ISBN 978-3-492-99076-9
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Prolog

Trauerglocken

Die Kirche

Die Burg

Jäger und Kundschafter

Die Heuler

Die Kinder

Hinterhalt

Feuervogel

Maus

Taubenjagd

Bem

Antworten

In höchster Not

Ein Denkmal

Ein Plan

Maik

Sturm auf die Burg

Freund oder Feind

Der Weg hinaus

Ben

Epilog

Prolog

Der alte Mann schritt durch die staubigen Straßen der Stadt. Es lag ein Wispern in der Luft, ein Flüstern von Ereignissen, die sich bereits anbahnten. Diese Zeit, bevor es begann, machte den Alten immer nervös. Ihm blieb nichts mehr zu tun, nichts mehr vorzubereiten. Er konnte jetzt nur abwarten, bis sich dieser verlassene Ort zumindest vorübergehend erneut mit Leben füllen würde.

Er nahm ein paar Stufen und fand sich in einem Gewirr aus schmalen Gassen und schiefen Wänden wieder. Lehmziegel in allen erdenklichen Braun- und Rottönen bildeten einen steinernen Irrgarten. Manche Korridore endeten in eingestürzten Ruinen, manche wurden einfach zu eng, als dass man sie hätte passieren können. Der Alte hatte keine Mühe, sich zu orientieren. Er kannte diesen Ort bis in den letzten Winkel, spürte ihn um sich wie die zerknitterte Haut seiner Hände.

So viele hatte er schon kommen und gehen sehen, in diesem Reich, das auf eine erschreckende Art und Weise auch sein Reich war. Er teilte es mit dem Bösen, das unter der Stadt lauerte und das schon so lange hier war, wie er zurückdenken konnte. Auch jetzt nahm er es wahr. Sein dumpfes, drängendes Pochen: nicht ganz wach, aber auch nicht ganz schlafend. Manchmal war der Alte sich sicher, dass die Ankömmlinge es ebenfalls bemerkten. Er hatte beobachtet, wie sie sich an die Brust griffen, als könnte das die Kälte vertreiben, die sich an diesem Ort um ihr Herz legte.

Als er an einem großen Gebäude vorbeiging, hob er kurz den Blick. Hoch oben waren eine Menge Schriftzeichen in den Stein gehauen, die er nicht lesen konnte. Ein windschiefer Turm, verziert mit seltsam geformten Glassteinen, klammerte sich an eine der Mauern und wäre ohne die starke Schulter an seiner Seite vermutlich einfach umgefallen. Die Menschen hatten ihn für ihre Götter errichtet, so viel hatte er verstanden. Mit viel Hingabe hatten sie daran gearbeitet, als würde das Bauwerk über ihr Schicksal entscheiden.

Es stand ihm nicht zu, ein Urteil darüber zu fällen, und er erlaubte sich keines. Sie alle, die daran gearbeitet hatten, waren ihm vorausgegangen, während er hier zurückblieb und seine Pflicht erfüllte.

Die Schritte lenkten ihn weiter, dorthin, wo Mauern und Häuser zu Stückwerk wurden. Wo der Stadtrand ausfranste, öffnete sich eine wüste Ebene vor ihm. Sein grauer, schäbiger Umhang malte geschwungene Linien in den Sand, und schließlich kam der alte Mann an einer scheinbar wahllosen Stelle zum Stehen. Er mühte sich in die Hocke, wobei seine Knie ein trockenes Knacken von sich gaben. Bis auf das stete Rumoren der fernen Mahlwerke herrschte Totenstille.

Der Alte strich mit der Handfläche über den Boden, und der körnige Sand gab eine Oberfläche aus dunklem Metall frei. Nach und nach erschien eine Platte mit einem Durchmesser von etwa zwei Metern. Sie trug fremdartige Zeichen, fremdartig zumindest für jeden anderen, der sie erblickt hätte. Mit den Fingerkuppen tastete der Alte sie ab und eine tiefe Sehnsucht ergriff Besitz von ihm. Er stellte sich vor, das Tor würde sich öffnen und ihn durchlassen. Er stellte sich vor, er könnte die Stufen hinabschreiten und die Welt dort unten noch einmal betreten.

