Für Norman
und alle Über-Zäune-Springer
Prolog
„Huuu-huuu“, rief der Uhu hoch oben in seiner Eiche. „Ruuhuue! Da huuhuscht was duuuhurch den Wald.“
Die Tiere, die ihn hörten, erstarrten. Der Marder, der Fuchs, der Igel und eine Mäusefamilie spitzten die Ohren und lauschten. Jetzt hörten sie tatsächlich, wie im Unterholz Zweige knackten und Laub raschelte. Jeder stellte sich dieselbe Frage: Kam da ein Freund oder ein Feind?
Nicht viele Kreaturen waren im grauen Zwielicht unterwegs. Und so eines hatte noch niemand gesehen: Das Wesen lief auf zwei Beinen! Nur der Bär tat das, wenn er sich den Rücken an einem Baum kratzen wollte. Das Wesen war jedoch kein Bär – es hatte nicht mal ein Fell, abgesehen von einem Büschel auf seinem Kopf.
„Abartig“, bemerkte eine Fledermaus, aber keiner konnte sie hören.
„Nanu, was hat’s ’n da in den Pfoten?“, fragte der Fuchs.
Das zweibeinige Wesen drückte eine Art Bündel fest an die Brust. Die Waldtiere in ihren Verstecken beobachteten jeden seiner Schritte aus leuchtenden Augen.
„Huu“, rief der Uhu. „Was will es bluuhuuß?“
Der Eindringling zuckte zusammen, als er den Uhu hörte, und sah sich wachsam um. Sofort schlossen die Tiere ihre Augen und die grünen und gelben Glühpunkte verschwanden in den Resten der Nacht. Beruhigt vom Frühlingslied des Kuckucks lief das Wesen weiter.
Vor einem hohlen Baumstamm blieb es stehen, klappte seine Beine ein und setzte sich darauf. Behutsam und zögernd streckte die Kreatur die Vorderpfoten aus und legte das Bündel in die Höhle. Dabei machte sie Geräusche, als würde sie zugleich jaulen und nach Luft schnappen. Es klang, als hätte sie Schmerzen.
Ruckartig entfaltete sie die Beine wieder, putzte mit den Pfoten ihr Gesicht und lief auf den Hinterbeinen davon.
„Dunnerlittchen!“, rief der Fuchs. „Was war ’n das nu?“
Doch ehe jemand antworten konnte, ertönte ein Laut. Er kam aus der Baumhöhle, in der das Bündel lag. Es war ein Laut, bei dem sich den nachtaktiven Waldtieren Fell und Federn aufstellten und so manches schlafende geweckt wurde. Ein Laut, wie er wohl nie zuvor in einem Wald zu vernehmen gewesen war:
„Määäähääääähääää!“
Im Wald
Wo sich Fuchs und Hase Guten Morgen sagen
„Das war der kläglichste Schrei, den ich je gehört habe“, erklärte der Rehbock. Er hatte seinen kleinen Sohn mitgebracht, um nachzusehen, welche Kreatur dieses „Määhää“ ausgestoßen hatte. Und der Rehbock war nicht der einzige. Lauter neugierige Tiere hatten sich rund um den Baumstumpf versammelt. Noch traute sich aber keines nahe heran.
„Was ist es, Papa?“, fragte das Rehkitz. „Von hier kann ich gar nix sehen. Mama sagt immer, man muss sich selbst ein Bild machen. Aber wenn ich nichts sehe, dann kann ich mir gar kein Bild machen. Och, ist das doof.“
„Es scheint nicht gefährlich zu sein“, überlegte das Wildschwein. „Sonst würde es nicht so jämmerlich klingen.“
„Leute, quatsch’n wir nich’ lang rum“, schlug der Fuchs vor. „Lasst es uns fressen.“
„Nicht so hastig“, erwiderte der Dachs. „Was, wenn es giftig ist?“
„Huhuu. Ich halte es für eine Mahuus“, sagte der Uhu. „Deshalb gehört es nuhuur mir uhuund ich erhebe Anspruhuch darauf. Huuu.“
„Es ist ganz klar keine Maus“, piepste eine Maus entschieden. „Seht doch nur, wie groß es ist!“ Ihre zahlreichen Verwandten nickten. „Und harmlos ist es auch nicht. Es könnte einen glatt zerquetschen.“
„Wenn man nicht weiß, was es ist, ist es meistens eine Katze“, fiepte eine andere Maus ängstlich.
