Als die erfahrene Pflegemutter Cathy die kleine Jodie bei sich aufnimmt, stößt sie schnell an ihre Grenzen. Die Achtjährige ist aggressiv und provokativ, verletzt sowohl Cathy als auch deren leibliche Kinder. Nachts quälen sie schreckliche Albträume und schnell wird klar, dass ihr Furchtbares widerfahren ist. Behutsam tastet sich Cathy an ihr Pflegekind heran und schafft es, in Jodie ein nie dagewesenes Gefühl zu erwecken: Vertrauen. Stück für Stück kommt so eine grausame Wahrheit ans Licht …
Cathy Glass ist das Pseudonym einer britischen Autorin und Pflegemutter, die seit über 25 Jahren besonders herausfordernde Kinder beherbergt. Sie hat drei eigene Kinder, von denen eines adoptiert ist. Über ihre Erfahrungen schreibt Cathy Glass – mit großem Erfolg. Sie erfreut sich einer großen Fangemeinde, viele ihrer Bücher sind Bestseller.
Cathy Glass
Was mit Jodie
geschah
Die tragische Geschichte
meines Pflegekindes
Aus dem Englischen von
Rosie Pinhorn
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Ursprünglich erschienen in der englischen Originalausgabe bei
HarperCollins Publishers Ltd.
unter dem Titel »Damaged« © Cathy Glass, 2006
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Titelillustration: © HarperCollinsPublishers Ltd
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6156-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In Großbritannien befinden sich derzeit über 75 000 Kinder in der Obhut der kommunalen Fürsorge-Behörden. Das sind die, die Glück hatten. Hinter dieser Zahl verbergen sich jedoch noch unzählige weitere Kinder: geschändet, missbraucht und von den Sozialämtern unentdeckt, nicht selten, bis es zu spät ist.
Dieses Buch erzählt die wahre Geschichte meiner Beziehung zu einem von ihnen, einem achtjährigen Mädchen namens Jodie. Ich war ihre Pflegemutter, und sie war das verstörteste Kind, das ich jemals betreut habe. Ich hoffe, dass meine Geschichte einen Einblick in die oft verborgene Welt von Pflegeeltern und Sozialämtern gibt.
Bestimmte Details, inklusive Namen, Orte und Daten, wurden geändert, um Unschuldige zu schützen.
Meiner Familie und ihrer unerschütterlichen Liebe,
ihrer Geduld und ihrem Verständnis gewidmet.
Mein aufrichtiger Dank geht an David, Andrew Lownie, Kirsty Crawford, Carole Tonkinson und das gesamte Team von HarperCollins. Ich danke ihnen dafür, dass sie dieses Buch zu dem gemacht haben, was es ist.
Das Telefon klingelte. Jill war dran, meine Verbindungsfrau von der Vermittlungsstelle für Pflegekinder.
»Cathy, es sind nicht zwei Pflegestellen, es sind fünf«, sagte sie. »Fünf, seit sie vor vier Monaten in die Pflege vermittelt wurde.«
»Um Gottes willen.« Ich war erstaunt. »Und sie ist gerade mal acht? Da muss ja einiges passiert sein? Was hat sie denn gemacht?«
»Ich bin mir noch nicht sicher. Aber das Sozialamt besteht auf einem Treffen, bevor das Kind zugeteilt wird, um sicherzustellen, dass sie nicht noch einmal umziehen muss. Bist du trotzdem interessiert?«
»Ich weiß nicht genug, um es nicht zu sein. Wann?«
»Morgen um zehn.«
»Okay, ich seh dich dann dort. Wie heißt sie?«
»Jodie. Danke, Cathy. Wenn du es nicht schaffst, dann schafft es niemand.«
Ich war durchaus zugänglich für Schmeicheleien; es fühlte sich gut an nach all den Jahren, endlich Anerkennung zu erfahren. Jill und ich arbeiteten nun seit vier Jahren zusammen und hatten eine gute Beziehung zueinander aufgebaut. Als Verbindungsbeauftragte für die Homefinders Fostering Agency nahm Jill die Brückenposition ein zwischen den Pflegeeltern und den Sozialarbeitern, die sich eines bestimmten Falls angenommen hatten. Sie koordinierte die Anforderungen des Sozialamtes mit denen der Pflegeeltern und bot Unterstützung und Hilfe an, wenn sie nötig waren. Eine unerfahrene Pflegemutter braucht von ihrer Verbindungsperson oft einiges an Rückenstärkung und Erklärungen zum System. Da Jill und ich schon seit längerer Zeit zusammenarbeiteten und ich eine erfahrene Pflegemutter war, hatten wir uns aneinander gewöhnt und kamen gut miteinander aus. Wenn Jill der Ansicht war, dass ich einer Herausforderung gewachsen war, so war das gewiss ernst gemeint.
Aber eine Vorbesprechung vor der Platzierung? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Normalerweise kamen die Kinder einfach nur nach einer kurzen Vorstellung an, wenn sie von anderen Pflegeeltern kamen, oder einfach in den Kleidern, die sie gerade trugen, wenn sie ihr Zuhause verließen. Ich hatte einiges an Erfahrung mit beiden Szenarios, aber eine Situation, bei der man eine Vorbesprechung für nötig hielt, war mir noch nicht begegnet. Normalerweise gab es eine Besprechung zwischen allen involvierten Parteien, sobald ein Kind bei Pflegeeltern platziert worden war, aber mehr eben auch nicht.
Dies war der erste Hinweis darauf, wie ungewöhnlich dieser Fall war.
