Pflege fallorientiert lernen und lehren

Herausgegeben von Karin Reiber, Juliane Dieterich, Martina Hasseler und Ulrike Höhmann

Die geplanten Bände im Überblick

•  Ambulante Pflege

•  Ambulante und stationäre Palliativpflege

•  Chirurgie

•  Fallbasierte Unterrichtsgestaltung – Grundlagen und Konzepte

•  Geriatrie

•  Gynäkologie und Geburtshilfe

•  Innere Medizin

•  Pädiatrie

•  Psychiatrie

•  Rehabilitation

•  Stationäre Langzeitpflege

Stephanie Schmiedgen

Bettina Nitzschke

Hilde Schädle-Deininger

Susanne Schoppmann

Psychiatrie

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

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Piktogramme

 

Definition
Falldarstellung
Ein Routinefall
Ein Fall mit Schwierigkeiten
Ein komplizierter Fall

 

 

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023017-0

E-Book-Formate:

pdf:       978-3-17-025051-2

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Inhalt

 

 

  1. Geleitwort
  2. I   Basics
  3. 1   Allgemeine Einführung
  4.  1.1   Pflegerisches Gesundheits- und Krankheitsverständnis
  5.  1.2   Psychiatrische Versorgungsstrukturen
  6.  1.3   Ein kurzer Blick in die Geschichte
  7.  1.4   Zentrale Leitlinien für die Versorgung psychisch erkrankter Menschen
  8.  1.5   Grundverständnis und allgemeine Aufgaben der psychiatrischen Pflege
  9.  1.6   Literaturempfehlungen
  10. II   Fälle
  11. 2   Menschen, die unter Depression leiden – Gefangen in mir?
  12.  2.1   Fallbeispiel Herr Novak
  13.  2.2   Die Erkrankung: Begriffe, Ursachen, Verlauf und Diagnostik
  14.  2.3   Umgang mit den Betroffenen und eigene Grundhaltung
  15.  2.4   Mögliche Behandlungsverfahren
  16.  2.5   Pflegediagnosen
  17.  2.6   Die unterschiedlichen Rollen der Pflegenden
  18.  2.7   Literaturempfehlungen
  19. 3   Menschen, die unter Angststörungen leiden – Ist Angst gleich Angst?
  20.  3.1   Fallbeispiel Frau Lutz
  21.  3.2   Überblick über die verschiedenen Angststörungen
  22.  3.3   Pflegephänomene
  23.  3.4   Stufen der Angst
  24.  3.5   Ursache und Psychodynamik
  25.  3.6   Umgang mit Betroffenen
  26.  3.7   Verbreitung, Verlauf und Prognose, Diagnostik und Komorbidität
  27.  3.8   Medikamentöse Therapie bei Angststörungen
  28.  3.9   Pflegerische Schwerpunkte
  29.  3.10   Die unterschiedlichen Rollen der Pflegenden
  30.  3.11   Literaturempfehlungen
  31. 4   Menschen, die unter einer Alkoholabhängigkeit leiden – Wer beherrscht wen?
  32.  4.1   Fallbeispiel Herr Schramm
  33.  4.2   Die Erkrankung: Begriffe, Ursachen, Verlauf und Diagnostik
  34.  4.3   Haltung gegenüber den Betroffenen
  35.  4.4   Selbsthilfegruppen und Umfeld
  36.  4.5   Die unterschiedlichen Rollen der Pflegenden
  37.  4.6   Literaturempfehlungen
  38. 5   Menschen, die unter Demenz leiden – Wieviel Unsinn macht Sinn?
  39.  5.1   Fallbeispiel Frau Bux
  40.  5.2   Die Erkrankung: Formen, Ursachen, Verlauf und Diagnostik
  41.  5.3   Beobachtung, Pflegeinterventionen und Umgang mit Betroffenen
  42.  5.4   Aspekte der Therapie
  43.  5.5   Die unterschiedlichen Rollen der Pflegenden
  44.  5.6   Literaturempfehlungen
  45. 6   Menschen, die unter einer Schizophrenie leiden – Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
  46.  6.1   Fallbeispiel Herr Holler
  47.  6.2   Die Erkrankung: Formen, Ursachen, Verlauf und Diagnostik
  48.  6.3   Behandlungsmöglichkeiten
  49.  6.4   Umgang mit Betroffenen
  50.  6.5   Die unterschiedlichen Rollen der Pflegenden
  51.  6.6   Literaturempfehlungen
  52. 7   Menschen mit einer emotional instabilen Persönlichkeit vom Borderline-Typus – Wege aus dem Chaos?
  53.  7.1   Fallbeispiel Frau Ross
  54.  7.2   Die Erkrankung: Verbreitung, Ursachen, Verlauf und Diagnostik
  55.  7.3   Behandlung und Therapie
  56.  7.4   Die unterschiedlichen Rollen der Pflegenden
  57.  7.5   Literaturempfehlungen
  58. Literatur
  59. Stichwortverzeichnis

Geleitwort

 

 

 

Die Ausübung des Pflegeberufs wird immer anspruchsvoller: Professionelles Pflegehandeln umfasst verantwortungsvolles Planen, Gestalten und Auswerten von Pflegesituationen. Die Settings, in denen diese berufliche Tätigkeit ausgeübt wird, haben sich zunehmend ausdifferenziert und die Aufgaben werden immer komplexer. Damit sind auch ganz neue Herausforderungen an die Pflegeausbildung gestellt. »Psychiatrie« ist ein Band der Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren«, einem Kompendium für die Pflegeausbildung, das sowohl die verschiedenen Versorgungsbereiche, in denen Pflegekräfte tätig werden, als auch die unterschiedlichen Lebensalter und -situationen der Pflegeempfänger abbildet.

Die elf Bände der Reihe spiegeln die wesentlichen Institutionen wider, in denen pflegerische Versorgung stattfindet. Alle Bände folgen der gleichen Struktur und demselben Aufbau. In einem Einleitungsteil wird in die Besonderheiten des jeweiligen Settings eingeführt. Pflegewissenschaftliche Expertenstandards und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei ebenso berücksichtigt wie die Ausbildungsziele der Prüfungsordnungen. Die Präsentation der Inhalte erfolgt in Form von Musterfällen; dabei werden die unterschiedlichen Aspekte pflegeberuflichen Handelns aufzeigt und fallbezogene Besonderheiten und Schwerpunkte professioneller Pflege exemplarisch illustriert. Die fallorientierte Aufbereitung von Lerngegenständen greift den berufspädagogischen Trend der Kompetenz- und Handlungsorientierung auf und setzt ihn fachdidaktisch um.

