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Über den Autor

Rolf Sellin, geboren 1948, ursprünglich Dipl.-Ing. Architekt, ist selbst hochsensibel. Der Therapeut und Bestsellerautor hat wirksame Methoden für den Umgang mit der Hochsensibilität entwickelt, deren Ausgangspunkt die Wahrnehmung ist. Heute leitet er das HSP-Institut in Stuttgart. Er bietet Seminare an und Fortbildungen für Psychotherapeuten und Pädagogen. Von ihm bereits bei Kösel erschienen: »Wenn die Haut zu dünn ist. Hochsensibilität – vom Manko zum Plus« und »Bis hierher und nicht weiter. Wie Sie sich zentrieren, Grenzen setzen und gut für sich sorgen«. www.hsp-institut.de

Über das Buch

Hochsensible Kinder sind ein Geschenk für ihre Eltern und für die Welt. Mit ihrer besonderen Sensibilität und Wahrnehmung verfügen sie über eine natürliche Begabung, das Leben zu meistern, und sie können einen wichtigen Beitrag zu einer menschlicheren Gesellschaft leisten – wenn ihre Wesensart erkannt und gefördert wird. Wie man mit hochsensiblen Kindern umgeht, hat entscheidenden Einfluss darauf, ob sie sich angenommen fühlen oder glauben, dass sie so, wie sie sind, nicht richtig sind. Es gilt also, die Hochsensibilität als eine Stärke zu erkennen, nicht als Einschränkung, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Deswegen brauchen hochsensible Kinder Eltern und Erzieher, die selbst sehr klar sind, die die Wahrnehmungen des Kindes ernst nehmen, seine Grenzen respektieren und ihm Sicherheit geben, es fördern, aber auch fordern.

Rolf Sellin gibt allen, die mit hochsensiblen Kindern umgehen, viele praktische Tipps und Hilfestellungen, insbesondere denjenigen Erwachsenen, die selbst hochsensibel sind.

Rolf Sellin

Mein Kind ist hochsensibel – was tun?

Wie Sie es verstehen,

stärken und fördern

Kösel

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Copyright © 2015 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt München
Umschlagmotiv: © plainpicture/mia takahara
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-15709-8
V003
www.koesel.de

Inhalt

1 Was bedeutet eigentlich »hochsensibel«?

Ist Hochsensibilität ein Manko?

Test: Ist Ihr Kind hochsensibel?

Die Auswirkungen fehlender Annahme und vergeblicher Anpassungsversuche 

2 Ein hochsensibles Kind auf das Leben vorbereiten 

Wo die Lösungen liegen 

Aus einem hochsensiblen Kind einen »Fall« machen?

Von der Selbstannahme zur Annahme des Kindes

3 Die Flut der Reize, die ständig steigt

Reisen, Reize und Events 

Leider oft nicht ganz ohne – die Ernährung 

Wenn hochsensible Kinder krank sind

Angriff aus allen Kanälen

Gekonnter Umgang mit Fernseher und Computer

4 Zwischen Vollkommenheitsstreben und Resignation 

Die Sehnsucht nach dem Einssein 

Hochsensible Jungen

Wehr dich doch! – Ein anderes Konfliktverhalten 

5 Anders wahrnehmen als andere 

»Das sieht, denkt, sagt man nicht!«

Wenn Eltern sich von der Wahrnehmung ihres Kindes beherrschen lassen

Die Wahrnehmung von der Schlussfolgerung trennen

Innenwahrnehmung und Außenwahrnehmung unterscheiden lernen und bewusst verteilen

Abstand zum Wahrgenommenen bekommen

6 Erwachsene Hochsensible 

Test: Sind Sie selbst auch hochsensibel?

