Der Bergpfarrer
– Jubiläumsbox 3–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 387-392

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-001-1

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Unerwartete Hilfe

Wie wird sich Clarissa entscheiden?

Roman von Toni Waidacher

Im Pfarrhaus von St. Johann saßen Claudia, Max und die beiden Detektive und überlegten, was sie jetzt unternehmen sollten. Vor ihnen auf dem Tisch lag das anonyme Schreiben, dass der Bruder des Bergpfarrers im Briefkasten gefunden hatte. In ihm bekannte sich der unbekannte Verfasser – oder vielleicht auch Verfasserin – dazu, an der Entführung Sebastian Trenkers beteiligt sein. Der Brief war, im Gegensatz zu den Anweisungen der Entführer, handschriftlich verfasst. Indes ließ sich schwer sagen, ob er von einem Mann oder einer Frau stammte, wahrscheinlich würde nur eine Untersuchung durch einen Graphologen zeigen, welchen Geschlechts der Verfasser war.

»Also, für mich schaut das ganz nach Nathalie Baumann aus«, bemerkte die Journalistin.

Ihr Mann zuckte die Schultern.

»Aus welchem Grund sollte sie das getan haben?«

Claudia wiegte Kopf hin und her.

»Ich weiß nicht genau«, erwiderte sie, »aber als ich sie in London im Untersuchungsgefängnis besucht habe, hatte ich für einen kurzen Moment das Gefühl, Nathalie würde all das, was sie getan hat, bereuen und ihr Leben ändern wollen. Freilich kann ich mich irren, aber…, überlegt doch mal; sie wohnt hier im Dorf und käme dafür infrage, die anonymen Briefe bei uns eingesteckt zu haben. Mit ein, oder zwei Komplizen wäre sie auch in der Lage gewesen, uns rund um die Uhr zu überwachen.«

Thomas Bergmeister, den seine Freunde aufgrund seiner Statur nur ›Big Tom‹ nannten, nickte.

»Da könntest durchaus recht haben«, stimmte er ihr zu. Nathalie Baumann war ja schon immer unsere erste Wahl, wenn wir nach Verdächtigen Ausschau gehalten haben.«

Max tippte auf das Schreiben.

»Auf jeden Fall müssen wir die Schweiz fahren«, erklärte er. »Wenn es stimmt, was da drin steht, wird Sebastian in diesem Chateau bei Lausanne gefangen gehalten.«

Andreas Bogner hob die Hand.

»Wir dürfen nichts überstürzen«, mahnte der Versicherungsdetektiv. »Was ist, wenn wir gerade auf dem Weg in die Schweiz sind, und hier im Pfarrhaus trifft eine neue Anweisung der Entführer zur Geldübergabe ein?«

›Big Tom‹ nickte.

»Andreas hat recht«, sagte er und schaute Max an, »auch wenn ich versteh’n kann, dass du am liebsten sofort los möchtest, sollten wir doch genau überlegen, wie das Ganze vonstattengehen soll.«

Der Polizeibeamte rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Ja stimmt schon«, gab er zu. »Da muss eben jemand hierbleiben.«

Er blickte zu Claudia, die neben ihm saß. Die Journalistin nagte an der Unterlippe.

»Es geht wohl net anders«, sagte sie leise.

Max nickte. Er wusste, wie gerne seine Frau dabei gewesen wäre, wenn sie Sebastian befreiten.

»Das allein reicht net«, meinte der Münchner Privatdetektiv, »wenn die Entführer tatsächlich fordern, dass die Geldübergabe sofort zu erfolgen hat, dürfen wir Claudia damit net alleinlassen.«

»Genau das habe ich mir auch überlegt«, meldete sich Andreas Bogner noch einmal zu Wort. »Deshalb werden Claudia und ich hier die Stellung halten, während ihr in die Schweiz fahrt.«

Die beiden anderen Männer nickten zustimmend.

»Ja, so wird’s das Beste sein«, sagte Max zufrieden und schaute ›Big Tom‹ an. »Wann brechen wir auf?«

Thomas Bergmeister trank einen Schluck Milch aus dem Glas, das vor ihm stand. Die Vorliebe für eiskalte Milch hatte er mit dem Bergpfarrer gemeinsam. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und machte eine vage Geste.

»Ich muss normal kurz telefonieren«, antwortete er, »dann können wir, von mir aus, sofort losfahren.«

Claudia stand auf.

»Ich pack’ ein paar Sachen zusammen«, sagte sie zu Max, »man weiß ja net, wie lang’ es dauert.«

Ihr Mann nickte und gab ihr einen Kuss.

»Dank’ dir, Spatzl«, lächelte er.

Er erhob sich ebenfalls und holte einen Straßenatlas aus dem Arbeitszimmer seines Bruders. Freilich hatte er, wie auch der Detektiv, ein Navigationsgerät im Auto, aber Max wollte die Strecke bis Lausanne einmal auf der Karte ansehen. Vermutlich würden sie zunächst einmal in Richtung Bodensee fahren, dann in Bregenz die Grenze nach Österreich überschreiten und von dort aus weiter in die Schweiz einreisen. Alles in allem rechneten sie mit einer Fahrzeit von fünf Stunden. Inwiefern das realistisch war, würde freilich vom Verkehr abhängen, der auf den Autobahnen herrschte.

Claudia Trenker war in die Wohnung geeilt, die die Familie über dem Polizeirevier bewohnte. Sie packte eine kleine Reisetasche mit den wichtigsten Dingen und kehrte ins Pfarrhaus zurück.

›Big Tom‹ hatte inzwischen mit Mischa telefoniert und seinem Informanten von der neuesten Entwicklung berichtet.

Als Claudia den Kiesweg heraufkam, standen die Männer bereits vor der Haustür. Andreas und die Journalistin begleiteten die beiden nach unten, zur Straße. Der Münchner Detektiv löste die Zentralverriegelung seines Autos, und Max und er stiegen ein.

Der Bruder des Bergpfarrers hatte sich zuvor liebevoll von seiner Frau verabschiedet.