Am nächsten Morgen starteten wir in den Tag wie gewöhnlich: die ruhige Routine, dass alle aufstanden, sich anzogen, frühstückten und die Kinder sich auf den Weg zur Schule machten. Ich hatte zwei Kinder: Adrian war siebzehn und Paula dreizehn. Lucy, die zwei Jahre zuvor als Pflegekind zu uns gekommen war, war fünfzehn und nun ein permanentes Familienmitglied, wie eine Tochter für mich und eine Schwester für Adrian und Paula. Sie war ein Erfolgserlebnis: Sie kam verletzt und wütend zu mir und hatte mit der Zeit gelernt, wieder Vertrauen zu fassen, und sich schließlich in einen normalen Alltag eingelebt, in dem sie sich nur mit den gewöhnlichen Ängsten eines Teenagers befassen musste, nicht mehr mit dem inneren Aufruhr, den sie als Kind erlebt hatte. Ich war stolz auf sie; sie war der Beweis für meine Überzeugung, dass Liebe, Güte, Zuneigung und feste Grenzen die Basis für das sind, was jedes Kind braucht, um sich entfalten zu können.
Nachdem ich die Kinder an diesem Morgen in die Schule geschickt hatte, war mir ein klein wenig mulmig zumute. Das Kind, über das ich heute informiert werden sollte, würde sicherlich all diese Dinge in Fülle benötigen, und wenn ich Jodie annehmen würde, würde ich mich sicherlich für eine Weile von meiner relativ friedlichen, etablierten Routine verabschieden müssen. Zumindest, bis sie gelernt hatte, mir zu vertrauen und sich eingelebt hatte, genauso wie Lucy. Doch gerade das war ja der Sinn und Zweck, wenn man ein Pflegekind in die Familie aufnahm. Es war bestimmt nicht leicht, aber die Belohnung war immens. Außerdem hatte ich nun seit über zwanzig Jahren fast kontinuierlich Kinder in Pflege genommen und konnte mich kaum mehr daran erinnern, wie das Leben davor gewesen war.
Sobald meine Kinder weg waren, ging ich nach oben und zog mich um, wechselte aus meinen Jogginghosen in ein paar elegante dunkelblaue Hosen und einen Pullover und machte mich auf den Weg zum Sozialamt. Ich fuhr nun schon so lange regelmäßig dorthin, dass mir die Anfahrt vertraut war wie zu meinem eigenen Haus. Ich kannte auch den trostlosen grauen Anstrich, die Leuchtstoffröhren und die Atmosphäre der Geschäftigkeit und des gerade eben bewältigten Chaos sehr gut.
»Cathy, hallo!«
Als ich die Rezeption erreichte, kam Jill auf mich zu, um mich zu begrüßen. Sie hatte schon auf meine Ankunft gewartet und trat mit einem freundlichen Lächeln zu mir.
»Grüß dich, Jill. Wie geht’s?«
»Gut, danke. Du siehst blendend aus.«
»Ja – das Leben meint es gut mit mir im Moment. Den Kindern geht es prima, sie sind völlig mit sich selbst beschäftigt und mit der Schule. Es ist Zeit, eine weitere Herausforderung anzugehen, denke ich.« Ich erwiderte das Lächeln.
»Wir sollten uns gleich auf den Weg zu der Besprechung machen. Ich glaube, sie sind schon so weit.« Jill führte mich den Gang entlang in das Konferenzzimmer. Als wir den Raum betraten, war mir sofort klar, dass es sich um einen schwierigen Fall handelte: Ungefähr ein Dutzend Leute saßen um einen großen Mahagonitisch. Was hatte das nur zu bedeuten? Nach dem, was Jill mir erzählt hatte, konnte ich erahnen, dass es sich nicht um einen Nullachtfünfzehn-Pflegefall handelte – nicht viele Kinder arbeiten sich in vier Monaten durch fünf Pflegefamilien. Allerdings war kein Kind nullachtfünfzehn. Sie waren Individuen, und ihre Probleme waren immer spezifisch die ihren. Ein Kind von seinen Eltern zu trennen ist kein gewöhnlicher, alltäglicher Vorgang, es ist immer traumatisch, emotional und schwierig.
Dennoch war da etwas, was mir sagte, dass dieser Fall sehr viel komplexer war als alles, was mir je zuvor untergekommen war. Ich fühlte einen weiteren Stich der Furcht, genau wie vor ein paar Tagen, als Jill mir erstmals von der Situation berichtet hatte. Aber ich war auch interessiert. Wie konnte das Kind, das so viel Hingabe von so vielen Leuten verlangte, wohl sein?
Jill und ich nahmen die zwei leeren Stühle am Ende des Tisches ein, und ich fühlte alle Augen auf mich gerichtet, als müssten sie erst mal meine Fähigkeiten abschätzen.
Den Vorsitz hatte Dave Mumby, der Leiter des Sozialarbeiterteams, und er machte auch den Anfang in der Runde mit der Vorstellung. Links von ihm saß Sally, die »Prozesspflegerin«; sie war vom Gericht beauftragt worden, die Interessen von Jodie zu vertreten. Die Frau neben ihr stellte sich als Nicola vor, Jodies Hauslehrerin.
Hauslehrerin? Warum ging das Kind denn nicht in die Schule? Noch eine Überraschung.
Daneben saß Gary, Jodies derzeitiger Sozialarbeiter. Er erklärte, dass er im Begriff war, den Fall abzugeben und Jodie an Eileen weiterzuleiten, die neben ihm saß. Ich sah mir Eileen genau an – wenn ich Jodie annehmen würde, dann würden Eileen und ich eng zusammenarbeiten. Der erste Eindruck sagte mir, dass sie unauffällig war: eine Frau Mitte vierzig mit einem gelassenen und ruhigen Äußeren. So weit, so gut.