„Miau! Es ist gewiss keine Katze!“, sagte die Katze. Sie lebte eigentlich nicht im Wald, sondern besuchte nur den Fuchs. „Beleidigungen dieser Art verbitte ich mir mit aller Entschiedenheit. Katzen sind die klügsten und schönsten Geschöpfe der Welt. Sie stehen über allen anderen und werden von jedem verehrt und bewundert. Unter gar keinen Umständen machen sie Geräusche wie dieses Mähh.“
Ein paar Tiere grunzten, andere stöhnten, aber keiner widersprach. Die Katze war ein Gast des Fuchses und der wurde immer äußerst bissig, wenn man unhöflich zu ihr war. Diesmal war er allerdings selbst eingeschnappt.
„Meine Liebe, du meinst sicher: Katzen steh’n über allen … abgeseh’n von Füchsen, ne?“, fragte er scharf.
„Wie auch immer“, sagte die Katze leichthin. „Miau. Ich habe den Eindruck, dass es bei dieser ganzen Sache hier nicht um mich geht. Ich stehe nicht im Mittelpunkt, wie es mir eigentlich zusteht. Dadurch verliere ich, offen gesagt, das Interesse. Wenn du dich wieder auf deine Pflichten als Gastgeber besinnst, findest du mich unten am Fluss, Ignatius.“ Damit stakste sie davon.
Der Fuchs wandte den Blick jedoch nicht von der Baumhöhle ab.
Das Wesen, über das alle redeten, blickte mit großen goldenen Augen zurück. Sein Fell war so dunkel, dass es mit den Schatten verschmolz und man nicht viel von ihm erkennen konnte. Nur ein weißer Fleck über seinen Augen war sichtbar.
Umgekehrt erkannte auch das kleine Kerlchen nicht viel mehr als Umrisse vor seiner Höhle. Es verstand die fremdartigen Laute nicht, die an seine Ohren drangen. Es fragte sich nur, wann endlich seine Mama kommen würde, weil es Hunger hatte. Sorgen machte es sich nicht. In seinem kurzen Leben war ihm noch nie ein Leid geschehen, also wusste es nicht, dass es so etwas überhaupt geben konnte.
„Ich sag’s, wie’s is“, brummte der Bär schließlich. „Ich glaub, es is gefährlich. ’s hat so was Grausames. Wahrscheinlich isses eine Art Igel.“ Er hatte unangenehme Erfahrungen mit Igeln gemacht, als er klein war.
„Unverschämtheit!“, brüllte der Igel. „Es hat Locken, keine Stacheln! Wahrscheinlich ist es ein Hase.“
„Mit den kleinen Stummelohren?“, protestierte der Hase. „Aus meiner Familie stammt der nicht. Er hat ja nicht mal vorstehende Zähne.“
„Leute!“, rief der Fuchs versöhnlich. „Wozu streiten, hm? Warum kosten wir nich’ ’n kleinen Happen? Dann wissen wir, wonach’s schmeckt.“
Da keines der Tiere eine bessere Idee hatte, widersprach ihm niemand. Zufrieden machte der Fuchs einen Schritt auf den Baumstamm zu, da –
„Wag es nicht, Ignatius!“
Ein tiefes, kehliges Brummen, fast ein Schnurren, drang zwischen den Bäumen hindurch. Es war nicht laut und doch hielten alle Tiere inne und wandten sich um. Eine große graue Wölfin betrat auf leisen Pfoten die Lichtung. Ihre Augen leuchteten grün in der Dämmerung.
„Was geht hier vor?“, fragte sie. „Eine Versammlung? Ohne uns?“
„Hau’n wir jetzt ab, Papa?“, fragte das Rehkitz. „Die will uns bestimmt fressen.“
„Psst!“, machte sein Vater.