»Passt gut auf euch auf!«, gab Claudia ihnen mit auf den Weg.

Am liebsten hätte sie Max endlich ihr kleines Geheimnis anvertraut, dass sie seit Wochen mit sich herumtrug. Aber nie hatte sie den richtigen Zeitpunkt dafür gefunden.

Wäre Max vorsichtiger, wenn er wüsste, dass er noch einmal Vater wurde?

Der Polizist hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen und winkte ihr aus dem Seitenfenster zu.

»Meldet euch, sobald es Neuigkeiten gibt«, rief seine Frau ihm hinterher.

»Auf jeden Fall!«, antwortete er.

Und dann gab ›Big Tom‹ auch schon Gas.

*

Anna Gruber traf sich mit Franziska Engler und Tobias Hochleitner, um zu beratschlagen, wie sie hinter das Geschehen kommen konnten, dass offenbar vor mehr als zwanzig Jahren einen Keil zwischen zwei Familien getrieben hatte. Die jungen Leute saßen im Innenhof der Pizzeria ›Fontana‹, die seit einiger Zeit von dem früheren Ulmer ›Eiskönig‹ Carlo Fontana betrieben wurde. Nebenan war das gleichnamige italienische Restaurant und auf der rechten Seite des Hauses wurde eine Eisdiele betrieben. Alle drei Geschäfte liefen hervorragend, nicht nur Tagesgäste und Urlauber, sondern auch die Einheimischen freuten sich über die Bereicherung des gastronomischen Angebots in St. Johann.

»Ich hab’ mich mal umgehört«, sagte Tobias, »aber die Leut können oder wollen sich net an das erinnern, was damals geschehen sein muss.«

»Es ist schon seltsam«, meinte seine Verlobte und schüttelte den Kopf, »dass offenbar kein Mensch darüber reden will.«

»Und wenn ich noch mal Wolfgang frage?«, schlug Anna vor. »Immerhin betrifft es doch seinen Bruder!«

Die junge Studentin aus Kiel war ins Wachnertal gekommen, um die Heimat ihrer Eltern kennenzulernen. Vincent Gruber, Annas Vater, war auf einem Hof in der Nähe von Engelsbach geboren, während Kathrin Hochleitner, ihre Mutter, auf dem Hochleitnerhof hier in St. Johann aufgewachsen war. Seltsamerweise hatten beide nie über ihre Vergangenheit gesprochen, mit keinem Wort ihre Heimat erwähnt oder der Tochter jemals etwas über etwaige Verwandte erzählt. Erst nachdem vor einigen Wochen ihre Mutter verstarb, entdeckte Anna im Nachlass Unterlagen, die ihr einen Hinweis darauf gaben, wo sie nachforschen konnte.

Anna, die in Kiel BWL studierte, hatte sich in den Semesterferien nach St. Johann aufgemacht. Hier, in dieser Pizzeria, genau am selben Tisch, hatte sie gesessen und Tobias einen Tisch weiter. Nicht ahnend, dass sie miteinander verwandt waren, hatten sie sich zu einem Badeausflug an den Achsteinsee verabredet, zu dem überraschend auch Franziska Engler kam, die ziemlich genau wusste, dass ihr Tobias gerne mit hübschen Madeln anbandelte. Anna und Franzi fanden sofort einen guten Draht zueinander, und rasch klärte es sich auf, dass der Bursche Annas Cousin war.

Inzwischen hatte die junge Kielerin den Bruder ihres Vaters, Wolfgang Gruber, kennengelernt, und Tobias hatte es arrangiert, dass Anna die Bekanntschaft seiner Eltern machte. Johann Hochleitner war der ältere Bruder ihrer Mutter. Als die Studentin ihren Onkel Wolfgang nach den Umständen fragte, die dazu geführt hatten, dass sein Bruder den Hof verließ, war er ihr ausgewichen – die Vergangenheit solle man ruhen lassen…

Franzi schüttelte den Kopf. »Ich kann mir net vorstellen, dass du von dem etwas zu hören bekommst«, meinte sie.

Der Bauernsohn nickte. »Da sollten wir schon eher mal das Archiv vom ›Kurier‹ durchforsten«, sagte er. »In den alten Zeitungen werden wir bestimmt fündig.«

Seine Verlobte nickte begeistert.

»Das ist überhaupt die Idee«, rief Franzi, »oder wir fragen Frau Trenker, die Frau von dem Polizisten, die arbeitet doch bei der Zeitung.«

Tobias schürzte die Lippen.

»Warum net«, stimmte er zu, »einen Versuch ist es jedenfalls wert.«

Doch erst einmal kann das Essen. Anna, die in der Pension Stubler wohnte, hatte inzwischen ihr Zimmer, das sie nur für eine Woche gemietet hatte, gegen eine winzige Dachkammer eingetauscht. Ria Stubler, die Wirtin, hatte ihr angeboten, darin kostenlos zu wohnen. Lediglich für das Frühstück bezahlte das Madel kleinen Betrag, der indes, angesichts der reichhaltigen Köstlichkeiten, die jeden Morgen aufgetischt wurden, angemessen war.

Während des Essens rätselten die weiter darüber, was seiner Zeit den Ausschlag gegeben hatte, dass Katrin Hochleitner und Vincent Gruber ihre Heimat verlassen hatten. Geheiratet hatten sie erst ein halbes Jahr später, nachdem sie in Kiel sesshaft geworden waren. Das hatte ihre Tochter anhand der Unterlagen festgestellt.

»Also, ich könnt’ mir vorstellen, dass die beiden damals schon hier heiraten wollten, es aber net durften«, vermutete Franziska Engler. Sie nahm die Hand ihres Verlobten. »Da können wir von Glück reden«, setzte sie hinzu, »dass man uns net solche Steine in den Weg legt.«

Tobias nickte. »Ich frag’ mich bloß«, meinte er zwischen zwei Bissen, »wie mein Vater reagiert, wenn er erfährt, wer Anna wirklich ist. Mutters seltsame Reaktion neulich, lässt mich da nix Gutes ahnen.«

Der Bursche hatte vor ein paar Tagen in einer Kiste auf dem Dachboden herumgewühlt und darin, unter anderem, auch ein Album mit alten Fotos gefunden. Freilich war es kein Zufallsfund, Tobias hatte so eine Ahnung gehabt, als er erfuhr, wer Anna war und was sie nach St. Johann geführt hatte. Sein Vater hatte die Kiste vor Jahren auf den Dachboden gestellt.