Das Verhältnis der Eltern zueinander und zum hochsensiblen Kind 

Hochsensible Väter 

Hochsensible Mütter

Die Sehnsucht nach Nähe und Übereinstimmung

Das Drama von »Hänschen klein«

Wenn Eltern sich zu sehr einmischen

Die Rolle der Eltern

7 Die Grenzen des Kindes

Wie hochsensible Kinder lernen, mit ihren eigenen Grenzen umzugehen

Eltern als Grenzverletzer

Als Erwachsener zur eigenen Begrenztheit stehen

An sicheren Grenzen wachsen

Die Grenzen der anderen

Grenzen setzen und halten

8 Kinderängste – Elternsorgen

Der Sinn der Angst und was sie auflöst

Statt Angst und Sorgen: Vertrauen in das Kind

»Und was hätte die Mutter denn machen sollen?«

Kummer, Schmerz und Leid 

Hochsensible – extrem leidensfähig und belastbar!

9 Fremd in der Welt der Einohrigen und Zyklopen – hochsensible Schüler

Welche Schulart passt für ein hochsensibles Kind? 

Persönliche Strategien für den Umgang mit Lärm

Ein anderer Arbeitsrhythmus 

Zwischen Ehrgeiz und Resignation

Sport oder der verdorbene Spaß an der Bewegung

Peitsche oder Pille – wenn die Probleme hochsensibler Schüler verkannt werden 

Wenn die Schule zur Hölle wird – Ausgrenzung und Mobbing 

Zwischen Idealismus und Burn-out: Lehrer und Erzieher

10 Nicht mehr Kind und noch nicht ganz erwachsen 

Die Berufswahl von hochsensiblen Jugendlichen

Was noch wichtiger ist als der Beruf selbst 

Die Ablösung – hier erweist sich die Qualität der Bindung 

Kontaktabbrüche als hilflose Befreiungsversuche

11 Extrakapitel für hochsensible Eltern, Lehrer und Erzieher

Ein neuer Umgang mit sich selbst

Befreiung aus der Wahrnehmungsfalle

Die Vorzüge der Hochsensibilität für sich nutzen 

Wie Sie für Ihr Kind sorgen und zugleich für sich selbst

12 Auf einen Blick

20 Erkenntnisse für den Umgang mit einem hochsensiblen Kind 

Tests und praktische Methoden

Dank 

Buchempfehlungen

Weiterführende Hinweise

1 Was bedeutet eigentlich »hochsensibel«?

Häufig erreichen mich Anrufe von Eltern, die bei ihrem Kind Hochsensibilität vermuten und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Aus ihren Stimmen spricht Besorgtheit ebenso wie Unsicherheit. Manchmal sind sie aufgrund von Problemen des Kindes im Kindergarten oder in der Schule beunruhigt. Häufiger haben Erzieherinnen oder eine Lehrerin sie darauf hingewiesen, ihr Kind sei so sensibel und ein wenig anders als die Gleichaltrigen.

Manchmal klingt aus den Worten der Eltern auch die heimliche Vorstellung heraus, dass es doch eine wie auch immer geartete Therapie geben müsse, mit der die Hochsensibilität geheilt oder beseitigt werden könnte. Aber so etwas gibt es nicht. Hochsensibilität ist keine Krankheit, kein Mangel und auch kein Defekt. Kein Therapeut kann die Hochsensibilität eines Kindes »wegmachen«. Hochsensibilität ist eine vererbte Eigenschaft, ein Wesenszug und, wenn man genau hinschaut, eine Begabung.

Nach ihrer eigenen möglichen Hochsensibilität fragen Eltern nur selten. Manche Mütter oder Väter kommen gar nicht auf die Idee, dass sie selbst ebenfalls hochsensibel sein könnten. Hochsensibilität wird wie jede andere Anlage auch vererbt (es sei denn, es handelt sich um eine durch Traumatisierung und besondere Lebensumstände erworbene Empfindlichkeit, die bei kleinen Kindern weniger häufig vorkommt).

Neben der genetischen Prädisposition, die auch schon einmal eine Generation überspringen kann, spielen natürlich auch soziale Einflüsse eine Rolle. Eltern vererben ihren Kindern ja nicht nur ihre Gene, sondern auch die Haltung, aus der heraus sie ihre Kinder erziehen und auf der diese einmal aufbauen. Wie also gehen Eltern mit Hochsensibilität um – mit der ihres Kindes und auch mit der eigenen?