Es war der Zugang zur eigentlichen Stadt. Einem Ort, der einmal sein Zuhause und das vieler anderer gewesen war. Die steinernen Trümmer und Ruinen hier oben waren nur etwas, das die Ankömmlinge wieder und wieder besiedelten und verließen, ohne den Sinn darin zu verstehen.

Der alte Mann strich über das verschlossene Tor und sprach die Worte, deren Bedeutung irgendwann mit ihm verloren gehen würde:

Die Stadt ist versiegelt.
Der Weg hinein ist versperrt.
Der Weg hinaus führt durch das dunkle Herz.

Trauerglocken

»Zum heutigen Gottesdienst erinnern wir uns auch an einen Jungen, der vor zehn Jahren von uns gegangen ist.« Der Pfarrer hatte nach seiner Predigt vor dem Altar Stellung bezogen.

Anna fand nicht, dass es etwas Besonderes war, wenn sie heute an den Jungen dachten, der ihr Bruder gewesen war. Sie konnte sich an keinen Tag in den letzten zehn Jahren erinnern, an dem sie nicht an ihn gedacht hatten. Sein Schatten lag in ihrem Elternhaus über jeder gemeinsamen Mahlzeit. Er lag in den Sorgenfalten ihrer Mutter und sein Name schien noch immer auf der Tür zu dem leeren Zimmer im Haus zu prangen, auch wenn die Buchstaben dort schon lange nicht mehr hingen:

»Ben«, der Junge, der von uns gegangen ist.

»Familie Engel schickt ihre Gedanken und Fürbitten zum Heiligen Vater. Wir beten gemeinsam mit den Eltern Susanne und Frank und mit der Schwester Anna für die Seele des kleinen Ben.«

Der Pfarrer suchte Blickkontakt mit Annas Mutter, und diese trat aus der Kirchenbank und machte sich auf den Weg nach vorne. Es war bis ins kleinste Detail dieselbe Szene wie im Jahr davor und davor und davor. Anna hätte wetten können, dass es auch an Bens Beerdigung so abgelaufen war, aber daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie war vor zehn Jahren immerhin erst vier gewesen. Annas Mutter hatte vermutlich dasselbe schwarze Leinenhemd und die schwarze Hose getragen und war ebenso von einem Pfarrer nach vorne gebeten worden. Nur war sie dann wohl nicht an der Osterkerze, sondern an einem kleinen, leeren Sarg vorbeigelaufen.

Die meisten würden einen Sarg mit einem Kind darin vermutlich für schlimmer halten als einen leeren. Aber Anna wusste, dass ihre Eltern alles, was passiert war, weitaus besser verkraftet hätten, wenn sie Ben damals tatsächlich hätten beerdigen können.

»Danke«, sagte Annas Mutter mit brüchiger Stimme am Lesepult. Sie legte einen kleinen Zettel darauf und begann.

»Heute ist es zehn Jahre her, dass wir unseren Sohn Ben verloren haben. Meiner Familie und mir fällt es immer noch schwer, es bei unserem Abschied von ihm zu belassen.« Mit einer zittrigen Bewegung strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Anna hatte ihr volles Haar geerbt, doch bei ihrer Mutter wirkte es inzwischen matt und kraftlos. »Selbst nach all der Zeit suche ich ihn manchmal noch unter den Kindern, die von der Grundschule nach Hause gehen, obwohl er jetzt schon siebzehn Jahre alt wäre und vielleicht sein Abitur gemacht hätte.«

Sie musste eine Pause machen und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Anna senkte den Blick, auch wenn es traurige Gewohnheit geworden war, ihre Mutter so zu sehen. Alles, was sie sagte, hatte Anna so oder so ähnlich schon zigmal gehört. Sie stellte sich vor, ihre Mutter spräche dort vorn über sie, und ihr großer Bruder säße hier an ihrer Stelle. Würde er weinen? Mit Sicherheit hätte er sich besser an Anna erinnern können als umgekehrt, denn die meisten Bilder in ihrem Kopf stammten aus alten Videos ihrer Eltern.

