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CHRISTOPH HARDEBUSCH

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Titel

CHRISTOPH HARDEBUSCH

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ROMAN

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Impressum

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Copyright © 2011 by Christoph Hardebusch
Copyright © 2011 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Bearbeitung: Uta Dahnke
Umschlag- und Innenillustration: Arndt Drechsler
Karte: Andreas Hancock
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-06800-4
V002

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ERSTER TEIL

ERSTER TEIL

Rabe.tif

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Abhängen

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Rabe.tif

Tom zog sich in den Schatten des Türeingangs zurück und schob die Hände in die Jackentaschen. Ein leichter Nieselregen fiel vor ihm auf den Asphalt, und er freute sich darüber, denn so würde es aussehen, als hätte er sich hier nur untergestellt. Durch die gesprungene Glasscheibe konnte er ein paar ramponierte Briefkästen und einen Kinderwagen sehen. In dem Mietshaus wohnten bestimmt nicht die aufmerksamsten Leute.

Aus den Stöpseln in seinen Ohren drang leise Musik, schnelle Gitarrenriffs und eine melodische Stimme. Er liebte die Band und konnte jedes Stück ihres neuesten Albums mitsingen, aber jetzt gerade hatte er keine Zeit, und er nahm die Musik kaum wahr.

Obwohl es für März nicht sonderlich kalt war, hatte er die Kapuze seines Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, und er linste angestrengt unter dem grauen, ausgefransten Saum hervor, der ihm beinahe in die Augen fiel. Mit der Linken fuhr er über das Rad des Players und drehte so die Musik noch leiser.

Toms gesamte Aufmerksamkeit war auf den Geldautomaten auf der anderen Straßenseite gerichtet, der sich in einer Nische zwischen einem Schuhgeschäft und einer kleinen Bankfiliale befand. Eine mollige Frau in einem durchsichtigen Regenmantel stand davor. Sie versuchte, eine henkellose Papiereinkaufstüte, aus der Zucchini und Salat herausragten, mit nur einem Arm zu halten, während sie mit der anderen Hand ihre Geheimzahl eingab. Menschen mit Einkaufstüten waren normalerweise ideal, aber Tom schüttelte dennoch beinahe unmerklich den Kopf. Für einen zufälligen Beobachter hätte die Bewegung wie eine Reaktion auf die Musik aussehen können. Tatsächlich war es aber ein Zeichen. Die Frau hatte ihr Gemüse bestimmt beim Türken um die Ecke gekauft, sie trug ausgetretene Schuhe, und die Klamotten unter dem durchsichtigen Mantel waren abgetragen. – Keine gute Wahl. Endlich hatte sie es geschafft, ihre Geldbörse wieder zu verstauen, und sie verschwand, die Zucchinitüte nun fest im Griff.

Tom würdigte sie keines weiteren Blickes. Der Regen wurde stärker. Perfekt; das bot ihm die Möglichkeit, einfach hier stehen zu bleiben und darauf zu warten, dass jemand vorbeikam, der besser geeignet war. Die meisten Passanten beeilten sich jetzt, schnell von der Straße zu kommen, hielten Zeitungen oder zogen Mantelkrägen über ihre Köpfe und flüchteten hastig zu H&M oder Starbucks.

Kaum zwei Haltestellen von hier entfernt saßen die Schüler seines Kurses wohl noch in Mathe und lauschten den gähnend langweiligen Erklärungen von Doc Salzbacher, während sie das Pausenklingeln herbeisehnten. Obwohl Tom in Mathe besser als in so manch anderem Fach war, konnte Salzi auch ihn innerhalb von wenigen Minuten an den Rand des Schlafs reden. Besser als’n Joint, hieß es im Kurs über den Mathe-Doc an der Pensionierungsgrenze. Trotzdem wäre Tom im Augenblick weitaus lieber in dem immer leicht nach schwitzenden Schülern und Automatenkaffee müffelnden Kursraum gewesen als dort, wo er sich gerade befand. Stattdessen spürte er die harte Wand in seinem Rücken und tat unbeteiligt, während er die vorbeihastenden Menschen beobachtete. Bargeld würde der eine oder andere trotz des ätzenden Wetters sicher bald mal brauchen. Und jemand, der es wegen des Regens eilig hatte, war noch besser als eine Tussi mit Einkäufen.

Mit der Zeit bekam man ein Gespür für die Leute. Die Menge auf den Einkaufsstraßen der Großstadt war immer bunt gemischt, Anzugträger liefen neben Hausfrauen, Schulkinder neben Großmüttern, helle Haut neben dunkler, teure Kleidung neben verschlissener. Sie sammelten sich in kleinen Pulks an den Fußgängerampeln, zufällige Gemeinschaften, die sich ebenso schnell wieder auflösten, wie sie zusammenfanden. Aber dafür interessierte sich Tom nicht. Er achtete auf Kleinigkeiten, versuchte, den Preis der Kleidung abzuschätzen, den Gang einzustufen. Wer war Opfer, wer war gefährlich?

Irgendwo in der Nähe ging eine Sirene los. Obwohl Tom ruhig dastand, hämmerte ihm das Herz in der Brust, wie immer, kurz bevor es losging. Der Laut schwoll an, brach dann aber abrupt ab. Gut. Nur ein Autoalarm, den irgendein Idiot ausgelöst hatte.

In seinen Händen spürte Tom das wohlvertraute Kribbeln. Bei dem einen oder anderen Passanten hätte er fast genickt, aber jedes Mal ließ ihn sein Instinkt doch abwarten. Vielleicht war es auch Angst, so genau konnte er das nicht sagen. Aber die Angst, mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren, war noch größer.

Die Ampel an der Kreuzung schaltete auf Rot, und der Strom der Autos stoppte; dafür setzten sich die Fußgänger in Bewegung. Tom behielt sie im Blick.

Unvermittelt flog ein großer Vogel von einem Dach herab, mit nachtschwarzem Gefieder. Er landete sicher auf der niedrigen Leitplanke, die die Fahrbahn vom Trottoir trennte, und sah sich mit neugierigem Blick um. Der Vogel erregte Toms Aufmerksamkeit. Ob er aus dem Park kam? Er trug etwas im Schnabel, machte zwei trippelnde, beinah lustig anmutende Schritte zur Seite, flatterte auf die Straße hinunter, betrachtete die vor ihm aufragenden Autos ganz genau, als sei er ein Experte für BMW s und Volvos, und dann legte er seinen Besitz auf der Straße ab.