Für das Wohlergehen ihres Kindes sind besorgte Eltern bereit, alles Mögliche zu unternehmen und in Bewegung zu setzen, aber selten höre ich von ihnen die Frage, wie sie besser mit sich selbst und ihrer eigenen Wesensart umgehen können. Dabei hat die Art und Weise, wie ein hochsensibler Elternteil mit sich umgeht, den größten Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. Was Vater oder Mutter vorleben, prägt die Einstellung des Kindes zu sich selbst, seinen Umgang mit der eigenen Wahrnehmung und seinem Wesen. Wird es gegen sich und seine Wesensart ankämpfen, oder wird es sie für seine Entfaltung nutzen? Geben die Eltern mögliche eigene Probleme, die sie mit der Hochsensibilität haben, einfach an die nächste Generation weiter? Schaukeln sich die Probleme der Eltern und ihrer Kinder vielleicht sogar auf? – Das sind entscheidende Fragen. Darum handelt dieses Buch nicht nur von hochsensiblen Kindern, sondern zugleich auch von ihren hochsensiblen Eltern, Lehrern und Erziehern.

Wenn ein Kind als hochsensibel bezeichnet wird, bedeutet das, es nimmt mehr Reize und Informationen auf als andere, und das intensiver und mit größerer innerer Beteiligung. Es schaut sozusagen weiter über den Rand seines Suppentellers hinaus und tiefer in seine Suppe hinein. Häufig genug auch tiefer in die Suppen der anderen. Dadurch kann es sich in andere einfühlen und oft auch schon als Kind andere Menschen verstehen. Entsprechend muss es auch mehr Reize, die es tiefer beeindrucken, seelisch und geistig verarbeiten. Damit kann es länger beschäftigt sein als ein weniger sensibles Kind.

Hochsensibilität bedeutet nicht, dass ein solches Kind zum Beispiel schwach und unsportlich ist, dass es nicht belastbar wäre oder gar geschont und vor der Welt bewahrt werden müsste. Es bedeutet auch nicht, dass es zugleich introvertiert oder schüchtern sein muss und dass es ein Einzelgänger wird. Es gibt durchaus sportliche, körperlich starke oder extrovertierte hochsensible Kinder. Die Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Eigenschaften sind vielfältig. Hochsensibilität bedeutet auch keineswegs, dass ein Kind notwendigerweise unter seiner Anlage leidet und dass es von anderen abgelehnt oder ausgegrenzt wird. Es ist außerdem ein Märchen, dass alle hochsensiblen Kinder zugleich hochintelligent und künstlerisch begabt seien oder über so etwas wie den sechsten Sinn verfügen. Hochsensibilität kann mit jedem anderen Wesenszug und mit jedem Grad von Intelligenz, Einschränkungen oder Begabungen verbunden sein.

Es gibt also keinen Grund zur Sorge, wenn sich herausstellt, dass ein Kind hochsensibel ist, aber ebenso wenig macht es Sinn, die Hochsensibilität zu idealisieren, das Kind zu etwas Besonderem zu erklären und mit Erwartungen zu überfrachten. Schließlich sind nach Erhebungen 15–20 % aller Menschen hochsensibel. Dieser Wesenszug ist in gleichem Maße in allen Völkern und Kulturen verbreitet. Es handelt sich auch nicht etwa um eine Folge der Zivilisation oder eine Degenerationserscheinung. Hochsensibilität hat es immer schon gegeben. Sie kommt sogar im Tierreich vor und verschafft den betroffenen Individuen durch die besondere Art der Wahrnehmung einen Überlebensvorteil.

Ist Hochsensibilität ein Manko?