Hinter der Wölfin tapsten drei Welpen über umgefallene Baumstämme. Hin und wieder sprang einer von ihnen los und versuchte, einen Lichtklecks auf einem Farn oder einen gleißenden Tautropfen auf einem Blatt zu fangen. Die Nasen der Kleinen zuckten wie tanzende Käfer. So jung die Welpen auch waren, kannten sie bereits Düfte, zu denen ihnen noch die Namen fehlten. Diesen Duft jedoch hatten sie noch nie geschnuppert. Er roch gar nicht nach Wald, sondern weich und warm und wollig. Und er entströmte dem hohlen Baumstamm.
Die jungen Wölfe hatten längst noch nicht all ihre Zähne, aber was in ihrer Welt das Wichtigste war, wussten sie schon.
„Ham-ham?“, erkundigte sich der größte Welpe und das einzige Mädchen im Wurf.
„Nicht jetzt, Feder. Frühstück gibt es, wenn wir zu Hause sind“, sagte ihre Mutter. Ihr Blick haftete starr auf Ignatius, dem Fuchs. Ignatius seufzte.
„Also, was geht hier vor?“, fragte die Wölfin.
„So nah dran“, murmelte der Fuchs verärgert und fügte lauter hinzu: „Du hast uns gar nichts zu sagen, Rhea! Blas dich bloß nich so auf. Du bist nich die Königin des Waldes, bloß so ’n oller Dwarsbüddel.“
Rhea holte nicht Anlauf, sie knurrte nicht, sie drohte nicht – sie sprang so plötzlich und so schnell los, dass es schien, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Als sie wieder zu sehen war, hatte sie Ignatius an der Kehle gepackt und drückte seinen Kopf zu Boden. Ihre Welpen knurrten zur Verstärkung. Der Fuchs zappelte hilflos.
„Schon gut, alles klar, alles klar“, würgte er hastig hervor. „Ich versteh’ jetzt, was du meinst. Faires Argument, wirklich, wahnsinnig schlagfertig. Du kannst loslassen. Wir sind doch Freunde, ne? Sei ein guter Wolf und lass meinen Hals los, okay?“
Rheas Blick wanderte zu den anderen, die sich auf der Lichtung versammelt hatten. Sie schnüffelte und wandte ihre Aufmerksamkeit der Baumhöhle zu.
„Du willst wiss’n, was hier vorgeht, Rhea?“, fragte Ignatius. „Das da geht vor. Oder besser: Es geht nicht. Es hockt nur da und …“ Er schloss die Augen und sog genießerisch die Luft ein, „… riecht lecker. Es wurde in den Wald gebracht.“
„Gebracht?“, fragte die Wölfin überrascht und ließ Ignatius los, ohne ihn weiter zu beachten. Ignatius drehte seinen Kopf prüfend hin und her. Rhea senkte schnuppernd die Nase über den Boden und näherte sich der Baumhöhle. Dicht vor dem Baumstamm riss sie den Kopf hoch, ihre Nackenhaare sträubten sich und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Mensch!“, stieß sie hervor.
Die anderen Tiere murmelten erschrocken. Die Vögel flogen auf und das Wild wich zurück.
„Du … du meinst, das da drin ist ein Mensch?“, fragte der Fuchs verblüfft. Er klang etwas heiser und würgte unauffällig.
„Natürlich nicht“, erwiderte Rhea. „Aber ein Mensch war hier. Was das da ist …“ Sie stand jetzt direkt vor dem Baumstamm und steckte ihre Nase beinahe in die Höhle. „Das kann ich nicht sagen.“
„Na bestens!“, rief Ignatius. „Dann sin’ wir uns ja alle einig, ne? Kann ich es jetzt endlich kosten?“
„Ham-ham?“, fragte Feder an der Schulter ihrer Mutter.
„Määhääää!“, brüllte die Kreatur im Baumstamm.
Erschrocken sprang Feder zurück. Selbst der Fuchs duckte sich hinter eine Wurzel. Nur Rhea rührte sich nicht. Eine Rudelführerin erschrickt nicht.
Wäre sie nicht stehen geblieben, vermutlich wäre alles anders gekommen. So aber reckte sich ein schwarzer Lockenkopf aus der Baumhöhle. Ein Maul öffnete sich und eine rosa Zunge leckte über Rheas Nase.
Die anderen Tiere hielten den Atem an.
„Dunnerlittchen! Da beiß mich doch ’n Uhu“, hauchte Ignatius.