Verwundert beobachtete Tom das Schauspiel. Der Vogel musste eine Krähe oder sogar ein Rabe sein, so groß und schwarz, mit einem mächtigen Schnabel und einem schlauen Funkeln in den Augen. Ein Rabe, beschloss Tom aus dem Bauch heraus, ohne zu wissen, warum. Einen letzten Blick warf der Vogel auf sein Werk, dann tat er einen hopsenden Schritt zur Seite, drehte den Kopf – und sah Tom an. Seltsamerweise fühlte der sich ertappt, als habe er gerade jemanden bei einer privaten Sache beobachtet, und er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Dann schlugen die schwarzen Flügel zwei- oder dreimal, und der Vogel erhob sich in die Luft und landete wenig elegant oben auf der Lampe.

Tom registrierte, wie die Autos anfuhren. Der Rabe ließ sich davon nicht stören, sondern beobachtete nur die Straße. Noch immer konnte Tom den Blick nicht abwenden. Es schien, als würde der Vogel auf etwas warten, so wie er da auf der Ampel hockte, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.

Dann wurde es wieder rot. Die Autos hielten an, die Fußgänger setzten sich in Bewegung. Und auch der Rabe stieß sich ab und glitt in einem engen Bogen zu Boden. Er hüpfte herum und pickte irgendetwas auf. Es dauerte einige Momente, bis Tom verstand: Eine Nuss. Es war eine Nuss. Er hat sie von den Autos knacken lassen!

Während der Rabe gelassen davonflog und über den Hausdächern verschwand, schüttelte Tom verblüfft den Kopf. Er hatte das Gefühl, Zeuge eines kleinen Wunders geworden zu sein, so als ob der Pitbull Tyson zu Hause plötzlich nach der Uhrzeit gefragt hätte. Er versuchte, eine Erklärung zu finden; es schien ihm total unwahrscheinlich, dass ein einfaches Tier eine so clevere Idee haben konnte.

Weniger clever war allerdings, dass er selbst sich hatte ablenken lassen. Als er seine Augen wieder auf die gegenüberliegende Straßenseite richtete, stand am Geldautomat ein Mann. Er war nicht sehr alt, ziemlich dick, und er trug einen dunklen Anzug, den er mit einem viel zu kleinen Schirm vor dem Regen zu schützen versuchte. Der Anzug signalisierte Geld, der dicke Hintern Gemütlichkeit. Genau richtig, wie Tom fand, der seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht zog, langsam im Takt der Musik nickte und sich bereit machte. Unbewusst hielt er den Atem an, zählte im Geiste vor sich hin. Als der Mann nach den Geldscheinen griff, stieß Tom sich von der Wand ab und ging los. Bald lief er parallel zu dem Opfer, die Hände wieder in den Taschen, die Schultern hochgezogen, ließ den Blick nicht von dem Mann, registrierte genau, in welcher Tasche das gut gefüllte Portemonnaie verschwand. Der Dicke lief die Straße entlang, achtete nicht auf seine Umgebung, wollte wahrscheinlich bloß aus dem Regen raus, der sie beide durchweichte. An der nächsten Ampel nutzte Tom den Moment, um zwischen den wartenden Fahrzeugen hindurchzuschlüpfen. Er lief jetzt direkt hinter dem Anzugträger, betrachtete dessen beachtliches Gesäß, atmete tief ein und überholte ihn dann, darauf bedacht, einen ordentlichen Abstand zu halten.

Der Stoß traf ihn in die Seite, ließ ihn zwei Schritte zurücktaumeln. Er prallte gegen den Mann, krallte sich in dessen Jackett.

»He, du Penner, pass doch auf!« Der Schreihals baute sich vor Tom auf, die Hände drohend erhoben. Er trug eine Baseballkappe, eine weite Jeans und eine voluminöse Jacke. »Biste blind?«

»’tschuldigung«, murmelte Tom, während er sich aufrappelte. »Hab dich nicht gesehen. Kein’ Stress, okay?«

Der Dicke schob ihn von sich und stellte Tom wieder auf die eigenen Füße, dann ging er wohlweislich auf Abstand. Zwei Straßenkids, die Ärger suchten, das war nicht seine Welt. Seine Augen schweiften zum Taxistand, der nur ein paar Schritte weit entfernt war.

»Na warte«, zischte Toms Gegenüber und sprang auf ihn zu. »Du Scheißopfer!«

Sofort gab Tom Fersengeld. Er duckte sich zur Seite weg und rannte los. Hinter sich hörte er die Schritte seines Verfolgers. Sein Puls dröhnte in seinen Ohren, übertönte den schnellen Beat der Musik. Seine Finger drehten die Lautstärke auf. Er lief, so schnell er konnte, drängelte sich durch die Passanten, bog um eine Ecke, dann eine weitere, weg von der Hauptstraße, tiefer in die Seitenstraßen. Doch der andere war schnell, zu schnell. Als sie in eine kleine Gasse voller geparkter Wagen einbogen, hielt Tom an und stützte sich keuchend auf die Knie.

Sein Verfolger sprintete um die Ecke, hielt mit einigen langen Schritten an, sah sich um und grinste dann breit.

»Kein’ Stress«, äffte er Tom nach und schüttelte den Kopf. »Alter, du wirst immer besser.«

»Das nächste Mal kannst du ein bisschen lockerer bleiben, Alex«, ranzte Tom zurück und rieb sich die schmerzende Seite, wo ihn der Ellbogen getroffen hatte. Er zog das Portemonnaie aus der Jacke und warf es Alex zu, der es ohne Probleme auffing und sofort öffnete.

»Jackpot!«, rief er, als er das Bündel Geldscheine herauszog. Tom machte einen Schritt auf Alex zu und warf einen Blick in die schwarze Lederbörse, auf der fett ein Designerlogo prangte. Kreditkarten steckten ordentlich in kleinen Fächern, Ausweise und Rechnungen in größeren. Sie filzten das Portemonnaie gründlich, während sie gemeinsam weitergingen. Alex steckte den Perso, die Versicherungskarte und die Kreditkarten ein, bevor er die Geldbörse schließlich achtlos unter ein geparktes Auto warf.