Wenn Eltern sich die Frage stellen, ob ihr Kind vielleicht hochsensibel ist, dann entstehen dabei häufig Bilder, die einen nüchternen Umgang mit dem Thema erschweren. Sie sehen vor ihrem inneren Auge Schreckensszenarien vom Scheitern ihres Kindes, von einem Leben am Rande der Gesellschaft, von Krankheiten, chronischen Beschwerden oder Hypochondrie, von »Hysterie« oder Depressionen, von Ängsten und Phobien. Vielleicht kennen sie sogar Menschen in ihrer Umgebung, die hochsensibel sind und deren Beispiel solche Vorstellungen nähren. Tatsächlich gibt es auch diese Fälle. Während Hochsensible, die mit ihrer Begabung gut umgehen können, kaum auffallen, stechen die problematischen Hochsensiblen ins Auge: die Kollegin, die an Burn-out leidet, die frühpensionierte Lehrerin, die Nachbarin, die aus jeder kleinen Schwierigkeit im Alltag eine Katastrophe macht. Sie alle könnten Beispiele von Menschen sein, die ihre Wesensart nicht angenommen und verleugnet haben und die nicht mit ihr umzugehen wissen. Vielleicht haben sie schon jahrzehntelang gegen ihre Hochsensibilität angekämpft, sodass sich die ursprüngliche Begabung nur noch in Momenten der Schwächung und nachlassenden Kontrolle in störender Form zeigen kann.

Vor allen Dingen fürchten Eltern um die spätere Existenzfähigkeit ihres hochsensiblen Kindes. Doch gerade im Berufsleben kann Hochsensibilität in Verbindung mit anderen Begabungen und Fähigkeiten von großem Vorteil sein: zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit Vorgesetzten, Mitarbeitern oder Kunden. Ein Hochsensibler muss nicht erst lernen, was andere sich in Kommunikationstrainings mühsam aneignen: sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, die Welt und sogar sich selbst durch die Augen der anderen zu betrachten. Dadurch kann ein Hochsensibler andere gut verstehen, ihre Interessen erfassen und sehr genau auf ihre Bedürfnisse eingehen. Er nimmt auch Zwischentöne und Nuancen wahr, die andere leicht überhören, manchmal sogar Unausgesprochenes. So ist er in der Lage, zu erkennen, wem er wie am besten begegnet, wem zu trauen ist und wem eher nicht. Es ist eine Frage des Umgangs mit der hochsensiblen Wahrnehmung, ob sie sich als Plus oder als Minus im Leben auswirkt. Überfällt sie mich mit ihren vielen Reizen, quält sie mich mit all den Eindrücken? Oder ist sie mir willkommen und kann ich sie bewusst einsetzen, sodass sie mir als feines Sensorium wie eine Art Radar zur Verfügung steht?

Stellen Sie sich einen Rechtsanwalt vor, der genau spürt, dass sein Mandant ihm noch nicht alles mitgeteilt hat, was er für seine Verteidigung benötigt. Er nimmt nicht nur dies wahr, sondern er findet auch den geeigneten Moment und obendrein den passenden Ton, den Mandanten darauf anzusprechen. Am Ende zeigt sich, dass gerade die zunächst unterdrückten Fakten und Details für den Ausgang des Prozesses entscheidend waren.

Denken Sie an einen hochsensiblen Galeristen. Er ist deshalb so erfolgreich, weil er das kreative Potenzial in jungen Künstlern früh zu erkennen vermag. Er versteht, was sie bewegt, und es gelingt ihm, sie so anzusprechen, dass sie gern für ihn arbeiten. Auf diese Weise kann er sie rechtzeitig an seine Galerie binden.

Ein hochsensibler Mechatroniker setzt seine Sensibilität dafür ein, um effektiver als seine Kollegen zu erkennen, wo bei einem defekten Computer das Problem liegt, denn er nimmt auch allerkleinste Details genau wahr.

Immer wenn der hochsensible Unternehmer durch seine Werkshalle geht, fällt ihm genau das auf, was gerade schiefläuft. So kommt er im passenden Moment hinzu, kann Schlimmeres verhindern und die Weichen für konstruktive Lösungen stellen.

Die hochsensible Vorstandssekretärin hat sich unentbehrlich gemacht, weil sie genau weiß, wie sie ausgleichend auf ihren Chef einwirken kann. Sie sieht Probleme schon im Vorfeld und weist darauf hin, sodass Konflikte in der Firma nicht eskalieren. Ihr Chef wundert sich auch darüber, wie sie es schafft, stets zur rechten Zeit die passenden Unterlagen für ihn parat zu haben.

Der hochsensible Leistungssportler spürt genau, wann seine Leistungsgrenze erreicht ist. Er vermeidet dadurch ein unnötiges Zuviel an Training, mit dem er sich selbst schaden würde. So gelingt es ihm, sich auf seinem optimalen Leistungsniveau zu halten.