Oder versteckt?

Tobias hatte sie schon vor längerer Zeit entdeckt, konnte aber mit den Sachen darin, alte Kleider und andere Sachen, die Madeln trugen, nichts anfangen, und das Album interessierte ihn erst jetzt.

Auf den Fotos, die offenbar in Abständen von mehreren Jahren gemacht worden waren, war ein junges Madel zu sehen, dass seiner Cousine so ähnlich sah, dass Tobias sofort klar wurde, es konnte sich nur um die Schwester seines Vaters handeln.

Indes war deren Existenz nie erwähnt worden. Tobias hatte absolut keine Ahnung gehabt, dass es überhaupt eine Tante gegeben hatte. Als er seine Mutter danach fragte, flüchtete Walburga Hochleitner sich in Ausreden, was den Sohn nur darin bestärkte, dass es auch in seiner Familie irgendetwas gab, das ähnlich, wie bei Anna, auch vor ihm jahrzehntelang geheim gehalten wurde.

Nach dem Essen machten sie sich auf dem Weg zum Polizeirevier.

Als Franzi den Klingelknopf drücken wollte, entdeckte sie einen handgeschriebenen Zettel, der mit einer Reißzwecke an der Tür befestigt war.

›Bitte im Pfarrhaus melden‹, stand darauf.

Die drei schauten sich an uns zuckten die Schultern.

»Geh’n wir halt rüber, sagte Tobias.

»Vermutlich hüten s’ die Wohnung«, meinte Franzi. »Hochwürden ist ja immer noch in Rom.«

Sie stiegen den Kiesweg hinauf und klingelten an der Tür des Pfarrhauses. Nach wenigen Minuten hörten sie Schritte im Flur und ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Vor ihnen stand ein junger Mann, der sie fragend anschaute.

»Wir würden gern mit Frau Trenker sprechen«, erklärte der Bauernsohn.

Der Mann nickte und wandte den Kopf.

»Claudia, kommst du mal?«, rief er.

»Entschuldigen S’ die Störung. Hätten S’ wohl ein paar Minuten Zeit für uns?«, fragte Franziska, als die Journalistin vor ihnen stand.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Frau des Polizeibeamten sehr nervös war. Claudia Trenker schaute immer wieder auf die Uhr, als erwarte sie einen dringenden Anruf.

»Ja«, antwortete sie, »aber es muss rasch geh’n.«

Sie bat die Besucher herein und ließ sie in der Küche des Pfarrhauses Platz nehmen.

»So, worum geht’s denn?«

Tobias stellte Anna als seine Cousine vor und erklärte, was das Madel nach St. Johann geführt hatte.

»Es muss sich damals irgendetwas ereignet haben, was zum Bruch zwischen den Familien führte«, setzte der Bauernsohn hinzu. »Und wir versuchen herauszufinden, was das gewesen sein könnte. Nur stoßen wir mit unsren Fragen immer wieder auf Ablehnung, egal, wem wir sie stellen.«

»Aber es muss so gravierend gewesen sein«, warf seine Verlobte ein, »dass Annas Eltern nie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind.«

Claudia hatte ungeduldig zugehört, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. Andreas Bogner und sie warteten darauf, dass Max und ›Big Tom‹ sich endlich meldeten.

Waren sie immer noch nicht am Ziel?

Die Journalistin wusste, dass der Münchner Detektiv ein ›sportlicher‹ Fahrer war. Indes fuhr Thomas Bergmeister nicht so rasant, wie manch ein Zeitgenosse. Niemals würde er sein eigenes oder das Leben anderer riskieren.

Möglicherweise war ein Stau auf der Autobahn daran schuld, dass sie immer noch nicht angekommen waren.

Freilich hatte Claudia versucht, ihren Mann auf dessen Handy zu erreichen, leider ohne Erfolg. Auch auf ›Big Toms‹ Mobiltelefon meldete sich nur die Mailbox.

»Unsre Bitte ist«, sagte Franziska Engler, »ob Sie vielleicht einmal im Archiv des ›Kuriers‹ nachschauen könnten, ob sich, vor über zwanzig Jahren, hier etwas abgespielt hat, über das eventuell sogar die Zeitung berichteten?«

Die Schwägerin des Bergpfarrers nickte.

»Das will ich gern tun«, ant­wortete sie, »allerdings hab ich zurzeit Urlaub und komme vor nächster, vielleicht sogar übernächster Woche net wieder in die Redaktion.«

Die Besucher schauten sich ein wenig ratlos an, dann nickte Tobias.

»Gut, wir bedanken uns erst einmal, für ihre Hilfe«, sagte er und erhob sich von seinem Platz auf der Eckbank.

Die beiden Frauen standen ebenfalls auf, sie verabschiedeten sich, und Claudia brachte sie zur Haustür.

»Wie gesagt«, erklärte die Journalistin, »sobald ich wieder arbeite, kümmre ich mich um die Angelegenheit.«

*

Die Besucher waren gerade mal fünf Minuten gegangen, als es erneut an der Tür des Pfarrhauses klingelte.

Claudia und Andreas schauten sich verwundert an.

»Heut’ geht’s hier aber zu, wie im Taubenschlag«, meinte der Versicherungsdetektiv.

Thomas Moser, der junge Vikar, der Sebastian Trenker in dessen Abwesenheit vertrat, konnte es nicht sein, denn der hatte einen Schlüssel für das Pfarrhaus.

Claudia ging zu Tür und öffnete. Vor ihr stand George Whitaker.