Es wunderte mich nicht, dass ich jetzt schon den Wechsel des Sozialarbeiters erlebte. So etwas passierte ständig – der Job brachte es mit sich, dass Leute etwas hinter sich ließen –, aber es war schlecht für die betroffenen Kinder und Familien, da sie sich immer wieder auf neue Gesichter einstellen mussten. Dass sie Vertrauen und Beziehungen zu ständig wechselnden Fremden aufbauen mussten. Obwohl ich wusste, dass man daran nichts ändern konnte und dass dies eben Teil des Systems mit all seinen Fehlern war, hatte ich doch Mitleid mit Jodie. Den Ansprechpartner zu wechseln würde nur noch mehr Chaos für sie bedeuten, und ich fragte mich, wie viele Sozialarbeiter sie schon durchhatte.
Als Nächste stellte sich Deirdre vor. Sie war die Verbindungsbeauftragte von Jodies derzeitigen Pflegeeltern. Dann war ich an der Reihe, und alle Augen am Tisch richteten sich wieder auf mich.
Ich schaute in die Runde, um den Blicken zu begegnen. »Ich bin Cathy Glass«, sagte ich, so klar und selbstbewusst ich konnte. »Ich bin eine der Pflegemütter der Homefinders Fostering Agency.« Es gab nicht sehr viel mehr, was ich in diesem Moment, da ich so wenig wusste, hätte sagen können, und so gab ich das Wort an Jill weiter.
Nach Jill kam jemand vom Finanzbüro, gefolgt von einem Mitglied des Teams der Lokalbehörde für Platzierungen. Als sie sprachen, schaute ich hinüber zu Gary, Jodies derzeitigem Sozialarbeiter. Er war jung, so etwa Mitte zwanzig. Wie erfolgreich war er darin gewesen, eine Beziehung zu Jodie aufzubauen? Das fragte ich mich. Vielleicht würde es Eileen als Frau besser gelingen, Empathie für ein kleines Mädchen aufzubringen; der Wechsel des Sozialarbeiters mochte in diesem Fall von Vorteil sein. Ich hoffte sehr, dass dem so war.
Sobald sich alle vorgestellt hatten, dankte Dave uns, dass wir gekommen waren, und gab einen kurzen Abriss über das, was bisher passiert war oder, um die korrekte Terminologie zu benutzen, die bisherige Fallgeschichte. Ich erwärmte mich sofort für Dave. Er sprach behutsam, aber offen und sah mich dabei direkt an. Ich machte eine mentale Notiz von den wichtigsten Punkten: Jodie war von Geburt an auf der Risikoliste geführt worden, was bedeutete, dass die Sozialarbeiter die Familie seit acht Jahren beobachtet hatten. Obwohl ein Verdacht auf emotionalen und körperlichen Missbrauch durch Jodies Eltern bestand, wurden keine Schritte unternommen, sie oder ihren jüngeren Bruder Ben und ihre jüngere Schwester Chelsea aus dem Elternhaus zu nehmen. Dann, vor vier Monaten, hatte Jodie einen Hausbrand verursacht, indem sie den Hund anzündete – mir schauderte bei der Vorstellung vor der besonderen Grausamkeit dieser Tat. Das war dann der Auslöser für das Sozialamt gewesen, sie und ihre Geschwister in Pflegefamilien zu vermitteln. Ben und Chelsea waren beide bei Pflegeeltern untergebracht und machten gute Fortschritte. Aber Jodie legte ein sehr »herausforderndes Verhalten« an den Tag. Ich hörte, wie Dave diesen Euphemismus aussprach, und hob die Augenbrauen. Alle Pflegeeltern wussten, was das wirklich bedeutete: Es bedeutete, dass dieses Mädchen nicht zu kontrollieren war.
»Ich glaube, es wäre besser für Sie«, sagte Dave, als er mich ansah, »wenn Sie nun den Bericht von Jodies Sozialarbeiter hören. Gary bearbeitet den Fall seit zwei Jahren. Zögern Sie bitte nicht, Fragen zu stellen.«
Trotz seiner jungen Jahre wirkte Gary selbstbewusst und methodisch, als er mir einen Abriss über Jodie und ihre Familie gab.
»Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass das allgemeine Bild nicht gut ist, aber das haben Sie wohl schon vermutet. Es gab gravierende Probleme in der Familie. Jodies Mutter hängt an der Nadel, und der Vater ist Alkoholiker. In den letzten Jahren erlitt Jodie zu Hause eine Reihe von Verletzungen, inklusive Verbrennungen, Verbrühungen, Hautverletzungen, Prellungen und einem gebrochenen Finger. Alle diese Verletzungen wurden im Krankenhaus dokumentiert, und obwohl vermutet wurde, dass nicht alle von Unfällen herrührten, konnte man nichts beweisen.«
Gary fuhr fort mit seinem Bericht über Vernachlässigung und die zutiefst unglücklichen Umstände, während ich mich darauf konzentrierte, die Fakten aufzunehmen. Es war eine erschütternde Fallgeschichte, aber ich hatte schon öfter ähnliche gehört. Dennoch erstaunte und bestürzte es mich immer wieder, dass Leute ihre Kinder mit einer derartigen Grausamkeit und Indifferenz behandeln konnten, und ich war besorgt um das kleine Mädchen. Wie konnte ein Kind in solchen Verhältnissen heranwachsen und normal sein, mit solchen Eltern als Vorbilder?
Gary fuhr fort: »Jodie geht aufgrund der häufigen Umzüge nicht mehr in die Schule und hat deshalb eine Hauslehrerin. Sie zeigt Lernschwierigkeiten und wird als Kind mit sonderpädagogischen Bedürfnissen geführt.«
Das war kein großes Problem – ich war es gewohnt, Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und Lernschwierigkeiten zu betreuen. Trotzdem nahm ich an, dass Gary mir eine geschönte Version von Jodies Fallgeschichte gab. In all den Jahren der Pflegemutterschaft hatte ich noch nie von einem Kind gehört, das in vier Monaten fünf Pflegefamilien verschlissen hatte.