Was wären Sherlock Holmes und Miss Marple ohne ihre hochsensible Wahrnehmung und ihren »Riecher« gewesen? Sie wären mit ihren Untersuchungen wohl nicht sehr weit gekommen, denn sie hätten die feinen Spuren und Details übersehen, die für die Lösung ihrer Fälle entscheidend waren!

Nicht jeder ist Leistungssportler oder Meisterdetektiv, doch auch im ganz normalen Leben erweist sich bei genauem Hinsehen die Hochsensibilität als Vorteil. Als Gabe wirkt sie sich jedoch nur dann aus, wenn ein Hochsensibler sie annimmt und lernt, richtig mit ihr umzugehen.

Bereits in den frühen Tagen der Menschheit gab es die Anlage der Hochsensibilität. Als unsere Vorfahren in kleinen Horden die Savannen durchstreiften, trat sie als Überlebensvorteil deutlicher in Erscheinung als heute: Wer auf der Jagd Spuren lesen, wer Nahrungsnischen erschließen will, braucht eine umfassendere und genauere Wahrnehmung. Die Fähigkeit, körperlich zu spüren, ob man von anderen Lebewesen beobachtet oder gar belauert wird, ist lebenserhaltend. Wenn es um Bedrohungen geht, sind es die Hochsensiblen, die sie zuerst entdecken und die anderen warnen. In der Steinzeit waren sie die Wächter ihrer Horde, auch heute sind sie manchmal die Warner in einem Team und leisten mit ihrer feineren Wahrnehmung einen wichtigen Beitrag.

Im Medienzeitalter kann die Hochsensibilität jedoch zu einem Handicap werden: So viele Reize und Informationen wie nie zuvor stürmen heute auf uns ein. Hinzu kommt die Beschleunigung in allen Bereichen des Lebens. Hochsensible sind dadurch besonders gefordert, denn sie brauchen gewöhnlich mehr Zeit, um sich an Veränderungen zu gewöhnen. Während ihre spezielle Veranlagung früher kein besonderes Thema war, ist es heute notwendig, dass Hochsensible sich mit ihrem Wesen und ihrer anderen Art der Wahrnehmung auseinandersetzen, damit sich der ursprüngliche Vorteil nicht als Nachteil auswirkt.

Voraussetzung dafür, dass seine Begabung sich tatsächlich als Vorteil in seinem Leben auswirkt, ist allerdings, dass der Hochsensible mit seiner Gabe umzugehen weiß: Zunächst muss er sie als Geschenk entgegennehmen, sie wertschätzen und dafür danken. Es wäre auch gut, die Gabe auszupacken und näher zu betrachten, sich mit ihr vertraut zu machen. Bei technischen Geräten empfiehlt es sich, die Gebrauchsanweisung sorgfältig durchzulesen, um das kostbare Geschenk nicht kaputt zu machen. Leider liegt bei unserer Geburt keine Gebrauchsanweisung bei, von einer Garantiekarte ganz zu schweigen. Dafür, wie in Zeiten der Informationsflut mit der Gabe Hochsensibilität umzugehen ist, bräuchten wir eine Anleitung.

Meine Arbeit können Sie als Versuch betrachten, Methoden zum sinnvollen Gebrauch der Hochsensibilität und ihrer speziellen Wahrnehmung zu entwickeln – ich versuche, die noch fehlende Gebrauchsanleitung zu erstellen und auf die Erfordernisse unserer Zeit auszurichten.