»Guten Abend, meine Liebe«, sagte der Amerikaner und lächelte sie freundlich an. »Ist Max zu Hause? Ich müsste ihn einmal sprechen.«

Die Journalistin schüttelte den Kopf.

»Das tut mir leid«, antwortete sie, »mein Mann ist auf dem Weg in die Schweiz. Ich kann gar net sagen, wann er zurückkommt.«

In Whitakers Augen blitzte es kurz auf und er atmete scharf ein. Doch dann hatte er sich rasch wieder in der Gewalt und nickte bedauernd.

»Tja«, meinte er, »da kann man wohl nichts machen.«

»Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«, bot Claudia an.

Der Besucher schürzte die Lippen. »Ach, ich glaube nicht«, antwortete er. »Es geht da um ein paar Details im Kaufvertrag für das Jagdschloss.«

Die Schwägerin des Bergpfarrers war verwundert. Was für Details? Wollte Whitaker den Kaufvertrag etwa wieder rückgängig machen und sein Geld zurück haben?

»Stimmt denn etwas net damit?«, fragte sie.

Der Amerikaner schüttelte den Kopf.

»Nein, nein«, versicherte er, »da ist schon alles in Ordnung. Es geht mir lediglich darum, dass der Passus, die Rückgabe des Jagdschlosses an ihren Schwager betreffend, nicht ganz eindeutig ist. Aber das kann ich dann ja klären, wenn Ihr Mann bei mir war. Er soll mich einfach anrufen.«

Er nickte ihr zu, wollte sich gerade umwenden und zur Gartenpforte zugehen, als George Whitaker einen Schatten im Flur des Pfarrhauses wahrnahm. Im nächsten Moment sah er Andreas Bogner in die Küche gehen.

»Einen schönen Abend noch«, verabschiedete er sich hastig und ging davon.

Das Gesicht des Amerikaners war wie versteinert, als er den Kiesweg hinunterstapfte.

›Dieser verfluchte Trenker‹, dachte er, ›hält sich nicht an das, was ihm gesagt wird.‹

Aber dafür würde er die Konsequenzen zu tragen haben!

Zwei Dinge waren es, die George Whitaker wütend machten. Zum einen waren offenbar die beiden Detektive doch nicht abgereist, wie er verlangt hatte. Zum anderen begleitete vermutlich einer von ihnen Max Trenker in die Schweiz.

Doch woher hatte der Polizist die Information, dass der gute Hirte von St. Johann im Chateau, in den Schweizer Bergen, gefangen gehalten wurde?

Eigentlich konnte er gar nichts darüber wissen. Seit der Geistliche vom Berningerhof weggebracht worden war, hatte er, Whitaker, nur eine Nachricht in den Briefkasten des Pfarrhauses stecken lassen, und darin wurde die Schweiz selbstverständlich nicht erwähnt.

Gab es etwa einen Verräter in den eigenen Reihen?

Der Amerikaner kochte vor Wut, bei dem Gedanken, dass einer seiner Leute sich nicht loyal verhalten würde. Immerhin verdienten sie bei diesem Coup mehr Geld, als in einem ähnlichen Job. Er musste handeln und zwar umgehend. Zuerst galt es, die Männer in der Schweiz zu warnen. Sie mussten Pfarrer Trenker umgehend an einen anderen Ort bringen – wenn es dazu nicht schon zu spät war…

Dann würde er eine neue Nachricht verfassen, in der er unmissverständlich klarstellen würde, dass es bittere Konsequenzen für den Geistlichen haben würde, wenn nicht, binnen kürzester Zeit, das Lösegeld übergeben würde.

Whitaker kehrte auf dem schnellsten Wege ins Hotel zurück. Im ›Löwen‹ bewohnte er die teuerste Suite, in der er meistens auch seine Mahlzeiten einnahm. Unter Leute ging der Amerikaner eher seltener.

Er setzte sich in einen der bequemen Polstersessel und nahm sein Smartphone zur Hand. Auf dem Weg hierher hatte er überlegt, wohin man den guten Hirten von St. Johann am besten bringen sollte. Dabei hatte er sich erinnert, auf einer Wanderung, die er mit Sebastian Trenker unternommen hatte, an einer alten, windschiefen Berghütte vorbeigekommen zu sein. Sie stand unterhalb des Teglerjochs und diente im Grunde keinem Zweck mehr. Lediglich die Tatsache, dass die Hütte direkt an den Berg gebaut war, verhinderte, dass sie zusammenbrach.

George Whitaker erschien sie als ideales Versteck, zumal sie vom Weg aus nicht direkt zu sehen war, man musste erst ein paar Schritte in eine Art Hohlweg machen, bis man sie entdeckte.

Der Amerikaner tippte einige Male auf das Display seines Smartphone und hielt es ans Ohr.

»Oberhofer«, mehr sagte die Stimme am anderen Ende nicht.

Whitaker hatte seinen Leuten eingeschärft, sich einen falschen Namen zuzulegen und nur diesen zu benutzen, wenn sie angerufen wurden.

»Sie müssen sofort verschwinden!«, sagte er. »Das Versteck ist aufgeflogen, es sind bereits mindestens zwei Leute auf dem Weg in die Schweiz. Also räumen Sie umgehend das Chateau, verwischen Sie alle Spuren und bringen Sie unseren Gast zurück.«

»Wohin genau?«

Vor dem Anruf hatte der Amerikaner sich einen genauen Plan überlegt. Seine Leute würden, wenn sie sich sofort auf den Weg machten, irgendwann nach Mitternacht im Wachnertal eintreffen. Der Zeitpunkt passte ausgezeichnet, kein Mensch würde dann noch im Bergen unterwegs sein.

»Ich treffe Sie an der Kreuzung nach Engelsbach und St. Johann«, antwortete er. »Rufen Sie mich an, sobald Sie noch eine gute Stunde entfernt sind.«

»Wird gemacht, Chef«, antwortete Oberhofer.

Whitaker beendete das Telefonat und ließ sich in den Sessel zurücksinken. Zwar musste er noch einen Brief schreiben, in dem er Max Trenker klarmachen würde, dass er mit dem Leben seines Bruders spielte, doch zunächst hatte etwas anderes Priorität.