Auf einem davon war sie erst knapp zwei, wackelte ständig vergnügt quietschend hinter ihrem fünfjährigen Bruder her und rief: »Bem, Bem!«, während dieser sich von ihr fangen ließ. Sie hatte keine eigene Erinnerung an die Szene, kannte sie nur aus der Kameraperspektive ihrer Mutter. »Bem« hatte sie ihn noch bis zu seinem Verschwinden manchmal genannt, zwei Jahre später. Ob ihr Bruder tatsächlich nicht mehr lebte? Oder gab es doch irgendwo den mittlerweile siebzehnjährigen Jungen, von dem ihre Mutter sprach?

»Bis heute fällt es uns nicht leicht, damit zu leben«, fuhr diese am Pult fort. »Jeden Tag frage ich mich, ob ich an irgendetwas nicht gedacht habe. Ob es noch einen Hinweis gibt, den man verfolgen könnte, oder ob man erneut einen Aufruf starten sollte. Ich weiß nicht, wie wir mit der Situation jemals hätten umgehen sollen, ohne den vielen Rückhalt, gerade hier in der Gemeinde. Dafür möchten wir euch heute noch einmal danken.«

Anna konnte ihren Eltern nicht den Vorwurf machen, sie hätten nach Bens Verschwinden nicht alles versucht, um etwas Normalität zurückzugewinnen. Sie waren bei allen möglichen Therapeuten gewesen: für sich selbst, für ihre Ehe und für die Familie. Auch für Anna, als sie noch zu jung gewesen war, um sich dagegen zu wehren. Sie hatten sich bemüht, ihr die Kindheit zu ermöglichen, die die Umstände zuließen.

Natürlich hatte Anna selbst damals kaum etwas begriffen. Ihr Bruder war plötzlich fort gewesen und der »Tod« kaum mehr als ein abstrakter Begriff, den sie von angefahrenen Tieren auf der Straße kannte. Was sollte er im Zusammenhang mit ihrem Bruder bedeuten, mit dem sie jeden Tag spielte oder stritt oder durch die Wohnung tobte? Und dann war Ben ja nicht einmal wirklich gestorben, zumindest nicht auf eine Art, die irgendwie begreifbar war. Wie sollte eine Vierjährige damit umgehen, wenn das selbst Erwachsene nicht hinbekamen? Am allerwenigsten ihre Eltern.

Die ersten Tage hatte die ganze Familie praktisch durchgehend geweint. Noch für Wochen hatte Anna ihre Mutter nur mit verheulten Augen zu Gesicht bekommen. Doch im Nachhinein war diese erste Zeit nicht das Schlimmste gewesen. Es war der lange Schatten, den sie geworfen hatte.

Normalerweise, wenn ein Elternteil oder Geschwister starb, dann überschattete das vielleicht ein Jahr lang alles und danach normalisierte sich das Leben langsam wieder, so weit wie möglich. Anna kannte die Abläufe aus den Trauergruppen ihrer Eltern und den vielen Links in irgendwelche Foren, die sie von ihnen bekommen hatte. Doch bei ihr war es nicht nach einem Jahr Kindergarten vorbei gewesen. Ganz im Gegenteil hatten ihre Eltern den Jahrestag zum Anlass genommen, die Suche noch einmal so richtig in die Medien zu bringen. Und im Jahr danach hatte es einen neuen Aufruf wegen ganz neuer Verfahren und Möglichkeiten gegeben, Ben doch noch zu finden, und so weiter und so fort. Seit sie denken konnte, war sie gefangen in ihrer Rolle, weil es immer und immer wieder von vorne losging: Familie Engel mit ihrem verlorenen Sohn.