In meiner therapeutischen Arbeit habe ich es gewöhnlich mit Erwachsenen zu tun, die das Geschenk der Hochsensibilität zurückgewiesen haben. Vielleicht weil sie davor gewarnt worden waren oder weil dessen Besitz verpönt war. Möglicherweise haben sie den Empfang verweigert, das Geschenk verleugnet und deshalb nicht einmal ausgepackt. Doch Wesenszüge und Begabungen sind keine toten Gegenstände, sie lösen sich auch nicht in Luft auf, wenn sie unbeachtet unter dem Gabentisch liegen gelassen werden. Die Hochsensibilität ist da, sie fordert ihr Lebensrecht. Wenn sie nicht zum Vorteil eines Menschen wirken kann, macht sie sich eben dann bemerkbar, wenn dieser eine Schwäche zeigt. Und wenn sie nie gelernt hat, konstruktiv zu wirken, dann macht sie es eben auf destruktive Weise. Umso weniger wird sie in der Folge geliebt. Das Packpapier wird fester verklebt, Taue statt Geschenkbänder werden um sie gezurrt. Doch sie gibt nicht auf. Es rappelt in der Kiste. Sie findet ihren Weg, und wenn es nur in Form von Störungen und Symptomen ist. Manche Betroffene haben sie nur auf diese Weise kennengelernt.

Mir geht es darum, solche Entwicklungen rechtzeitig zu verhindern, damit eine wunderbare Begabung nicht brachliegt und verkommt und damit Hochsensible nicht zu Opfern werden, sondern sich entfalten können. Deshalb ist es am besten, wenn ein hochsensibles Kind möglichst früh lernt, mit seiner Gabe umzugehen. Und zwar nicht durch das, was Eltern, Erzieher und Lehrer ihm als theoretische Möglichkeit vorpredigen, sondern durch ihr ganz praktisch und real vorgelebtes Beispiel.

Und noch etwas: Wenn in diesem Buch die Folgen eines falschen Umgangs mit der Hochsensibilität deutlich dargestellt werden, dann geschieht das nicht, um Ihnen Angst zu machen, sondern um Sie zu motivieren, aktiv an das Thema heranzugehen. Denn nicht die Hochsensibilität ist das Problem, sondern unsere Bewertung und unser Umgang mit ihr.

Wenn ich den Eindruck habe, dass Eltern selbst hochsensibel sein könnten, spreche ich sie immer darauf an. Dadurch mache ich mich nicht unbedingt beliebt, doch bekanntlich fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Weil diese Frage von zentraler Bedeutung ist, rate ich zu dem Selbsteinschätzungstest für Erwachsene, den Sie in Kapitel 6 finden. Zur Kontrolle ist es außerdem sinnvoll, wenn Sie als Erwachsener auch den folgenden Test für Kinder machen, vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Kindheit.

Der nächste Rat, den ich Eltern hochsensibler Kinder gebe, besteht darin, sich durch Lektüre mit dem Thema vertraut zu machen, um die Hochsensibilität und damit ihr Kind besser zu verstehen – so wie Sie es mit diesem Buch gerade unternommen haben. Ohne ein solches Wissen und Verstehen besteht die Möglichkeit, dass konkrete Tipps oder Ratschläge missverstanden oder so umgesetzt werden, dass es nicht zum gewünschten Ergebnis kommt. Ich verzichte weitgehend auf Tipps zur Lösung von Einzelproblemen, weil die Situationen in den Familien jeweils ganz unterschiedlich sein können. Passt ein Ratschlag für einen Einzelfall, dann hilft er noch lange nicht in einem ähnlichen. Stattdessen stelle ich Ihnen Wege vor, wie Sie Ihre Art des Umgangs mit dem hochsensiblen Kind selbst entwickeln können, indem Sie neue Erkenntnisse zu der für Sie passgenauen Lösung umsetzen.

Sich zu informieren, die Hochsensibilität unvoreingenommen wie zum ersten Mal zu betrachten, das ist gewöhnlich der erste Schritt zur Annahme des Wesens der Hochsensibilität. Manchmal ermöglicht die Selbstannahme erst die Annahme des Kindes, manchmal ist es umgekehrt: Die Beschäftigung mit der Hochsensibilität des Kindes ermöglicht es, dass sich der hochsensible Erwachsene selbst annehmen kann. Das Kind gibt den Anstoß zur Selbsterkenntnis, zur inneren Befreiung und Entwicklung des eigenen Wesens.

Test: Ist Ihr Kind hochsensibel?