Der hier vorliegende Band gibt einen sehr guten Einblick in die facettenreichen pflegerischen Aufgaben innerhalb des Versorgungsgebiets der Psychiatrie. In diesem pflegerischen Bereich sind die Handlungs- und Kompetenzanforderungen an die Pflegefachkräfte anders gelagert und gewichtet als in vielen anderen professionellen Handlungsfeldern der Pflege.

Dieser Band gewährt anschauliche Einblicke in diese Besonderheiten anhand einschlägiger Fallbeispiele und bietet exemplarische Lösungen an. Dieses Lehr- und Lernbuch ermöglicht dadurch die Entwicklung spezifischer Fachkompetenz professioneller Pflege.

Dieser Band sowie die gesamte Reihe wenden sich an Lernende und Lehrende in den Pflegeausbildungen an Schulen, Hochschulen oder Praxisstätten sowie an Studierende der Pflegepädagogik. Neue Formen der Pflegeausbildung – wie z. B. primärqualifizierende Pflegestudiengänge – hatten die Herausgeberinnen bei der Konzeption der Reihe und der Betreuung der Bände sowie die Autorinnen und Autoren der einzelnen Bände ganz besonders im Blick.

Karin Reiber

Juliane Dieterich

Martina Hasseler

Ulrike Höhmann

 

 

 

 

 

I   Basics

1       Allgemeine Einführung

 

 

 

In dieser Einleitung werden wichtige Teilaspekte zur Psychiatrie und psychiatrischen Pflege beschrieben. Sie dienen dazu, die Komplexität pflegerischen Handelns in diesem Fachgebiet zu verdeutlichen und eine Grundlage zu schaffen. Das psychiatrisch-psychosoziale Handlungsfeld kann während der Ausbildung nur punktuell kennengelernt werden, ebenso wie die sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen psychischer Störungen, Erkrankungen und Verlaufsformen. Deshalb ist es umso wichtiger, sich darauf einzulassen und neugierig zu sein und dann, wenn es als längerfristiges Arbeitsfeld gewählt wird, dieses Wissen zu vertiefen.

Die Aufgaben professioneller Pflege im Fachgebiet der Psychiatrie sind sehr vielfältig und umfassend, da sie in den gesamten Versorgungsbereich, sowohl stationär und teilstationär als auch ambulant und komplementär, eingebunden sind. Die Disziplin Psychiatrie befasst sich mit der Vorsorge, der Diagnostik, der Therapie, der Rehabilitation und Nachsorge von mentalen, emotionalen und verhaltensbezogenen Erkrankungen in ihrer Gesamtheit. Das heißt, dass sich dieses Arbeitsgebiet mit dem Denken, Fühlen und Wollen eines von einer psychischen Erkrankung betroffenen Menschen beschäftigt und auseinandersetzt.

Begriffsklärungen

Ein paar wenige Begriffsklärungen: Die Psychotherapie und die Psychiatrie sind eng miteinander verknüpft. Psychotherapeutische Ansätze sind in allen Bereichen der psychosozialen Versorgung zu finden. Es handelt sich um Therapieverfahren, die auf psychoanalytischen Grundlagen beruhen und unterschiedliche Ansätze haben: tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische und humanistische. Die Psychoanalyse, von Breuer und Freud gegründet, beruht auf dem Konzept des dynamischen Unbewussten. Die Psychologie befasst sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen. Ein Teilgebiet ist die klinische Psychologie, die sich mit der Persönlichkeitsdiagnostik, psychologischer Beratung (auch in Krisensituationen) und der Behandlung von psychischen Erkrankungen befasst. Die Sozialpsychiatrie hat die gesellschaftlichen und familiären Entstehungsbedingungen und Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Erkrankungen im Blick, verbunden mit einer entsprechenden Grundhaltung, beispielsweise die zwischenmenschlichen Beziehungen, Arbeits- und Wohnverhältnisse und die psychosoziale Versorgung. Systemische Denkmodelle versuchen kontinuierlich Interaktion menschlicher Prozesse und deren Verhältnis zur Außenwelt abzubilden und sind zeitweise, vor allem in den 1970er Jahren vorwiegend bei Paaren, Familien und Gruppen angewendet worden. Inzwischen wird diese Methode auch in der Einzeltherapie eingesetzt.

Die zahlreichen Aufgaben der Psychiatrie haben zu Spezialisierungen geführt. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein eigenes Teilgebiet und umfasst die Schnittstellen zwischen Psychiatrie, Kinder- und Jugendhilfe, Kinderheilkunde sowie Entwicklungspsychologie. Die Gerontopsychiatrie oder Alterspsychiatrie ist ein weiterer Schwerpunkt, der sich mit psychischen Störungen im Alter befasst, seien es Depressionen oder Psychosen, aber auch Demenzerkrankungen. Die Forensische Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Psychiatrie, welches die Behandlung, die Begutachtung und die Unterbringung von psychisch kranken Straftätern zur Aufgabe hat. Die Psychosomatik befasst sich mit den Krankheiten, die körperliche Veränderungen und Symptome hervorrufen bzw. körperlichen Erkrankungen, die seelisch mitbedingt sind. Hier wird in der Regel mit psychotherapeutischen Methoden behandelt.

1.1       Pflegerisches Gesundheits- und Krankheitsverständnis

 

»Psychiatrische Symptome zu entwickeln ist der Versuch des Betroffenen, sich vor einer unerträglich gewordenen Situation zu schützen. Damit haben Symptome die Funktion, den Patienten zu entlasten, ihn von Verantwortung freizusprechen, ihm Rückzug zu ermöglichen oder ihn tabuisierte Wünsche ausdrücken zu lassen. Art und Inhalt der Symptome haben folglich eine Bedeutung, die sich nur aus dem Lebenszusammenhang und der Persönlichkeit des Betroffenen heraus verstehen lassen« (Schädle-Deininger/Villinger 1996, S. 34).

