STAR TREK

NEW FRONTIER®

Kartenhaus

PETER DAVID

Based on
Star Trek
created by Gene Roddenberry

Ins Deutsche übertragen von
Bernhard Kempen

Titel der Originalausgabe: STAR TREK – NEW FRONTIER: HOUSE OF CARDS

German translation copyright © 2011 by Amigo Grafik GbR.

Original English language edition copyright © 1997 by CBS Studios Inc. All rights reserved.

™, ® & © 2011 CBS Studios Inc. STAR TREK and related marks and logos are trademarks of CBS Studios Inc.

This book is published by arrangement with Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., pursuant to an exclusive license from CBS Studios Inc.

Print ISBN 978-3-942649-01-8 (Januar 2011) · E-Book ISBN 978-3-942649-91-9 (November 2011)

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Für die Fans …
Ihr wisst schon, wer gemeint ist
.

DANKSAGUNG DES
US-HERAUSGEBERS

Ich möchte Paula Block danken, weil sie geholfen hat, NEW FRONTIER Wirklichkeit werden zu lassen, Peter David für die fantastischen neuen Figuren, mit denen er NEW FRONTIER bevölkert hat, und Gene Roddenberry, weil wir in seinem Sandkasten spielen dürfen.

John J. Ordover
Chefredakteur

HISTORISCHE ANMERKUNG

Die Haupthandlung dieses Buches findet gegen Ende des Jahres 2373 statt. Wenige Wochen sind vergangen, seit die Borg erneut versuchten, die Erde zu assimilieren. Im Zuge dieser Ereignisse reiste die Enterprise-E in die Vergangenheit, traf auf Zefram Cochrane und vereitelte die Pläne der Borg (STAR TREK – DER ERSTE KONTAKT).

Einige Wochen nach den in diesem Roman geschilderten Ereignissen wird Captain Sisko das Wurmloch verminen (DS9 »Zu den Waffen«), wodurch es zum Ausbruch des Dominion-Krieges kommen wird.

TEIL 1
Kartenhaus

ZWANZIG JAHRE ZUVOR …

M’K’N’ZY

I

Im grellen Licht der Sonne von Xenex musterte Falkar die Überreste seiner Truppen und beschloss, die Situation gelassen zu betrachten. »Es kommt häufiger vor, dass jemand den Wunsch verspürt, einen Jugendlichen zu töten«, sagte er. »Allerdings werden nicht so häufig Soldaten losschickt, um einen solchen Auftrag zu erledigen.«

Die Stimmung unter seinen Männern war erstaunlich gut, wenn man bedachte, dass der Kampf zwischen ihnen und den Xenexianern nicht nur brutal, sondern zudem äußerst unbefriedigend gewesen war. Allerdings nicht sehr unbefriedigend für die Xenexianer.

Die überlebenden Soldaten waren ein ziemlich chaotischer Haufen. Die Rüstungen und die Kleidung hingen ihnen in Fetzen vom Leib. Ihre Waffen verfügten kaum noch über Energie, und während der Flucht vom Schauplatz ihrer letzten Schlappe hatten sie in erster Linie ihre kurzen Schwerter und Messer benutzen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen – obwohl es reichlich übertrieben wirkte, von »Sicherheit« zu sprechen. Diese Waffen trugen sie eigentlich nur als Schmuck und Zierde bei sich, als Zeichen ihrer Verdienste. Die meisten Männer hatten sie bestenfalls in die Hand genommen, um sie zu polieren und zur Schau zu stellen. Kaum einer unter ihnen konnte auch nur halbwegs geschickt damit umgehen. Als Falkar die knapp zwei Dutzend Männer musterte, die ihm noch geblieben waren, hatte er das Gefühl, genau zu wissen, was ihnen durch den Kopf ging.

Falkar richtete sich zu voller Größe auf, und da er fast zwei Meter maß, war der Anblick nicht gerade unbeeindruckend. Seine Haut hatte eine dunkle Bronzetönung – wie bei allen Völkern seiner Spezies –, und er war drahtig. Die ausgeprägten Muskeln waren nicht zu übersehen, aber sie verteilten sich auf so gleichmäßige Weise über den Körper, dass seine Stärke trotz der beeindruckenden Größe leicht unterschätzt werden konnte. Sein Haar war lang und schwarz und normalerweise ordentlich zurückgebunden, doch jetzt hing es ihm in wilden Strähnen über die Schultern. Wer gezwungen war, Hals über Kopf zu fliehen, konnte nur wenig Aufmerksamkeit auf den korrekten Sitz seiner Frisur verwenden.

Er hatte tiefschwarze Augen, eine breite Nase und ausgesprochen scharfe Schneidezähne.

