Foto: Julian Baumann
Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren und arbeitet als Journalist unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, Architectural Digest und Nido. Er veröffentlichte die Kolumnensammlungen Das habe ich jetzt akustisch nicht verstanden und Feldversuch. 2010 erschien sein Romandebüt Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe, das mit dem Münchner Literaturstipendium gefördert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis sowie dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde.
And after many a summer dies the swan.
Lord Tennyson
Die zwei Regeln meines Vaters. Führe ein Tagebuch. Sorge dich um die Hofstange. Die erste echte Erinnerung: Wie er an meinem sechsten Geburtstag ein schwarzes Büchlein auf den Tisch neben meinem Bett legt, bevor er den Hocker nimmt, um mir die Gutenmorgengeschichte zu erzählen.
Niemand bei uns, so hatte mein Vater entschieden, sollte jemals von einem Wecker geweckt werden. Stattdessen ging er jeden Morgen durchs Haus, ließ dabei die Holzdielen in Vorfreude knacken und erzählte in jedem Zimmer eine Gutenmorgengeschichte, erst der Lene-Mama, wenn sie da war, dann mir, und später bekam Lada ihre eigene. Dem Erzählen ging nichts voraus, keine Begrüßung, nur an diesem Geburtstag, an dem meine Erinnerung einsetzt, sagte er davor etwas wie: »Mein lieber Jasper Honigbrod, du bist jetzt sechs Jahre alt. Wie jeder große Mann der Geschichte wirst du von nun an natürlich ein Tagebuch führen.« Dazu sah er mich mit dem fordernden Stolz an, mit dem er das Inventar der ganzen Welt zu mustern pflegte. Seine Sommeraugen. Sein Mund, der nicht lachte, aber jederzeit kurz davor zu sein schien.
Ich nahm das Buch zu mir unter die Decke und drehte mich zur Wand, weil einem auf immer gehört, was man unter der eigenen warmen Decke hat, und weil mich der feierliche Ton meines Vaters genierte. Sein Blick auf mir, so prüfend, wie man es als Kind nicht gewohnt ist.
Dann begab er sich in seine bevorzugte Erzählposition, in der er mit halb geschlossenen Augen aus dem Fenster über meinem Kopf sah, und setzte meine Gutenmorgengeschichte an der Stelle fort, wo er sie gestern beschlossen hatte. Es war ein endloses Fortsetzungsabenteuer, in dem es Wünsch-Eimer gab und in dem die Menschen in Elefantenhäusern wohnten. Die Geschichte hatte schon damals ein unübersichtlich großes Personenregister. Mein Vater achtete über die Jahre darauf, dass keine der Figuren verlorenging, und ließ sie stets wieder auftauchen, wenn ich sie gerade vergessen hatte. Dann dichtete er ihnen eine Ausrede für das lange Verschwinden an, und es kam zu den schönsten Wiedersehen, die ich sogar beklatschen durfte, auch wenn er sonst während der Gutenmorgengeschichte Ruhe erwartete. Oft geschah es, dass ich den Beginn seiner Geschichte noch verschlief, und je wacher ich wurde, umso dringender erfahren wollte, ob ich in den ersten Minuten etwas verpasst hatte, was er durch geschickte Rückgriffe auch möglich machte. Wenn ich allerdings, das kam selten vor, mitten in der Geschichte abermals einschlief, erzählte er weiter und dachte nicht daran, die Fehlstellen zu erläutern. Deswegen gewöhnte ich mir an, so schnell wie möglich wach zu werden, und entwickelte darin über die Jahre eine Übung, die mich heute schon beim ersten Wimpernschlag Herr aller Sinne sein lässt. Was soll ich sagen, es gibt unpraktischere Gewohnheiten.
Meine Gutenmorgengeschichte hatte keinen Namen, sie drehte sich um eine Familie, die unserer Familie in Ansätzen ähnelte, auch wenn die handelnden Personen Titel trugen wie Großwesir oder Reiseritter Robert, wobei mein Vater sich den Großwesir als seinen Charakter ausgesucht hatte und der Reiseritter Robert wohl mir zugeschrieben war, denn diese Figur pflegte für gewöhnlich in einem dottergelben Schlafanzug zu verreisen, wie auch ich lange Zeit einen besaß. Was bei uns auf dem Hof geschah, fand sich in einigem Abstand in der Geschichte wieder, wenn auch meistens auf eine Art, als würde man die Ereignisse durch einen trüben Kristall betrachten, unscharf und funkelnd, sodass ich als Kind die Zusammenhänge nie auf Anhieb herstellen und sie erst eine Weile später Stück für Stück zusammensetzen konnte.
Ich erinnere mich, dass mein Vater an jenem Geburtstag, an dem ich mein erstes Tagebuch bekam, noch einen Bart trug, der aussah, als wäre er jahrelang zur See gefahren, und ich erinnere mich, dass der Bart später an diesem Tag kahle Stellen bekommen sollte, die nie wieder zuwachsen würden.
Mehr Geschenke erhielt ich damals nicht, und ich verlangte auch nicht danach, das gehörte zu den Dingen, die es bei uns in Pildau nicht gab, wie manch anderes auch, was ich erst viel später und oft aus den Kindheitserinnerungen anderer erfuhr. Für diesen Morgen war ich zufrieden wie ein kleiner König. Das schwarze, linierte Buch unter der Decke war wertvoll genug, auch wenn nichts darin stand und ich noch nicht schreiben konnte, ich konnte bis jetzt nur Automarken buchstabieren. Diese Tatsache hatte der Großwesir bei seinem Geschenk nicht in Betracht gezogen. Er setzte, das kann ich heute so sagen, bei allen Menschen sein Universitätsniveau voraus und war zumindest leicht irritiert, wenn man ihm nicht leichtfüßig dorthin folgte. Hätte ich ihm damals gesagt, dass ich noch nicht schreiben konnte, wäre ihm das wie ein kurioses Missverständnis vorgekommen. Most entertaining, das wäre sein Kommentar gewesen, und er hätte sich peinlich berührt zurückgezogen wie jemand, der versehentlich die Tür zum falschen Zimmer geöffnet hat. Also schwieg ich über die Details meines Analphabetismus und trug das leere Buch den ganzen Tag mit mir herum, weil es etwas damit zu tun hatte, dass er mit mir sprach wie mit einem Erwachsenen.