»Wie viel ist es?«, erkundigte sich Tom. Die Scheine glitten durch Alex’ schlanke Finger, sein Mund bewegte sich lautlos. Tom sah zu ihm auf. Alex war einen halben Kopf größer, aber das war nicht verwunderlich, immerhin war er auch mehr als ein Jahr älter als Tom. Noch siebzehn Monate, wie er gern erzählte, und er würde die magische 18 erreichen und dann den ganzen Scheiß hinter sich lassen.

»Sechshundert. Sechs-Fuffzig. Porno!«

»Genug für heute«, erklärte Tom erleichtert, als Alex ihm einen Fünfziger zusteckte.

»Absolut«, pflichtete der Ältere ihm bei. Das Geld wanderte in eine seiner unergründlichen Taschen. Tom passte sich seinem schlendernden Schritt an. Sie beeilten sich nicht; keiner von ihnen hatte es besonders eilig, nach Hause zu kommen. Im Gegenteil, je länger sie von dort verschwinden konnten, umso besser war es.

»Lass uns feiern gehen«, schlug Alex nicht ganz unerwartet vor. »Hier im Kiez ist gleich um die Ecke ’ne Spielhalle. Zocken?«

Tom nickte. Hauptsache nicht zurück zur Familie. Und mit Alex abzuhängen war meistens lustig.

Aber nicht immer.

»Diebe!«, brüllte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen. Eine kurze Pause entstand, während der Sprecher hörbar nach Luft schnappte, dann tönte es wieder: »Diebe!«

Sie wandten sich gleichzeitig um und sahen den dicken Anzugträger, der mit hochrotem Kopf hinter ihnen herlief. Ungläubig betrachtete Tom ihren Verfolger. Ich dachte, der Typ säße längst in einem Taxi und ließe sich zurück ins Büro kutschieren, schoss es ihm durch den Kopf, während Alex laut lachte.

»Der Fettsack gibt nicht auf. Klingt wie ein beschissener Disney-Film. Die Lok soundso. « Alex gab übertriebene Keuchlaute von sich und lachte dabei noch immer.

Dann packte er Tom an der Schulter und zog ihn mit sich. Sie liefen locker nebeneinander, nicht einmal besonders schnell. Die Sohlen von Toms Turnschuhen quietschten auf dem nassen Straßenbelag. Mittlerweile war der Regen durch jede Schicht Kleidung gedrungen, die er trug.

»Wir treffen uns bei Bollo«, rief Alex, als er zwischen zwei geparkten Kleinwagen abtauchte und dann mit voller Geschwindigkeit über die Straße lief. Ein Auto bremste quietschend ab, der Fahrer wedelte mit den Armen, aber Alex lachte nur laut und zeigte ihm den Mittelfinger.

Ein Blick über die Schulter verriet Tom, dass der Dicke noch immer an ihm klebte. Er beschleunigte und versuchte, den überraschend hartnäckigen Verfolger abzuschütteln. Dem Anzugtypen musste einfach bald die Puste ausgehen; Tom wog nur etwa ein Drittel von ihm, und er bekam allmählich Seitenstechen.

An manchen Tagen hätte er wirklich einiges darum gegeben, einfach nur Doc Salzbachers gemurmelte Endlosvorträge ertragen zu können.

Während er noch einmal zu einem Spurt ansetzte, um endlich ungesehen irgendwo abzubiegen, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung schwarzer Flügel wahr.

Streets of Berlin

Streets of Berlin

Rabe.tif

Ein rascher Blick über die Schulter zeigte Tom, dass der Spurt nicht gereicht hatte, um den Dicken abzuhängen. Er konnte sich nur wundern, wie erstaunlich schnell der Mann trotz seines Körperumfangs war. Und er gab nicht auf, obwohl es inzwischen klang, als würde ihm gleich die Lunge plat zen. Tom, der beim Kicken meist in der Abwehr spielte, hielt sich selbst nicht für einen begnadeten Läufer, aber es musste ihm doch gelingen, diesen Büronappel abzuschütteln!

Früher oder später würde jemandem die kleine Ver folgungsjagd auffallen, und auch wenn dieser Kiez nicht unbedingt weltberühmt für die gute Zusammenarbeit der Leute mit der Polizei war – irgendwer würde sich Tom in den Weg stellen, und er hatte keine Lust auf einen weiteren Besuch auf einer Wache. Also rannte er noch schneller als zuvor weiter.

Die Straßen hier waren eng und voller Autos. Auf den Gehsteigen lagerten Müllsäcke und Sperrmüll. An fast allen Hauswänden prangten Tags, aber Tom hatte keine Zeit, darauf zu achten, wer hier das Gebiet für sich beanspruchte. Wild sah er sich nach einer Möglichkeit um, seinen Verfolger endlich loszuwerden. Weiter vorn war ein Haus beinahe komplett abgerissen worden. Nur noch eine Wand war übrig geblieben, an der die Reste dreier abgebrochener Stockwerke erkennbar waren. Ein Bauzaun voller übereinandergeklebter Plakate versperrte die Sicht auf das Gelände. Das ist es, schoss es Tom durch den Kopf. Noch einmal gab er alles, nahm Anlauf, sprang ab, packte die obere Kante des Zauns und zog sich daran hoch. Seine Rolle auf die andere Seite war wenig elegant, und als er auf dem Boden aufkam, knickte sein rechter Fuß weg. Er strauchelte, landete schmerzhaft auf dem Knie und fiel beinahe aufs Gesicht. Aber er hatte erst einmal das Hindernis zwischen sich und weiteren Stress gebracht. Allerdings war seine Jacke an einem hervorstehenden Nagel des Zauns hängen geblieben, und ein langer Riss verunzierte sie nun.

»Verdammt.«

»Die-hieb!«, ertönte es hinter ihm. »Haltet … den …« Tom atmete zwei-, dreimal ein und aus. Die keuchende Stimme war erst ganz nah, entfernte sich dann aber. Scheint, als ob ich’s gepackt hätte.

Als Tom weiterlief, durchzuckte ein greller Schmerz vom Knöchel her sein Bein. Er verzog das Gesicht, aber es war nicht so schlimm, dass er nicht auftreten konnte.