Die Auseinandersetzung damit, was für den einzelnen Menschen, auch für professionelle Helfer1, psychisch krank oder psychisch gesund bedeutet, ist wesentliche Voraussetzung für die Betrachtungsweise und die damit verbundenen Hilfen in der alltäglichen Arbeit. Das pflegerische Handlungsmodell von psychischer Erkrankung geht davon aus, dass Gesundheitsprobleme den einzelnen Menschen daran hindern, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die vorhandenen Ressourcen, die jeder Mensch trotz einer Erkrankung zur Verfügung hat, werden genutzt, um ein größtmögliches Wohlbefinden zu erreichen. Anders ausgedrückt: Der pflegerische Blick richtet sich auf die Vulnerabilität (Verletzlichkeit, Dünnhäutigkeit), die damit verbundenen Risiken und die daraus resultierenden menschlichen Reaktionen; Pflege bedeutet hier, den Menschen mit Fürsorge zu begleiten und zu betreuen. Es ist sicher sinnvoll, wenn auch andere Krankheitsmodelle mit zum Tragen kommen, wie das soziale, medizinische, Kommunikationsmodell oder das zwischenmensch liche, aber auch das psychoanalytische oder Verhaltensmodell und pflegerische Modell.

Soziales Modell

Das soziale Modell stellt die sozialen Bedingungen in Familie und Umfeld in den Mittelpunkt. Ein Mensch, der unter Armut, familiärer Instabilität und dem Verlust bestimmter Fähigkeiten leidet, erwirbt weniger Möglichkeiten mit Stress fertig zu werden und sich an neue Lebensbedingungen anzupassen.

Medizinisches Modell

Das medizinische Modell beschreibt Krankheitssymptome, stellt eine Diagnose, sucht nach körperlichen Ursachen der Erkrankung, bekämpft sie oder ihre Symptome, z. B. mit medikamentöser Therapie, und strebt Heilung an.

Kommunikationsmodell

Das Kommunikationsmodell deutet Verhaltensweisen als geglückte oder missglückte Versuche des Einzelnen, einem anderen etwas mitzuteilen. Die Botschaften können verschlüsselt oder verzerrt sein, die Kommunikationswege indirekt. Wenn wir abweichendes Verhalten schwerpunktmäßig unter der Fragestellung betrachten, was der Patient uns mit welchen Mitteln mitteilen möchte, können wir das eigene Handeln direkt daraus ableiten, sofern wir seine Biografie und seine Zielvorstellungen kennen.

Zwischenmenschliches Modell

Das zwischenmenschliche Modell beschreibt abweichendes Verhalten als Ergebnis von mangelndem Selbstwertgefühl, das sich in der Sozialisation des Betroffenen nur ungenügend entwickelt hat. Der Betroffene leidet in allen sozialen Situationen, ob in einer Zweierkonstellation oder in einer Gruppe von Menschen, unter der Angst, zurückgewiesen zu werden, und ist in allen zwischenmenschlichen Kontakten unsicher.

Psychoanalytisches Modell

Das psychoanalytische Modell interpretiert Krankheitssymptome als ungeeignete Mittel des Patienten, eine aktuelle Konfliktsituation zu beherrschen. Der Betroffene braucht für die Aufrechterhaltung seiner Abwehrmechanismen so viel Energie, dass ihm zur erwachsenen Problemlösung zu wenig Kraft übrig bleibt.

Verhaltensmodell

Das Verhaltensmodell geht davon aus, dass jegliches Verhalten erlernt wird und deshalb wieder verlernt werden kann. Jedes Verhalten, ob erwünscht oder unerwünscht, wird durch positive und negative Verstärker zur Gewohnheit. Zum Beispiel wird abweichendes Verhalten vom Patienten aufrechterhalten, wenn dies die Angst reduziert. In diesem Zusammenhang gilt es gemeinsam herauszufinden, welche anderen Möglichkeiten der Patient hat, mit seiner Angst umzugehen.

Pflegerisches Modell

Das pflegerische Modell betrachtet in erster Linie, wie ein Mensch mit seinen Gesundheitsproblemen umgeht, welche Ressourcen er trotz Krankheit zur Verfügung hat und wie er sie einsetzen kann, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Je nach Störung können wir einen Patienten eher mithilfe des analytischen Modells verstehen, einen anderen vor den Hintergrund des sozialen und bei einem dritten wird unser Handeln vom pflegerischen Modell bestimmt. Das heißt wir arbeiten immer mit mehreren Modellen.

(Quelle: Schädle-Deininger/Villinger 1996, S. 27 f.)

Psychisch zu erkranken kann jeden von uns treffen, daher ist es wichtig, sich reflexiv der eigenen Anteile von »Depressiv-Sein«, »Überdreht-Sein«, »die Arbeit nicht mehr bewältigen«, »sich zurückzuziehen«, »den Lebensmut verlieren« oder »vermehrt das Bedürfnis zu haben, Alkohol zu trinken« bewusst zu sein.

Welche Hilfe würde ich annehmen, welche Widerstände würde ich haben und welcher Therapie würde ich zustimmen können?

Wenn wir dann zudem davon ausgehen, dass in jeder Krise, in jeder Erkrankung die Chance liegt, zu lernen, sich selbst besser zu verstehen, zu reifen, aber auch manchmal an den Anforderungen zu scheitern, dann wird uns deutlich, dass trotz allen beobachtbaren Krankheitszeichen jede psychische Erkrankung anders ist, von der persönlichen Entwicklung geprägt ist und deshalb jeder Weg aus der Erkrankung heraus oder mit ihr zu leben, individuell erlebt und gestaltet werden muss.