„Huuhuu“, macht der Uhu zerstreut.
Rhea blickte das kleine Tierchen mit dem wolligen schwarzen Fell erstaunt an. Sie legte den Kopf zur Seite und stupste es mit der Nasenspitze an. Erneut leckte das Kleine über ihre Schnauze. Rhea gluckste. Ohne sich umzudrehen, sagte sie erfreut: „Das war der Wolfsgruß. Er ist ganz klar einer von uns.“
Wie ein Sturm brauste es durch die Reihen der anderen, als alle gleichzeitig riefen, sprangen, flatterten oder zuckten. Unbeeindruckt sah Rhea dem kleinen wolligen Wesen tief in die goldenen Augen und es blickte zurück. Ohne jede Furcht kam es aus der Höhle und schmiegte sich an sie, genauso wie es ihre Welpen taten. Die Wölfin hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie wandte sich um.
„Er ist ein Wolf. Ich erhebe Anspruch auf ihn!“, rief sie.
„Huuhuu! Niemals!“, brüllte der Uhu. „Ich hab ihn zuuhuuerst gesehen.“
„Abgefahren!“, rief die Fledermaus, die mit dem Kopf nach unten an einem Ast baumelte. Aber keiner konnte sie hören und sie schlief wieder ein.
„So was kannst du net mach’n“, ereiferte sich auch der Bär. „Das is eine Sauerei! Der gehört net hierher. Entweder wir fressen ihn jetzt oder wir fressen ihn jetzt.“
„So isses“, stimmte der Fuchs zu.
„Mir gefällt das auch nicht“, meldete sich der Rehbock zu Wort. „Du weißt, dass ich ihn nicht fressen will, Rhea. Aber ein Mensch hat ihn gebracht. Was von den Menschen kommt, ist nie gut. Sie haben Stöcke, die wehtun, auch wenn sie keiner wirft. Wer weiß, was dieses Wesen tut? Ich muss meinen Sohn beschützen.“
Das Rehkitz lugte hinter seinem Vater hervor. Der Kleine stand zwar etwas wackelig auf den Beinen, aber ängstlich wirkte er nicht. Zwar hatten ihn seine Eltern gelehrt, dass er sich von Wölfen fernhalten sollte, doch gerade die fand das Rehkitz besonders interessant.
Die Welpen beschnüffelten das schwarze Wesen ausgiebig, das sie zum Dank ebenfalls ableckte. Als sie spürten, dass die anderen Tiere ihrer Mutter feindlich gesinnt waren, fletschten sie die Zähne und fingen an, leise zu knurren. Das wollige kleine Wesen sah verdutzt dabei zu.
„Ich erhebe Anspruch auf ihn im Namen des Rudels.“ Rhea ließ den Blick schweifen. „Wer meinen Anspruch nicht anerkennt, der soll vortreten … und mit dem Leben einstehen.“
Die Frühlingssonne stand jetzt so hoch, dass ihre Strahlen durch das Blätter- und Nadeldach fielen. Sie malten verträumte Muster auf Laub, Moos und Rinden. Eine leichte Brise spielte mit den Zweigen und ein liebliches Rauschen erfüllte die Luft. Doch kein Vogel sang. Kein Käfer raschelte. Kein Tier wagte es, ein Geräusch zu machen. Selbst der vorlaute Kuckuck schwieg, obwohl er sonst immer alles besser wusste.
„Gut“, sagte Rhea schließlich. „Er ist ein Wolf. Und sein Name ist –“
„Ham?“, fragte Feder hoffnungsvoll.
Rhea sah ihre Tochter zärtlich an. „Ham“, bestätigte sie.
Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und warfen ihr Licht auf den neuen Wolf, der gar nicht aussah wie ein Wolf. Über ihm löste sich ein glitzernder Tautropfen von einer Blattspitze und fiel auf seine Nase. Als wollte der Wald seinen neuen Bewohner taufen. Ham, den Wolf.
Kein scheues Reh
„Mama!“, rief Ham aufgeregt. „Mama! Dem Stein wächst ein weißes Fell!“
„Das ist kein Fell, Blödi“, rief Feder, obwohl es auch ihr erster Winter war. „Das ist Schnee. Der fällt vom Himmel, wenn es Winter ist. Mama, Ham glaubt, der Schnee ist ein Fell!“
Rhea seufzte. Sie hatte die ganze Nacht für ihre vier Welpen gejagt und wollte noch ein bisschen schlafen.
