Kevin Brooks
Killing God
Roman
Aus dem Englischen von
Uwe-Michael Gutzschhahn
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe 2011
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung -und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41051 - 9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 71451 - 8
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inside me (1)
head on
my little underground
i love rock ’n’ roll
happy when it rains (1)
inside me (2)
cut dead
her way of praying (1)
darklands (1)
head (1)
inside me (3)
something’s wrong (1)
these days (1)
deep one perfect morning (1)
deep one perfect morning (2)
psycho candy
shimmer
god help me (1)
her way of praying (2)
god help me (2)
mushroom
about you (1)
happy when it rains (2)
god help me (3)
head (2)
bleed me
darklands (2)
save me
something’s wrong (2)
these days (2)
about you (2)
happy when it rains (3)
almost gold
never saw it coming
nine million rainy days (1)
nine million rainy days (2)
drop
sundown
her way of praying (3)
who do you love?
nine million rainy days (3)
inside me (4)
the living end
Nachbemerkung des Übersetzers
Copyright der zitierten Songs von The Jesus and Mary Chain
Ein Interview mit Kevin Brooks
Das hier ist eine Geschichte über mich und sonst nichts.
(i take my time away
and i see something
and that’s my story)
Hier bin ich.
Okay, erstens: Ich heiße Dawn Bundy.
Zweitens: Ich bin fünfzehn Jahre (und sieben Tage) alt.
Drittens: Ich lebe mit meiner Mum in so einem üblichen Haus in so einer üblichen Straße in so einer üblichen Stadt in England.
Viertens: Ich bin total unattraktiv, aber das ist mir scheißegal.
Fünftens: Ich hab manchmal die Angewohnheit zu übertreiben und das hier ist wahrscheinlich so ein Fall. Was in etwa heißt: Ich bin zwar unattraktiv, aber eben nicht total (also nicht dermaßen hässlich, dass einem gleich die Augen aus dem Kopf fallen oder so). Ich seh nur einfach nicht toll aus, wenn du verstehst, was ich meine. Ich hab keine richtige Figur. Jedenfalls keine weiblichen Kurven wie die Zeitschriftenmodels. Im Grunde bin ich bloß rund und reizlos, ein pummeliges Ding. Natürlich ist es mir nicht scheißegal, dass ich nicht toll ausseh. Klar, ich fänd es irre, toll auszusehen – Superfrau, heiße Braut, Miss Wenn-du-mich-anguckst-wird-dir-ganz-anders. Wer würd nicht gern so aussehen? Ich meine, Schönheit ist eben nichts, was in den Kleidern hängen bleibt. Wie du aussiehst, fährt dir in den Bauch und ins Herz … es entscheidet über dein Leben.
Egal, was ich nur sagen will, ist: Ich weiß, dass ich keine Schönheit bin, fertig.
Sechstens: Meine Mum heißt Sara und ist neunundvierzig.
Siebtens: Mein Dad heißt John und ist vor zwei Jahren verschwunden.
Und zum Schluss: Heute ist der erste Tag im Januar, ein ganz neues Jahr fängt an. Und ich werde morgen damit anfangen, Gott umzubringen.
Das hat nichts zu bedeuten, klar? Gott umzubringen bedeutet nichts. Ist einfach nur irgendwas. Bloß so ein Gedanke, etwas, das ich tun kann, etwas, um mich zu beschäftigen. (Und nein, es ist auch kein Vorsatz fürs neue Jahr.) Ich mach nur gern was, um mich von Sachen abzulenken, an die ich nicht denken will. (Oder genauer gesagt von der einen Sache, an die ich nicht denken will.) Zum Beispiel letztes Jahr, gegen Sommerende, da hab ich das mit den angemalten Schnecken gemacht. War bloß, weil ich abends im Garten stand und ein bisschen Hundescheiße eingesammelt hab (von meinen Hunden erzähl ich später); es hatte den ganzen Tag geregnet, also war alles nass und eklig und plötzlich sah ich, dass da lauter Schnecken auf dem Gartenweg waren. Wahnsinnig viele Schnecken, die auf dem regennassen Beton ihre Schleimspur zogen – die eine im Schneckentempo hierhin, die andere im Schneckentempo dahin … Das brachte mich ins Grübeln. Keine Ahnung, worüber, aber das war auch nicht wichtig. Es reichte schon, an dem verregneten Sommerabend draußen zu stehen, den Beutel mit Hundescheiße in der Hand, dabei dem Zeitlupentanz der Schnecken zuzusehen und einfach nur zu grübeln, grübeln, grübeln … über nichts Bestimmtes.