Vielleicht muss ich, bevor dieser sechste Geburtstag fortschreitet, etwas über den Ort schreiben, an dem ich diesen und alle anderen Geburtstage bis zu meinem zwanzigsten verbrachte.
Pildau ist in der Flurkarte als Hofstelle eingetragen, das ist etwas mehr als ein Bauernhof, auch wenn es zu meiner Zeit schon etwas weniger war. Ganz früher hatte es zwei große Höfe gegeben, ein paar Nebengebäude und zwei Austragshäuser, dazu eine kleine Kapelle, die aussah, als wäre der Dom von Padua im Verhältnis eins zu vier geschrumpft worden. An der Kapelle gab es einen schon ins Unscharfe verwitterten Gedenkstein, auf dem zu lesen stand, dass hier ein Papst geboren worden war, mit Namen Poppo von Brixen. Ich hielt den Stein und Poppo lange Zeit für einen der aufwendigeren Witze meines Vaters und stolperte erst später und zufällig in einem Buch über das kurze, glücklose Leben des Papstes Poppo in Rom, das keinen ganzen Monat gedauert hatte. Das hinderte meinen Vater natürlich nicht daran, mir gelegentlich die Hand auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Jasper, wie du vielleicht weißt, werden bei uns Päpste geboren.« Dazu setzte er seinen enttäuschten Kardinalsblick auf und beließ es ansonsten dabei. Der Spruch verfehlte nie seine Wirkung, ich war zuverlässig beschämt, auch wenn ich nie Papst werden wollte.
Die Hofstelle jedenfalls war verlassen und bestand aus kaum mehr als unserem Haus, in dem ich mit meinem Vater, meinem Großvater und gelegentlich der Lene-Mama wohnte. Die hieß Marlene und war nicht meine richtige Mama, aber das war mir egal, ich mochte sie, wenn sie da war, und vermisste sie nicht, wenn sie weg war, und ich vermute, den beiden anderen Männern ging es ähnlich. Unser Haus war eines der behäbigen Bauernhäuser, wie sie diese Gegend eben hervorgebracht hat, mit breiter Front und vielen winzigen Fenstern nach vorn. Die gekalkte Fassade ging nach einigen Metern rückseitig in einen verholzten, langen Kuhstall über, wodurch das Gebäude etwas außer Form geriet. In dem Stall gab es keine Tiere, dort arbeitete mein Vater oder hielt sich zumindest die meiste Zeit dort auf. Vor dem Haus verlief der Feldweg, der die einzige Zufahrt nach Pildau war. Ich kannte tausend Wege zu unserem Haus, aber es gab nur einen, auf dem die Zündapp meines Vaters fahren konnte. Der Feldweg machte eine kreisrunde Schleife um unsere Hofstange und führte dann wieder zurück. Danach kamen nur noch Wiese und Acker und der Löschweiher, an dessen Ufer eine Reihe Pappeln und Birken und eine ansteigende Wiese grenzten, die wir den steilen Berg nannten, ich weiß nicht genau, warum. Auf meinem Schlitten im Winter kam er mir tatsächlich steil vor, zumal es als Auslauf nur den Weiher gab, aber heute ist der steile Berg doch kaum mehr als einer jener sanften Hänge, die dieser Landschaft etwas Schwung geben und sie eine Winzigkeit aufregender machen als das Umland.
Es ist wohl so, die Abenteuer, die wir zu Beginn unseres Lebens in jeder Hecke, an jedem Stein und jedem Hügel sehen, kommen uns später so gewöhnlich vor wie das ganze Leben. Aber zuerst sind diese Dinge die Grenzposten alles Neuen, die Marksteine unserer ganzen Welt, und es ist möglicherweise wichtig, das nicht zu vergessen.
Links neben dem Weiher war eine weitere Scheune, in der der Rübenernter Universal meines Großvaters aufgebockt steht, etwas oberhalb die Kapelle, meistens abgeschlossen, da ihr Dachstuhl morsch war und niemand wusste, wie lange er noch oben blieb. Der zweite Hof lag versetzt hinter unserem und war, seit ich ihn kannte, verfallen, er hieß der Pfänderhof, und nie nannten wir ihn anders. Er trug ein enges Kleid aus Holunderbüschen und Brennnesseln, das ihn jedes Jahr dichter umgab, als würde es seinen Verfall vor Blicken schützen wollen. Das Dach des Pfänderhofs lag seit einem Winter, an den sich niemand mehr erinnerte, zerdrückt im ersten Stock, eine ganze Seitenmauer war zu einem Steinhaufen zerfallen, auf dem Himbeeren wuchsen und der die Grenze war, bis zu der ich mich der Ruine nähern durfte. Die Scheune des Hofes war noch zu benutzen, sie hatte ein großes Tor, das ich allein niemals öffnen konnte. Das war die Pfänderscheune, und sie diente den Opis als Lagerhalle. Ich sagte damals zu allen Erwachsenen Opis, das war einfacher, und ich möchte es für diese Erinnerungen so beibehalten, bis sich die Dinge verkomplizieren.
Es gibt übrigens ein altes Luftbild von Pildau, das lange über dem Brotkasten in unserer Küche hing, darauf sind beide Höfe noch ganz, und die Hofstange sieht viel dünner aus als heute. Man kann darauf auch erkennen, wie der Weg gleich nach unserer Hofstelle eine weite Rechtskurve macht, in einem Wald verschwindet, ganz woanders wieder hinausführt, und dann ist das Foto zu Ende, aber ich kann heute ergänzen, dass noch mal zwei Kilometer nur Maisfelder folgen, und dann erst wird der Weg wieder von anderen Häusern gefasst. Das war das Dorf, zu dem Pildau auf dem Papier gehörte, aber wir Menschen aus Pildau gehörten nicht zu dem Dorf. Mein Vater sagt, soweit er in den Aufzeichnungen zurückblättern konnte, waren die Pildauer im Dorf nicht gern gesehen, und umgekehrt. Der mäßig erfolgreiche Papst Poppo konnte nichts dafür, die Dinge mussten sich etwas später quergelegt haben, und daran würden wir Honigbrods mittelfristig wohl nichts ändern. Wir unternahmen auch keine Anstrengungen in diese Richtung.