Die Auflösung des Tests

Wenn Sie mehr als die Hälfte der 24 Fragen mit einem Ja beantwortet haben, dürfte es sich um ein hochsensibles Kind handeln. Beachten Sie bitte, dass es sich um Ihre eigene Einschätzung des Kindes handelt. Das Ergebnis ist also durch Ihre Sichtweise beeinflusst. Ihre Einschätzung hängt auch davon ab, ob Sie oder das Kind gerade krank oder anderweitigen Belastungen und Problemen ausgesetzt sind.

Übrigens: Entweder ist ein Mensch hochsensibel oder er ist es nicht. Es gibt keine Übergänge zwischen Sensibilität und Hochsensibilität, weil es sich um eine feste Anlage handelt, die ein Mensch hat oder nicht hat. Durch zusätzliche Erschwernisse kann die Hochsensibilität ebenso wie die Sensibilität oder andere Eigenschaften bei einem Kind in ihrer Ausprägung verstärkt werden. Ein Kind, das in einer Krise steckt, kann vorübergehend reagieren wie ein hochsensibles Kind. Hochsensibel ist ein Mensch jedoch von Anfang an und sein ganzes Leben lang.

Im Prinzip kann man den Test als Wesensbeschreibung hochsensibler Kinder lesen. Hochsensibilität ist nur ein Merkmal unter anderen, das in unserer Zeit jedoch Aufmerksamkeit verlangt. Jede andere Eigenschaft und Begabung kann mit der Hochsensibilität einhergehen. Es gibt also nicht »das hochsensible Kind«, sondern viele ganz unterschiedliche hochsensible Kinder, die eines gemein haben: ihre besondere Art der Wahrnehmung.

Die Auswirkungen fehlender Annahme und vergeblicher Anpassungsversuche

Viele, die über das Phänomen Hochsensibilität sprechen, verwenden den Begriff nicht so, wie er ursprünglich gemeint ist, sondern sie setzen die Hochsensibilität gleich mit den Entgleisungen, die häufig aus dieser eigentlichen Begabung entstehen. In vielen Gesprächen und bei Betrachtung der Lebenswege wurde offenbar, dass es Hochsensible gibt, die aufgrund ihrer Wesensart Schwierigkeiten haben, während andere gerade aufgrund ihrer Hochsensibilität glücklich, erfolgreich und innerlich reich sind. Der Unterschied rührt daher, dass die glücklichen Hochsensiblen sich in ihrer Wesensart angenommen fühlten, während die anderen (zu denen übrigens auch ich selbst früher zählte) versuchten, nicht so zu sein, wie sie von der Schöpfung gemeint sind. Zu oft haben sie den Satz gehört: »Sei doch nicht so sensibel!«

Stößt ein Kind mit seiner hochsensiblen Wahrnehmung wiederholt auf Ablehnung, wird es verunsichert. Es fragt sich dann, was es falsch gemacht haben könnte, und beginnt an sich zu zweifeln. Es fängt an, sich selbst und seiner Wahrnehmung nicht mehr zu trauen. Dies betrifft vor allem die Wahrnehmung seines Körpers, der am meisten stört. Mehr und mehr wird es ihn ignorieren, die Körperwahrnehmungen selbst und das damit verbundene »Bauchgefühl«, seine Intuition, übergehen. Selbst wenn Eltern das »Sei doch nicht so sensibel!« gar nicht aussprechen, sondern nur denken oder empfinden, bleibt das einem hochsensiblen Kind nicht verborgen. Es deutet Vorbehalte, Bedenken und Ablehnung im Blick, in der Mimik und den Gesten, es hört Zwischentöne und oft selbst das nicht Gesagte. Es lernt, sich an den anderen und an dem zu orientieren, was die anderen wahrnehmen und denken. Es entscheidet sich für die Zugehörigkeit zu seinen Eltern und den damit verbundenen Schutz.

Doch allzu lange kann das Kind die Wahrnehmung des eigenen Körpers nicht unterdrücken, sie kommt zurück. Der Körper wird sich immer dann bemerkbar machen, wenn es zu spät ist, wenn sich seine Signale nicht mehr unterdrücken lassen, dann, wenn es unangenehm ist und am wenigsten passt. Dann zeigt sie sich zum Beispiel in Form von Missempfindungen, Symptomen und Schmerzen. Auf diese Weise erlebt das Kind seinen Körper noch mehr als Störenfried und ist noch weniger geneigt, ihn wahrzunehmen. Ein Teufelskreis entsteht.

