meinen Vater ganz anders. Da ist er der »Onkel Karl« für alle, irgendwie fremd und unendlich weit weg. Auch habe ich immer das Gefühl, mich besonders unauffällig benehmen zu müssen, um nicht zu stören, seinen »Auftrag« nicht zu behindern. Mag sein, dass sich das alles sehr negativ anhört. Aber so habe ich das nun mal damals empfunden.

Auf einer Freizeit, die schon lange zurückliegen muss, bekommt eine Teilnehmerin, die in einem Bett neben mir liegt, am Abend hohes Fieber. Ich gehöre noch zu den »Kleinen«, denn ich bin im großen Mädchenschlafsaal der umgebauten Scheune untergebracht. Es ist dunkel im Saal, die meisten schlafen bereits. Mein Vater kommt und trägt das fiebernde Mädchen auf den Armen ins Leiterzimmer. Ich bekomme es mit und spüre den tiefen Schmerz in mir: »Warum sie, warum nicht ich? Das ist doch mein Platz.« Am nächsten Abend bekomme ich ebenfalls hohes Fieber und werde von meinem Vater ins Leiterzimmer getragen. Doch es bricht keine Epidemie aus. Das Fieber bleibt auf uns beide beschränkt.

Im Nachhinein verbinden sich aber einige Fragen mit diesem Erlebnis. Wo haben eigentlich meine Eltern geschlafen? Denn wir Mädchen sind zumindest ein paar Tage zum Gesundwerden in diesem Zimmer geblieben. Ist es während dieser Zeit zu irgendwelchen Übergriffen gekommen? Nein, das glaube ich nicht. Denn in der Erinnerung daran sind meine Gefühle ausschließlich positiv.

Hier zeigt sich die Ambivalenz, in der ich mich als Kind befinde: die Sehnsucht nach seiner Nähe und die Angst davor, der Wunsch, Papis Mädchen zu sein, und der Ekel.