Und dann kam’s mir.
Buchstaben.
Buchstaben, Wörter, Botschaften.
Was würde passieren, grübelte ich vor mich hin, wenn ich einen Haufen Schnecken einsammelte, ihnen Buchstaben auf ihr Schneckenhaus malte und sie danach wieder im Garten freiließ? Ich meine, was würde ich finden, wenn ich am nächsten Abend in den Garten zurückkam? Würden die Schnecken wissen, dass sie einen Buchstaben auf dem Rücken hatten? Würden sie sich so anordnen, dass mir die Buchstaben Schneckenbotschaften lieferten? HALO DAWN WIR LIBN DCH. (Irgendwie stell ich mir vor, dass sich Schnecken beim Buchstabieren schwertun.) Oder vielleicht würden die angemalten Viecher ja auch in die andern Gärten zuckeln und meinen Nachbarn Botschaften bringen. DU SHEISE. WR BRING DICH UM.
Also warf ich, mit dieser Idee im Kopf (und einem Grinsen im Gesicht), den Beutel Hundescheiße in die Tonne, rief meine Hunde und ging zurück ins Haus, um die Sache vorzubereiten. Es dauerte nicht lange. Ich brauchte bloß ein bisschen Leuchtfarbe, einen feinen Pinsel, eine Pappschachtel und ein paar Schnecken. Der einzige Haken war, wie viele Buchstaben ich machen sollte, damit es klappte – also wie viele A’s, wie viele B’s, wie viele C’s und so weiter. Weißt du, wie beim Scrabble. Ich meine, da hast du ja auch nicht von jedem Buchstaben gleich viele, oder? Manche Buchstaben kommen schließlich häufiger vor als andere. Egal, auf jeden Fall kapierte ich (ein bisschen schwer von Begriff) erst nach viel Grübeln und Buchstabenzählen in Büchern, dass es genau wie beim Scrabble sein musste. Wieso also nicht einfach die Anzahl der Buchstaben von da übernehmen (d. h. fünfzehn E’s, fünf A’s, sechs I’s, neun N’s usw.)? Das tat ich dann auch. (Nur dass es in jedem Scrabble-Spiel hundert Buchstaben gibt, was bedeuten würde, ich hätte hundert Schnecken sammeln müssen. Was echt viel ist. Also halbierte ich mehr oder weniger die Anzahl der Scrabble-Buchstaben.)
An den nächsten zwei Abenden sammelte ich ungefähr fünfzig Schnecken ein, malte ihnen leuchtende Buchstaben auf ihr Schneckenhaus (was mich noch mal fast einen ganzen Abend kostete) und ließ sie danach allesamt wieder im Garten frei. Ja, ich weiß, das Ganze klingt bescheuert, aber ehrlich gesagt war es doch ganz schön spannend – drauf zu warten, dass es wieder Abend wurde, mir vorzustellen, wie ich mit der Taschenlampe in den Garten ging, mich zu fragen, ob mir die Schnecken wohl irgendwas zu sagen hätten …
Aber leider tat sich so gut wie gar nichts.
Und der Hauptgrund dafür war, dass sich die Leuchtfarbe, mit der ich die Buchstaben gemalt hatte, als giftig herausstellte. (Nicht schlucken, nicht einatmen usw. Kann auf Wasserlebewesen tödlich wirken.) Keine Ahnung, wie die Giftigkeit durch die Schneckenhäuser in die Schnecken selbst gekommen ist, aber so war’s einfach. Und das Endergebnis meines Schneckenkommunikations-Experiments sah wie folgt aus:
vier tote Schnecken, deren (noch intakte) Gehäuse die Buchstabenfolge MNEH ergaben
zwölf tote Schnecken, deren schleimig zerstörte Gehäuse nicht lesbar waren
vierunddreißig fehlende/vermutlich tote Schnecken und
zwei tote Drosseln
Frage: Was soll das alles?
Antwort: Nichts.