Als er unterbrach und mich ansah, ergriff ich meine Chance. »Es wäre hilfreich zu wissen, wie die Familien der vorherigen Pflegeeltern sich zusammensetzten«, sagte ich in der Hoffnung, dass mir das Hinweise darauf geben könnte, warum Jodie immer so schnell weitergezogen war. »Wie viele Kinder hatten sie, waren diese älter oder jünger? Hatten die Pflegeeltern Erfahrung mit diesem Typ Kind?«
Gary räusperte sich und wich etwas aus. »Die bisherigen Platzierungen brachen aus ganz belanglosen Gründen ab«, sagte er. »Ein Paar hatte keine Erfahrung, und Jodie hätte nie bei ihnen untergebracht werden dürfen – der Fehler geht auf unsere Kappe, und es ist nicht verwunderlich, dass es nicht geklappt hat.«
Das verstand sich von selbst, aber als er die Liste der anderen Platzierungen durchging, klang er weniger überzeugend: Die anderen waren alle sehr erfahren, und bei nur einem Paar war Jodie länger als drei Tage geblieben. Bei Garys Erläuterungen, dass die Umstände schuld daran waren, handelte es sich eindeutig um Schönfärberei zum Vorteil von Jodie, damit ich nicht abgeschreckt würde.
Deirdre, die Verbindungsfrau von Jodies derzeitigen Pflegeeltern, fühlte sich verpflichtet, sie zu verteidigen. Immerhin sprach es nicht gerade für deren Fähigkeiten, mit der Situation eines schwierigen Kindes fertigzuwerden, wenn Jodie so harmlos war, wie sie hier dargestellt wurde.
»Jodie zeigt Entwicklungsverzögerungen«, sagte sie. »Meistens benimmt sie sich wie eine Dreijährige. Sie hat schreckliche Wutausbrüche und ist ständig aggressiv und unkooperativ. Ihr Verhalten ist gewalttätig, ausfallend und destruktiv. Obwohl sie nur kurze Zeit bei Hilary und Dave war, hat sie doch mehrere Gegenstände kaputt gemacht, inklusive einer soliden Holztür.«
Ich hob die Augenbrauen. Eine beeindruckende Leistung für ein achtjähriges Mädchen.
Aber Deirdre war noch nicht fertig. Sie fuhr fort mit der Litanei von Jodies Fehlern und Mängeln. Jodies Pflegeeltern beschrieben sie als »kalt, berechnend, manipulativ, sehr ungezogen und gänzlich unsympathisch«. Heftige Worte für ein Kind.
Es musste aber doch jemanden geben, der etwas Gutes über sie sagen konnte, selbst wenn es nur war, dass sie gerne aß. Kinder in Pflege tendieren dazu, mit Heißhunger zu essen, da viele von ihnen bisher nie wussten, wann die nächste Mahlzeit auf den Tisch kam. Aber es kam nicht mal so etwas wie »Sie mag Schokolade«. Es schien, als besäße Jodie nicht die geringste gewinnende Eigenschaft. Stattdessen gab es nur eine lange Liste ihrer Fehltritte mit dem Vermerk, dass ihre derzeitigen Pflegeeltern sie als physisch beängstigend empfanden: Jodie war ein kräftiges Mädchen, und sie hatte sie bedroht.
Ich sah zu Jill hinüber, und wir tauschten Blicke aus. Bedroht?, dachte ich. Aber sie war doch gerade erst acht Jahre alt! Wie gefährlich konnte sie denn sein? Ich begann mich zu fühlen, als wäre ich auf Jodies Seite. Wie muss sich das anfühlen, wenn alle einen so gnadenlos ablehnten? Kein Wunder, dass sie sich nirgendwo einleben konnte.
Als Nächstes sprach Sally, die Prozesspflegerin, die kurz die rechtliche Lage umriss: Jodie war dem Sozialamt durch eine einstweilige Pflegeverfügung unterstellt. Sie war also gegen den Willen ihrer Eltern aus ihrem ursprünglichen Zuhause entfernt worden und der temporären Obhut der lokalen Behörden unterstellt. Das Verfahren, das über Jodies Zukunft entschied, würde jetzt erst beginnen. Wenn das Gericht urteilte, dass sie zu Hause besser aufgehoben wäre und all die Befürchtungen bezüglich ihrer Sicherheit behoben wären, würde sie wieder in die Obhut ihrer Eltern gegeben. Wenn dem nicht so wäre und das Gericht weiterhin befinden würde, dass sie in Gefahr wäre, falls sie nach Hause zurückkehrte, dann würde ihre Pflegeverfügung in eine permanente Verfügung umgewandelt, und Jodie würde permanent von ihren Eltern getrennt und einer Dauerpflegestelle, einer Adoptionsfamilie oder – die unwahrscheinlichste Option – einem Heim zugewiesen. Dieser Prozess war insgesamt langwierig und kompliziert, und auch wenn er so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen sollte, zog er sich mindestens über ein Jahr, manchmal sogar länger, bevor das Gericht eine Entscheidung treffen würde.
Als Sally fertig war, schaltete sich Nicola, die Hauslehrerin von Jodie, ein. Sie erklärte, dass sie Jodie nun einen Monat unterrichte und Material verwende, das für Vorschulkinder gedacht sei. Das mag schockierend klingen, aber meiner Erfahrung nach war es nicht ungewöhnlich. Ich hatte früher schon Kinder betreut, die lange nicht lesen oder schreiben konnten, während andere Kinder im gleichen Alter längst so weit waren. Ein schwieriger Familienhintergrund und ein schwieriges Zuhause scheinen oft Kinder hervorzubringen, denen es unmöglich ist, so schnell zu lernen wie Kinder in stabilen Familien.
Als Nächstes wurde erklärt, dass die Finanzierung für den Hausunterricht weiterhin gesichert sei, bis eine Schule für Jodie gefunden werden konnte. Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand: Fast eine Stunde war vergangen. Alle hatten nun gesagt, was sie zu sagen hatten. Dave sah Jill hoffnungsvoll an.