Manchmal kam es Anna vor, als hätten sich alle mit ihrem Schicksal abgefunden: Ihr Bruder war das vergötterte, verlorene Kind und ihre Eltern waren die gezeichneten Erwachsenen mit dem tragischen Schicksalsschlag. Aber niemand schien zu kapieren, dass sie selbst nun mal nicht wollte, dass das Verschwinden ihres Bruder vor zehn Jahren für immer jede Facette ihres Lebens bestimmte.

»… und deshalb bitte ich euch jetzt um eine Schweigeminute für Ben, während die Kirchenglocken für ihn läuten.«

Annas Mutter hatte ihre Trauerrede beendet und steckte den Zettel wieder ein. Anna fühlte sich schuldig für ihre egoistischen Gedanken, ausgerechnet hier und jetzt. Als sich alle erhoben und Anna ihre Mutter dort vorne stehen sah, fragte sie sich, wer sie vor dem Schleier aus Tränen gewesen war. Erinnern konnte Anna sich daran ebenso spärlich wie an ihren Bruder.

Gong … begannen die Kirchenglocken zu läuten, und der Klang erschien ihr schwer. Sie spürte das Dröhnen bis in ihren Bauch.

Gong … Gong …

Es schlug ihr auf den Magen, und bei jedem Glockenschlag wurde es schlimmer. Als ihr schwindlig wurde, hielt sie sich mit den Händen an der Rückenlehne der Kirchenbank vor ihr fest. Sie hatten sich nicht in die erste Reihe gesetzt, Anna hatte sich geweigert. Sie fand, sie sitze durch die Erwähnung der »Familie Engel« mehr als genug auf dem Präsentierteller. Anna sah sich nervös um, doch die Kirchgänger waren allesamt ins Gebet versunken. Was war los mit ihr? Bloß nicht umkippen, betete sie sich vor. Es würde keinen Tag dauern, bis die ganze Schule wusste, dass sie einen Schwächeanfall während der Trauerglocken für ihren Bruder gehabt hatte.

Gong …

Ihre Beine wurden zittrig. Vielleicht lag es daran, dass sie heute Morgen kaum etwas gegessen hatte. Annas Vater stand mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen neben ihr. Sie wollte ihn nicht aus seiner Andacht reißen, aber es ging ihr immer schlechter.

Gong …

Schwarze Flecken tanzten in ihrem Sichtfeld. Anna hatte Schweiß auf der Stirn und hätte sich gern übers Gesicht gewischt, doch sie traute sich nicht mehr, die Bank vor ihr loszulassen. Mit beiden Händen klammerte sie sich daran fest, wie eine Ertrinkende. Sie spürte noch die bleierne Schwere in den Beinen, als ihr Blut plötzlich nach unten sackte – dann verlor sie das Bewusstsein. Sie würde sich später noch oft fragen, ob sie nicht doch für längere Zeit ohnmächtig gewesen war. Doch es fühlte sich nicht danach an: Ihre Sinne kehrten sofort zurück und Schwindel und Übelkeit waren nahezu verschwunden. Tatsächlich war sie auch nicht umgekippt, sondern stand noch immer aufrecht da. Nur eben nicht mehr neben ihrem Vater in der Kirche.

Anna fand sich in einer staubig roten Wüste wieder. Die Menschen, die Kirche, alles war plötzlich fort. Die Silhouette einer Stadt befand sich in einiger Entfernung. Doch diese Stadt hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Zuhause. Es waren niedrige Bauten aus grau-braunem Lehm, die sich aus dem roten Sand hoben. Kaum fähig, sich zu rühren, spürte sie ein dumpfes Dröhnen im Boden. Sie hielt es zunächst für die Kirchenglocken, doch es hörte nicht auf, sondern war ein stetiges, leises Wummern.