Wie gesagt, ich versuch nur zu beschreiben, was ich so treibe, mehr nicht. Was ich die letzten zwei Jahre gemacht habe, um mich von der anderen Dawn abzulenken, der dreizehnjährigen Dawn … der Dawn, die in einer Höhle in meinem Kopf lebt. (Die Höhle ist eng und kalt, es gibt darin keinen Laut, ich versuch sie so weich wie ein Kissen zu machen, aber die meiste Zeit ist sie hart wie Stein. Sie muss hart sein, um die Monster auszusperren.)
Wie auch immer, inzwischen ist morgen und im Moment lauf ich gerade die überdachten Gänge der Ladenpassage entlang Richtung Waterstone’s, der Buchhandlung. (Manche in der Schule nennen die Ladenpassage »the Mall«, als ob das Ganze eine coole Einkaufsmeile in Beverley Hills wär. Aber von Mall kann überhaupt keine Rede sein, das Teil ist nichts als eine Art Tunnel mit lauter Geschäften.) Und da bin ich jetzt und lauf durch die vollen Gänge – mit gesenktem Kopf, Augen auf den Boden gerichtet, Hände in den Taschen vergraben und meinen iPod so laut aufgedreht, dass er den Stadtsound aus vorbeiwehenden Stimmen, wabernder Musikberieselung und Hunderten und Aberhunderten von schlurfenden Füßen überdröhnt …
Und niemand kann mich sehen, absolut keiner.
Ich bin total unsichtbar.
Und weißt du, wieso? Ich sag’s dir. Weil ich meinen Unsichtbar-Mantel anhab, darum. Das ist auch der Grund, wieso die Buchhandlung wahrscheinlich zuhat, bis ich hinkomme. Wenn’s etwas gibt, wieso du garantiert zu spät kommst, dann ist es der Versuch, deinen Unsichtbar-Mantel zu finden, bevor du losgehst. Heute Nachmittag hab ich wieder fast eine Stunde gebraucht. Nach fünfzehn Minuten dachte ich, ich hätt ihn, und erst, als ich ihn angezogen, Mum Tschüss gesagt hatte und schon halb die Straße runtergegangen war, merkte ich: Stimmt ja nicht. Das war überhaupt nicht mein Unsichtbar-Mantel – es war mein Gar-nicht-Mantel.
Das ist allerdings ein Fehler, der ganz schön leicht passieren kann.
Beides sind Mäntel und beide sind unsichtbar.
Der einzige wirkliche Unterschied ist, dass die Unsichtbarkeit des Gar-nicht-Mantels bloß darauf beruht, dass er überhaupt nicht da ist.
Ist natürlich alles Unsinn. Ich hab keinen Unsichtbar-Mantel. Unsichtbar-Mäntel gibt es nicht. Was ich hab, ist ein Gar-nicht-Mantel, aber das ist ja klar. Jeder hat einen Gar-nicht-Mantel. Mehr als einen sogar. Du kannst so viele Gar-nicht-Mäntel haben, wie du willst – Millionen, Billionen, Trillionen, Endlosillionen –, denn nicht nur, was kein Mantel ist, ist ein Gar-nicht-Mantel, sondern auch alles, was überhaupt nichts ist.
Und das trifft auf jede Menge Dinge zu.
Ich muss jetzt aufhören. Es ist schon fast vier und es ist der zweite Januar, was wahrscheinlich so eine Art Tag-nach-dem-Neujahrstag-Feiertag oder so ist, und das heißt, dass die Läden wahrscheinlich um vier schließen, so wie an Sonn- und Feiertagen …
Frage: Wieso schließen Läden sonntags um vier?
Antwort: Keine Ahnung, frag Gott.