Einmal, es war noch vor meiner Geburt, aber die Geschichte wurde stets so erzählt, dass ich alle Zeit in dem Gefühl lebte, es wäre erst vor zwei Jahren gewesen, einmal hatte es tatsächlich den Versuch gegeben, unsere Hofstelle besser anzubinden an das Dorf und die Dorfstraße, die erst noch zu weiteren Dörfern führte und klein blieb, bis schließlich ein Ort kam, der mehr Straßen hatte, Parkplätze und Eisenbahn, und in dem das begann, was für mich das »weg« in »wegfahren« bedeutete. Es waren also an einem linden Märztag Männer gekommen, so ging die Geschichte in der Version meines Großvaters, er betonte immer den linden Märztag, Männer vom Vermessungsamt. Sie hatten Holzstäbe in die brachliegenden Felder gerammt, wo die neue Straße verlaufen sollte, und das allein dauerte zwei Wochen. Dann verschwanden die Männer, dafür kamen Frühling und Sommer, und die Stangen, die unsere Straße werden sollten, standen lustig in Mais und Gerste. In den ersten Septembertagen, früher als sonst, kamen die Mähdrescher der Bauern aus dem Dorf, und danach waren die Stangen verschwunden, und es wurde nie wieder versucht, etwas anderes als einen ausgewaschenen Feldweg nach Pildau führen zu lassen. Ein Glück, sagte mein Großvater, wann immer er die Geschichte erzählte, und dann lachte er, und es war ein seltenes, heimatliches Geräusch, in das ich mich verkriechen konnte wie in meine bettwarme Decke.
Ich denke heute, dass wir anfangs in Pildau einfach vergessen waren. Alles, was sich vielleicht an uns erinnerte, strandete in dem mürrischen Dorf, in dem es keinen Wegweiser und kein Schild gab, das auf uns verwies. Meistens waren sogar die Kurve der Landstraße, an deren Scheitel unser Feldweg abging, und die Stelle, an der unser Briefkasten stand, nicht gemäht worden, sodass hinter Spitzwegerich und Wiesenschaumkraut nichts darauf hindeutete, welche Bestimmung der Weg noch hatte. Die Opis taten manches dafür, dieses Vergessen zu pflegen, weil es ihnen geruhsamer erschien als Aufmerksamkeit an diesem kleinen Platz, an dem sie einigermaßen freiwillig lebten und ich aufwuchs, unfreiwillig, aber ausgestattet mit jenen Eigenschaften, die ein Kind auch unter widrigen Umständen groß werden lassen: Bedürfnislosigkeit und der Bereitschaft, sich mit allem zu arrangieren. Ich wusste noch nichts vom ganzen Rest jenseits des Wiesenschaumkrauts.
Ging man auf einem kleinen Trampelpfad den steilen Berg hinter dem Weiher hinauf, gelangte man in einen Wald aus ganz dünnen Eichen und Buchen, der die Kuppe des steilen Berges bewuchs wie ein Haarschopf. Einen Sturm merkten wir am Hof immer zuerst, wenn er in diesen kleinen Wald fuhr und ein breites Geräusch machte, von dem der Vater sagte, es klänge, als würde sich eine hohe Welle auf voller Breite brechen. Der Pfad führte quer hindurch, über niedrige Blaubeersträucher und vorbei an ein paar verwachsenen Trichtergruben, die je nach Erzähllaune der Opis von versehentlich fallen gelassenen Bomben rührten oder von einem alten Versuchsbergbau nach Kupfer oder aber von einem frühzeitlichen Gräberfeld. Ich fand alle drei Aussichten spannend und verbrachte Wochen damit, Beweise für die eine oder andere Theorie zu finden, was mir jeweils auch in Ansätzen gelang und was meinem Vater bei der feierlichen Präsentation eines oxidierten Steines oder einer Patronenhülse nie etwas anderes entlockte als: »Wenn du wirklich etwas gefunden hast, Jasper, geh los und erzähle den anderen davon.« Er pflegte ein großes Arsenal an Bemerkungen, die ich nicht ganz verstand.
Bis zu den Gruben durfte ich allein, das war der weiteste Punkt vom Hof, die dünnen Eichen auf dem Gipfel des kleinen Berges waren mein Pol. Aber der Trampelpfad ging noch weiter, und wenn man ihm folgte, trat man bald auf der anderen Seite des Hügels aus dem dünnen Wald und hatte, weit unter sich, die Straße. Es gab nur die eine, wann immer wir von einer Straße sprachen, meinten wir diese, denn im Vergleich zu ihr war alles andere hier nur Weg. Die Straße war, glaubte man den Karten, eine Bundesstraße erster Ordnung, zweispurig mit tiefen Fahrrinnen. Sie war Tag und Nacht befahren und die größte Gefahr für ein freilaufendes, mutterloses Kind, das hatten die Opis von Beginn an so bestimmt, und es gab für mich keinen Grund, daran zu zweifeln. Alles, was mit der Straße zusammenhing, war mir allein verboten. Bei uns am Hof auf der anderen Seite des Hügels hörte man sie nur in den Nächten, wenn der Wind aus Norden kam, was aber selten war. Dann ließ er den dunklen Kanon der Motoren bis zu uns wehen, nie war da etwas einzeln, immer war es ein Chor, eine ewige Bewegung, es rollte von rechts nach links und von links nach rechts, beide Seiten waren ausgelastet. Gemeinsam mit den Opis durfte ich den Wald bis zu dieser Aussicht durchqueren, und dann saßen wir auf einer Bank aus Baumstämmen vor diesem Fluss, der zu jeder Jahreszeit und ohne eine wahrnehmbare Veränderung unter uns durchs Tal strömte.