»Wenn Cathy sie nicht nimmt«, sagte er, »ist das Heim die einzige Alternative.«
Das klang sehr nach emotionaler Erpressung, und Jill sprach zu meiner Verteidigung. »Wir müssen überdenken, was hier gesagt worden ist. Ich werde es mit Cathy besprechen, und wir werden Ihnen morgen Bescheid geben.«
»Wir brauchen die Entscheidung heute noch«, sagte Deirdre kurz. »Sie muss bis morgen Mittag neu platziert werden. Darauf bestehen die jetzigen Pflegeeltern.«
Es wurde still am Tisch. Wir dachten alle das Gleiche: Waren diese Pflegeeltern wirklich so unprofessionell, wie es klang? Oder hatte Jodie sie an den Rand der Verzweiflung getrieben?
»Trotzdem brauchen wir Zeit, es zu besprechen«, sagte Jill entschieden. »Obwohl ich nichts gehört habe, was mich dazu bewegt, Cathy abzuraten – sie ist sehr erfahren –, ist sie es, die die Entscheidung treffen muss.« Sie blinzelte zu mir herüber.
Ich spürte alle Blicke auf mich gerichtet und den verzweifelten Wunsch, dass ich bereit sein möge, das kleine Mädchen aufzunehmen. Bis jetzt hatte ich von Gary gehört, dass sie ein unschuldiges Opfer sei, dessen erstaunliche Leistung, sich durch mehrere Pflegefamilien zu arbeiten, nichts mit ihr selbst zu tun habe. Und von Deirdre, dass sie eine kleine Ausgeburt des Teufels sei, deren Größe, Stärke und schlichte Bosheit nicht ihrem Alter entspreche. Die Wahrheit musste irgendwo dazwischen liegen. Jedoch selbst mit einer abwägenden Haltung konnte ich sehen, dass Jodie eine Herausforderung war, um es milde auszudrücken.
Ich war mir nicht sicher. War ich wirklich dazu bereit, ein Kind mit derartigen Verhaltensproblemen aufzunehmen? Konnte ich – und wichtiger, konnte meine Familie – einen solchen Störfaktor verkraften? Ich konnte mir nicht helfen, ich verzagte etwas bei dem Gedanken, diese Herausforderung anzunehmen. Allerdings hatte mich meine Formel von Liebe, Güte und Zuneigung verbunden mit Bestimmtheit und klaren Grenzen bisher noch nie im Stich gelassen, und wenn man alles recht bedachte, war Jodie doch nur ein Kind, ein kleines Mädchen, das einen schrecklichen Start in ihrem Leben gehabt hatte und das eine Chance auf einen Neuanfang und ein bisschen Glück verdiente. So wie es jedes Kind brauchte. Konnte ich ihr wirklich die letzte Alternative antun? Jetzt, da ich ihre Geschichte gehört hatte, konnte ich mich da wirklich von ihr abwenden?
Ich wusste schon in diesem Moment, dass ich das nicht über mich brachte. Ich musste ihr eine Chance geben. Schon als ich den Raum betreten hatte, war mir im tiefsten Innern meines Herzens klar gewesen, dass ich Jodie aufnehmen würde. Ich konnte sie nicht abweisen.
»Sie ist zu jung für ein Heim«, sagte ich und begegnete Daves Blick. »Ich nehme sie und versuche mein Bestes.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Jill besorgt.
Als ich nickte, kam ein hörbarer Seufzer der Erleichterung, besonders von der Mitarbeiterin aus der Finanzabteilung. Es kostet mehr als 3000 Pfund die Woche, ein Kind in einem Heim zu betreuen, somit war ich mit 250 Pfund pro Woche ein gutes Geschäft.
»Das ist wunderbar, Cathy«, sagte Dave strahlend. »Ich danke Ihnen. Wir haben alle eine hohe Meinung von Ihnen, wie Sie wissen, und wir freuen uns, dass Sie gewillt sind, diese Herausforderung anzunehmen.«
Zustimmendes Gemurmel machte die Runde. Man sah allen an, dass eine Last von ihren Schultern genommen worden war. Die Besprechung war zu Ende. Für den Moment war das Problem Jodie gelöst. Alle standen auf, suchten ihre Sachen zusammen und bereiteten sich darauf vor, an die Arbeit zurückzukehren, mit dem nächsten Fall weiterzumachen, was auch immer.
Für mich jedoch bedeuteten diese wenigen Worte und dieser spontane Entschluss eine Änderung meines Lebens. Für mich fing das Problem Jodie gerade erst an.
Ich habe vor zwanzig Jahren damit angefangen, Kinder in Pflege zu nehmen, noch bevor ich selbst Kinder hatte. Eines Tages blätterte ich durch die Zeitung und stieß dabei auf eine dieser Anzeigen. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie eines Kindes und eine Frage wie: Können Sie dem kleinen Bobby ein Zuhause geben? Das stach mir ins Auge, und aus irgendwelchen Gründen ließ es mich nicht mehr los. Ich halte mich nicht für sentimental, aber irgendwie bekam ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Ich sprach mit meinem Mann darüber; wir waren uns einig, dass wir selbst einmal eine Familie wollten, und ich freute mich darauf, aber ich wusste, dass ich bis dahin einem Kind in Not ein gutes Zuhause geben konnte. Ich habe mich schon immer zu Kindern hingezogen gefühlt und hatte sogar mal Ambitionen, Lehrerin zu werden.
»Wir haben Platz«, sagte ich, »und ich weiß, dass ich sehr gerne mit Kindern arbeiten würde. Wir könnten doch mal ein paar Erkundigungen einholen, oder?«
Also hängte ich mich ans Telefon und meldete mich auf die Anzeige. Es dauerte nicht lange, bis wir uns in einem Einführungskurs wiederfanden, wo man uns in die Welt der Pflegeunterbringung einwies. Nachdem wir alle Voraussetzungen erfüllt und das vorgeschriebene Training absolviert hatten, nahmen wir unser erstes Pflegekind auf, einen verstörten Teenager, der für eine Weile ein stabiles Zuhause brauchte. Das war’s. Ich hatte angebissen.