Wer war der Verräter in den eigenen Reihen?

Das musste unbedingt herausgefunden werden!

An der Entführung des Bergpfarrers waren gerade mal eine Hand voll angeheuerter Männer beteiligt. Der Mann, der sich Oberhofer nannte, hatte ihm versichert, dass seine Leute absolut verschwiegen und loyal wären. Whitaker war bereit, diese Männer von seinem Verdacht auszunehmen. Blieben noch ein oder zwei Handlanger, von denen er allerdings, bis auf einen, nicht die Namen kannte.

Manfred Urlacher hatte das Haus am Tegernsee auf seinen Namen gemietet und später dafür gesorgt, dass die Entführer Sebastian Trenker auf den Berningerhof unterbringen konnten. Whitaker hatte ihn nur einmal persönlich gesehen, als er selbst auf den Bauernhof gefahren war. Indes hatte er den Mann kaum wahrgenommen und sich auch kein Bild von ihm machen können. Oberhofer hatte seinerzeit erklärt, dass Urlacher nicht mehr, als ein kleiner Ganove war, der ständig nach einer Geldquelle Ausschau hielt.

Aber machte das ihn auch verdächtig, ein Verräter zu sein? Hatte er sein Wissen gegen eine Belohnung an den Bruder des Geistlichen verraten?

Der Amerikaner nahm sein Smartphone und wählte die Nummer von Nathalie Baumann, die er, obwohl er ihren richtigen Namen wusste, stets mit Clarissa Belfort ansprach.

Ungeduldig hörte er auf das Tuten, das ihm signalisierte, dass die Leitung zwar frei war, seine Gesprächspartnerin den Anruf allerdings noch nicht annahm.

»Internationale Unternehmensberatung Belfort«, vernahm er endlich ihre Stimme.

»Clarissa, wir müssen uns unbedingt treffen!«, sagte Whitaker hastig.

»… Leider kann ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht auf der Mailbox. Vielen Dank.«

Erst jetzt bemerkte der Amerikaner, dass er nicht mit der Französin selbst gesprochen hatte. Wütend warf er das Smartphone auf den Tisch und starte dumpf brütend vor sich hin.

*

Die beiden Männer, auf deren Nachricht im Pfarrhaus von St. Johann so dringend gewartet wurde, befanden sich derweil in einem österreichischen Krankenhaus.

Max Trenker und Thomas Bergmeister hatten gerade die Grenze bei Bregenz passiert, ihr ›Pickerl‹ gekauft, die Vignette, die jeder Autofahrer an die Windschutzscheibe kleben musste, wenn er in Österreich die Autobahn befahren wollte, und die ersten Kilometer hinter sich gebracht, als ihnen ein Geisterfahrer entgegen kam.

Der Bruder des Bergpfarrers und der Münchner Detektiv hatten sich gerade darüber unterhalten, was sie unternehmen würden, wenn sie das Chateau, in der Nähe von Lausanne, erreicht hatten.

Max hatte dem Polizeicomputer bemüht und herausgefunden, dass es sich bei dem Gemäuer, in dem der Bruder gefangen gehalten wurde, tatsächlich um ein altes Schloss handelte. Der Besitzer, ein verarmter italienischer Graf, vermietete es an Feriengäste. Die Fotos, die der Polizeibeamte im Internet gefunden hatte, zeigten ein schönes Anwesen, mitten in den Bergen, von einem kleinen Park umgeben, in dem herrliche Blumenrabatten darauf warteten, von zahlungskräftigen Feriengästen bewundert zu werden.

Für eine Woche zahlte man mehr, als für einen dreiwöchigen Familienurlaub am Gardasee.

»Würd’ mich net wundern«, bemerkte ›Big Tom‹, »wenn das Chateau auch von diesem Urlacher gemietet worden ist.«

Der Bruder des Bergpfarrers nickte. »Das ist anzunehmen«, stimmte er seinem Begleiter zu.

»Was machen wir denn, wenn wir da sind?«

Max nahm ein paar Fotos, die er ausgedruckt hatte, und betrachtete sie.

»So wie’s hier ausschaut«, antwortete er, »werden wir den Wagen im Dorf zurücklassen müssen und über einen Pfad hinaufsteigen. Die Straße, die direkt zum Chateau führt, ist von oben gut einsehbar, und ich denk’ net, dass die Burschen so sorglos sind, sie net im Blick zu haben.«

›Big Tom‹ nickte zustimmend.

»Sollten wir net deine Schweizer Kollegen verständigen, damit sie mit uns zusammen das Chateau unter die Lupe nehmen?«, schlug er vor.

»Hältst du das für eine gute Idee?« Max zuckte die Schultern. »Ich weiß net recht«, fügte er hinzu, »wenn ich mich als Polizeibeamter zu erkennen geb, könnt das zu Komplikationen führen. Schließlich bin ich Deutscher und darf in der Schweiz gar net ermitteln.«

»Richtig, das habe ich gar net bedacht«, pflichtete der Münchner ihm bei.

Während Max noch einmal auf das Foto schaute, das obenauf lag, stieß ›Big Tom‹ plötzlich einen Fluch aus.

»Was ist das denn für ein Idiot?«, rief er und kurbelte wild am Lenkrad.

Max nahm den Kopf hoch und blickt direkt in ein grell leuchtendes Paar Autoscheinwerfer.

»Ein Geisterfahrer!«, schrie er entsetzt auf und riss beide Arme nach oben, um seinen Kopf zu schützen.

Die Autobahn führte an einem Bergkamm vorbei und war nur einspurig, weil die zweite Spur aufgrund von Bauarbeiten gesperrt war. Auf der Gegenseite hatten andere Autofahrer die sich anbahnende Katastrophe bemerkt und hupten wie wild. Der Detektiv lenkte seinen Wagen ganz an den rechten Rand, es gab ein hässliches Geräusch, als er mit der Seite an der Leitplanke entlang schrammte. Indes war es ein vergebliches Bemühen, dem Unglücksfahrer auszuweichen, die Straße war einfach zu eng. Es krachte und splitterte, als Metall auf Metall und Glas auf Glas traf. Die beiden Männer stießen noch einen erschreckten Schrei aus, dann wurde es ihnen schwarz vor Augen.