Der Großvater brachte mir da die Automarken bei, schon bevor ich ansatzweise sprechen konnte. Das ging: Audi Gaudi, Opel Popel, BMW tutsoweh, Pöscho hoho, Citroën ich muss gehn und so weiter, ein ganzes Alphabet, das ich viel früher beherrschte als das eigentliche, weil es lustiger war. Sein Unterricht für mich bestand auch darin, die Autos von oben den richtigen Marken zuzuordnen. Als wären es entfernte Tiere, die wir dabei beobachteten, wie sie aus der Ferne auf uns zurasten und unter uns vorbei, um bald wieder am Horizont zu verschwinden. Wir waren Zuschauer auf einer Rennbahn, in Sicherheit zwar, aber doch nah genug, um uns von der Geschwindigkeit kitzeln zu lassen. War der Großvater gut gelaunt, dirigierte er die Autos, winkte sie unter uns durch wie ein Lotse, während er mich ihre Marken riefen ließ. Zu meiner Genugtuung gehorchte ihm der Verkehr und hielt sich an die Anweisungen des tänzelnden Ludwig Honigbrod in seiner blauen Jacke. Ich habe keine Erinnerung an ihn, die ihn anders als gut gelaunt zeigen würde, alle Bilder, alle Momente aus allen Augenwinkeln, selbst alle Traumgesichter sind warme, hellbraune Großvaterfalten und frische Petersilie. Manchmal rief er mit einem Trichter aus seinen Händen »Vorsicht!« hinunter, wenn wir ein Überholmanöver beobachteten, oder auch nur: »Nicht jetzt, Mostschädel!« Ich durfte dann auch rufen, so laut ich konnte. Der Ingenieur in ihm wusste Modellnummern und meistens auch noch PS und Baujahr von allem, was unter uns rollte, erkannte die großen Speditionen, deren Lastwagen in schmutzigen Kolonnen fuhren, und manchmal sagte er sogar, was sie geladen hatten. Er war so lange hier, dass jedes Auto schon mal vorbeigefahren war. »Du musst nur Geduld haben, irgendwann kommt alles zu dir, wenn du an einer großen Straße wohnst«, sagte er auf dem Rückweg durch den Wald.
Es war unser Abschnitt, den wir von der Bank aus überblickten, so nannten es die Opis, unser Abschnitt, was mir einleuchtete, schließlich thronten wir hier oben, und mein Großvater bewachte und dirigierte das Treiben da unten. Wenn wir da wie die Grafen am Waldrand saßen und Haselnüsse mit den Zähnen knackten, war ich sicher, dass es hinter den anderen Hügeln ähnliche Bänke mit ähnlichen Großvätern, Vätern und vielleicht auch Kindern gab, die diese Aufgabe erledigten, und ich hätte sie gern besucht, wegen der anderen Kinder. Mein Vater blieb bei den Sitzungen stumm und beteiligte sich nicht an dem Lotsenamt des Großvaters, er ließ stattdessen seinen Blick unruhig entlang der Straße laufen, die sich als Band durch die Landschaft zog, bis sie in vager Biegung hinter Anhöhen und Hügeln verschwand. Dort hinten, wenn es nach links, wo der Großvater saß, weiterging, kam die Grenze. Wie jedes Kind konnte ich nicht erklären, was eine Grenze war, aber das Wort allein hatte ja alles, was es brauchte. Es war das Schnittige, mit dem die Opis es aussprachen, das Endgültige seines Klangs, das mich lange annehmen ließ, die Grenze dort wäre eine Art Ende der Welt. Als ich älter war, schien sie mir immerhin noch eine universale Prüfung zu sein, der sich alle Reisenden zu unterziehen hatten, vielleicht hatte ich das aber auch aus einer Episode meiner Gutenmorgengeschichte. Die Grenze lag noch etwa dreißig Kilometer von Pildau entfernt, das Land, das dahinter begann, war Tschechien, und ich war im Gegensatz zum Reiseritter Robert niemals dort. Denn das gehörte auch zu unserem Straßenbesitz, dass wir nie auf der großen Straße fuhren. Als wäre unsere Welt hinter dem Hügel mit dem Löschweiher, den alten Schuppen und Himbeersträuchern die wahre und die Straße, auf der Tag und Nacht wie besinnungslos die Lastwagen fuhren, nur Auswuchs einer ganz anderen Welt, dessen Aufsicht wir gnädig übernahmen. In meiner Gutenmorgengeschichte gab es ein eingesperrtes, grau gestreiftes Monster, ein bisschen dumm, wenn ich mich richtig erinnere, mit dem der Großwesir jahrelang seine liebe Not hatte und das nichts essen wollte außer Teertee und Asphaltbraten. Das Monster, das war die Straße.
Auf der einen Seite das Dorf, auf der anderen Seite die große Straße, dazwischen Pildau, ein in den Hügeln vergessener Hof mit drei Generationen Honigbrods, die hier nicht heimisch waren, wie mein Vater oft betonte. Eine seiner Kurzpredigten nach dem Abendessen ging etwa so: »Du musst nirgends heimisch sein, weil du es überall sein wirst, Jasper. Und wer will schon heimisch sein in einer Gegend mit derart vielen halben Hügeln, nicht wahr? Schwöre mir, dass du Mittelmäßiges immer den anderen überlässt. Sei nie der dritte Bobfahrer, hörst du? Richtige Berge oder das Meer, das wäre eine angemessene Kulisse für einen Jasper Honigbrod, nicht wahr?« Dabei zeigte er auf mich und meinte natürlich trotzdem sich.
Auch wenn es einem Beobachter nicht gleich aufgefallen wäre, folgte unser Leben in Pildau einem festen Takt, was für ein Kind, so sagt man, etwas Gutes ist. Mir war es aber egal, denn ich wusste ja nicht, dass es nicht der Takt der ganzen Welt war. Nach seiner Runde mit den Gutenmorgengeschichten trank mein Vater für gewöhnlich Zuckerkaffee in der Küche, die unter meinem Zimmer lag. Dann ging er die Schleie füttern und verschwand später in seinen Arbeitsräumen im alten Kuhstall, die sich hinter einer rostrot lackierten, niedrigen Tür mit Riegelschloss erstreckten, das der Großvater jeden Winter einmal zerlegte, um mir seine Funktion zu erklären. Das Füttern war eine der beiden externen Aufgaben meines Vaters, die er jenseits seiner Arbeitsscheune übernahm, für die meisten Dinge rund um das Haus war sonst der Großvater zuständig.