„Winter“, jubelte Ham und lief aus der Höhle. „Und Schneeeeee!“ Begeistert hüpfte er zwischen den federweichen Flocken herum und versuchte, sie mit der Zunge zu fangen. „Hey, die sind ja ganz kalt“, rief er überrascht. Inzwischen waren auch einige der funkelnden Kristalle in seinem Fell geschmolzen. „Und nass“, bemerkte Ham angewidert. „Bäh! Mama! Warum ist der Schnee nass?“
Rhea öffnete die Augen. Das war es wohl mit ihrem Schlaf. „Warum macht ihr nicht ein Wettrennen zum Fluss?“, schlug sie vor.
„Weil Feder immer gewinnt“, sagte Brise verdrossen.
„Und dann reibt sie’s einem tagelang unter die Nase“, fügte sein Bruder Wolke hinzu.
Feder gluckste vergnügt. „Auf die Plätze, fertig, looooos!“, rief sie und rannte davon.
„Das gilt nicht!“, heulte Wolke.
Schon liefen ihre drei Brüder hinter ihr her. Wie üblich dauerte es nicht lange, bis seine Geschwister Ham abgehängt hatten. Er gab auf, blieb stehen und holte keuchend Luft.
„Ja, da schau her!“, brummte eine tiefe Stimme hinter einem zugeschneiten Busch. „Wen hamma denn da? Das Wolferl mit den Locken!“
„Onkel Bär!“, rief Ham erfreut und lief zu ihm.
Der Bär kratzte sich gerade den Rücken an einem Baum. „Und? Wachsen dir irgendwo Stacheln?“, stellte der Bär ihm die übliche Frage.
„Nein, keine Stacheln“, gab Ham ihm die übliche Antwort.
Der Bär musterte ihn misstrauisch. „Und die zwei Dinger auf deinem Kopf?“
Tatsächlich wuchsen Ham zwei Zacken aus dem Kopf. Seine Mama sagte, es wären Eckzähne, die in die falsche Richtung wuchsen, und das sei schon in Ordnung.
„Das sind keine Stacheln, Onkel Bär“, versicherte ihm Ham. „Ehrenwort!“
„Hey!“, beschwerte sich das Eichhörnchen, dessen Nest ausgerechnet in dem Baum lag, an dem der Bär sich kratzte. „Wie lang geht ’n das noch, Meister? Wir kriegen hier oben langsam ’n Schleudertrauma!“
„’tschuldigung!“, rief der Bär und ließ sich auf alle viere fallen.
„Wie geht es dir, Onkel Bär?“, fragte Ham.
„Frostig“, brummte der Bär. Er sank so tief in den Schnee, dass Ham schon fürchtete, er könnte darunter verloren gehen. „Der Winter is’ zeitig dran dieses Jahr. Ich sollt’ längst schlafen. Stattdessen frier ich mir den pelzigen Hintern ab.“
„Aber – du hast ein noch dickeres Fell als ich, Onkel Bär.“
„Meine Nase friert, meine Ohren frieren und zu fressen gibt’s auch nix G’scheites“, behauptete der Bär. „Ich troll mich in meine Höhle, Ham. Wir sehen uns im Frühling wieder. Ich werd jetzt mal eine ganze Weile nix anderes machen, als traumhafte Träume träumen.“
„Wovon träumst du denn, Onkel Bär?“
„Von einer Welt ohne Schnee“, brummte der Bär.
„Gibt es eine Welt ohne Schnee?“
„Na sicher“, sagte der Bär. „Sonst könnt ich doch nicht davon träumen.“
„Die würde ich gern mal sehen“, sagte Ham.
„Und was hast du vor diesen Winter?“, fragte der Bär. „Ohne Blätter und Beeren wird das ganz schön hart für dich. Da drüben hab ich übrigens ein paar Kräuter gefunden.“ Er nickte zu einem Loch im Schnee. Begeistert machte Ham sich über die gefrorenen Leckerbissen her. Onkel Bär teilte immer Beeren, Kräuter und saftige Gräser mit ihm. Darum wusste Ham, dass er ihn mochte. Man teilte sein Fressen nicht mit Leuten, die man nicht leiden konnte.