Pflegemutter zu sein ist alles andere als einfach. Wenn eine Pflegeperson den Fall mit der Erwartung angeht, ein Bilderbuch-Waisenkind aus einem der alten Romane in ihre Familie aufzunehmen, dann wird er oder sie eine böse Überraschung erleben. Das süße wuschelköpfige Kind, das nicht viel Glück gehabt hat im Leben und nur ein bisschen Liebe und Zuneigung braucht, um zu gedeihen, aufzublühen und fröhlich zu sein, existiert nicht. Pflegekinder kommen nicht großäugig und lächelnd in ihr Haus. Sie neigen dazu, sich zurückzuziehen, weil sie so viel Schweres erlebt haben, und sind oft distanziert, wütend und schwer zu erreichen. Was kaum überrascht. In den schlimmsten Fällen sind sie verbal und körperlich aggressiv, wenn nicht gar gewalttätig. Die einzige Konstante ist, dass sie alle verschieden sind und dass sie Zuneigung brauchen und Güte, um ihr Elend zu überwinden. Leicht ist es jedenfalls nie.
Das erste Jahr als Pflegemutter war alles andere als einfach für mich – und wenn ich es mir recht überlege, so gab es seitdem kein Jahr, das ich als »einfach« bezeichnen würde. Aber als dieses erste Jahr zu Ende ging, wusste ich, dass ich weitermachen wollte. Pflegeeltern werden in der Regel fast sofort wissen, ob sie weitermachen wollen oder nicht, ganz sicher jedoch zum Ende des ersten Jahres. Ich hatte etwas gefunden, was mir entsprach und was ich als sehr befriedigend empfand. Und deshalb wollte ich weitermachen, auch als ich meine eigenen Kinder bekam. Ich fand, dass ich im Leben meiner Pflegekinder etwas bewirken konnte, selbst wenn es nur wenig war. Es ist nicht so, dass ich die selbstloseste Person seit Mutter Teresa bin oder dass ich eine besonders heilige Ader habe. Ich glaube, dass wir Dinge zu unserem eigenen Nutzen tun, und meiner war die Befriedigung, die ich daraus bezog, die Zukunftsaussichten für hilfsbedürftige Kinder zu verbessern.
Solange meine Kinder klein waren, kamen Teenager zu uns, da gewöhnlich empfohlen wird, dass man Kinder aufnimmt, die nicht in der gleichen Altersgruppe sind wie die eigenen. Als Adrian und Paula heranwuchsen, begann ich jüngere Kinder aufzunehmen, was bedeutete, dass ich mich nie mit den Drogenproblemen herumschlagen musste, die viele Teenager heutzutage haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Für meine Kinder war es normal, Pflegekinder bei uns im Haus zu haben; sie akzeptierten sie vollkommen. Als sie klein waren, waren sie hier und da frustriert, weil sie mich mit anderen Kindern teilen mussten. Pflegekinder brauchen ziemlich viel Zeit und Zuneigung, und manchmal fühlte es sich für die beiden an wie eine Ewigkeit. Neben dem Zeitaufwand für die Pflegekinder selbst gab es ja auch noch Besprechungen, Fortbildungen und jede Menge Papierkram. Das alles verminderte die Zeit, die für meine Familie blieb. Aber egal wie sauer meine Kinder gelegentlich waren, weil ich eigentlich nie genug Zeit hatte: Sie haben es die Pflegekinder, mit denen sie ihr Zuhause teilten, niemals spüren lassen. Irgendwie haben sie verstanden, dass diese Kinder aus schwierigen Verhältnissen kamen und einen schweren Start ins Leben hatten. Auf ihre eigene Weise waren meine Kinder verständig und taten ihr Bestes, um das Leben für ein verstörtes Kind, das bei uns lebte, etwas leichter zu machen. Dasselbe ist mir auch an anderen Kindern schon aufgefallen – sie haben oft mehr Empathie und Verständnis, als man erwartet.
Adrian und Paula haben sicher viel aushalten müssen, vor allem, als mein Mann und ich uns scheiden ließen, aber sie haben sich nie über die verstörten Kinder beschwert, die in unserem Haus ein- und ausgingen. Mit den Jahren haben sie die verschiedensten Kinder kennengelernt; die meisten zeigten ein »herausforderndes Verhalten«. Der Großteil der Kinder, die zu mir kommen, hat auf die eine oder andere Art Vernachlässigung erlebt, und seltsamerweise kann ich dafür Verständnis aufbringen. Wenn Eltern einer Sucht verfallen, sei es Alkohol oder Drogen, oder psychische Probleme haben, dann sind sie offenbar nicht fähig, so für ihre Kinder zu sorgen, wie es ohne diese Probleme möglich wäre. Diese Art von Elternschaft ist nicht absichtlich grausam, wie es bei direktem physischem oder sexuellem Missbrauch der Fall ist – sie ist vielmehr ein Nebeneffekt eines anderen Problems. Im Idealfall kehrt das Kind irgendwann zu seinen Eltern zurück, sobald die Faktoren, die die Vernachlässigung ausgelöst haben, behoben sind.