Hinter Anna knirschte etwas im Sand und ein wirrer Redefluss in einer Sprache begann, die nach Arabisch klang. Anna fuhr zusammen und drehte sich um. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Dort krabbelte ein kleiner Junge auf dem Boden rückwärts von ihr weg und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Seine Worten klangen ängstlich und aggressiv zugleich.

»Shaitan!« Dieses Wort fiel immer wieder.

Anna war völlig überfordert. Die plötzliche Bewegung hatte einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf geweckt. Sie hob beschwichtigend die Hände, doch das nahm seinem Blick nichts von der Furcht oder der offensichtlichen Feindseligkeit. Er hatte dunkle Haut und trug ein dreckiges Hemd aus grobem Leinen.

»Warte. Hör doch auf«, beschwor Anna das Kind. Es hatte den gegenteiligen Effekt.

»SHAITAN!«, schrie der Junge angsterfüllt. Er atmete heftig und die Angst schüttelte seinen ganzen Körper.

Anna hatte noch kaum ihren eigenen Schock verarbeitet. Lag sie etwa ohnmächtig in der Kirche und fantasierte?

»Beruhige dich«, bat sie den zitternden Jungen, der sich gerade aufrappelte, und machte selbst ein paar vorsichtige Schritte rückwärts. »Bitte!«

Er blieb auf der Stelle stehen und blickte sich gehetzt um.

Bis auf die Silhouette der Stadt schien es nichts als Wüste um sie herum zu geben. Der Horizont bildete eine klare Linie, und obwohl das karge Land weit in die Ferne reichte, weckte der bedeckte Himmel dennoch ein beklemmendes Gefühl in ihr. Die rissigen Mäuerchen und Torbögen der Stadt erinnerten Anna an Nachrichtenbilder aus dem Nahen Osten. Verlassene Ruinen im Niemandsland zwischen Sprengfallen hinterlassenden Terroristen und Drohnenangriffen der USA. Alles weit weg. Erneut fragte sie sich, ob sie fantasierte. Es sah verdammt real aus und fühlte sich auch so an …

Mit noch immer klopfendem Herzen zog sie ihr Handy aus der Tasche, während der Junge sie misstrauisch beäugte.

»Ich hole Hilfe«, murmelte sie dabei vor sich hin, mehr für sich selbst als für das Kind. »Keine Panik, ich hole jetzt Hilfe.«

Das Handy zeigte keinen Empfang. Trotzdem suchte Anna die Nummer ihres Vaters heraus – es baute sich keine Verbindung auf.

»Scheiße«, murmelte sie und versuchte es fieberhaft wieder und wieder, rief den Browser für das Internet auf. Nichts. Es fiel ihr immer schwerer, Ruhe zu bewahren. Mit zitternden Fingern schrieb sie eine Nachricht an ihren Vater: »Ruf mich schnell zurück!« Doch ein rotes Ausrufezeichen zeigte an, dass sie nicht gesendet werden konnte. Das dunkelhäutige Kind beobachtete sie weiter argwöhnisch.

»Hey, weißt du, was hier los ist?«, versuchte sie es auf Englisch. »Weißt du, wo wir sind?«

Keine Reaktion, doch der Junge verriet sich, indem er sich erneut kurz umblickte. Er schien die Frage also verstanden zu haben, antwortete aber wieder nicht. Für Anna schien er viel eher in diese Landschaft zu passen als sie selbst. Aber er wirkte nicht so, als würde er sich hier auskennen. Eher, als könnte er sich auch keinerlei Reim auf seine Ankunft hier machen.

Anna fühlte sich immer hilfloser. Sie hatte nicht die leiseste Idee, wie sie an diesem Ort gelandet war, und offensichtlich konnte sie niemanden verständigen. Der Junge, der nicht mit ihr redete, verschlimmerte das Gefühl, vollkommen auf sich allein gestellt zu sein, fast noch.