Er humpelte über das Baugelände. Überall lag Schutt herum, der wohl durch die Abrissbirne entstanden war. In der Mitte des Geländes befand sich eine große Grube, in der schlammiges, lehmfarbenes Wasser stand. Vorsichtig umrundete Tom ein großes Stück Beton, aus dem wie zwei Finger rostige Eisenträger ragten.

Er blieb stehen und sah sich um. Am besten überquerte er die ganze Fläche und stieg auf der anderen Seite wieder über den Zaun. Vermutlich würde das zwar einen ziemlichen Umweg bedeuten, aber so war immerhin sichergestellt, dass er dem übergewichtigen Kurzstreckenläufer nicht wieder ins Visier geriet.

Am anderen Ende des Geländes stand ein Bauwagen, daneben einige schwere Fahrzeuge, Bagger, Laster und dergleichen, aber von Arbeitern war nichts zu sehen. Auch der Rabe war verschwunden, wie Tom beinahe enttäuscht feststellte.

»Besser ist das«, murmelte er zu sich selbst, während er einen Bogen um die Baugrube machte. »Ein Pechvogel reicht völlig aus.«

Eine alte Erinnerung stieg in ihm auf, irgendein Kinderlied von schwarzberockten Vögeln, die am Himmel kreisten, aber er konnte die Worte nicht wirklich zusammenbringen. Und wer hatte das Lied überhaupt gesungen?

Aber er hatte größere Probleme als vergessene Liedstrophen. Mit dem Riss in der Jacke, das würde Ärger geben, dessen war er sich sicher, doch wenn er wegen des Knöchels zum Arzt musste, würde das richtig übel werden.

So schnell er konnte, überquerte er die Baustelle; die Schmerzen waren immerhin auszuhalten, und im Moment vermochte er ohnehin nichts gegen sie zu tun.

Endlich erreichte Tom die andere Seite des Geländes, wo der Bauzaun ihm den Weg in die Freiheit versperrte. Rechts bei dem Bauwagen gab es ein Tor, aber das erwies sich auch nach mehrmaligem Rütteln als verschlossen. Durch die Latten des Zauns konnte er außen ein Kette sehen, die das Tor zuhielt. Verdammt noch mal!

Also seufzte er, testete noch einmal die Belastbarkeit seines Knöchels, indem er ein paarmal fest auftrat und dabei die Zähne zusammenbiss, und begann dann zu klettern, doch diesmal deutlich langsamer und vorsichtiger als auf seinem Weg hinein. So vertieft war er in diese Aufgabe, dass er vollkommen überrascht war, als jemand seine Beine packte und ihn umstandslos vom Zaun zurückzerrte.

»Was machst du denn hier, Kleiner?«

Der Mann, der ihn an der Kapuze hielt, war gut zwei Köpfe größer, trug einen dunklen Overall und einen quietschgelben Schutzhelm. Ein mächtiger Schnauzer prangte auf seiner Oberlippe, und seine buschigen Brauen waren zusammengezogen.

»’tschuldigung«, erwiderte Tom hastig. »Ich … ich wollte nur …«

»Was stehlen? Irgendeinen Mist an die Wände schmieren? Mit Jungs von deiner Sorte haben wir hier oft genug zu tun.«

Von meiner Sorte? Der Sorte Unglücksrabe?, fuhr es Tom durch den Kopf, aber laut sagte er: »Nein. Wirklich nicht. Ich …« Er überlegte hastig. Was würde ihm der Schnauz wohl abkaufen? »Da waren zwei Typen, so Schläger, die wollten mein Geld. Da bin ich über den Zaun geklettert.«

Die Miene des Mannes veränderte sich nicht, aber als er wieder sprach, war seine Stimme milder: »Zwei gleich, ja?«

»Ja, so große Typen. Der eine hatte ein Messer«, dichtete Tom dazu und versuchte, Furcht in seine Stimme zu legen. So schwer war das nicht, denn der Bauarbeiter mit den groben Händen jagte ihm tatsächlich Angst ein.

»Was machst du denn um diese Zeit auf der Straße? Solltest du nicht in der Schule sein?«

»Freistunde. Ich wollte zum Bäcker, ’ne Schrippe kaufen.«

Die Lügen kamen Tom leicht über die Lippen. Alex hatte ihm vorgeführt, wie man das richtig machte. Nichts Wildes herumschwafeln, keine großen Lügengebäude bauen, sondern bloß Kleinigkeiten erfinden. Zu echten Erlebnissen ein bisschen was dazudichten. Das war fast immer plausibler und wurde leichter geglaubt, als wenn man gleich einen ganzen Film erzählte. Tom war gut darin; nur zu Hause hatten seine Lügen meist kurze Beine. Irgendwie hatte der Alte ein fast unheimliches Gespür dafür, konnte Wahrheit und Lüge einfach so erkennen. Und die Konsequenzen von Lügen waren stets schmerzhaft.

»Eine Schrippe.« Der Mann sah auf seine Armbanduhr. Seine Handgelenke waren dick, seine Arme muskulös und von dichtem, dunklem Haar bedeckt. Er löste seine Hand von Toms Arm. »Das hier ist kein Spielplatz. Hier kann man sich verletzen, das ist gefährlich.«

»Ja, ja, ich weiß. Ich wollte ja auch nicht …«

»Troll dich«, knurrte der Bauarbeiter und zog Tom an der Kapuze zum Tor. Er ließ den Jungen los und fingerte einen großen Schlüsselbund aus der Tasche. Es waren bestimmt zwei Dutzend Schlüssel daran befestigt und dazu ein kleines, abgeschabtes Männchen mit einem Helm auf dem runden Kopf, das grinsend den Daumen hob. Tom ließ die Augen nicht von den Schlüsseln, die vermutlich alle Schlösser auf der ganzen Baustelle öffnen konnten. Der Mann griff durch die Zaunlatten und zog die Kette zu sich heran, bis er das Vorhängeschloss erreichte. Er öffnete das Schloss und nahm es ab. Es verschwand beinahe in seiner riesigen Faust.