Ich weiß nicht viel über Gott. Ich mein, ich weiß natürlich die Grunddinge, das, was einem im Religionsunterricht so beigebracht wird … obwohl ich ehrlich gesagt im Religionsunterricht nicht besonders gut aufgepasst hab. Aber ich kenn eben das, was jeder kennt – die Geschichten aus der Bibel, die Wunder, das mit Gott und dem Teufel, mit Jesus und Glauben und Himmel und Hölle und Engeln und allem. Unmöglich, den ganzen Kram nicht zu kennen. Schließlich taucht er ja ständig irgendwo auf – in der Schule, im Fernsehen, in Büchern und Filmen, in Zeitungen, Zeitschriften und auf CDs, auf der Straße, auf Plakaten, auf den Spruchbändern vor Kirchen, die (unerklärlicherweise) für Gott werben (z. B.: WANN HAST DU GOTT ZUM LETZTEN MAL GESAGT, DASS DU IHN LIEBST? Oder: DIESER TAG IST EIN GESCHENK GOTTES) … den Kram kriegst du einfach überall mit. Du kannst ihm überhaupt nicht entgehen. Deshalb, ja, ich kenn das alles, aber viel mehr weiß ich nicht. Ich mein so Sachen wie: Was ist der Unterschied zwischen Protestanten und Katholiken und Presbyterianern und Methodisten und Anglikanern und Baptisten und Quäkern und Unitaristen und Mormonen und Jehovas Zeugen und all den andern Sorten von Christentum? Geht es bei allen um denselben Gott? Oder verehren die verschiedene Sorten von Göttern? Oder vielleicht geht es immer um denselben Gott, nur in leicht unterschiedlicher Verpackung – ein bisschen wie bei den Cornflakes-Schachteln, die man im Supermarkt kriegt. Du weißt schon, es gibt die echten Kellogg’s Cornflakes und dann die supermarkteigenen Tesco-Cornflakes und Honig-Cornflakes und Attraktiv-und-preiswert-Cornflakes und Gold-Flakes und Bio-Flakes … und alle sind so ziemlich das Gleiche – d. h. sie schmecken nach Corn und Flakes und es gibt sie alle in Schachteln –, aber jede Sorte schmeckt ein ganz klein bisschen anders und jede wird in einer etwas andern Schachtel verkauft.
Keine Ahnung …
Vielleicht ist es aber auch nicht so.
Nicht dass das einen Unterschied macht. Denn im Gegensatz zu Cornflakes gibt es Gott nicht. Er existiert nicht. Weshalb es auch schwierig sein wird, ihn umzubringen.
Ich bin jetzt bei Waterstone’s und steh vor dem Regal mit den Bibeln. Auf meinem iPod läuft I Love Rock ’n’ Roll, draußen regnet’s (die Buchhandlung liegt in einer Nebenstraße gleich außerhalb der Ladenpassage) und es ist schon fast dunkel, deshalb versuch ich mich zu beeilen, denn die lassen hier keine Hunde rein, also musste ich meine zwei draußen lassen, aber Regen mögen die nicht. Sie heißen übrigens Jesus und Mary. Ich hab versprochen, später von ihnen zu erzählen, und ich glaub, später ist jetzt. Also los.
Es sind Dackel. Genau gesagt schwarzbraune Kurzhaardackel mit weichem Fell. Bruder und Schwester. Sie sind drei Jahre alt und waren noch ganz klein, als ich sie gekriegt hab. Mein Dad hat sie mir geschenkt, als ich zwölf war. Ich bin mir nicht sicher, woher er sie hatte, aber wahrscheinlich waren sie noch ein bisschen zu jung, um von ihrer Mutter getrennt zu werden, denn die zwei waren in der ersten Zeit total klammerig und unsicher, und ich denk, ich bin so was wie ihre Ersatzmutter geworden. Was dazu geführt hat, dass wir schon immer ganz eng miteinander waren. Wir machen fast alles zusammen. Wir schlafen zusammen, wir gehen zusammen einkaufen, wir schauen zusammen fern. Die einzige Zeit, die wir nicht zusammen sein können, ist, wenn ich in der Schule bin. Was einer der Gründe ist, weshalb ich die Schule hasse.
Frage: Wieso heißen sie Jesus und Mary?
Antwort: Also, genau genommen gibt es zwei Antworten darauf. Die, die ich normalerweise geb, ist, dass ich sie nach meiner Lieblingsband – The Jesus and Mary Chain – genannt hab. Wobei es »Lieblingsband« nicht ganz trifft. Für mich sind The Jesus and Mary Chain die EINZIGE Band der Welt, die BESTE Band im Universum, die EINZIGE Musik, die es ÜBERHAUPT lohnt zu hören. Ihre Songs sind so dunkel und schön, so ursprünglich, so rein … eine Musik, bei der du das Gefühl hast, in ein großes schwarzes Nichts zu fallen.
Und das gefällt mir.