Ein Kind, das Vernachlässigung erlebt hat, wird eine miese Zeit haben und kann bei mir in einem sehr verstörten Zustand ankommen. Es kann sich ganz besonders kaltschnäuzig und angeberisch geben, was gewöhnlich eine Maske für den totalen Mangel an Wertschätzung der eigenen Person ist. Es kann oft durch und durch ungezogen sein, ein Ergebnis davon, dass es zu Hause keine Grenzen und keine elterliche Führung erfahren hat, und eine Strategie ist, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Seine Wut und Ablehnung können auf die Instabilität im bisherigen Leben zurückgehen, wo nichts jemals sicher war. Wird Mama heute zu betrunken sein, um ihren Alltag zu meistern? Wird Papa wegtreten oder gewalttätig werden? Oft genug sind in solchen Familien die Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern und die Rollen des Versorgers und desjenigen, der versorgt wird, nicht mehr klar. Das Kind wird möglicherweise versuchen, Gegenstände zu zerbrechen oder zu stehlen oder manipulativ und selbstsüchtig sein. Und um ehrlich zu sein, wenn man weiß, was manche dieser Kinder in ihrem kurzen Leben durchgemacht haben, kann man ihnen dann noch die Schuld dafür geben?
Im Grunde genommen ist der beste Weg für Kinder mit einem solchen Familienhintergrund recht einfach: Ich biete Stabilität und eine positive Umgebung, in der gutes Verhalten mit Lob belohnt wird. Die meisten Kinder sehnen sich nach Anerkennung und wollen gemocht werden, und die meisten sind fähig, die negativen Verhaltensmuster abzulegen und andere anzunehmen, wenn sie verstehen, wie viel besser und leichter das Leben mit der neuen Ordnung ist. Für viele von ihnen bietet eine geregelte Routine eine wohltuende Erleichterung von dem Chaos und der Unberechenbarkeit des Lebens zu Hause, und sie reagieren bald auf eine ruhige, positive Umgebung, in der sie die Sicherheit haben, dass bestimmte Dinge zu bestimmten Zeiten geschehen. Manches, wie zu wissen, wann und wo die nächste Mahlzeit herkommt, kann ein Anker sein für verstörte Kinder, die nur Unsicherheit und Enttäuschung kannten. Routine bietet Sicherheit; es ist möglich, Dinge innerhalb einer Routine richtig zu machen – und etwas richtig zu machen ist ein wunderbares Gefühl, wenn dies bedeutet, dass man dafür gelobt, anerkannt und belohnt wird.
Natürlich ist es nie leicht und geradlinig, so einfach es auch klingen mag. Und manchmal kommen Kinder zu mir, die sehr viel mehr Schlimmes erlebt haben und die sehr viel mehr professionelle Hilfe brauchen, um mit ihren Erfahrungen fertigzuwerden. Viele haben Lernschwierigkeiten und einen besonderen Förderbedarf. Einige werden zu spät aus dem Elternhaus geholt, erst wenn sie Teenager sind und so viel gelitten haben, dass sie nie fähig sind, darüber hinwegzukommen. Sie sind dann nicht fähig, so auf eine positive Umgebung zu reagieren wie ein jüngeres Kind, und ihre Zukunft sieht sehr viel düsterer aus.
Dennoch waren fast alle meine Pflegeerfahrungen gut, und das Kind war stets in einem besseren Zustand, wenn es unser Heim wieder verließ, als bei seiner Ankunft.
Als ich also an jenem Tag von der Besprechung im Sozialamt nach Hause fuhr, nachdem ich mich dazu bereit erklärt hatte, Jodie bei mir aufzunehmen, wusste ich, dass dieses Pflegekind wahrscheinlich eine größere Herausforderung sein würde als meine bisherigen. Ich fragte mich, wie ich meinen anderen Kindern die Nachricht von dem Neuankömmling am besten beibringen sollte. Es war nicht viel Begeisterung von ihnen zu erwarten. Wir hatten schon andere Kinder mit »herausforderndem Verhalten« aufgenommen, sie wussten also, was auf sie zukam. Ich dachte an Lucy, die nun schon fast zwei Jahre bei uns war und sich mittlerweile gut eingelebt hatte. Ich hoffte, dass Jodies Ausraster sie nicht wieder zurückwerfen würden. Adrian war mit seinen siebzehn Jahren ziemlich selbstständig, außer, er durchlebte eine Krise oder er konnte am Morgen sein Hemd nicht finden. Um Paula machte ich mir die meisten Sorgen. Sie war ein sensibles, nervöses Kind, und obwohl Jodie fünf Jahre jünger war als sie, bestand die Gefahr, dass sie eingeschüchtert reagieren konnte. Emotional geschädigte Kinder können in einer Familie durchaus Unheil anrichten, auch in einer gut gefestigten Familie. Aber meine Kinder hatten bisher immer gut auf die anderen Kinder reagiert, die unsere Familie ergänzten, auch wenn wir einige schwierige Zeiten durchlebt haben, und ich hatte keinen Grund zu glauben, dass es diesmal anders sein würde.
Ich nahm an, dass die Kinder von meiner Nachricht nicht überrascht sein würden. Es war einige Wochen her, seit unser letztes Pflegekind gegangen war, und es war Zeit für eine neue Herausforderung. Ich gönnte mir für gewöhnlich ein paar Wochen zwischen den Platzierungen, um mich selbst physisch und psychisch zu regenerieren und allen die Zeit zu geben, sich wieder zusammenzufinden. Ich brauchte auch Zeit, um mich von dem traurigen Abschied von jemandem zu erholen, zu dem ich eine Beziehung entwickelt hatte. Auch wenn ein Kind in einer Hochphase geht, hervorragende Fortschritte gemacht hat und vielleicht zu seinen Eltern zurückkehrt, die ihm nun wieder eine liebevolle und fürsorgliche Umgebung bieten können, gibt es doch eine Phase, in der ich trauere. Es ist eine Minitrauer, aber so ganz habe ich mich nie daran gewöhnen können, auch wenn ich mich dann ein oder zwei Wochen später zusammengerissen habe und bereit war, von vorne anzufangen.
Ich beschloss, das Thema Jodie während des Abendessens anzuschneiden; zu dieser Zeit fanden die meisten unserer Diskussionen statt. Obwohl ich mich als liberal betrachte, bestand ich doch darauf, dass die Familie am Abend und an Wochenenden die Mahlzeiten gemeinsam einnahm, da dies die einzige Zeit des Tages war, an der wir alle zusammen waren.