Mein Geburtstag fällt auf den zehnten April, und dieser, an dem meine erste vollständige Erinnerung einsetzt, war ein sehr hellgrüner Tag kurz vor Ostern, an dem sich draußen alles so neu aufgetragen anfühlte, dass selbst mein Vater einen kurzen Augenblick lang auf der Türschwelle stehen blieb und einen Moment zerstreut über jene Begebenheit nachdachte, die die restliche Welt Frühling nannte. Ich trottete ihm im Schlafanzug nach, das Buch unter dem Oberteil an die Brust gedrückt, und sah zu, wie er gequollenen Mais oder Weizen ins dunkle Wasser des Weihers pladdern ließ. Die Schleie lebte im Löschweiher vor dem Haus und war nicht zu sehen, obwohl der Weiher klein war. Wie immer warteten wir zusammen eine ruhige Minute lang, ob etwas geschah, aber die Wasseroberfläche setzte ihren Belag aus Weidenpollen und Mückenschlupf schnell wieder über der Unruhe zusammen und verriet niemals etwas. Ich denke heute, nie war ich diesem unentwegt in Fußnoten denkenden Mann näher, der kurioserweise mein Vater geworden war, als beim gemeinsamen Warten auf die Schleie. »Sie ist da«, sagte er in diesen Momenten gelegentlich, »in so einem kleinen Wasser verschwindet ja nichts.«
Der Großvater Honigbrod hatte den Fisch gefangen, als er selbst noch jung war, in einem Altwasser, das es nicht mehr gibt. »Das Altwasser ist verlandet, und der Altopa wird bald verhimmelt sein«, so pflegte er bisweilen den Verlauf der Zeit festzustellen, wenn er unseren Klappkalender in der Küche einen Monat weiterdrehte, worauf mein Vater, der sonst ein weitgehend unaufmerksamer Mensch war, sich gezwungen sah, ein Geräusch zu machen, irgendeines, das die lange Sekunde nach einer großen Wahrheit auffüllte. Der Großvater hatte die Schleie lebend auf den Hof gebracht, in einem Fischkorb aus Holz, den er auf der Schulter tragen konnte, und sie dann in den Löschweiher gesetzt. Heute kommt es mir seltsam vor, dass nie jemand das Überleben der Schleie in Frage stellte, sondern alle wie selbstverständlich davon ausgingen, der Fisch wäre wie der Großvater in den letzten fünfzig Jahren nur etwas älter und langsamer geworden.
Als Sechsjähriger fand ich es gut, einen unsichtbaren Fisch zu kennen, auch wenn ich mir gelegentlich wünschte, er wäre weniger unsichtbar, dann hätte ich vielleicht mit ihm spielen können. Das müsste, dachte ich an diesem Tag, am Bein meines Vaters zupfend, durchaus Inhalt einer allerersten Notiz im Tagebuch sein, sobald ich schreiben konnte. Bis es soweit war und weil in meiner Gutenmorgengeschichte auch ein vorwiegend unsichtbarer Dornhai vorkam, der immer dann befragt wurde, wenn die Menschen in Schwierigkeiten steckten, und der in letzter Minute die richtigen Antworten wusste, nahm ich die Geheimniskrämerei unserer Schleie als notwendiges Verhalten interessanter Fische hin.
Nach dem Füttern kontrollierte mein Vater jeden Tag die Hofstange, das war seine zweite externe Aufgabe, die er sich aber mit dem Großvater teilte. In dieser Sache trauten Vater und Sohn einander nicht, und ich erinnere mich, dass abends oft unterschiedliche Expertisen zum Zustand des Stammes vorlagen, die beide Männer jeweils mit Überzeugung vertraten. Das Gestell der Stange schloss links an den Weiher an und lag damit mitten auf unserem Hof, zwischen Haus und Scheune. Als Kind erschien mir das Podest, auf das der Vater zum Prüfen steigen musste, sehr hoch, ich konnte noch lange Zeit aufrecht darunter hindurchmarschieren. Es ähnelte jenem Podest für Blaskapellen in Bierzelten, nur dass an jener Stelle, an der vielleicht ein Dirigent sitzen würde, die Stange eingelassen war. Bei uns stand sie in einer mächtigen Fassung aus rostenden Hebeln, Zahn- und Schwungrädern, die der Großvater gebaut hatte. Aus diesem geschmiedeten Korsett ragte die Hofstange mit ihrem gedunkelten Holz. Zu der Zeit, von der ich erzähle, hatte sie schon etwa den Durchmesser eines Lastwagenreifens.
Vielleicht muss ich erklären, was eine Hofstange ist, auch wenn es in unserer Gegend jedes Kind weiß. Das Wichtigste: Eine Hofstange ist etwas sehr Altes und zu allen Zeiten der größte Stolz ihrer Besitzer. Früher hatte jeder große Hof hier eine, und das geht auf die Marienverehrung in dieser Gegend zurück. Im Mittelalter trugen die Gläubigen an bestimmten Tagen des Kirchenjahres Marienstangen um ihre Höfe und Dörfer und pflanzten sie nach der Prozession in der Mitte ihrer Siedlung in den Boden, wie einen Maibaum, nur dass die Marienstangen ganz dünn geschält und ungeschmückt waren und ihre Spitzen sich im Wind biegen mussten, erst dann war es recht. Ganz genau weiß man nicht, wie es kam, aber der Marienkult nahm über die Jahrhunderte immer trotzigere Züge an. Je mehr die Kirche davon abrückte, desto inniger warfen sich die Bauern hier hinein, und das Stangentragen wurde, glaubt man den wenigen Chronisten, zu einem Landfieber, mit immer längeren Stangen und immer mehr Verletzten, denn die getragenen Bäume waren kaum noch mit zwei Mann zu heben. Schließlich gab man die Prozessionen auf und beschränkte sich darauf, die Stange zu verlängern. Es wurde die heiligste Pflicht, sie dreimal im Jahr ein Stückchen weiter hin zur Muttergottes zu schieben, von der man in dieser Gegend annimmt, sie sitze im Himmel links vorn. Von jedem Meter, den ihr Hof und ihre Heimaterde mit der Stange näher nach oben rückten, versprachen sich die Bauern Segen für ihre Felder und Friede in Stall und Haus. Reiche Bauern ließen bald komplizierte Hebeanlagen konstruieren, die das Längen der Stangen vereinfachten und die nebenbei ein würdiges Statussymbol waren. Wenn der Tag der Hofstange gekommen war, pilgerten die Menschen von weither und sahen zu, wie die Stange sehr langsam einen oder zwei Meter gehoben wurde, worauf Knechte hinzuspringen und das nächste Stück Stamm einsetzen mussten, das mit einem langen Stift in der Mitte geschnitzt worden war und einem Loch im Boden, für den nächsten Stift. Jeder dieser Stecker war immer fingernagelbreit dicker als der alte. Ausgestattet mit Wachstumsringen wie bei einem richtigen Baum, wuchsen die Marienstangen damit aus den Dörfern, bald ragten ihre Spitzen auch über die Hügel der Landschaft, bald war ihr Ende mit dem Auge von unten nicht mehr auszumachen, aber das ferne Pfeifen vom Wipfel spornte die Gläubigen unentwegt an. Die Stämme steckten in eisernen Käfigen und wurden auf den ersten zehn Metern noch von langen Eisenstäben geschient, aber nur zur Sicherheit, denn eine gut gebaute Hofstange stand in sich fest, wie ein riesiger und perfekt konischer Baum ohne Äste.