Max erwachte aus seiner Ohnmacht. Über ihm brannte ein grelles Licht, und er wandte den Kopf zur Seite, um ihm auszuweichen.

»Wie geht es Ihnen?«, hörte er eine Stimme.

»Wo bin ich?«, flüsterte er. »Was ist passiert?«

Der Bruder des Bergpfarrers versuchte zu schlucken, sein Mund war ganz trocken, und er hatte das Gefühl, unter eine Dampfwalze geraten zu sein.

»Sie befinden sich im St. Ursula Krankenhaus, in Bregenz, Österreich«, sagte die Stimme wieder, die ganz eindeutig einer Frau gehörte. »Ich bin Schwester Almuth.«

Max blinzelte und sah, dass er in einem Bett lag, eine Krankenschwester stand davor und lächelte ihn an.

»Krankenhaus?«, fragte er verwundert.

Die Schwester nickte. »Sie können sich wohl nicht erinnern, was?« Gleichzeitig griff sie nach seinem Kopf, den er hatte schütteln wollen.

»Nein, bloß nicht schütteln!«, ermahnte sie ihn. »Sie wurden zwar geröntgt, aber es ist nicht auszuschließen, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben.«

Plötzlich wusste es wieder. Sie waren auf der schmalen Autobahn gefahren, die an dieser Stelle nur einspurig gewesen war. Wie aus dem Nichts war vor ihnen, aus der anbrechenden Dunkelheit, ein Auto aufgetaucht und hatte sie gerammt.

»Was…, was ist mit meinem Begleiter?«, wollte er wissen.

»Der Herr Bergmeister liegt im Bett nebenan, antwortete Schwester Almuth. »Sie haben beide unglaubliches Glück gehabt. Außer ein paar Schrammen sind Sie unbeschadet davongekommen. Der Unfallverursacher hatte weniger Glück, er wird derzeit noch operiert.«

»Na, altes Haus«, vernahm Max die Stimme ›Big Toms‹, »da hatten wir wohl gleich eine ganze Armada Schutzengel bei uns.«

Der Polizist wandte den Kopf zu anderen Seite und sah den Münchner Privatdetektiv im Bett liegen.

Tom hob die Hand und winkte ihm zu.

»Unkraut vergeht eben net«, grinste Max und winkte zurück. »Sagen Sie, Schwester, wenn uns nix fehlt, könnten wir doch gleich wieder…«

Almuth Cerny, sie war vermutlich kaum älter als zwanzig Jahre, schüttelte resolut den Kopf.

»Vergiss es, Max«, sagte ›Big Tom‹, »die Frage hab ich auch schon gestellt.«

»Mindestens über Nacht behalten wir sie hier!«, erklärte die Krankenschwester. »Wenn alles in Ordnung ist, können Sie morgen Früh das Krankenhaus verlassen. Jetzt wird gleich erst einmal Doktor Rathmann, der Chef der Station, zu Ihnen kommen. Und dann sind da noch zwei Gendarmen, die Ihnen ein paar Fragen zu dem Unfall stellen wollen –vorausgesetzt, Sie sind dazu in der Lage.«

Sie ging hinaus, und die beiden Männer waren einen Moment alleine.

»Was ist mit deinem Wagen?«, erkundete sich Max.

Der Detektiv macht eine vage Handbewegung.

»Keine Ahnung«, erwiderte er, »aber ich vermute mal, dass von ihm net viel übriggeblieben ist. Wenn wir morgen hier rauskommen, brauchen wir einen Leihwagen.«

Max blickte auf die Uhr, die über der Tür hing, und schrak zusammen. »Gütiger Himmel«, rief er aus, »so spät ist’s schon! Wir müssen unbedingt im Pfarrhaus anrufen.«

Thomas Bergmeister war derselben Meinung. Beide trugen sie die typischen Krankenhaushemden, die Patienten angezogen bekamen, wenn sie ohne eigene Wäsche eingeliefert wurden.

»Ich hab’ keine Ahnung, was mit unsren Sachen ist«, sagte er. »Auch net, ob unsere Handys den Crash überstanden haben. Wir werden die nette Schwester mal fragen, ob sie uns ein Telefon bringen kann.«

Max sank in das Kissen zurück. In seinem Kopf drehte sich ein ganzes Karussell an Gedanken.

Warum bloß kam immer wieder etwas dazwischen, wenn sie gerade dabei waren, Sebastian aus den Händen der Entführer zu befreien?

›Big Tom‹ schien ähnliche Gedanken zu haben.

»Ich werde das Gefühl net los«, bemerkte er, »dass Fortuna eben doch eine recht launische Geliebte ist. Den Unfall hat sie uns heil überstehen lassen, doch bei der Befreiung deines Bruders legt sie uns immer wieder Steine in den Weg.«

*

Claudia glaubte, ihr Herzschlag würde aussetzen, als Max ihr von dem Unfall berichtete.

»Und ihr seid wirklich net verletzt?«, wollte sie immer wieder wissen.

»Wirklich net, Spatzl«, antwortete der Polizist. »Bis auf ein paar Kratzer und Prellungen sind wir vollkommen in Ordnung. Bloß Toms Auto hat was abbekommen.«

Dass der Wagen des Münchner Privatdetektivs nur noch ein Schrotthaufen war, sagte Max allerdings nicht, die Schilderung wäre doch zu drastisch gewesen…

»Wenn wir morgen Früh entlassen werden, nehmen wir uns gleich einen Leihwagen«, setzte der Bruder des Bergpfarrers hinzu, »und fahren gleich weiter in die Schweiz.«

Mit Claudia hatten Andreas Bogner und Thomas Moser in der Küche des Pfarrhauses ausgeharrt und auf den Anruf gewartet. Trotz der Schreckensnachricht waren sie erleichtert, endlich von Max und ›Big Tom‹ gehört zu haben. Der Versicherungsdetektiv erhob sich und wandte sich zur Tür.