»Danke«, murmelte Tom und senkte den Blick. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Mann den Schlüsselbund zurück in die Tasche steckte. Das Tor, der Bauwagen mit dem Werkzeug oder sogar der Bagger oder die Planierraupe – der Schlüsselbund bot ungeahnte Möglichkeiten. Tom wusste, was Alex machen würde. Für so viele Schlüssel musste man geschickt sein, die machten Lärm, wenn man nicht aufpasste. Schon zuckten seine Finger, aber dann quetschte er sich nur an dem Arbeiter vorbei aus dem Tor und sagte noch einmal: »Danke.«

Hinter ihm schlug das Tor wieder zu, und die Kette rasselte, als der Bauarbeiter sie erneut verschloss. Einen Atemzug lang blieb Tom einfach stehen und versuchte, sich zu beruhigen. Die fast vergessenen Schmerzen in seinem Knöchel kehrten wieder zurück, und seine Knie zitterten. Seine Anspannung machte sich in einem aus seinem tiefsten Innern kommenden Fluch Luft.

Der Diebstahl, die Verfolgungsjagd, der Rabe und der Bauarbeiter – die Ereignisse der letzten zwanzig Minuten hatten ihn mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte. Sein Herz raste, und sein Mund war trocken. Es erschien ihm plötzlich wie ein Wunder, dass ihm der Arbeiter einfach so geglaubt und nicht zufällig die Rufe des Bestohlenen gehört hatte.

So kaltblütig Tom sich Augenblicke zuvor noch gefühlt hatte, jetzt war davon nichts mehr übrig. Noch einmal atmete er tief ein und aus, dann zog er die Kapuze über den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Automatisch verfiel er in seinen üblichen schlurfenden Gang, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen. Das ungute Gefühl in der Magengrube blieb, aber dann erinnerte er sich an das Geld. Einen Fünfziger in der Tasche und genug bei Alex, um heute Abend sorglos nach Hause zu können. Das hob seine Laune, und dennoch sah er sich immer wieder misstrauisch um. Dem Bestohlenen traute er nach der Verfolgungsjagd alles zu, und mit dem verstauchten Fußgelenk würde er noch so einen Spurt vermutlich nicht schaffen.

Aber es ertönten keine Rufe mehr hinter ihm, kein rotes, wütendes Gesicht tauchte zwischen den Passanten auf, keine Sirenen, keine Polizei, wie Tom erleichtert feststellte. Er schlug den Weg in Richtung Bollo ein. Bollo, das war eine Currywurstbude, oder vielmehr ihr Besitzer. Bei Bollo würde er hoffentlich auf Alex treffen, ein bisschen abhängen, am Automaten Kleingeld verdaddeln und Fritten essen, bis sie zurückmussten. Es war eine angenehme Vorstellung, eine kleine, wenn auch fettige Oase der Ruhe im Sturm des Tages.

Eine Bewegung fiel Tom ins Auge, ein dunkler Schatten über ihm. Er sah nach oben, und der Nieselregen fiel auf sein Gesicht. Auf einem Balkon im ersten Stock eines alten Mietshauses saß … schon wieder ein Rabe. Sein Gefieder war aufgeplustert, und er hüpfte von links nach rechts und wieder zurück. Dabei schienen seine schwarzen Augen den Jungen mit unergründlichem Blick zu fixieren.

Erstaunt blieb Tom stehen und versuchte zu erkennen, ob es dasselbe Tier war wie zuvor. Fast glaubte er es, aber sicher konnte er sich nicht sein.

»Wo ist deine Nuss?«, fragte er halblaut, mehr an sich selbst als an den Raben gewandt. Dennoch fühlte er sich unvermittelt dumm, weil er mit einem Vogel sprach, und er schüttelte den Kopf. Eine Antwort war von dem Raben ohnehin nicht zu erwarten, also ging er weiter, versunken in düstere Gedanken.

»Aha-chtung!«, krächzte es über ihm und dann noch einmal: »Achtung!«

Hat der Rabe gerade »Achtung« gesagt? Mann, du spinnst doch …

Noch bevor Tom den Gedanken zu Ende gebracht hatte oder auf die Warnung reagieren konnte, sprangen eine Handvoll Gestalten aus einer Seitengasse und umstellten ihn. Jugendliche, kaum älter als er, mit Kapuzensweatshirts, Baseballkappen und finsteren Mienen.

»Was machst du hier? Das ist unser Turf, Kleiner!«

Ein schneller Blick auf eine nahe Hauswand bestätigte Toms schlimmste Befürchtungen: Er war, ohne es zu merken, mitten in das Revier der 83er gelaufen. Das halbe Dutzend Mitglieder der Gang umkreiste ihn wie ein Rudel Wölfe. Langsam, lauernd. Der Anführer hatte sich vor Tom aufgebaut, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, und sah ihn herausfordernd an.

An manchen Tagen sollte man gar nicht erst aufstehen, schoss es Tom durch den Kopf, da stieß ihn auch schon jemand in den Rücken, und er taumelte nach vorn.

»Also?«

»Kein’ Stress«, erwiderte Tom, während er sich aufrappelte. »Ich will hier nur …«

»Abzocken«, unterbrach ihn der Anführer. »Ihr beschissenen Waisen denkt, dass euch alles gehört und ihr überall eure Nummer abziehen könnt. Bei uns nicht, Kleiner. Wir machen dich platt.«

Tom wich zurück, als sein Gegenüber die Fäuste hob und ihn grimmig anfunkelte.

»Mach ihn fertig, Aki«, johlte jemand hinter Tom.

Tom selbst ließ die Arme einfach hängen, wollte auf keinen Fall provozieren. »Bleib locker«, bat er eindringlich. »Ich will mir nur ’ne Pommes holen. Kein Abrippen, nichts.«

Diesmal log er nicht, aber er ahnte bereits, dass es egal sein würde. Die Gangs in der Stadt mochten keine Konkurrenz, schon gar nicht von Toms Familie.

»Ihr kommt hier einfach her und klaut unseren Scheiß«, befand Aki finster. »Ihr habt keinen Respekt, das ist euer Problem.« Er hob die Faust. Ein breiter Goldring funkelte an einem seiner Finger.

Toms ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf diesen Ring. Er nahm jedes Detail auf, die kleine Delle, den verzierten Rand. Er wusste, dass ihn die Faust bald treffen würde, ahnte den Schmerz bereits, aber er konnte den Blick nicht von dem Ring lassen, konnte die Fäuste nicht heben, war unfähig, sich zu wehren.

Dann schepperte es, als eine leere Dose Aki am Kopf traf.