In diese Zeit fiel der große Kahlschlag der hiesigen Wälder, der Holzverbrauch der mehrfach im Jahr wachsenden Marienstangen war enorm. Eichen waren besonders begehrt, denn eine Eichenstange, so sagte man, stand stabiler als eine Fichtenstange und vertrug die Witterung der Jahrhunderte, auch wenn manche darauf vertrauten, dass eine Mischung aus allen Hölzern die beste Stange ergab, weil sie etwas flexibler war und besser in den Winden lag. Statt in die Kirche zu gehen, die gegen jede Vernunft keine Stange, sondern nur Turm und Glocken hatte, stieg die Landbevölkerung sonntags auf die Hügel, um an klaren Tagen etwa abschätzen zu können, welche der Hofstangen, die in der Mundart hier auch »Poln« genannt wurden, gesprochen aber mit weichem P, am höchsten, welcher Bauer der respektabelste war. Aber bald verloren sich auch diese Schätzungen im Dunst der Höhe. In den besten Zeiten, das hatte der Vater mal aus einer der Heimatchroniken vorgelesen, die er zur Entspannung studierte, waren etwa vierhundertachtzig Poln gestanden. Sie wurden von Generationen von Bauern gepflegt und waren Stolz und Wahn jedes Hofes. Es gibt zahlreiche Berichte von Stängnern, die über der Pflege und dem Wuchs ihrer Hofstange die Landwirtschaft vernachlässigten und den Hof in den Ruin trieben.
Mit der Strahlkraft der Muttergottes ging auch die Zahl der Hofstangen in den letzten beiden Jahrhunderten zurück, ein Sturm im Jahr 1867 riss allein fünfundfünfzig der fest verankerten Poln zu Boden. Blitze waren ein anderes häufiges Ende, auch wenn gesagt werden muss, dass sie wesentlich seltener zum Fall einer Stange beitrugen, als man das gemeinhin annehmen möchte, aus den besonders gläubigen Epochen sind jedenfalls überhaupt keine Blitzschläge verzeichnet. Hofstellen gaben ihre Stange auch auf, wenn sie nicht mehr zu längen war oder die Höfe als Erbteile zertrümmert wurden. Dazu setzte man von Saumhändlern teuer gekaufte Termiten in die Stämme und ließ ihnen ihr Werk, bis die Stange irgendwann ausgehöhlt war und leicht wie Balsaholz in sich zerfiel oder vom Wind zertragen wurde.
Pildau hatte noch eine intakte Hofstange, und wenn die Opis auch sonst nichts auf das Gebaren der Bauern gaben, war ihnen dieses Erbe des Ortes als Herausforderung hochwillkommen. Die Hofstange war für uns morgens der erste und abends der letzte Blick. Ohne sie, das wusste ich genau, wäre die sehr alte Hofstelle Pildau auseinandergefallen wie die Stäbe eines Mikadospiels.
Der Großvater pflegte sanft den ächzenden Stamm zu tätscheln und mir zu flüstern, wie er meinem Vater als Kind erzählt hatte, die Erdachse würde in Gestalt dieser Stange austreten und folglich befänden wir uns hier in Pildau, wie jedem einleuchten müsse, am Ende der Welt. Ich kann mir heute nicht vorstellen, dass mein Vater jemals jung genug war, diesen Unsinn zu glauben, aber wann immer die Sprache auf diese Sache kam, ging er darüber hinweg, und nur seine Mundwinkel ließen glauben, dass etwas Winziges daran sein könnte.
Mein Vater Max Honigbrod kontrollierte die Stange, indem er das rechte Ohr daran legte, er horchte auf die Geräusche am Stamm und wie sich der Wind darin fing, und ich sah ihm dabei von unten zu. Jeder Fehler im Stamm und jede Veränderung lässt sich hören, das war seine Überzeugung. Manchmal winkte er mich herauf, wenn oben ein besonderes Wetter war, dann presste ich mich an das blanke Holz und musste lautlos bis achtzehn zählen, danach erst konnte ich den Wind und die Wolken hören, die um unsere Stange zogen. So lernte ich früh die Zahlen bis achtzehn, ohne zu ahnen, dass der Achtzehn im Dezimalsystem keine große Aufgabe zufällt. »Wenn du groß bist, wirst du hier schon bis zwanzig zählen müssen«, sagte mein Vater an diesem Geburtstag zu mir, an dem oben im Himmel über uns nichts zu hören war als das laue Streichen der Höhenwinde.
Wie weit die Stange hinaufreichte, das gehörte zu den wichtigsten Fragen auf dem Hof. Mein Vater hatte mehrmals versucht, mittels geometrischer Peilmessung im Abgleich mit den historischen Daten unserer Hofstange eine Länge zu bestimmen, während der Großvater früher mit seinen Steigeisen hinaufgeklettert war, um irgendwann einen Blick auf die Spitze zu haben und dann zu schätzen, in welcher Höhe sie sich befand. Die Steigeisen waren mir verboten, auch, sie nur an der Birke auszuprobieren. Der Großvater hatte sie nach dem Krieg einem Monteur abgekauft, der die Strommasten nach Pildau gebracht hatte, damit man sich an ihnen hinaufhangeln konnte. Die Technik brauchte Übung, die Hofstange musste dabei zwischen die Schenkel geklemmt werden, die Hände legten einen Lederriemen um den Stamm, und ich habe nur ein einziges Mal gesehen, wie er damit ein paar steile Meter hochkroch, um ein Spechtloch zu gipsen.
Von seinen frühen Reisen die Stange hinauf aber kursierten die absonderlichsten Berichte, etwa der, wie er einmal so hoch gekommen war, dass ihm ein Eisbart im Gesicht wuchs und er freie Sicht bis zum Fujiyama hatte, der, wie man mir sagte, in Japan liegt. Als Kind war das meine liebste Großvater-Geschichte, und ich ließ sie mir ein ums andere Mal erzählen, wenn ich mit ihm Unkraut jätete, den Mais der Schleie zum Quelltrog schleppte oder Pilze zum Trocknen auslegte. Keine Herangehensweise der Opis aber hatte eine exakte Auskunft über die Höhe der Pildauer Stange geben können, denn das Ende hatte keiner der beiden gesehen.