Abb. 1.1: Der Baum der seelischen Gesundheit (nach Perko/Kreigh 1988, in Schädle-Deininger/Villinger 1996, S. 36 f., Übersetzung Ulrike Villinger)

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Übergänge von psychischer Gesundheit und psychischer Erkrankung fließend und nicht so deutlich zu benennen oder zu erkennen sind. Eine Annäherung kann das Baummodell der seelischen Gesundheit und das Baummodell der seelischen Krankheit aus Perko/Kreigh (1988, in Schädle-Deininger/Villinger 1996, S. 36 f., Textübersetzung U. Villinger, Abb. 1.1 und 1.2) liefern. Diese Modelle stellen Gegenpole dar, wie sie in der Wirklichkeit so eindeutig in der Regel nicht vorkommen, jedoch die Verwobenheit und Komplexität demonstrieren.

Abb. 1.2: Der Baum der seelischen Krankheit (nach Perko/Kreigh 1988, in Schädle-Deininger/Villinger 1996, S. 36 f., Übersetzung Ulrike Villinger)

Psychische oder seelische Erkrankung bezeichnet veränderte oder krankhafte Störungen in der Erlebnisverarbeitung, in der Wahrnehmung, im Verhalten, in den sozialen Beziehungen oder auch in veränderten seelisch bedingten Körperfunktionen. Diese Störungen sind durch den Betroffenen selbst nicht mehr zu steuern oder zu beeinflussen, die bisherigen Mechanismen der Bewältigung greifen nicht mehr.

Es wird heute davon ausgegangen, dass psychische Erkrankungen multifaktoriell bedingt sind. Je nach wissenschaftlicher Richtung wird das eine oder andere mehr betont werden. Es ist jedoch unstrittig, dass mehrere Faktoren zusammentreffen müssen.

Allgemeine beobachtbare Störungen, die bei den meisten psychischen Erkrankungen in unterschiedlicher Intensität auftreten, sind:

•  Ich-Schwäche oder schwach ausgeprägte Identität, die dazu führt, dass der betroffene Mensch unter dem Widerspruch seiner ambivalenten Gefühle leidet und zerrieben wird.

•  Gestörte Beziehungsfähigkeit bedeutet, dass bei vielen psychisch erkrankten Menschen die Fähigkeit, Kontakt zu Mitmenschen aufzunehmen und Beziehungen tragfähig fortzuführen, nicht gegeben ist.

•  Mangelnde Konfliktfähigkeit bedeutet, dass notwendige Handlungsstrategien, um Konflikte zu lösen, fehlen, dadurch werden Konflikte oft angehäuft.

•  Gering ausgeprägte Frustrationstoleranz bedeutet im Zusammenhang mit psychischer Erkrankung, dass, wenn Wünsche nicht erfüllt werden, der Betroffene sich abgelehnt fühlt, sich zurückzieht oder sich selbstschädigend verhält.

•  Mangelnde soziale Kompetenz: eingeschränkte bis »verloren gegangene« Fähigkeiten in den Alltagsfertigkeiten und alltäglichen Abläufen und Anforderungen schränken die Mobilität ein und reduzieren die sozialen Kontakte.

•  Die Stressreaktion ist bei psychisch erkrankten Menschen ausgeprägt, und führt zu empfindlichen Reaktionen, es fehlt häufig die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Erschöpfung tritt schneller ein und hält länger an.

Die Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese ( Abb. 1.3) zeigt auf, dass bei allen psychischen Erkrankungen eine besondere Verletzlichkeit oder Dünnhäutigkeit zugrunde gelegt werden kann. Wenn dann zu dieser Verletzlichkeit noch Stressfaktoren hinzukommen, kann eine psychische Erkrankung entstehen, wenn nicht genügend Schutzfaktoren bzw. Ressourcen

Abb. 1.3: Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Krug 2008)

zur Abwehr zur Verfügung stehen. Stressfaktoren sind z. B. kritische Lebensereignisse, biologische, psychologische oder soziale Stressoren. Dies zeigt sich in der übergroßen Offenheit für Außenreize und erschwerter Konzentration sowie dem Einfluss auf den Krankheitsverlauf.

1.2       Psychiatrische Versorgungsstrukturen

 

Die Grundlagen zur Reform der psychiatrischen Versorgung wurden durch die vom Bundestag einberufene Enquête-Kommission gelegt. Sie stellten in ihren Ausführungen die unwürdigen Zustände in der deutschen Psychiatrie fest und zeigten Wege auf, Veränderungen herbeizuführen. Der Bericht der Enquête-Kommission zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland von 1975 legt zur Weiterentwicklung psychiatrischer Versorgung folgende Ziele fest:

•  Gemeindenahe Versorgung

•  Bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten

•  Koordination aller Versorgungsdienste

•  Gleichstellung von psychisch mit somatisch Kranken

Eine Gemeindepsychiatrie muss folgende Merkmale aufweisen:

•  Die Versorgung muss vollständig sein.

•  Die Versorgung muss den vielfältigen Bedürfnissen der Klientel Rechnung tragen.

•  Die einzelnen Versorgungselemente müssen verbunden sein und für die Klienten eine hohe Durchlässigkeit haben.

•  Die komplexe Organisationsform der Versorgung braucht Übersichtlichkeit und Transparenz.

•  Betreuungsqualität und deren Überprüfung.

Die Expertenkommission der Bundesregierung schließt sich in ihrer Auswertung des Modellprogramms Psychiatrie 1988 diesen Zielen an und orientiert sich an der Grundlage des WHO-Konzepts, Einstufung nach Störungen, der Klassifikation des ICIDH (International Classification of Impairment, Disability and Handicap – WHO 2001). Diese Einteilung orientiert sich an dem Erscheinungsbild der zugrunde liegenden Erkrankung (z. B. Störung der Wahrnehmung, des Antriebs, der Affektivität, der Konzentration oder Merkfähigkeit). Die funktionale Einschränkung beschreibt die Folge der Erkrankung auf der personalen und Verhaltensebene (z. B. berufliche Anforderung, Alltagsbewältigung oder soziale Rollenerfüllung). Die soziale Beeinträchtigung ist eine potenzielle Konsequenz aus den beiden vorab genannten Schädigungen (z. B. Verlust von Beziehungspersonen, Diskriminierung, Stigmatisierung, Verlust von Arbeitsplatz und/oder Wohnung oder auch soziale Isolation).

Die einzelnen Ebenen sind sicher nicht scharf zu trennen, zeigen jedoch die Krankheitsfolgen auf und ermöglichen so eine differenzierte Betrachtungsweise der einzelnen Probleme, um entsprechend flexibel die Hilfsangebote zu gestalten.