»He! Versuch’s doch bei einem von deiner Größe, Arschloch!«

Alex’ Stimme riss Tom aus seiner Trance. Alle sahen zu dem älteren Jungen hinüber, der sich breitbeinig auf dem Bürgersteig aufgebaut hatte. Tom hätte fast einen Jubelruf ausgestoßen. Stattdessen nutzte er den Moment der Ablenkung, stieß einen der Jungen beiseite und sprang durch die Lücke. Wütende Rufe folgten ihm, aber als er sich neben Alex umdrehte, sah er, dass niemand hinter ihm her war.

»Wir plätten euch beide«, drohte Aki und rieb sich die Schläfe. Er machte jedoch keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Seine Baseballkappe war verrutscht und ließ ihn jetzt eher verwirrt als cool aussehen.

Tom bemerkte aus dem Augenwinkel, dass der Rabe noch immer auf seinem Beobachtungsposten saß und die Menschen nicht aus den Augen ließ. Furchtloses Vieh, das muss man ihm lassen.

»Wir wollen nur hier durch«, entgegnete Tom schnell, bevor Alex auf die Drohung reagieren konnte. »Nach Hause.«

»Ihr Vorstadtpenner!«, rief der Junge, den Tom zur Seite gestoßen hatte, und warf sich in die Brust.

Die wenigen Passanten, die auf der Straße zu sehen waren, machten längst einen großen Bogen um sie, wechselten die Straßenseite und blickten nicht zu ihnen herüber. Bloß selbst keinen Ärger haben. Tom konnte es ihnen nicht verübeln.

Neben sich hörte er ein Klicken. Alex ließ sein Butterflymesser durch die Luft wirbeln. Der Griff und die Klinge waren nur noch verschwommene Schemen. Er grinste breit, dann zuckte sein Handgelenk, und er hielt das Messer wieder in der Hand, zu allem bereit. »Oder wir bleiben hier«, erklärte er ruhig. »Und tanzen ein bisschen mit euch.«

Während Toms Herz so heftig schlug, dass er es bis in die Zehen spürte, schien Alex unglaublich ruhig zu sein. Fast so, als freue er sich auf einen Kampf. Vielleicht lag es an dem Messer, vielleicht an Alex’ Blick, jedenfalls sagte keiner der 83er etwas.

»Wir sind gleich weg«, warf Tom ein und ergriff Alex am Arm. Er ging langsam rückwärts, zog den Älteren mit sich. Der ließ es geschehen, aber seine ganze Pose zeigte, dass er jederzeit bereit war, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Anders als ihre Kontrahenten. Von denen machte keiner Anstalten, ihnen zu folgen, bis Tom sich umdrehte und seine Schritte beschleunigte.

»Pussys«, lachte Alex und ließ das Messer nach einer weiteren Zurschaustellung seines Könnens wieder in der Jackentasche verschwinden. »Bollo?«

»Alter, die hätten mir beinahe die Lichter ausgeknipst«, fuhr Tom ihn an. »Ich will nur noch nach Hause.«

»Ich war doch da«, erwiderte Alex erstaunt. »Ich hau dich doch immer raus, kleiner Bruder. Oder nicht?«

»Doch«, gestand Tom, aber der Ärger in seinem Innern wollte nicht verfliegen. Alex hatte recht: Er war immer für Tom da, stand ihm zur Seite, half ihm stets aus der Patsche. Nur nicht zu Hause. Zu Hause halten wir alle die Klappe.

Den Rest des Heimwegs schwiegen sie. Selbst in der U- und S-Bahn saßen sie sich stumm gegenüber, jeder in seine Gedanken vertieft. Alex starrte aus den verschmierten Fenstern, und Tom zog sein Handy aus der Jackentasche und klickte das große F an. Eine Handvoll Mitteilungen erschienen auf dem Display. Gestern hatte er, voller Frust über den Alten und einen total verkorksten Tag, bei Facebook etwas über sein Zuhause geschrieben. Jetzt schlug sein Freund Patrick ihm vor, beim Jugendamt nachzufragen, ob man ihm etwas über seine leiblichen Eltern sagen könne.

Bislang waren Behörden und Ämter Tom nicht gerade hilfreich erschienen. Amt, das klang nach Leuten, die gern blöde Fragen stellten. Und schließlich war es irgendeine solche Stelle oder Behörde gewesen, die ihn dahin gebracht hatte, wo er jetzt war. Aber die Idee, die Suche nach seinen Eltern selbst in die Hand zu nehmen, gefiel ihm, trotz seines Misstrauens. Schnell tippte er eine Antwort. Dann steckte er das Handy wieder ein, schloss die Augen und grübelte eine Weile darüber nach, wie er wohl am besten vorgehen sollte.

Neun Stationen, zweimal umsteigen. Kurz vor der Haltestelle, an der sie schließlich rausmussten, kramte Tom den Fünfziger aus der Tasche, zog einen Sneaker aus und schob den Geldschein unter die lose Innensohle. Alex beobachtete ihn dabei mit starrer Miene, sagte aber nichts.

Als sie ausstiegen, wurde es schon dunkel. Der Regen war wieder stärker geworden, und in den Lichtkegeln der Straßenlaternen sah man die Tropfen vom Himmel fallen, endlos viele, alle zusammen, und doch jeder für sich allein.

Im Haus brannte im Erdgeschoss Licht, und durch die marode Tür konnte Tom bereits die Stimme des Alten hören.

»Hundert? Was soll das? Nur hundert?«

Eine leise Stimme antwortete, zu leise, als dass Tom hätte erkennen können, wer dort angeschrien wurde. Aber es war auch egal; jedes der elf Pflegekinder erwischte es irgendwann mal. Das klatschende Geräusch einer Ohrfeige ertönte, rasch gefolgt von zwei weiteren Schlägen. Jemand jaulte auf. Der Alte kannte keine Gnade, weder den Jüngsten noch den Schwächsten gegenüber.

Auf der obersten Treppenstufe hielt Tom inne. Sein Innerstes verkrampfte sich, und jetzt wünschte er sich, sie wären doch zu Bollo gegangen. Dann hätte er jetzt keinen Hunger und keine Angst, sondern eine Schale Pommes frites in der Hand, und er würde Witze mit Alex reißen.

Plötzlich spürte Tom die Hand des Älteren auf seiner Schulter, den beruhigenden Druck. »Wir haben heute genug«, sagte Alex leise, und Tom nickte leicht und griff nach der Klinke.