Es ist ungefähr fünf Jahre her, als mein Dad eine CD mit dem Titel Darklands mitbrachte. Da hab ich sie zum ersten Mal gehört. Er verehrte die Musik der Gruppe, wochenlang spielte er nichts anderes mehr. Und je öfter er sie spielte, desto mehr verliebte ich mich in sie. Und seitdem sind The Jesus and Mary Chain DIE einzige Band für mich. Ich hab jeden Song runtergeladen, den sie jemals aufgenommen haben, und ich besitz alle ihre CDs – sie sind das Einzige, was ich überhaupt hör –, ich hör sie ständig. Zu Hause, auf meinem PC, auf meinem iPod, wann immer und wo immer … Ich hör sie so oft, dass ich sie, selbst wenn ich sie gerade nicht hör, trotzdem im Kopf hör. Ihre Musik ist der Soundtrack meines Lebens. Jetzt gerade zum Beispiel hab ich I Love Rock ’n’ Roll auf Repeat laufen (ich spiel eigentlich alles auf Repeat, normalerweise mindestens drei-, viermal hintereinander) und wahrscheinlich hör ich das Stück noch, bis ich wieder zu Hause bin.
Deshalb geb ich, wenn jemand fragt, warum meine Hunde Jesus und Mary heißen, diese Antwort: Sie heißen nach meiner Lieblingsband. Und das stimmt. Aber es stimmt auch, dass bei uns, als ich Jesus und Mary bekam, nebenan so ein komisches christliches Ehepaar wohnte, Mr und Mrs Garth (dass sie Christen waren, wusste ich, weil sie hinten am Auto einen I ♥ JESUS-Sticker hatten). Die beiden waren echt grässlich. Die haben uns behandelt, als ob wir Luft wären, als ob wir überhaupt nicht existierten, unsichtbar wären, verstehst du? Wir haben versucht, freundlich zu sein, aber die wollten einfach nichts von uns wissen. Die haben uns einfach ignoriert. Und das ohne jeden Grund. Das hat mir total gestunken. Also nannte ich meine Hunde Jesus und Mary, weil ich wusste, dass ihnen das stinken würde. Und so war’s auch. Vor allem abends, wenn es schön still war und ich meine Hunde zum Pinkeln in den Garten schickte – dann stand ich an der Gartentür, pfiff und rief sie wieder rein: JESUS! MARY! NA, KOMM SCHON, JESUS! BEEIL DICH! Nein, Mr und Mrs Garth gefiel das überhaupt nicht. Und noch weniger gefiel ihnen, wenn ich Jebus statt Jesus rief. (Die Idee hatte ich aus einer Folge der Simpsons). JEEBUS! HEY, JEE-BUSS! Aus irgendeinem Grund störte die Garths das erst recht. Genau genommen störte es sie so sehr, dass Mr Garth eines Abends sein Fenster aufriss und mich anbrüllte: »Wie kannst du es wagen!«, schrie er (ziemlich schlapp). »Wie kannst du es wagen, den Namen des Herrn zu missbrauchen!«
»Wie bitte?«, fragte ich und sah ihn unschuldig an.
»Du bist widerlich. Also wirklich. Du dummes, bedauernswertes Ding.«
Mr und Mrs Garth sind inzwischen weggezogen.
Gott sei Dank.
Hast du mal gesehen, wie viele Bibeln es bei Waterstone’s gibt? Da stehen ganze Regale voll und alle haben andere Titel und andere Umschläge. Im Moment seh ich zum Beispiel die Neue King-James-Bibel, die Autorisierte King-James-Bibel, die Neue internationale Bibel, die Heilige Schrift, katholische Ausgabe, die Jugendbibel … es gibt sogar eine, die heißt Bibel der guten Botschaft. Also hör mal … ich hab zwei nasse Hunde, die draußen warten – mir fehlt die Zeit für das alles.
Schließlich entscheide ich mich für eine mit dem Titel Die Heilige Schrift. Neue, revidierte Standardausgabe. Mit Apokryphen. Sie verfügt über das weltberühmte Nelson’s Unique Fan-Tab™ Index Reference System (das einem angeblich hilft, die Bücher der Bibel sofort aufzufinden!). Außerdem enthält sie:
informative Abschnitts-Einführungen mit Strichzeichnungen und Karten
thematische Stichworte mit Querverweisen zum Weiterlesen
phonetische Schreibweisen zum leichteren Lesen
erläuternde Fußnoten zum besseren Verständnis
und das alles für £ 11,99.
Es ist ein ziemlich dickes Buch (1.191 ganz dünne Seiten) und sieht aus, als ob es mindestens zwanzig Milliarden superklein gedruckte Wörter enthält, deshalb flitz ich, eh ich zur Kasse geh, noch schnell in die Kinderbuchabteilung und schnapp mir eine viel zugänglicher wirkende Illustrierte Kinderbibel (für £ 9,99).