»Ich dreh’ noch mal eine Runde«, erklärte er und ging hinaus.

Andreas hatte gerade die Tür des Pfarrhauses geöffnet und einen Schritt nach draußen getan, als er einen Schatten bemerkte, der sich zwischen den Büschen an der Mauer des Friedhofs bewegte. Automatisch blickte der Detektiv auf dem Briefkasten, der neben der Haustür angebracht war. Im Licht des Mondes sah er durch die Schlitze etwas Helles blitzen.

»Stehen bleiben!«, rief er und rannte dem Schatten hinterher.

Ohne Zweifel steckte in dem Briefkasten eine neue Nachricht von den Entführern, und wenn er sich beeilte, würde er den Boten noch erwischen, ehe dieser den Kiesweg verlassen und weiter durch die Straßen geflüchtet war.

Indes dachte der Flüchtende gar nicht daran stehenzubleiben, Andreas Bogner hörte, wie er den Kiesweg hinunterlief und spurtete hinterher.

Im Pfarrhaus schaute Claudia den Vikar fragend an. »Hast’ das auch gehört?«

Thomas Moser, der auf der Eckbank saß, nickte und erhob sich. »Da draußen ist was«, sagte er.

Sie traten beide durch die Tür und sahen, wie Andreas den Kiesweg hinunter lief.

»Stehen bleiben!«, rief er immer wieder.

Als er an der Straße angekommen war, erkannte der Versicherungsdetektiv, dass er den Flüchtenden verloren hatte. Außer Atem kehrte er zum Pfarrhaus zurück. Auf halben Weg kamen ihm Claudia und Thomas Moser entgegen. Andreas berichtete von dem flüchtenden Schatten und deutete auf dem Briefkasten. »Die Entführer haben sich wieder gemeldet.«

Die Schwägerin des Bergpfarrers holte den Schlüssel und öffnete Briefkasten. Er enthielt den üblichen Umschlag, selbstverständlich ohne Absender und unfrankiert.

Drei Augenpaare schauten gespannt auf das Papier, als Claudia in der Küche den Umschlag geöffnet und das Schreiben hervorgezogen hatte.

›Unsere Geduld ist zu Ende! Wir geben Ihnen ganz genau zwei Tage Zeit, das Lösegeld an einem Ort zu deponieren, der Ihnen noch mitgeteilt wird. Bis dahin stellen Sie sofort jegliche Aktivitäten ein und versuchen nicht weiter, uns zu verfolgen und herauszufinden, wo Pfarrer Trenker gefangen gehalten wird. Sollten Sie sich nicht an diese Anweisung halten, wird das dramatische Konsequenzen für die Gesundheit des Entführten haben! Dies ist eine letzte Warnung, nehmen Sie sie ernst!‹

Die Journalistin schnappte nach Luft und wollte gerade etwas sagen, als das Telefon klingelte.

Andreas Bogner nahm den Hörer ab. »Pfarrhaus St. Johann«, meldete er sich.

Ganz automatisch hatte er den Knopf gedrückt, der den Lautsprecher einschaltete, sodass Claudia und Thomas mithören konnten, was gesagt wurde.

»Höen Sie genau zu«, sagte eine verzerrt klingende Stimme, »Hochwürden ist schon wieder auf dem Weg zurück nach Deutschland. Max Trenker und Thomas Bergmeister sollen sofort umkehren und nach St. Johann zurückkommen. Der Entführte wird in ein Berghütte gebracht, weitere Einzelheiten erfahren Sie, wenn der Ort und der Zeitpunkt der Übergabe des Lösegeldes bekannt gegeben worden sind.«

Es klickte in der Leitung, der Anrufer hatte aufgelegt. Die drei schauten sich fragend an.

»War das jetzt ein Mann oder eine Frau?«, rätselte Claudia.

Andreas zuckte die Schultern. »Ich hab’ keine Ahnung«, gestand er. »Beides wäre möglich. Ich vermute, dass, wer immer uns da angerufen hat, die Sprechmuschel mit einem Taschentuch abgedeckt hatte.«

Das Telefon im Pfarrhaus von St. Johann war ein älteres Modell, das nicht über ein Display verfügte, sodass sie eventuell die Nummer des Anrufers hätten sehen können.

»Wir müssen sofort Max und Tom Bescheid sagen«, erklärte die Journalistin und wählte die Mobilfunknummer ihres Mannes.

Glücklicherweise hatten die Handys der beiden Männer den Unfall unbeschadet überstanden. Die freundliche Krankenschwester hatte, auf Max’ Bitte hin, die beiden Reisetaschen und was noch aus dem Unfallwagen geborgen worden war, in das Krankenzimmer gebracht.

»Ihr habt sicher schon geschlafen«, sagte Claudia, »es tut mir leid, wenn ich euch noch einmal störe.«

»Nein, nein«, beruhigte ihr Mann sie, »du störst keineswegs. Was gibt’s denn?«

An Schlaf war wirklich nicht zu denken gewesen, denn die beiden Männer waren viel aufgekratzt. Erst jetzt war ihnen wirklich bewusst geworden, wie knapp sie dem Tode entronnen waren.

Die Journalistin berichtete von der neuen Nachricht der Entführer und dem anonymen Anruf.

»Und ihr konntet net feststellen, ob es ein Mann oder eine Frau war?«

Max hatte ›Big Tom‹ zwischendurch zu verstehen gegeben um was es ging.

»Nein, das war völlig unmöglich«, antwortete Claudia, »Andreas meint, der Anrufer habe das Telefon wohl mit einem Taschentuch abgedeckt.«

»Ich verstehe«, entgegnete der Polizeibeamte, »dann kommen wir also morgen Früh sofort wieder heim, sobald wir entlassen worden sind.«

An Schlaf war in dieser Nacht, weder im Krankenhaus, in Bregenz, noch im Pfarrhaus von St. Johann zu denken. Die beiden Männer unterhielten sich bis in die frühen Morgenstunden, erst dann dämmerten sie langsam in einen leichten Schlummer hinüber.