Bis auf die verlassen wirkende Stadt gab es keinen Anhaltspunkt, wohin sie sich wenden konnte. Also machte sie mit zunehmender Verzweiflung ein paar Schritte in Richtung der Häuser. Ihre ganze Hoffnung war, dort Handy-Empfang zu bekommen.

»Kommst du mit?«, fragte sie den Jungen nach ein paar Schritten und deutete auf die Stadt.

Der Junge folgte ihr zögerlich, hielt aber weiter großen Abstand. So bewegten sie sich auf die fremde Kulisse zu. Anna in ihren Jeans und der schwarzen Bluse, die sie zur Trauerfeier angezogen hatte, und der dunkelhäutige Junge in dem heruntergekommenen Hemd, das ihm bis über die Knie hing. Beide ahnten nicht, wie weit sie von zu Hause weg waren.

Während sie gingen, wanderte Annas Blick nach oben. Ein einziger, dunstiger Schirm spannte sich hellgelb über ihnen auf. Er wirkte künstlich, wie die Studioleuchten eines Fotografen.

Als sie den Blick wieder senkte, war es ihr, als bewegte sich dort eine Gestalt zwischen den Gebäuden.

»Hallo?«, rief sie. »Hey, hallo!«

Die Gestalt war schon wieder mit den Schatten der Stadt verschmolzen. Anna beschleunigte ihre Schritte und der Junge folgte ihr weiter in vorsichtigem Abstand.

»Wir werden jemanden finden, der weiß, was hier los ist«, murmelte sie, als bräuchte sie sich nur selbst davon zu überzeugen, damit es wahr wurde. Sie musste herausfinden, wo sie war, sonst konnte sie ihrem Vater schlecht sagen, wo er sie abholen sollte. Allein seine Stimme zu hören, würde ihr schon ein gutes Stück ihrer Beklemmung nehmen. Sie sah noch einmal auf ihr Handy: Noch tat sich nichts auf der Statusleiste.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich an den ersten Gebäuden ankamen. Das dumpfe Dröhnen wurde dabei lauter und schien von linker Hand zu kommen. Dort wuchsen in der Ferne ein paar größere Konstruktionen aus dem Boden, die sich von den übrigen Lehmziegelbauten abhoben. Gigantische Hallen, die weit moderner wirkten als der Rest der Stadt. Ihre Fassaden waren weiß, und ein Schimmer lag auf ihrer wabenartigen Oberfläche.

Gemeinsam betraten Anna und der Junge den Weg in die Stadt. Kein Geräusch, außer dem tiefen Wummern. Kein Anzeichen, dass hier irgendjemand wohnte, und trotzdem fühlte sich Anna aus den Schatten der Fensterlöcher beobachtet. Sie dachte wieder an verschanzte Terroristen im Nahen Osten.

»Hallo?«, rief Anna ängstlich. »Wir brauchen Hilfe!«

In diesem Moment spürte sie eine Berührung von hinten an der Hüfte und gleichzeitig traf sie ein Stoß in die Kniekehle. Anna schrie auf und fiel hilflos zu Boden. Sie hörte schnelle Schritte und sah auf. Der Junge hatte sie umgestoßen und rannte, so schnell er konnte, die Gasse entlang.

»Was machst du?«, rief Anna ihm wütend hinterher, während sie sich schnell wieder aufrappelte. »Was soll das?«

Sie sah sich hastig um, klopfte sich den Staub von der Jeans – und erstarrte. Die Taschen ihrer dreckigen Hosen waren leer. Der Junge hatte ihr das Handy geklaut.