Dies bedeutet jedoch auch, dass nicht jede Beeinträchtigung einen hohen Hilfebedarf erfordert, wenn die Ausrichtung an der Förderung der vorhandenen Fähigkeiten erfolgt und sich problemlösungsorientiert gestaltet. Dazu ist eine kontinuierliche, realitätsbezogene Begleitung und Betreuung notwendig, die vom persönlichen Engagement, hoher Fachlichkeit und Verantwortung getragen ist.

(Die Fassung seit 2005 ist »International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)« – »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, die aktuelle Fassung ist kostenlos einzusehen: http://www.dimdi.de.)

Um dies alles zu gewährleisten, ist ein umfassendes Hilfesystem erforderlich, das sowohl den stationären, teilstationären als auch den ambulanten und komplementären Bereich umfasst.

Abb. 1.4: Die Säulen gemeindepsychiatrischer Grundversorgung

Die psychiatrisch-psychosoziale Versorgung von psychisch erkrankten Menschen, vor allem von längerfristig erkrankten, muss sich an den Bedürfnissen der einzelnen betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen orientieren. Die Versorgungsangebote müssen den vielfältigen Bedürfnissen des Klientels Rechnung tragen und eine große Flexibilität mit zahlreichen anpassungsfähigen Unterstützungsmöglichkeiten aufweisen. Ziel muss die Integration, Inklusion und Teilhabe psychisch erkrankter und behinderter Menschen am öffentlichen und privaten Leben sein.

Transparenz und Übersichtlichkeit bedeuten in diesem Zusammenhang, dass die Organisationsformen sich patienten-/klientenorientiert gestalten, die Hilfen leicht zugänglich sind und der einzelne psychisch erkrankte Mensch gleichberechtigt einbezogen ist. Psychiatrische Versorgung muss sich an den chronisch psychisch Erkrankten messen lassen, damit die Hilfen die notwendige Flexibilität und Fachlichkeit aufweisen.

Kommunale oder gemeindenahe Psychiatrie als Merkmal in der Versorgung, Betreuung und Begleitung von psychisch erkrankten Menschen ist die zentrale Voraussetzung dafür, Erkrankungen dort zu behandeln, wo sie entstehen. Dazu gehört auch, dass die Hilfsangebote vernetzt sind und die anbietenden Dienste eng kooperieren und zusammenarbeiten. Das bedeutet, dass die psychiatrische Versorgung auf einen Einzugsbereich festgelegt ist und eine Versorgungsverpflichtung für die Bewohner dieser Region besteht. In gut entwickelten Versorgungsgebieten erstreckt sich die Versorgungsverpflichtung auf auch den komplementären und ambulanten Sektor. Grundsätzliche Überlegungen sind der nachfolgenden Tabelle 1.1 zu entnehmen.

Merkmal Auswirkung Bemerkung

Tab. 1.1: Kriterien und Grundsätze einer Gemeindepsychiatrie (Schädle-Deininger 2006, S. 196 f.)

Psychiatrische Pflege und psychosoziale Versorgung stehen in engem Zusammenhang mit gesundheits- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die pflegerischen Mitarbeiter haben vor diesem Hintergrund vielfältige Aufgaben. Das wirkt sich sowohl im professionellen als auch im staatsbürgerlichen Verantwortungsbereich aus. Das bedeutet, dass psychiatrisch-pflegerisches Fachwissen nicht nur am jeweiligen Arbeitsplatz, sondern auch in den entsprechenden Gremien, Arbeitsgruppen und Verbänden eingebracht wird.

Im stationären Bereich gibt es unterschiedliche Konzepte und inhaltliche Angebote, die von verschiedenen theoretischen Ansätzen geprägt sind. Es gibt Kliniken, die grundsätzlich offen geführt werden und entsprechende bauliche, strukturelle und konzeptionelle Bedingungen zugrunde legen oder psychiatrische Krankenhäuser, die offene und geschlossene Stationen vorhalten oder Stationen, die alle Krankheitsbilder behandeln und solche, die störungsspezifisch ausgerichtet sind.

Die Rahmenbedingungen und Arbeitsstruktur hängen vom jeweiligen Konzept der stationären Einheit ab, beispielsweise ob eher Einzel- oder Gruppenarbeit angeboten wird, wie sich die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen (u. a. Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Ergo-, Physio- oder Musiktherapeuten oder auch Hauswirtschaft) gestaltet.

1.3       Ein kurzer Blick in die Geschichte

 

Wenn jemand in der Psychiatrie arbeitet und sei es auch nur für einen Einsatz, muss er sich in einem gewissen Maß mit der Historie der psychiatrischen Pflege und der Psychiatrie auseinandersetzen.

Die Geschichte der psychiatrischen Pflege weist im Unterschied zur somatischen Pflege einige Besonderheiten auf. Im 18. Jahrhundert lebten die Wärter zusammen mit den Patienten in der »Irrenanstalt«, lange schliefen sie im selben Schlafsaal, nur das Oberwartpersonal hatte eigene Wohnungen in der Anstalt. Das Wartpersonal erhielt ein geringes Entgelt, hatte Kost und Logis frei. Wenn sie ausgehen oder gar heiraten wollten, benötigten sie die Erlaubnis des Anstaltsleiters, denn er war ihr direkter Vorgesetzter. Das Personal war genauso ausgegrenzt wie die untergebrachten Kranken. In den Anstalten arbeiteten zu diesem Zeitpunkt überwiegend Männer, nicht selten waren die Mitarbeiter Landarbeiter, Bauern oder auch entlassene Straffällige und Soldaten. Die Pflege Geisteskranker oder Irrer war weithin eine »verachtete« Tätigkeit. Doch die Anstaltsleiter bemerkten, dass zu wenig Qualifikation Probleme mit sich brachte. Die Jahresversammlung des Vereins Deutscher Irrenärzte nahm sich des desolaten Problems der Wärter an und forderte folgende Verbesserungen (Höll/Michel 1989):

•  Das Personal muss mehr Kenntnisse haben, um sich der besonderen Aufgabe der Geisteskranken zu stellen, vor allem auch, dass es möglichst lange im Dienst bleibt.