Ich nehm die Ohrstöpsel raus, trag die Bibeln zur Kasse und geb sie dem ziegenbärtigen Buchhändlertypen.
Er schaut sie an, dreht sie um und scannt sie mit seinem Strichcode-Dings.
»Okay, macht £ 21,98, bitte«, sagt er.
Ich grab in meiner Tasche und versuch aus den Scheinen, die ich da reingestopft hab, einen Fünfziger zu lösen, doch als ich ihn rauszieh, kommen die andern mit und ich werf das ganze Geld auf den Kassentisch. Es ist ziemlich viel Bares (was ich gleich noch erkläre) – ungefähr £ 250 oder so – und ich seh, wie der Buchhändlertyp hinstarrt und sich fragt, was jemand wie ich – d. h. ein plumpes fünfzehnjähriges Mädchen, das überhaupt nicht reich wirkt – mit so viel Geld macht.
Ich sag nichts zu ihm, schnapp mir nur einfach die Scheine, reich ihm den Fünfziger und verstau den Rest wieder in meiner Tasche. Er zögert einen Moment, dann zuckt er mit den Schultern (so nach dem Motto: Was hab ich damit zu tun?), nimmt den Fünfziger, hält ihn gegen das Licht, um zu prüfen, ob er auch echt ist, legt ihn dann in die Kasse, steckt die Bibeln in eine Tragetüte und gibt mir das Restgeld zurück. Ich starr auf die Scheine und Münzen in meiner Hand und habe kurz Lust, eine £ 1-Münze hochzunehmen, gegen das Licht zu halten und sie mit zusammengekniffenen Augen anzuschauen, als würde ich prüfen, ob auch sie echt ist, so wie eben der Buchhändlertyp meinen Fünfziger mit zusammengekniffenen Augen angeschaut hat … du weißt schon, einfach nur so, zum Spaß. Aber ich glaub nicht, dass er das lustig fände, und eigentlich ist es mir auch egal.
»Soll ich die Quittung mit in die Tüte stecken?«, fragt er.
Ich nicke.
Er steckt die Quittung in die Tragetüte und reicht sie mir.
»Wann schließen Sie?«, frag ich.
»Um acht«, antwortet er und schaut auf seine Uhr.
»Ich dachte, Sie machen um vier zu.«
»Nein«, sagt er. »Um acht.«
»Und wann schließen Sie sonntags?«
»Sonntags um vier.«
»Wieso das?«
Er wirft mir einen ungeduldigen Blick zu. »Was ist?«
»Wieso Sie sonntags um vier schließen?«
Er zuckt wieder die Schultern. »Keine Ahnung … machen wir eben.«
Ich bedank mich, nehm meine Bibeln, geh aus dem Laden, schnapp mir Jesus und Mary und mach mich auf in den winterlich dunklen Regen.
Es ist so ein Regen, der in der Dunkelheit flimmert wie Silber. Er geht durch alles durch wie ein fein gesprühter Nebel und sickert direkt in dich rein, bis auf die Knochen. Ich möchte es ja schön finden. Ich wäre wirklich gern glücklich, wenn es regnet – glücklich auf so eine dunkle/romantische/Jesus-und-Mary-Chain-hafte Weise –, aber ich bin es nicht. Ich fühl mich bloß kalt und nass und scheußlich. Jesus und Mary mögen den Regen auch nicht. Und als ich zurück in den Schutz der Ladenpassage husche, bleiben sie alle paar Schritte stehen und schütteln sich. Ich weiß nicht, wieso sie sich die Mühe machen, denn die beiden waren noch nie die tollsten Schüttler der Welt. Dazu sind schon ihre Beine viel zu kurz. Ich meine, ist ja echt nicht leicht, dich so richtig mit Schmackes zu schütteln, wenn deine Beine kaum länger sind als der Finger von irgendeinem Fettwanst. Und selbst wenn sie sich richtig ansehnlich schütteln könnten – sie haben ja nicht mal Fell, das sich zum Schütteln eignet. Deshalb ist das Ganze ziemlich sinnlos. Aber sie tun es trotzdem. Watschel, watschel … schüttel, schüttel … watschel, watschel … schüttel, schüttel …
»Jetzt kommt schon«, sag ich immer wieder. »Beeilt euch. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Was natürlich gelogen ist.