Claudia lag in ihrem Bett schaute in die Dunkelheit, mit der rechten Hand strich sie über ihren Bauch, in dem ein neues Leben heranwuchs. Tränen rannen ihr übers Gesicht, als ihr bewusst wurde, wie knapp es gewesen war, und das Baby seinen Vater nie kennengelernt hätte.

Der Gedanke, dass Max gestorben wäre, ohne jemals erfahren zu haben, dass er wieder Vater würde, war so grausam, dass Claudia sich die Bettdecke an die Lippen presste, um nicht laut aufzuschreien.

Draußen graute bereits der Morgen heran, als sie sich endlich soweit beruhigt hatte, dass sie aufstehen und sich einen Tee kochen konnte.

Claudia kletterte ins Bett zurück und trank den Tee in kleinen Schlucken. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und wartete, dass sich der Schlaf doch noch einstellte.

*

Anna Burger staunte nicht schlecht, als sie auf den Hochleitnerhof fuhr. Mindestens ein Dutzend Autos waren dort schon geparkt, und als sie ausstieg hörte die Kielerin Musik und laute Stimmen aus dem Garten hinter dem Haus. Die Geburtstagsparty war in vollem Gange.

Anna nahm ihr Geschenk, das sie für Tobias gekauft hatte, und ging zum Bauernhaus.

Die Tür stand einladend offen, und sie betrat die Diele, ging durch den Korridor nach hinten, wo eine weitere Tür hinaus ins Freie führte. Dort blieb Anna einen Moment stehen und schaute sich um.

Auf der Terrasse standen mehrere lange Tische und Bänke, wie sie auch in Biergärten benutzt wurden, an denen zahlreiche Gäste saßen, andere standen oder gingen umher, unterhielten sich und tranken Bier.

Auf der linken Seite war ein großer Grill aufgebaut, an dem Johann Hochleitner stand und aufpasste, dass die Würstel und Steaks nicht verbrannten. Annas Onkel hatte eine Schürze umgebunden, auf der ›Grillchef‹ aufgedruckt war, dazu das Gesicht eines schwitzenden Kochs unter einer hohen Haube.

»Hey, da bist’ ja!« Franziska Engler trat zu Anna und nahm sie in den Arm.

»Wo ist das Geburtstagskind?«, fragte die Besucherin.

Franzi deutete auf das Gewimmel. »Da irgendwo«, lachte sie und zog Anna mit sich.

Es waren wohl an die dreißig Geburtstagsgäste, die sich auf dem Hochleitnerhof eingefunden hatten. Anna entdeckte Tobias schließlich an einem Tisch, auf dem ein Bierfass stand, er zapfte gerade eine Maß und stellte den Krug ab, als er sie sah

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Der Bauernsohn drückte sie an sich. »Schön, dass du gekommen bist«, sagte er und nahm das Geschenk entgegen.

Es war die neuste CD einer gerade angesagten Popgruppe, Franzi hatte ihr verraten, dass sie auf Tobias’ Wunschliste stand. Anna war am Morgen in die Kreisstadt gefahren und hatte sie dort in einem Musikgeschäft gekauft.

»Super!«, freute er sich. »Vielen Dank.«

Er zapfte weiter Bier und reichte Anna einen Krug. Sie stießen an.

»Komm, jetzt hab’ ich auch Hunger«, sagte Franzi hakte sich bei Anna ein. »Lass uns mal was essen gehen.«

Neben dem Grill stand ein Tisch, auf dem zahlreiche Schüsseln mit Salaten standen, Körbe mit Brot und verschiedene Grillsaucen und Kräuterbutter, in kleinen Töpfen.

»Na, ihr zwei«, nickte Bauer den beiden Madeln zu, »was darf’s denn sein?«

Sie ließen sich je ein Grillwürstchen geben und bedienten sich an den Salaten.

Burgl Hochleitner begrüßte Anna mit einem herzlichen Lächeln. »Schön, dass du da bist«, sagte die Bäuerin und erzählte, dass sie und Franzi den ganzen Tag damit zugebracht hätten, die verschiedenen Salate zuzubereiten.

Nachdem sie ihre Teller gefüllt hatten, gingen sie an einen der Tische. An dem saßen zwar schon einige Leute, die aber bereitwillig zusammenrückten und Platz machten.

Franzi stellte Anna als Bekannte vor, und die junge Norddeutsche versuchte, sich die Namen der anderen zu merken. Sie hatten gerade fertig gegessen, als sich Tobias zu ihnen gesellte. »Gibt’s was Neues?«, fragte er.

Anna, die genau wusste, worauf sich seine Frage bezog, schüttelte den Kopf.

»Hier auch net«, sagte der Bauernsohn und erzählte, dass er in den vergangenen Tagen, immer, wenn er alleine im Haus gewesen war, sämtliche Räume nach Hinweisen auf Annas Mutter durchsucht hätte. »In jeden Schrank hab ich geguckt, sämtliche Schubladen aufgemacht und sogar den Keller durchwühlt. Aber da war nix, absolut gar nix.«

Einzig die Kiste auf dem Dachboden, die er schon vor geraumer Zeit entdeckt hatte, war eine Spur gewesen, die bewies, dass sein Vater eine Schwester gehabt haben musste, auch wenn Johann Hochleitner sie bis heute verleugnete.

»Und wenn wir deine Eltern doch direkt mit Anna konfrontieren?«, schlug Franzi vor.

Tobias schaute vorsichtig zu ihnen hinüber, der Bauern und seine Frau hatten an einem der anderen Tische Platz genommen und unterhielten sich mit den Gästen dort. Er schüttelte den Kopf. »Aber net heut«, sagte er. »Ich will mir net die Party verderben lassen.«

»Freilich net heut«, entgegnete seine Freundin, »aber anders werden wir sie wohl kaum aus der Reserve locken können.«