Etwas später als diese erste Erinnerung, ich muss so etwa acht Jahre alt gewesen sein, denn Lada war schon eine Weile bei uns, rief uns mein Vater eines Abends in seinen Arbeitsstall, was ein außerordentlich seltenes Ereignis war, und teilte uns im Schein einer Scherenlampe mit, wie er angesichts des gerade von ihm recherchierten Errichtungsjahres 1702 und bei einer angenommenen Verlängerung von fünf Meter pro Jahr zu der Überzeugung gekommen sei, die Stange auf eine Länge von mindestens eineinhalb Kilometer zu schätzen. Dass diese erste historische Hochrechnung Lücken hatte, gab er zu, weil sie jene Zeiten nicht berücksichtigte, in denen unsere Vorfahren in Pildau ausnahmsweise jeden Monat längten, um akute Notstände wie Dürre, Krankheiten oder Kriege abzuwenden, die sich in diesem Landstrich zahlreich ereignet hatten. Mein Großvater zeigte sich an diesem Abend wenig beeindruckt von der feierlichen Entdeckung. Die Geräusche, die man mit bloßem Ohr hören könne, sprächen für eine höhere Stange, sagte er, so höre er und jeder andere Mensch mit meteorologischem Verstand doch etwa deutlich das Schnarren der kleinen Zirruswolken, wenn sie an die Nadel stießen.
Wie viele andere Hofstangen es noch gab, das wussten wir nicht, oder ich kann mich nicht erinnern, dass etwas dazu gesagt wurde. Von unserer Straßenaussicht sahen wir keine, aber es war doch unwahrscheinlich, dass unsere die letzte war. Der Großvater berichtete von einem Team des Schweizer Fernsehens, das vor geraumer Zeit schon auf den Hof gekommen war und das Längen gefilmt hatte. Schweizer haben einen Sinn für so was, sagte er. Die kleine Flugverbotszone, die mit Rücksicht auf die Eigenheiten der Region hier eingerichtet worden war, war jedenfalls weiterhin in Kraft. Kondensstreifen am Himmel hatten deswegen für mich als Kind einen außerordentlichen Nachrichtenwert. Noch heute weise ich gelegentlich darauf hin, was niemand verstehen kann, der nicht in einer Flugverbotszone aufgewachsen ist.
Ich fand nichts daran, eine Hofstange zu haben. Es erschien mir so wenig zweifelhaft wie die Existenz unserer Haustür oder von Zuckerkaffee. In den ersten Jahren stellt man sich nicht vor etwas Seltsames und findet es seltsam, man lässt es sich mit Wonne gefallen.
Mein sechster Geburtstag war kein Stangentag, deswegen ging der Vater nach dem Prüfen der Stange zur Arbeit, was bedeutete, dass er sich im Kuhstall einschloss. Ich begleitete ihn bis zur Tür, die ich gern mochte, nicht nur weil der Lack so dick auf ihr glänzte. Es stand auch ein Spruch darauf, in zwei Sprachen, und die eine war Latein, was ich bald lernen würde, so hieß es. Lesen konnte ich sie schon, diese beiden Sätze auf der Tür, hinter der mein Vater für den ganzen Tag verschwand, und ich las sie jeden Tag in alle Richtungen.
Hoc loco est angelus, panis, vino, oliva.
Hier finden Sie Engel, Brot, Oliven und Wein.
Beide Sätze waren in geschwungener Schrift in brüchigem Gold eingelassen. Ich hatte diese Worte oft zerteilt, die Buchstaben verschoben, ihre einzelnen Formen studiert, lange bevor ich überhaupt die Laute dazu bilden und langsam vor mich hersagen konnte. Die Bedeutung aller hier versammelten Wörter kannte ich noch nicht, einige verstand ich, was natürlich nicht bedeutete, dass ich den Satz verstand. Es war wie ein Spiel, das ich mit den Sätzen hatte und das ich für gewöhnlich spielte, während ich allein meinen Zuckerkaffee trank.
Der Großvater hatte sein Zimmer neben der Küche, die Tür ging in den Garten auf der anderen Seite hinaus, den er zwischen den niedrigen Mauern angelegt hatte, die einst den Misthaufen halten mussten. Er stand viel früher auf als wir anderen und legte sich dann am Vormittag wieder hin, zu seinem zweiten Schlaf, der etwa bis ein Uhr dauerte und in dem ich ihn nicht stören durfte. Wenn mein Vater verschwunden war, war ich so für einige Stunden mir selbst überlassen. Auch etwas, das meinen Vater vermutlich erstaunt hätte, hätte man es ihm je erzählt. Es ist gut möglich, dass er dachte, ich würde in dieser Zeit ebenfalls zur Arbeit gehen. Ich aber saß auf der Ofenbank in der Küche, las die beiden Sätze, ohne lesen zu können, und tat Tag für Tag so, als würde ich sie zum ersten Mal sehen und nicht wissen, welches der lateinische und der deutsche Satz ist. Ich wechselte einzelne Wörter und Silben aus, bildete Lautketten aus goldener Schnörkelschrift, aber nichts davon brachte mir den geheimen Zauber dieser Inschrift näher. Es war ein ewiges, anziehendes Rätsel, das dort an der Tür stand, ich konnte es nicht oft genug lesen, und es löste immer einen herrlichen Schauder aus. Das Radio meines Vaters war durch die Tür zu hören, es war ein Weltempfänger, der so lange lief, wie mein Vater arbeitete, und wenn er auf Reisen ging, packte er ihn als Erstes ein. Was er hörte, blieb für mich verborgen, nicht nur weil das alte Holz dick war, sondern weil das Programm auch in einer Sprache kam, die ich nicht kannte. Es waren ausländische Radiosender, er verstand Englisch, Spanisch und Italienisch, und diese Sprachen sind für mich bis heute die Küche in Pildau und die Tür zum alten Kuhstall, in dem sich mein Vater jeden Tag einschloss, um zu arbeiten. Dort begann eine Fremde, das hatte ich sehr früh verstanden, in die auch der Reiseritter Robert nie gelangte.