Als er die Tür öffnete und eintrat, drang kurz die wütende Tirade nach draußen, bevor sich die Tür wieder hinter den beiden schloss.

Den schwarzen Vogel, der lautlos auf dem Dachfirst landete, sah Tom nicht mehr.

Wie der Wind

Wie der Wind

Fuchs.tif

Wild und leicht wie der Wind glitt Matani durch das hohe, goldene Gras. Wenn sie es gewollt hätte, wäre sie unsichtbar gewesen, denn hätte sie sich geduckt, hätte das endlose Meer aus Halmen sie vor allen Blicken verborgen. Einige Dutzend Schritt entfernt lief ihre Begleiterin, doch Matani spürte sie mehr, als dass sie sie hörte oder gar sah.

Eine Böe strich durch die Halme, und eine flüsternde Wellenbewegung erfasste die Ebene, da sie sich vor der Macht des Windes neigten. So musste es am Meer sein, von dem der Vater Matani erzählt hatte. Er hatte das endlose Wasser noch gesehen, jenseits der weiten Steppen, und Matanis Herz verlangte es nach diesem Anblick, nach dem Geruch der See, ihrem Rauschen – ein Verlangen, das die Worte ihres Vater in ihre Seele gepflanzt hatten.

Aber das Meer war unerreichbar fern, denn das Land an der Küste gehörte nicht mehr Matanis Volk; ihm blieb nur die See aus Gras, durch die sie sich nun geschmeidig bewegte.

Obwohl die Sonne langsam unterging, war es noch warm. Ihre Strahlen tauchten die Ebene in ein honigfarbenes Licht, das sich zäh über die sanften Hügel ergoss. Bald würden sich auch die letzten Strahlen verlieren, und die Farben der Welt würden zu Grau verblassen, um schließlich in der Dunkelheit der Nacht zu vergehen. Matani lief schnell weiter, denn sie wollte wieder ins Lager zurückkehren, bevor man ihre Abwesenheit bemerkte. Doch erst musste sie noch etwas tun.

Als sie schließlich ihr Ziel erreichte, war es bereits dunkel. Ein unangenehmer, scharfer Geruch lag in der Luft und kratzte ihr in der Kehle. Sie ließ sich auf dem niedrigen Hügel auf ein Knie sinken und atmete bewusst langsam, um ihr von der Anstrengung des Laufens hämmerndes Herz zu beruhigen.

Neben ihr raschelte es im Gras, dann trat ihre Begleiterin an ihre Seite.

»Da bist du ja«, flüsterte Matani und fuhr mit der Hand durch das erdfarbene Fell der Füchsin. Ihre eigene dunkle Haut verschmolz mit den Schatten der Nacht, und auch die Füchsin verstand es, die Dunkelheit für sich zu nutzen. Sie bellte leise, und Matani lächelte.

Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihr Ziel. Es lag unter ihr, knapp zweihundert Schritt entfernt. Ein beständiges, dumpfes Wummern stieg von dort auf, kroch durch den Boden und Matanis Beine hinauf. Sie richtete sich vorsichtig auf, um besser sehen zu können.

Es war ein großes Lager, vier flache, sehr lange Hütten, in einem Rechteck angeordnet. In der Mitte stand ein gedrungener Turm. Grelles farbiges Licht schien auf den freien Platz, und in den Fenstern blitzte es bunt. Etwas, was auf den ersten Blick wie riesige Schlangen wirkte, verband Hütten und Turm. Zwei lilafarbene, leuchtende Kugeln wanderten die Außenseite des Turms empor, dann sanken sie wieder zu Boden, nur um ihren Aufstieg neu zu beginnen.

Zwischen den vielen Lichtern sah Matani Gestalten, Menschen, die im Lager zu arbeiten schienen. Auch andere Schatten bewegten sich dort, aber was sie taten, konnte Matani nicht erkennen.

Das Wummern wurde schneller, ein hohes, unangenehmes Sirren gesellte sich hinzu, und oben aus dem Turm stieg eine Wolke auf, die in dem unnatürlichen Licht unheimlich wirkte.

»Wir müssen näher heran«, wisperte Matani und machte sich auf den Weg. Die Füchsin würde ihr folgen, dass wusste sie. Jetzt lief sie geduckt, tief im Gräsermeer verborgen, alle Sinne geschärft.

Um das Lager herum war ein großer Bereich von jeglicher Vegetation befreit worden, und als Matani die Grenze der Gräser erreichte, sah und roch sie verbrannte Erde. Der scharfe Geruch war hier noch schlimmer, und beinahe hätte sie gehustet. Vermutlich wäre das nicht gefährlich gewesen, denn so nah an dem Lager war es laut, aber sie unterdrückte den Reflex dennoch. In dem Lärm, der aus den Hütten hervordrang, konnte sie Stimmen wahrnehmen, laut gerufene Befehle, aber sie konnte keine einzelnen Worte verstehen.

Zweifelnd besah sie die freie Fläche zwischen ihr und der nächsten Hütte. Es gab keine Deckung, und das unstete Licht aus dem Lager fiel hier immer wieder auf die nackte Erde. Diese Stelle zu überqueren war sehr gefährlich, aber dennoch machte Matani sich bereit. Ihr Körper spannte sich an, und sie stimmte sich auf ihre Umgebung ein.

Unvermittelt bellte die Füchsin erneut. Es war ein heiseres Geräusch, fast ein Keuchen – eine Warnung. Matani sank sofort zurück in das Gras, machte sich klein und unauffällig.

Zwischen den Halmen hindurch sah sie, wovor die Füchsin sie gewarnt hatte: Zwei Menschen gingen in einem Bogen um das Lager herum, zwischen Matani und den Hütten. Zwei große, hundeähnliche Wesen begleiteten sie. Doch die Männer der Patrouille hatten sie offenbar nicht entdeckt, denn sie drehten einfach weiter ihre Runde. Im Lager wurden die Stimmen lauter, die Bewegungen schneller. Die Lichter zuckten und flackerten, und wieder ertönte das Sirren, diesmal fast wie ein Kreischen.

Matani schob mit zwei Fingern vorsichtig das Gras auseinander, um besser sehen zu können, was dort vor sich ging.