»Nein, HALT!«, schrie sie verzweifelt und stürzte ihm nach. Das Kind war längst um die nächste Ecke verschwunden und Anna spürte die Panik wie eine Hand, die sich in ihre Brust krallte. Ohne ihr Handy war die letzte Rettungsleine nach Hause verloren. »KOMM ZURÜCK

Im Laufen hörte sie einen erschrockenen Laut, und die schnellen Schritte des Jungen kamen aus dem Takt. Mit klopfendem Herzen erreichte Anna die Stelle, wo er um die Ecke gebogen war. Ein anderer Junge, etwas größer als Anna, stand einige Schritte entfernt vor einem Hauseingang und bückte sich gerade zum Boden herunter. Der Dieb musste gestolpert sein, oder der ältere Junge hatte ihn zu Fall gebracht, denn er kam ein paar Meter weiter gerade erst wieder auf die Beine. Als er augenblicklich seine Flucht fortsetzte, wollte Anna ihm schon nach, da sah sie, wie der Ältere sich wieder aufrichtete und etwas in der Hand hielt. Es war ihr Handy.

»Das ist meins!«, keuchte sie erleichtert, während sie auf ihn zulief.

Sie musste einen ziemlich erschreckenden Eindruck machen, nach dem Geschrei und der wilden Jagd. Doch der Junge mit den braunen, leicht gelockten Haaren hatte ein vorsichtiges Lächeln auf den Lippen, als er ihr das Smartphone entgegenhielt. Mit klopfendem Herzen nahm sie es und vergewisserte sich, dass es keinen Schaden davongetragen hatte. Der Bildschirm zeigte ihre Nachricht im Ausgang und keinen Empfang.

»Sprichst du Englisch?«, fragte er.

Anna konnte seinen leichten Akzent nicht zuordnen. Hastig strich sie ein paar widerspenstige Haarsträhnen hinters Ohr, die ihr nach der Rennerei ins Gesicht hingen.

»Ja, schon. Bist du von hier? Kannst du mir sagen, wo wir sind?«

Er sah sie bedauernd an. »Nein, keine Ahnung … O Mann, ich dachte, du wüsstest vielleicht was. Ich war eben noch zu Hause und hatte so eine Art Kollaps. Plötzlich bin ich hier.«

Anna erzählte ihm, dass es ihr ähnlich ergangen war. Ihr Gegenüber trug Jeans und ein weiß-blaues Streifenshirt. Man konnte den Jungen zweifellos als gut aussehend bezeichnen mit seinen lockigen Haaren und dem klaren Blick seiner braunen Augen.

»Ich heiße Nikos. Oder Nick, wenn du magst.«

»Anna«, stellte sie sich vor.

»War der vielleicht von hier?« Nick deutete den Weg entlang, den der Junge genommen hatte. »Ich hab gesehen, wie er dich geschubst hat und weggelaufen ist.«

Anna wollte eben antworten, als plötzlich ein fernes Heulen erklang. Es kam aus Richtung der riesigen Hallen und dehnte sich über einige Augenblicke, ehe es so abrupt abbrach, wie es begonnen hatte.

»Was war das?«, flüsterte sie erschrocken, und machte unwillkürlich einen Schritt vom offenen Weg in den Schatten der Mauern. Anna konnte den Laut keinem Tier zuordnen, das sie kannte.

»Komm mit nach oben!«, forderte Nick sie mit bleichem Gesicht auf und drückte sich in den Hauseingang hinter ihm.

Anna folgte ihm hinein und entdeckte die bruchstückhaften Reste einer Treppe hinter dem Eingang, die auf ein teilweise eingestürztes Dach führten. Als sie oben ins Freie traten, zog sie sofort das Handy aus der Tasche. Während sie auf den Home-Button drückte, betete sie im Stillen, doch ihre Gebete wurden nicht erhört: kein Empfang.

»Scheiße«, murmelte sie wie vorhin auf Deutsch, und Nick, der sich nach dem Ursprung des Heulens umgesehen hatte, brauchte wohl keine Übersetzung.