•  Die entsprechende Ausbildung soll von der jeweiligen Anstalt selbst durchgeführt werden, Direktor und Ärzte sollen die Krankenpflege unterrichten.

•  Die Zukunft des Personals soll durch entsprechende Einrichtungen sichergestellt werden.

•  Die notwendige Erholung und Schonung des Personals soll durch entsprechende Maßnahmen sichergestellt werden.

Das wohl dunkelste Kapitel der psychiatrischen Pflege und der Psychiatrie ist die Zeit des Nationalsozialismus. Das bis dahin benutzte »Lehrbuch: Leitfaden des Irrenpflegers« wurde ergänzt durch »Erbpflege und Rassenpflege«. Am 18. September 1938 wurde das »Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege« beschlossen, damit wurden für das gesamte deutsche Reich die Ausbildungsbedingungen der Krankenpflege vereinheitlicht und damit auch die Ausübung des Berufs. Die Gesetzesbegründung: »Nach nationalsozialistischer Weltanschauung ist die Erhaltung der Volksgesundheit eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Der nationalistische Staat hat daher dafür Sorge zu tragen, daß gut ausgebildete Pflegepersonen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen […]« (Reichsgesetzblatt, S. 1309, zitiert nach Schädle-Deininger/Villinger 1996, S. 21).

Unter dem Postulat von Humanität wurden in den Heil- und Pflegeanstalten psychisch kranke Menschen nicht mehr behandelt, weggeschlossen und verwahrt, sondern systematisch ermordet. Die Mitarbeiter waren meist von dem Gedanken überzeugt, dass der Einzelne und die Gesellschaft vom Leiden befreit werden können und dass Gesundheit, namentlich Volksgesundheit anzustreben sei. Hier zeigte sich – als Folge von hierarchischem Denken und niedrigem Bildungsniveau –, dass Pflegende es nicht gewohnt waren, selbstständig und eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, zu handeln und ärztliche Anordnungen zu hinterfragen. So konnten Pfleger und Schwestern zu Beginn der »Euthanasie«-Maßnahmen durchaus der Ansicht sein, dass die Anordnungen schon richtig seien, weil sie ja von »oben« kommen und durch den Arzt verantwortet werden. Nachweislich führte dies dann nach Hilde Steppe (2001) dazu, dass das Pflegepersonal bei der Ermordung vor allem in den folgenden Punkten beteiligt war:

•  Bei der Vorbereitung zum Abtransport, z. B. durch Auflistung der persönlichen Gegenstände, Kennzeichnen der Patienten, beim An- und Auskleiden der Patienten

•  Begleitung der Transporte zu den Zwischen- und Tötungsanstalt, z. B. durch Medikamentengabe oder Fesselungen während der Fahrt

•  Begleitung der Patienten in die Tötungsanstalten, z. B. Hilfe beim Entkleiden, Vorführung beim Arzt

•  Begleitung des Patienten bis zur Gaskammer, z. B. Entgegennahme der Anstaltskleidung und der persönlichen Dinge vor der Ermordung

Alle Maßnahmen, die im Rahmen der »Euthanasie« gegen Geisteskranke sowohl Erwachsene und Kinder als auch gegen behinderte Menschen erfolgten, entsprechen dem Tatbestand des Mordes und sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Diese wenigen Aspekte machen deutlich, wie sehr die Pflege gerade in der Betreuung von psychisch erkrankten Menschen von Weltanschauungen, Ideologien, gesellschaftlichen Auffassungen und dem herrschenden Gesundheits- und Krankheitsverständnis abhängig ist.

Um mit der Geschichte lernen zu können, gilt es wachsam zu bleiben gegen jegliche Ausgrenzung und Beurteilung von menschlichem Leid – gerade in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen, die häufig in Situationen und mit Einschränkungen leben, die wir uns nicht vorstellen können. Sätze wie »alle Therapien nutzen bei Herrn X. nichts« oder »das ist sowieso ein hoffnungsloser Fall, da ändert sich nie etwas« sollten vor diesem Hintergrund Alarm auslösen und Widerstand erzeugen!

Wenn aber die professionellen Helfer hoffnungslos sind und nicht mehr an mögliche Veränderungen glauben, überträgt sich das auf den Patienten und er kann erst recht nicht seine Blickrichtung wechseln.

Die Psychiatrie ist damals wie heute in Gefahr, sich für mehr zuständig zu fühlen, als verantwortet werden kann. Viele Belange oder Probleme sind von der Psychiatrie alleine nicht zu lösen, weil sie gesellschaftlicher, sozialer und/oder ökonomisch-wirtschaftlicher Natur sind, wie z. B. Arbeitslosigkeit, die psychisch erkrankte Menschen in erster Linie trifft, oder auch Armut und fehlende Solidarität.

1.4       Zentrale Leitlinien für die Versorgung psychisch erkrankter Menschen

 

Neben dem Gesundheits- und Krankheitsverständnis, den Versorgungsstrukturen und der Geschichte spielen in der psychiatrischen Pflege Überlegungen zu Vorurteilen, Stigmatisierung, Empowerment, einer trialogischen Haltung, Anwendung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und die multiprofessionelle Zusammenarbeit eine zentrale Rolle.

Vorurteile

Das Bild der Psychiatrie in der Öffentlichkeit: Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen sind verbreitet. Es herrscht im Allgemeinen häufig die Meinung, dass Menschen, die eine psychische Erkrankung haben, unberechenbar oder gar gewalttätig sind und dass in der Psychiatrie höchste Vorsicht geboten ist. Vorurteilen ist in der Regel schwer zu begegnen. Umso wichtiger ist es, dass professionelle Mitarbeiter in der Psychiatrie sich ihrer eigenen Vorurteile bewusst sind. Alltagssprachlich ist ein Vorurteil ein vorab wertendes Urteil, das eine Handlung leitet und in diesem Sinne endgültig ist. Häufig hat es mit einer wenig reflektierten inneren Haltung zu tun. Die fehlende verstandesmäßige Würdigung aller relevanten Eigenschaften eines Sachverhalts oder einer Person macht eine vorschnelle Beurteilung möglich. Anders als bei einem Urteil ist das wertende Vorurteil öfter Ausgangspunkt für motivgesteuertes Handeln. Mögliche Fragen für den pflegerischen Alltag im Hinblick auf eigene Vorurteile:

•  Welche Möglichkeiten habe ich unvoreingenommen einem schwierigen Menschen zu begegnen?