In diesem Moment wandte sich eines der beiden Tiere um und knurrte. Matanis Herz schlug schnell, als sie sich wieder zurückzog und versuchte, sich noch kleiner und noch unscheinbarer zu machen. Aber das Interesse der beiden Männer war geweckt, und sie folgten dem Tier langsam und vorsichtig.

Matani wich auf allen vieren zurück. Der grelle Lichtschein aus dem Lager ließ den Schatten des Tieres auf sie fallen, und sie glaubte, das Funkeln in den Augen zu erkennen, hörte das Schnaufen und Knurren. Ein moschusartiger Geruch mischte sich unter den Gestank aus dem Lager, wie von nassem Fell.

Nicht weit entfernt von ihr bellte es laut und auffordernd. Der Kopf des Tieres fuhr ruckartig herum, und die Männer zeigten in die neue Richtung, weg von Matani. Sie drehte sich um und lief davon, leise und schnell wie der Wind. Ein Heulen ertönte hinter ihr, noch ein Bellen, dann Rufe, viele laute Rufe. Aber sie sah sich nicht um, sondern lief nur davon.

Erst als sie den Gestank nicht mehr riechen konnte und die Lichter nicht mehr als ein schwacher Schein am Himmel waren, wagte sie es, sich hinzusetzen und Atem zu schöpfen. Lange Zeit wartete sie angsterfüllt, dann kam die Füchsin zu ihr, setzte sich neben ihr auf den Boden und sah sie mit schief gelegtem Kopf an.

»Ja, ja, schon gut«, murmelte Matani und kraulte sie hinter den großen, weichen Ohren. »Vielen Dank.«

Die Füchsin jaulte leise, legte sich hin, rollte sich auf die Seite und präsentierte ihren Bauch, den Matani sofort streichelte.

»Sie haben die Erde verbrannt«, erklärte sie dabei. »Und sie machen etwas Seltsames in den Hütten. Dieser Gestank und die Lichter. Was immer das ist, es ist nichts Gutes.«

Sie warf einen Blick zum Himmel. Die Sterne sagten ihr, dass es später war, als sie gedacht hatte, weit nach Mitternacht inzwischen. Mit einem Seufzen stand sie auf. Die Füchsin sah zu ihr hoch.

»Komm, wir müssen zurück.«

Gemeinsam liefen sie durch das Gräsermeer. Über ihnen folgten die Sterne ihrem endlosen Lauf, weit entfernte Lichtpunkte an einem dunklen Himmel.

Als Matani das Lager ihres Stammes erreichte, war das große Feuer bereits heruntergebrannt. Dennoch saß davor noch eine Gestalt, eingehüllt in eine Decke, das Haupt gesenkt. Matani wusste, dass der Versuch, sich unbemerkt in das Heimzelt ihrer Familie zu schleichen, sinnlos sein würde, also ging sie direkt zum Feuer und setzte sich neben ihren Vater.

Sie schwiegen lange, während sie gemeinsam in die Glut starrten. Schließlich nahm Matani all ihren Mut zusammen.

»Sie haben ein Lager gebaut, mit Hütten aus Holz. Sie haben das Gras und die Erde verbrannt, und sie verpesten die Luft mit ihrem Gestank. Ich habe seltsame Lichter gesehen.«

»Mhm.«

Matani blickte auf. Sie wartete auf mehr, eine Antwort, eine Erklärung. Vielleicht würde er schimpfen, weil sie dort gewesen war, ohne ihm vorher Bescheid zu sagen? Aber ihr Vater schwieg.

»Es ist nicht weit von hier«, fuhr sie fort. »Ich bin nach der Versammlung losgelaufen und jetzt schon wieder hier.«

Das führte endlich zu einer Reaktion. Ihr Vater wandte sich ihr zu und sah sie aus seinen dunklen Augen an. Sein langes Haar, die fingerdicken Zöpfe, hatte er mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden, so wie er es sonst nur auf der Jagd tat. Ihr Vater war ein starker Mann und ein guter Jäger, der beste des Stammes, den er anführte. Aber als Matani ihren Vater jetzt betrachtete, wie er hier am Feuer saß, fand sie, dass er müde aussah, und seine sonstige Stärke schien ihn verlassen zu haben.

In seinen dunklen Gesichtszügen konnte sie nicht lesen, was er dachte. Seine Sorgen blieben vor ihr verborgen.

»Ich habe dir nicht erlaubt, zu gehen.«

Sie hatte sich viele Antworten auf diese Feststellung zurechtgelegt, Rechtfertigungen, Erklärungen. Doch jetzt wollte ihr nichts davon einfallen.

»Nein.«

»Und dennoch bist du gegangen.«

»Sie kommen in unser Land, Da’ir.« Ihre Stimme war von der Sorge erfüllt, die sie in ihrem Herzen spürte. Und sie sprach ihn mit der alten Ehrenformel an, die nicht nur Respekt vor einem Älteren ausdrückte, sondern auch Vater bedeutete. »Sie kommen in unser Land, und es kümmert sie nicht, dass wir hier leben. Sie kommen her und sie zerstören es.«

»Wir haben kein Land, Matani. Wir sind ein Volk ohne Land. Wir sind keine Kinder der Erde, wir sind Kinder des Himmels. Wir sind wie der Wind. Wenn sie kommen, dann gehen wir.«

»Wohin, Da’ir?«

»Die Steppe ist endlos und weit. Sie wird uns aufnehmen, wie sie uns immer aufgenommen hat.«

Seine Bereitschaft, einfach weiterzuziehen, kampflos aufzugeben und alles zurückzulassen, machte Matani wütend.

»Und dann werden sie uns folgen.«

»Und wir werden weiterziehen.«

»Aber …«

»Es ist spät«, unterbrach er sie. »Morgen brechen wir das Lager ab und reisen nach Süden. Du wirst schon jetzt nicht mehr viel Schlaf finden.«

Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und ließ ihn allein an dem heruntergebrannten Feuer zurück. Sie ging langsam zu ihrem Heimzelt und achtete darauf, es mit dem rechten Fuß zuerst zu betreten, wie es Brauch war.

Dann schlich sie zu ihrem Lager. Schon während sie sich unter Decken und Felle legte, spürte sie die Müdigkeit, die bislang von der Aufregung unterdrückt worden war. Noch bevor sie anfangen konnte zu grübeln, überkam sie der Schlaf.