Für das Abendessen hatte ich Shepherd’s Pie gekocht, die Lieblingsspeise der Kinder. Während sie zulangten, legte ich mir meine Stimme für einen leichten und ruhigen Tonfall zurecht.
»Ihr erinnert euch sicherlich, dass ich heute ein Platzierungsgespräch hatte?«, sagte ich, sehr wohl wissend, dass sie sich nicht daran erinnerten, weil niemand zugehört hatte, als ich es erwähnt hatte. »Sie haben mir von einem kleinen Mädchen erzählt, das ein Zuhause braucht. Nun, ich habe mich bereit erklärt, sie aufzunehmen. Sie heißt Jodie und ist acht Jahre alt.«
Ich schaute in die Runde am Tisch, um eine Reaktion zu erhaschen, aber da war kaum ein Zucken wahrnehmbar. Sie waren alle mit dem Essen beschäftigt. Trotzdem wusste ich, dass sie zuhörten.
»Leider hatte sie einen ganz besonders schlechten Start und ist viel hin und her geschoben worden. Deshalb ist sie sehr verunsichert. Sie hatte ein schreckliches Leben zu Hause und war schon bei einigen Pflegeeltern. Jetzt denken die Behörden daran, sie in ein Heim zu schicken, wenn sich niemand findet, der sie aufnimmt, und ihr könnt euch sicher vorstellen, wie furchtbar so ein Kinderheim für sie sein würde«, betonte ich, auf dem Thema herumreitend.
Lucy und Paula schauten auf und lächelten tapfer.
»So wie ich«, sagte Lucy unschuldig. Sie war auch viel herumgezogen, bevor sie endlich bei uns zur Ruhe gekommen war.
»Nein. Deine Umzüge kamen zustande, weil deine Verwandten sich nicht um dich kümmern konnten. Es hatte nichts mit deinem Verhalten zu tun.« Ich legte eine Pause ein und fragte mich, ob die versteckte Nachricht angekommen war. Sie war es.
»Was hat sie denn gemacht?«, fragte Adrian in seiner neuen, rauen, männlichen Stimme.
»Nun, sie hat Wutausbrüche und macht Dinge kaputt, wenn sie aufgebracht ist. Aber sie ist noch jung, und ich bin mir sicher, wenn wir alle zusammenarbeiten, dann können wir sie umdrehen.«
»Wird sie ihre Mutter sehen?«, fragte Paula mit großen Augen bei der Vorstellung, was für sie die schlimmste Situation wäre: wenn ein Kind seine Mutter nicht sehen kann.
»Ja, ihre Mutter und ihren Vater. Es werden betreute Treffen sein, zweimal die Woche im Sozialamt.«
»Wann kommt sie?«, fragte Lucy.
»Morgen früh.«
Sie schauten erst alle mich an, dann sich. Morgen würde ein neues Mitglied der Familie einziehen, und so wie es klang, würde es nicht leicht sein. Ich wusste, dass das beunruhigend sein musste.
»Macht euch keine Sorgen«, erklärte ich. »Ich bin mir sicher, alles wird gut.« Ich verstand, dass ich zügig vorgehen musste, denn sobald das Essen vorbei war, verschwanden sie alle in ihren Zimmern. Somit kam ich sogleich auf den Punkt und erinnerte sie alle an die »Sichere Fürsorge«-Regeln, die immer eingehalten werden mussten, wenn ein neues Pflegekind eintraf. »Bedenkt bitte, dass wir nicht viel von ihr wissen. Ihr müsst also um eurer eigenen Sicherheit willen vorsichtig sein. Wenn sie mit euch spielen will, dann hier unten, nicht oben. Und Adrian, geh nicht in ihr Zimmer, auch nicht, wenn sie dich darum bittet, ihr Fenster zu öffnen. Wenn so was vorkommt, dann ruf mich oder eines der Mädchen. Und achte darauf, keine Spiele mit physischem Kontakt wie Huckepack, bis wir mehr wissen. Und natürlich, lass sie nicht in dein Zimmer, okay?«
»Ja, Mama«, brummelte er und sah noch mehr aus wie ein sich unbehaglich fühlender Heranwachsender. Er hatte das natürlich alles schon mal gehört. Es gibt feste Verhaltensregeln, die in allen Pflegefamilien eingehalten werden müssen, und meine Kinder kannten sie gut. Aber Adrian konnte manchmal zu vertrauensselig sein.
»Und das gilt natürlich für euch alle«, sagte ich, mich an alle drei wendend. »Gebt mir Bescheid, sobald sie euch etwas aus ihrer Vergangenheit anvertraut, das euch beunruhigt. Wahrscheinlich wird sie zu euch schneller eine Beziehung aufbauen als zu mir.«
Sie nickten. Ich beschloss, dass das ausreichte. Sie hatten nun alle eine generelle Vorstellung und waren eingeweiht. Die Kinder von Pflegeeltern neigen dazu, schnell erwachsen zu werden aufgrund der Probleme und Herausforderungen, denen sie begegnen, aber nicht so schnell wie die Pflegekinder selbst, deren Kindheit oft auf dem Scheiterhaufen des täglichen Überlebens geopfert wurde.
Nach dem Essen verschwanden die Kinder wie erwartet in ihren Zimmern, und abendlicher Friede senkte sich über das Haus. Es war so gut gelaufen, wie ich es hatte erwarten können, und ich war zufrieden mit ihrer Reife und Bereitwilligkeit, die Situation zu akzeptieren.
»So weit, so gut«, dachte ich, als ich die Spülmaschine einräumte. Dann machte ich es mir vor dem Fernseher bequem, denn ich konnte nicht wissen, wann ich wieder die Gelegenheit dazu haben würde.