Ich hab sogar mehr als den ganzen Tag Zeit. Ich hab den ganzen Tag Zeit, den ganzen Abend, die ganze Nacht, den ganzen nächsten Tag …
Menschenfreunde hab ich eigentlich keine. Meine einzigen wirklichen Freunde sind Jesus und Mary. Und das sind eben Hunde. Natürlich soll das nicht heißen, dass ich keine andern Menschen kenne, denn das stimmt nicht. In der Schule kenn ich die meisten Leute aus meiner Jahrgangsstufe und sogar viele, die nicht in meinem Jahrgang sind, und dazu noch ein paar, die bei mir in der Straße wohnen. Ich kenn ihre Namen und weiß, wie sie aussehen und was sie für Typen sind … und manchmal red ich auch mit dem einen oder andern. Aber sie sind nicht das, was ich Freunde nennen würde.
Ich glaub, die meisten halten mich für eine Loserin. Und wahrscheinlich haben sie damit sogar recht. Aber das kümmert mich nicht. Ich meine, ja, okay, ich bin eine Loserin – aber ich bin eine total zufriedene Loserin. Ich will gar nicht zu den wichtigen Leuten gehören und ich kümmer mich auch nicht drum, was andere über mich denken oder reden. Klar, deshalb (und auch weil ich klüger bin als die ganzen Durchschnittshirnis) werfen sie mir manchmal gemeine Blicke zu oder versuchen mich zu ärgern, indem sie mir Schimpfwörter hinterherrufen. Lesbe scheint besonders beliebt zu sein. Obwohl, wenn ich drüber nachdenk, rufen sie längst nicht mehr so oft Lesbe wie früher. Genau genommen bin ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr Lesbe genannt worden. Was vielleicht damit zu tun hat, dass die, die es rufen, inzwischen gemerkt haben, ich mach mir nichts draus, wie sie mich nennen. Kann aber auch sein, dass Lesben auf einmal cool sind, dann passt das Wort als Beleidigung einfach nicht mehr.
Egal, der langen Rede kurzer Sinn: Ich gehör nicht dazu, aber ich will auch gar nicht dazugehören, deshalb lassen mich alle ziemlich in Ruhe.
Aus dem Grund bin ich auch total überrascht, dass mich Mel Monroe und Taylor Harding, die beiden fiesesten Mädchen an unserer Schule, auf meinem Weg in die Ladenpassage plötzlich halbwegs interessiert anglotzen, als sie aus dem Accessorize-Laden kommen.
Natürlich bleib ich nicht stehen.
Ich halt wie immer den Kopf gesenkt und geh weiter. Geh weiter, geh weiter, hör auf die Musik, tu so, als ob ich gar nicht mitkrieg, wie Mel und Taylor hinter mir herrufen: »Dawn! Hey, Dawn! Wart doch mal einen Moment. DAWN!«
Aber man kann eben bloß bis zu einem bestimmten Punkt so tun, als ob. Und als Mel und Taylor plötzlich direkt vor mir auf dem Gehweg aufkreuzen, herumspringen und mit den Händen wedeln, um meine ge-ipoddete Aufmerksamkeit zu kriegen, hab ich ja wohl keine große Wahl mehr, oder? Ich muss stehen bleiben und so tun, als ob ich total überrascht wäre. Ich muss wohl oder übel meinen iPod abstellen, die Ohrstöpsel rausziehen und hören, was sie sagen.
»Hey, Dawn«, sagt Taylor. »Wo willst du hin? Wo warst du?«
Sie ist total aufgestylt, Lippenstift, schwarze Augenlider, Klimperwimpern und trotz Kälte und Regen trägt sie nur einen kurzen Jeansrock und so eine leuchtend weiße kurze Bauschejacke.
»Ähm … nirgendwohin«, murmel ich in mich rein. »Wollt bloß grad … ihr wisst schon …«
»Alles in Ordnung?«, fragt Mel.