„Du solltest auch lieber schlafen, Kleiner“, stellte der Bär fest.
„Schlafen Beeren auch im Winter?“, fragte Ham. Er mochte die Jahreszeit immer weniger.
„Allerdings. Und Blätter und Gräser auch.“
Ham überlegte kurz. „Für Wölfe gibt es immer Beute“, wiederholte er dann, was seine Mutter ihn gelehrt hatte.
„Wennst meinst …“, sagte der Bär zweifelnd. „Dann gehst du mit den anderen auf die Jagd?“
Das war ein wunder Punkt. Ham konnte die Jagd nicht ausstehen. Er war auch nicht gut darin. So viel war dabei zu bedenken. Man musste sich immer gegen den Wind anschleichen, damit die Beute einen nicht riechen konnte. Währenddessen durfte man sie nicht aus den Augen lassen, gleichzeitig aber musste man darauf achten, dass man nicht auf einen Ast trat oder auf trockene Blätter und dabei Lärm machte. Auf die Art hatte man sich so nahe wie möglich heranzuschleichen und dann zu warten. An das, was nach all dem Wittern, Anpirschen und Lauern kam, konnte Ham nicht einmal denken, ohne zu würgen: das Reißen.
Das konnte Ham nicht. Das hätte er nicht einmal gekonnt, wenn er gewollt hätte. Denn seine Zähne waren irgendwie falsch gewachsen. Hams Zähne waren nicht spitz wie Nadeln, sondern breit und stumpf wie die Steine unten am Fluss.
„Klar geh ich auf die Jagd , was denkst du denn“, prahlte Ham indessen laut. „Ich fresse sooo gern andere Waldbewohner … Hasen und … und Rehe und … so was. Hmmm, lecker!“
„Papperlapapp“, rief das Eichhörnchen, das gelauscht hatte. Es sprang auf einen Ast direkt über Ham. Dabei fiel ein kleiner Schneehaufen auf seinen Kopf. „Du frisst keinen, Wölfchen, das weiß ich ganz genau. Ich seh dich immer Gras futtern. Und dann verpetzt dich deine Schwester bei deiner Mutter. Du bist Vegetarier.“
„Es ist gemein, so was zu sagen!“, rief Ham erbost. „Ich könnte dich jederzeit fressen, wenn du nur nicht so schnell wärst.“
Das Eichhörnchen kicherte und auch der Bär gab ein merkwürdiges Grunzen von sich, das er hinter einem Rülpsen verstecken wollte.
„Gute Nacht allerseits“, sagte er. „Bis zum Frühling. Wehe, einer weckt mich!“
„Aber – aber ich könnte das Eichhörnchen fressen! Wirklich!“, rief Ham dem Bären hinterher. Er hüpfte ein paarmal auf und ab, um den Ast zu erreichen, auf dem das kleine Fellbüschel saß. „Halt doch mal still, dann beweis ich’s dir!“
Das Eichhörnchen kicherte wieder und sprang auf einen höheren Ast.
„Moin, lütter Wolf“, grüßte Ignatius. Ihn nannte Ham nicht Onkel. Der Fuchs war ihm nicht geheuer. Der sah ihn immer so seltsam an. „Wohin des Wegs?“
„Guten Tag“, gab Ham zurück. „Ich wollte gerade das Eichhörnchen fressen.“
Der Fuchs sah ihn lauernd an. „Dann bist du auf der Jagd, kleiner Wolf?“
„Äh … ja, Herr Fuchs.“
Ignatius schnaubte verächtlich. Er kam ein paar Schritte näher und schnupperte. „Ich bin sicher, du hast Glück. ’s riecht nach Beute.“
Dabei sah er Ham so durchdringend an, dass der sich am liebsten im Schnee vergraben hätte. Oft sagte der Fuchs Dinge, die Ham nicht verstand. Oder er sagte etwas Harmloses, doch dadurch, wie er es sagte, klang es bedrohlich.
„Ähm, danke“, sagte Ham.
Der Fuchs lief weiter.