•  Wie distanziere ich mich von der Meinung anderer und bilde meine eigene Meinung?

•  Wer kann mir helfen oder mit wem kann ich reden, wenn ich Verhalten und Handlungen eines Menschen nicht verstehe?

Stigmatisierung

Viele Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige erleben täglich in kleinen Dingen, dass sie nicht ernst genommen, in eine Schublade gepackt, also stigmatisiert werden. Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung stellen für psychisch erkrankte Menschen die häufigste Kränkung und Verletzung dar, die sie in der Regel schlimmer empfinden als die Krankheit selbst. Das Stigma, psychisch krank zu sein, beein trächtigt wiederum die Lebensqualität des Erkrankten selbst, aber auch die seines Umfelds. Eine defizitorientierte Sichtweise sowie die häufig entsprechend geforderte Dokumentation zur Rechtfertigung der notwendigen stationären Behandlung verstärken die Orientierung am Negativen und somit die Stigmatisierung. Deshalb müssen professionelle Mitarbeiter in der psychiatrischen Versorgung »Anti-Stigma-Kompetenzen« haben oder entwickeln. Mögliche Ansätze für das pflegerische Handeln:

•  Haltung: umfasst eine sensible Wahrnehmung von Stigmatisierungsprozessen und Empathie für das Gegenüber, Eigenreflexion und Selbstakzeptanz, Respektieren der Einzigartigkeit des psychisch erkrankten Menschen und seiner Würde sowie Ressourcen- und Recoveryorientierung;

•  Wissen um psychische Erkrankungen und deren Auswirkung, auch im geschichtlichen Zusammenhang, Menschen- und Patientenrechte, Selbsthilfe und Krankheitsbewältigungsansätze;

•  Verhalten bedeutet einen achtsamen Umgang mit der Sprache, direktes Ansprechen von Diskriminierung, Stigmatisierung, Aufklärung über diese Prozesse, Empowermentorientierung, Zusammenarbeit im Trialog und konstruktive Konfliktbearbeitung.

1.4.1    Empowerment, Recovery, Resilienz und Partizipation

Hoffnung macht Mut trotz einer psychiatrischen Erkrankung.

Empowerment

Empowerment bedeutet Übertragung der Verantwortung, Ermächtigung. Damit werden Maßnahmen und Strategien bezeichnet, die den einzelnen Menschen dazu befähigen, sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu vertreten, sozusagen sich seiner Interessen zu bemächtigen, seine Fähigkeiten wahrzunehmen und zu nutzen. Diese Selbstkompetenz löst das Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins und wenig bis gar keinen Einfluss zu haben ab.

Recovery-Modell

Das Recovery-Modell ist die Basis für einen persönlichen Prozess der Gesundung. Im Kern geht es darum, die Genesungspotenziale von Menschen – gleich mit welchen psychischen Störungen – zu unterstützen. Hoffnung und förderliche zwischenmenschliche Beziehungen sowie soziale Integration, Problemlösungskompetenz, Selbstbestimmung und Lebenssinn sind die Inhalte der gemeinsamen Arbeit von Betroffenen, Helfern und sozialem Umfeld.

Resilienz

Resilienz beschreibt die Widerstandsfähigkeit, die Toleranz, die Menschen gegenüber Störungen haben. Resilienz kann als Fähigkeit verstanden werden, mit Veränderungen umzugehen, sich bei »Niederlagen« wieder aufzurichten, deshalb steht »Selbstregulation« eng im Zusammenhang mit Resilienz. »Resilire« bedeutet im Lateinischen abprallen oder zurückspringen. Somit hat Resilienz auch die Funktion, sich nach einer Krise wieder davon zu distanzieren und sich für kommende Schwierigkeiten zu wappnen.

Partizipation

Das Wort Partizipation kommt aus dem Lateinischen und wird übersetzt mit Mitwirkung, Mitbestimmung, Einbeziehung, Beteiligung, Teilhabe und Teilnahme. Partizipation im soziologischen Sinn meint, dass Individuen, Gruppen oder Organisationen in Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden werden, wobei es unterschiedliche Beteiligungsformen gibt. Hinsichtlich der psychiatrischen Versorgung bedeutet dies, dass Betroffene, aber auch ihre Angehörige an Behandlungs- und Entscheidungsprozessen entscheidend mitwirken.

Diese Ansätze führen dazu, dass zunächst einmal ressourcenorientiert gefragt und gedacht werden muss und die einzelnen Schritte mit dem psychisch erkrankten Menschen besprochen werden und eine Übereinkunft erzielt wird. Im pflegerischen Handeln können folgende Fragen hilfreich sein (Beispiele für ressourcenorientierte Fragen nach Knuf 2006, S. 25 f., eine Auswahl):

•  Wann haben Sie das Problem nicht?

•  Was ist der Unterschied zwischen Situationen, in denen das Problem existiert, und solchen, in denen es nicht vorkommt?

•  Was müsste geschehen, damit die Ausnahmen häufiger werden?

•  Woran würden Sie merken, dass es Ihnen besser geht?

•  Woran würde es Ihre Umgebung merken?

•  Was haben Sie schon alles getan, um Ihr Problem zu lösen?

Weiterführende Literatur:

 

Amering, M., Schmolke, M. (2012): Das Ende der Unheilbarkeit. Köln: Psychiatrie Verlag.

Knuf, A. (2006): Basiswissen: Empowerment in der psychiatrischen Arbeit. Köln: Psychiatrie Verlag.