Ich seh sie an und frag mich, was denn verdammt noch mal los ist. Wieso reden die beiden mit mir? Die reden doch nie mit mir. Die würden nicht mal tot mit mir reden, schon gar nicht vor dem Accessorize-Laden, wenn da noch all ihre fiesen Freundinnen drin rumhängen – ausgerechnet mit mir in meinem Gar-nicht-Mantel und meiner schlabberigen schwarzen Hose, den ausgetretenen alten Boots und der Tüte mit den Bibeln, die ich krampfhaft festhalte. Aber hier stehen sie und fragen mich, wo ich hinwill, ob alles in Ordnung ist …
»Hm«, sag ich zu Mel. »Ja, alles okay.«
Sie nickt und kaut Kaugummi. Mel ist kleiner als Taylor und auch hübscher … auf die billige Art. Aber billig steht ihr. Und das weiß sie genau.
»Sind das deine?«, fragt Taylor und schaut nach unten zu Jesus und Mary, die beide geduldig zu meinen Füßen sitzen.
»Ja«, sag ich.
»Beißen die?«
»Nur, wenn ich’s ihnen sage.«
»Und was sind das für Viecher?«
»Kurzhaardackel.«
»Furzhaardackel?«
»Dackel eben«, sagt Mel.
Taylor nickt, nicht wirklich interessiert. Sie schaut auf die Tragetüte in meiner Hand. »Und was ist da drin?«
Ich zuck mit den Schultern. »Bloß ’n paar Bücher.«
»Bücher?« (So als ob ich ihr gerade gesagt hätte, es wär Hundescheiße drin.) »Was denn für Bücher?«
Ich zuck wieder mit den Schultern. »Bücher eben, weißt du …«
»Klar.« Sie schaut über ihre Schulter und starrt ein paar Mädchen an, die gerade aus dem Accessorize-Laden kommen, dann wendet sie sich wieder mir zu. »Was machst du heute Abend?«
»Wie?«
»Heute Abend … was du da machst?«
»Wieso?«
»Lust auf ’ne Party?«
»Auf ’ne Party?«
Sie stöhnt. »Bist du taub oder was?«
Mel lacht.
Ich seh sie an.
»Wir feiern eine kleine Party, das ist alles«, erklärt sie mir, während sie sich durch die Haare fährt. »Bloß ein paar Leute. Musik. Was zu trinken. Hast du Lust zu kommen?«
Fast sag ich: Ob ich Lust hab zu kommen?, aber ich kann mich gerade noch bremsen. Mein Gesicht sagt es trotzdem: Party? Ihr macht eine Party und wollt, dass ICH komm?
»Alles okay?«, fragt Mel und sieht mich schräg an.
»Ja … ja, ’tschuldigung. Ich war nur grade –«
»Hör zu«, sagt Taylor eilig und wirft wieder einen Blick über die Schulter. »Wir müssen los, klar?«
»Sicher …«
Sie beugt sich zu mir vor. »Und?«
»Und was?«
Noch ein Stöhnen. »Und … kommst du jetzt zur Party oder nicht?«
»Ähm, weiß nicht … wo denn?«
Mel und Taylor antworten gleichzeitig. »Bei mir.«
»Was?«
Sie sehen sich einen Moment an, beide irgendwie ärgerlich (auch wenn sie versuchen, es nicht zu zeigen), dann schauen sie mich an, auf einmal wieder total fröhlich.
»Die Party steigt bei mir«, sagt Taylor. »Ursprünglich sollte sie bei Mel sein, aber … ähm …«
»Meine Mum ist da«, spricht Mel weiter. »Ich dachte, sie wollte weggehen, weißt du, doch dann hat sie sich’s anders überlegt. Also machen wir die Party eben bei Taylor.«
»Klar«, sag ich. »Und ihre Mum ist nicht da?«
»Nein«, antwortet Taylor. »Also, du weißt Bescheid, wenn du kommen willst, bisschen Spaß haben …« Sie zwinkert mir zu. »Nelson Lane, gegenüber vom Park. Weißt du, wo das ist?«
»Ja.«
»Nummer 57«, sagt sie. »Um neun.«
»Klar.«
Und das ist es so in etwa. Sie drehen sich um und gehen die Straße hoch, kichern und flüstern miteinander, schwenken ihren Hintern und Taylor sagt was zu Mel, Mel klatscht ihr scherzhaft die Hand auf den Arm, Taylor stößt einen hässlichen Lachschrei aus … und ich steh allein auf dem Gehweg, ganz kalt und nass und verwirrt.
Ich schau runter zu Jesus und Mary.
»Wisst ihr, was das Ganze sollte?«, frag ich sie.
Mary gähnt.
Jesus leckt sich den Hintern.
»Na, danke«, sag ich. »Ihr seid ja echt eine Hilfe.«