Der Versuch, den eigenen Körper zu übergehen, kann weitreichendere Folgen haben, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wie gravierend die Konsequenzen unter Umständen sind, ist in der Folge nachzulesen. Es geht dabei nicht um Angstmache, sondern darum, hochsensiblen Kindern solche Erfahrungen zu ersparen.

Verlust des Kontaktes zu den eigenen Bedürfnissen:

Wenn ein Kind lernt, seinen Körper zu übergehen, dann kann es seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr rechtzeitig wahrnehmen. Stattdessen ist ein hochsensibles Kind umso mehr über das im Bilde, was andere brauchen. Seinen eigenen Bedürfnissen versucht es vielleicht mit verstärktem Nachdenken auf die Spur zu kommen. Doch im Kopf sind sie nicht zu finden.

Unsichere Einschätzung der eigenen Stärke und Belastbarkeit, unklare Selbstbegrenzung:

Eine seltene Kombination: hochsensibel und zugleich wagemutig

Auch das gibt es: Kinder, die eindeutig als hochsensibel zu erkennen sind, die jedoch in manchen Situationen mit ihrem Verhalten völlig aus dem Rahmen fallen.

Nach einem Vortrag über hochsensible Kinder kommt ein Vater zu mir, um über seinen Sohn zu berichten. Der Vater ist selbst hochsensibel, und seinen Sechsjährigen hatte er bisher auch als hochsensibel eingeschätzt. Beim gemeinsamen Besuch des Freibades erlebte er jedoch eine Überraschung. Während er auf der Liegewiese döste, planschte der Kleine im Wasser. Als der Vater die Augen aufschlug, konnte er seinen Sohn nicht finden. Erst als er den Blick hob, entdeckte er ihn: auf dem Sprungturm. Da stand er freihändig und locker am Rand des Fünf-Meter-Sprungbretts neben den sportlich kühnen jungen Männern.

Der Kleine besitzt eine besondere Kombination von Eigenschaften: Er ist zugleich hochsensibel und »High Sensation Seeker«, d. h. er verfügt über zwei Eigenschaften, die sich der Logik nach geradezu ausschließen. »High Sensation Seeker« suchen Nervenkitzel, sind besonders wagemutig und haben Spaß an riskanten Sportarten. Diese Anlage gibt es selbstverständlich auch unabhängig von der Hochsensibilität – und zwar häufiger. Menschen, die zugleich hochsensibel und »High Sensation Seeker« sind, verfügen über beide Begabungen. Das eine Mal setzen sie sich gern großen Herausforderungen aus, das andere Mal reagieren sie hochsensibel. Mal hat die eine Seite die Oberhand, mal dominiert die andere.

Glücklicherweise erkannte der Vater die widersprüchliche Wesensart seines Sohnes und akzeptierte sie. Zwar lotste er ihn vom Sprungturm herunter, doch dann eröffnete er seinem mutigen Sprössling wunderbare alternative Entfaltungsmöglichkeiten: Der Junge treibt jetzt viel Sport und macht in einer Zirkusarbeitsgemeinschaft mit. Dort lernt er, wie man Saltos schlägt, menschliche Pyramiden baut und andere Kühnheiten, die sonst nur im »richtigen« Zirkus zu bewundern sind.

Wichtig ist, dass beide Eigenschaften zu ihrem Recht kommen. Wird die Begabung zum »High Sensation Seeker« unterdrückt, dann macht sie sich später durch die Inszenierung von riskanten Lebenssituationen bemerkbar, in denen der Betroffene im übertragenen Sinne am Rande eines Sprungbretts steht und gezwungen ist, den vorhandenen Mut tatsächlich zu entfalten. Wird bei dieser Kombination die sensible Seite unterdrückt, dann kann sie sich durch plötzlich auftretende Krankheitssymptome bemerkbar machen, die manchmal diffus und diagnostisch kaum einzuordnen sind und Rückzug und Schonung erzwingen.