1.4.2    Trialog

Der trialogische Ansatz ist eine Form der Beteiligungskultur und keine therapeutische Methode. Das bedeutet, dass Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und in der Psychiatrie Tätige voneinander lernen, aufeinander zugehen und sich somit besser in den anderen hineindenken können. Mit diesem Perspektivenwechsel soll auch die einseitige Definitionsmacht von fachlichen Experten zugunsten demokratischer Handlungsstrukturen aufgehoben und ein offener Diskurs ermöglicht werden. Das beinhaltet ein partizipatives Miteinander, in dem der Betroffene in Willens- und Entscheidungsprozesse aktiv eingebunden ist. Der trialogische Gedanke geht auf das von Dorothea Buck und Prof. Dr. Thomas Bock 1989 gegründete Psychose-Seminar zurück, eine Broschüre dazu ist kostenlos erhältlich über www.irremenschlich.de. Für die psychiatrische Pflege bedeutet das:

•  Ständige Reflexion, wie ich den einzelnen psychisch erkrankten Menschen einbeziehen kann

•  Angehörige auf der Station, in der Einrichtung willkommen heißen, im häuslichen Umfeld beteiligen

•  Patienten und Angehörige als Experten in eigener Sache mit ihren individuellen Erfahrungen mit der Erkrankung, dem Verlauf und den Behandlungsangeboten als Ressource sehen und aus dem Erfahrungsschatz lernen

1.4.3    UN-Konvention

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die am 26.03.2009 von der Bundesrepublik unterzeichnet wurde, fordert in erster Linie die Abschaffung von Barrieren (behindertengerechte Räume), aber auch in den Köpfen der Bevölkerung sowie barrierefreie Internetseiten, die Etablierung von Gebärdensprache, Blindenschrift und Leichter Sprache. Weitere ausgewählte zentraler Forderungen sind:

•  Ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen: d. h. keine Eingriffe in persönliche Rechte und Menschenrechte, keine Entmündigungen oder Ausgrenzung von der Gemeinschaft durch freie Wahl von Wohnart und -ort, Unterstützungsangebote und Assistenzen für ein selbstbestimmtes Leben.

•  Gleiche Rechte für alle: Recht auf Bildung und Erziehung in einer Schule für Kinder mit und ohne Behinderung. Recht auf Arbeit. Menschen mit Behinderung verdienen ihren Lebensunterhalt selbst, in einem offenen, zugänglichen und inklusiven ersten Arbeitsmarkt.

In Deutschland leben 10 Millionen Menschen mit Behinderung, das sind 12,2 % der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik (weltweit sind es 650 Millionen Menschen, etwa 10 %, damit sind behinderte Menschen die größte Minderheit).

Im pflegerischen Umgang könnte das Motto der Betroffenen in Zusammenhang mit der Konvention helfen:

»Nichts über uns ohne uns!«

Dazu ist ein Umdenken notwendig, das dann auch bedeutet, dass sich Betroffene und professionelle Helfer partnerschaftlich auf »gleicher Augenhöhe« begegnen können.

In der UN-Konvention wird jede Form der Behinderung berücksichtigt. Eine psychische Behinderung wirkt sich in der Störung mehrerer psychischen Funktionen des Betroffenen aus und resultiert aus andau ernden Symptomen der Erkrankung, beispielsweise Aufmerksamkeit, Antrieb, emotionale Stabilität, Motivation, Konzentration, Wahrnehmung, Orientierung usw. Aber auch im Bereich der persönlichen Bewältigungsstrategien, beispielsweise Selbstversorgung, Kommunikation, Arbeit usw. sowie z. B. Folgen der Störung von Beziehungen und des Verlusts der Arbeit können mögliche Auswirkungen der Erkrankung sein.

Die psychische Behinderung ist abzugrenzen von der geistigen Behinderung, die gekennzeichnet ist durch eine beeinträchtigte Intelligenz, von der verringerten Fähigkeit, neue oder komplexe Informationen zu verstehen und neue Fertigkeiten zu erlernen und anzuwenden. Dadurch sind Betroffene in ihrer sozialen Kompetenz beeinträchtigt und in der selbstständigen Lebensführung.

1.5       Grundverständnis und allgemeine Aufgaben der psychiatrischen Pflege

 

Professionell handeln erfordert in erster Linie die Bereitschaft zur Weiterentwicklung. Das bedeutet, sich sowohl auf Beziehungen einzulassen als auch sein Wissen und seine Kompetenzen zu erweitern. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass in der psychiatrischen Pflege sowohl intuitives Wissen, persönliche Erfahrung und fachlich, wissenschaftlich geprüftes Wissen gleichermaßen zusammengehören. Im psychiatrischen Handlungsfeld hat Pflege neben aller Fachlichkeit viele kreative und phantasievolle Anteile, wenn es um die Begleitung und Betreuung des einzelnen psychisch erkrankten Menschen geht.

Selbstreflexion

Weil psychiatrische Pflege in einzelnen Situationen im Wesentlichen mit dem eigenen Verhalten und der eigenen Person arbeitet, ist es besonders wichtig, über sich selbst nachzudenken, wie man auf andere Menschen wirkt. Reflexion gehört zum alltäglichen Handwerkszeug. Selbstreflexionsfragen können sein:

•  Wo sind meine Fähigkeiten, Defizite und Grenzen?

•  Mit welchen Verhaltensweisen anderer Menschen kann ich schlecht umgehen?

•  Wann wird mir das Zusammensein mit Menschen zu viel?

•  Wie gehe ich mit meinen eigenen Schwierigkeiten und Konflikten um, welche erscheinen mir nicht lösbar?

•  Welche Haltungen und Wertvorstellungen sind mir besonders wichtig?

•  Wodurch zeigt mir mein Körper, dass ich ungelöste Probleme oder Belastungen mit mir herum schleppe?

•  Wer steht mir zur Verfügung, um rechtzeitig Hilfe zu holen?

Die übergeordneten Ziele der psychiatrischen Pflege sind (Arbeitskreis Pflege der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) 1994):

•  die Wiederherstellung und der Ausbau der Beziehung zu sich selbst und zu anderen

•  Förderung der Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung

•  Erweiterung der sozialen Kompetenz, im Besonderen in den alltagspraktischen Fähigkeiten

•  das Erlernen bzw. Erweitern von Bewältigungsstrategien

Ansatzpunkte sind:

•  der Alltag des Einzelnen

•  die Lebens- und Krankengeschichte

•  die Fähigkeiten und Grenzen des Einzelnen

Dabei bedienen sich Pflegende unterschiedlicher Zugangswege, beispielsweise