»Ich hab auch keinen Empfang«, wandte er sich ihr zu. »Ich seh da draußen nichts. Vielleicht war es nur ein Wolf oder so was.«

Die Unsicherheit in seiner Stimme verriet, dass er es selbst nicht glaubte. Anna hatte den Klang noch immer im Ohr. Das war kein Wolf gewesen.

»Wir müssen irgendjemanden finden, der uns sagen kann, wo wir sind«, sagte Nick.

Anna nickte und steckte das Handy entmutigt wieder weg. Hier oben standen sie wie auf einer zweiten Ebene über den Straßen und Gassen. Von dieser Stelle aus hatte Nick wohl beobachtet, wie der Junge sie umgestoßen hatte. Die Fläche aus Dächern war unregelmäßig, denn keine zwei Häuser waren gleich hoch. Anna fand einen windschiefen Turm neben einem großen Gebäude mit Kuppeldach. Symbole aus dunklem Glas schillerten unter der Turmspitze. Anna glaubte, ein Kreuz zu erkennen.

»Da ist eine Kirche«, deutete sie darauf.

»Ja, hab ich auch schon gesehen«, antwortete Nick. »Sollen wir es da versuchen? Oder willst du dem Jungen nach?«

Anna schüttelte den Kopf. Das Kind hatte sich vorhin genauso unsicher auf die Stadt zubewegt wie sie selbst. Sie glaubte nicht, dass es hier zu Hause war. »Den finden wir nicht wieder. Lass uns lieber zur Kirche gehen.«

Sie wollte sich schon wieder der Treppe zuwenden, da hielt Nick sie zurück.

»Wir könnten den Weg über die Dächer nehmen«, schlug er vor und Anna sah ihm an, dass er Angst hatte. Das Schattenlabyrinth unter ihnen war seit dem unheimlichen Laut auch Anna nicht mehr geheuer. Es würde eine ziemliche Kletterpartie werden, aber wo sie nicht eingestürzt waren, standen die Dächer so dicht, dass sie sich frei über weite Teile der Stadt bewegen konnten.

Anna nickte zögerlich und Nick wirkte erleichtert. Während er schon über einen Mauervorsprung zum nächsten Gebäude kletterte, plapperte er los.

»Hast du den Jungen in der Wüste getroffen? Er ist so komisch hinter dir hergeschlichen. Die Kirche sieht ziemlich heruntergekommen aus, was?« Er schien der Stille keine Chance geben zu wollen, ihre unheimliche Wirkung zu entfalten.

»Alles hier sieht ziemlich heruntergekommen aus«, antwortete Anna, während sie vorsichtig über eine Lücke zwischen zwei Dächern stieg. Und bevor sie auf den Rest antworten konnte, fuhr er schon fort.

»Schon, oder? Und dann dieser baufällige Turm.« Nick schien Übung im Klettern zu haben. Anna staunte, wie behände er über die Dächer stieg, wobei seine Worte kein bisschen Anstrengung verrieten. »Irgendwie ist hier alles falsch. Weißt du, was ich meine?«

Sie wusste es. Der Staub unter ihren Füßen, der gelbe Himmel, alles wirkte unnatürlich, es passte nicht.

Anna versuchte es unterwegs noch einmal mit ihrem Handy, doch sie bekam kein Netz. Ihre Hoffnung, dass sich das so bald ändern würde, schwand allmählich dahin. Alleine hätte sie dieser Gedanke sicher zum Verzweifeln gebracht. Umso dankbarer war sie, Nick gefunden zu haben, der vor ihr über die Dächer kletterte. Er blickte sich suchend nach ihr um, und als sie das Handy wieder einsteckte, musste sie an ihre Eltern denken.

Anna konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie es passiert war, aber sie war nun mal hier und damit nicht mehr zu Hause in der Kirche. Allem Anschein nach war nach zehn Jahren Suche nach ihrem Sohn nun auch noch ihre Tochter spurlos verschwunden …