Wenn ich gesagt habe, dass ich diesen sechsten Geburtstag vollständig erinnere, dann nehme ich das zurück, denn ich weiß tatsächlich nicht genau, was ich am Nachmittag gemacht habe. Die Zeit, bis der Großvater aufwachte, verbrachte ich aber für gewöhnlich in zufriedener Selbstbestimmtheit. Die Hofstelle gehörte in diesen Stunden mir, es war, als wäre ich allein, aber ohne die Angst. Ich wusste, dass es zwei Türen gab, an die ich nur klopfen musste. So strich ich vorzüglich langsam durch die Räume und über den Hof, ohne irgendeine Richtung, wie von einem eigenen kleinen Wind geweht. Ich ließ an den Pfeilern des Podests Äste rattern, zerbröselte die grünen Würmchen der Birken, hackte beim Gehen mit dem rechten Absatz jeden zweiten Schritt ein kleines Loch, drehte mich mit dem Kopf im Nacken um unsere Hofstange oder zog die Sonnenstrahlen auf dem Holz unseres Küchentischs mit dem Fingernagel nach, diesen und vielen anderen endlosen Wiederholungen kann ich bis heute sofort mit allen Sinnen nachspüren, ohne dass eine davon etwas Bestimmtes bedeutet hätte, ohne dass ich bemerkt hätte, wie die Zeit dabei verging. Ich baumelte in diesen Stunden durch die Welt.
Ein anderes waren die Mutproben. Bei Wind, wenn das Podest unter dem Druck der Hofstange ächzte und knackte, war es eine Mutprobe, schnell darunter durchzulaufen, mit der Gewissheit, dass die Stange ausgerechnet jetzt bersten würde, so zog sie am Holz. Weitere Mutproben, von denen ich jede einzelne bestanden habe: Da waren die zwei halb vergrabenen großen Findlinge aus Granit, bei denen die Aufgabe darin bestand, vom größeren aus dem Stand so abzuspringen, dass man über den kleineren kam und dahinter im Feldgraben landete. Eine der Weiherbirken hatte einen Ast, von dem der Großvater nur noch einen dicken Stumpf übrig gelassen hatte. Bis dorthin zu klettern war die eine, läppische Mutprobe, denn wenn man einmal wusste, wie es ging, ging es immer. Vom Ast auf den Boden springen war eine größere Sache. An manchen Tagen ließ ich mich wie nichts aus dem Sitz hinunterfallen, wenn die Lene-Mama oder der Großvater gerade aus dem Haus traten und denken mussten, ich wäre gestürzt, es war zu komisch. Manchmal war aber nicht genug Mut da, dann hängte ich mich nur mit beiden Händen an den gekappten Ast, was die Fallhöhe um einen gestreckten Meter zwanzig verkürzte und den Sprung so einfach machte, dass man danach gleich losrennen konnte. An besonderen Tagen machte ich alle Mutproben hintereinander, es war ein Zehnkampf, nach dem mir die Knochen wehtaten, ich aber die herrliche Gewissheit hatte, für alle denkbaren Herausforderungen gewappnet zu sein.
Wenn der Großvater aus seinem Zimmer kam, zog er erst seine blaue Arbeitsjacke an, dann gab es einen Pfiff, den ich auch an den Trichtergruben auf dem Hügel hören konnte. Noch in der Sekunde, in welcher der Ton in den Hügeln verhallte, war ich in der Bewegung zurück zum Haus, egal, womit ich gerade beschäftigt gewesen war. Sein Pfeifen war jeden Mittag das Ende meines ziellosen Schwärmens. Dann spielten wir, aber es war kein Spielen im eigentlichen Sinn. Es war der Großvater von März bis November auf beiden Knien im Garten, einen alten Sack als Unterlage und mit beiden Händen in kurzen Bewegungen das Unkraut zupfend, dazwischen immer aufhäufelnd, die fein gekrümelte Erde an das Selleriegrün und die gelben Rüben. Ich daneben, als wacher Assistent und Geräteträger. Mit der Sorgfalt des Ingenieurs legte er seine Beete an und hatte dabei immer auch einen Blick auf meine Hände und ob sie genau genug die winzigen Grashalme und den Löwenzahn zogen. Das alles waren dennoch Spiele, es gab das Nur-mit-links-Spiel und das Schweigende-Gärtner-Spiel oder das, bei dem wir bei jedem gerupften Löwenzahn laut »Patscherkofel!« rufen mussten, weil es unser geheimes Lieblingswort war. Der Großvater vergrub auch kleine Schätze für mich, auf die ich beim Jäten stieß. Ein Perlmuttknopf unter einem Löwenzahn, den er so geschickt darunter verborgen hatte, dass ich nicht wusste, ob er schon immer da gewesen war. Wir stutzten die Himbeeren und die wilde Pfefferminze, die ab Mai in alle Beete kroch, vereinzelten Mangold und Spinat, steckten Zwiebeln und betteten die Gurken auf Stroh. Jeder Ortswechsel bedeutete, dass ich in die Schubkarre steigen durfte und chauffiert wurde, hinüber zu den Himbeeren am Pfänderhof, zum Brunnen oder in die Scheune, wenn er neue Stecker für die Hofstange vorbereitete. Der Garten war der Großvater und der Großvater war der Garten. Alles, was wir dort brauchten, versteckte sich in seiner blauen Jacke, es war nicht viel. Ein Messer, eine endlose Spindel gedrehter Schnur, ein Holzstäbchen, in das er Kerben geschnitzt hatte, eine für fünf Zentimeter und eine für zehn, das ganze Stäbchen waren noch mal zwei Kerben, und das war der Abstand, in dem der Mangold zu vereinzeln war. Aus seinen Taschen rieselte bei jedem Schritt das Steinmehl, der einzige Dünger, den wir hier benutzten.
An diesem Nachmittag war der Garten noch kahl, nur winzige, krause Blättchen zogen sich schon in langen Reihen, und wir beschränkten uns darauf, die Beete abzustecken und die Wege dazwischen mit Brettern auszulegen, die am Ende des Sommers wie eingewachsen im Boden liegen würden. Das war vielleicht meine erste große Erkenntnis überhaupt: Bretter, die man am Anfang des Jahres glatt und hell zwischen die Reihen legt, haben am Ende des Jahres keine scharfen Kanten mehr, sondern liegen nur noch weich und fest in ihrer getretenen Form, vom Regen gequollen und von der Sonne wieder getrocknet, so oft.