»Vielleicht haben wir dieses Schicksal verdient«, sagte er gepresst.

Seine Männer blickten überrascht auf. Falls er beabsichtigte, die zerstörte Moral der Truppe aufzubauen, musste ihm klar sein, dass er es mit solchen Worten niemals erreichen würde.

»Wir haben die Xenexianer über dreihundert Jahre lang beherrscht«, sagte er. »In all dieser Zeit hat es niemals einen Aufstand gegeben, den wir nicht schon im Keim ersticken konnten. Niemals wurde unsere Autorität infrage gestellt. Und aus diesem Grund sind wir nachlässig geworden. Wir sind viel zu sehr von Energiewaffen abhängig geworden.« Er ging vor seinen Soldaten auf und ab. »Wir sind irgendwann zu der unerschütterlichen Überzeugung gelangt«, sprach er weiter, »einen Kampf nach dem nächsten gewinnen zu können. Und zwar nicht, weil wir besser vorbereitet oder besser bewaffnet waren … sondern nur, weil wir den Anspruch darauf hatten, als wäre es ein gottgegebenes Recht. Und jetzt haben die Xenexianer uns gezeigt, dass dem nicht so ist.«

»Es liegt nur an diesem verdammten Jungen«, murmelte einer seiner Soldaten.

Falkar wirbelte zu ihm herum und starrte ihn mit glitzernden Augen an. »Ja«, sagte er, während er die Worte zischend zwischen den Zähnen hervorpresste. »Dieser verdammte Junge. Dieser verdammte Junge! Der sein Volk aufgewiegelt hat. Dessen Gedanken uns immer einen Schritt voraus waren. Der jede unserer Bewegungen vorausahnte, der sich nicht durch uns einschüchtern ließ, der seinem Volk Hoffnung gab. Hoffnung, meine Herren! Die furchtbarste Bedrohung jeder Herrschaft. Weil Hoffnung zu Taten führt, und weil Taten Konsequenzen nach sich ziehen. Und die Konsequenzen dieser Taten sehen jetzt so aus, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, das kurz vor der Befreiung steht. Immer wieder kämpfen wir gegen sie, und immer wieder kehren sie zurück, um uns Niederlagen zuzufügen. Meine Herren, unsere Regierung hat sich mir gegenüber unmissverständlich ausgedrückt: Sie ist zu der Ansicht gelangt, dass Xenex mehr Schwierigkeiten bereitet, als durch einen potenziellen Nutzen ausgeglichen werden können. Und dieser verdammte Junge ist schuld an allem.«

Falkar hatte die ganze Zeit auf der höchsten Stelle eines Plateaus gestanden. Jetzt zeigte er auf die beeindruckende Landschaft, die vor ihnen lag. Sie erstreckte sich über Hunderte von Kilometern scheinbar endlos in jede Richtung. Der Boden war hart und zerklüftet. Kleine Berge waren über das Land verteilt, und überall gab es winzige Inseln aus Vegetation, die sich verzweifelt am Leben zu erhalten versuchten.

»Er ist da draußen, meine Herren. Irgendwo da draußen in der Öde. Die Vorsehung hat ihn uns in die Hände gespielt. Es wurde beobachtet, wie sein Gefährt unkontrolliert in diese Richtung davontrudelte, während der Kampf nachließ. Er ist von seinen Truppen, seinen Anhängern getrennt. Er ist allein. Er ist zweifellos verängstigt. Aber er ist höchstwahrscheinlich auch sehr gefährlich, wie jedes verletzte und in die Enge getriebene Tier.« Falkar drehte sich um und sah wieder seine Männer an. »Ich will ihn haben. Lebend, wenn möglich. Oder tot, wenn es nicht anders geht. Aber wenn ihr ihn lebend fasst und er anschließend einem tödlichen ‚Unfall‘ zum Opfer fällt, dann sorgt dafür, dass zumindest sein Gesicht unversehrt bleibt. Es darf keine einzige Schramme aufweisen, damit er problemlos identifiziert werden kann.«

Einer der Soldaten runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz. Er müsste sich doch jederzeit mithilfe einer DNA-Analyse identifizieren lassen.«

»Das ist richtig«, sagte Falkar. »Aber ich möchte, dass man sein Gesicht erkennen kann – wenn sein Kopf auf einen Pfahl gespießt auf dem großen Platz von Xenex ausgestellt ist.« Er überblickte noch einmal die trostlose Landschaft und sagte dann: »Sucht ihn. Findet M’k’n’zy … und lasst uns dieser Rebellion ein für alle Mal ein Ende setzen.«

M’k’n’zy spürte, wie sich sein Arm erneut versteifte. Das Blut auf seinem Bizeps war schon seit längerer Zeit getrocknet. Er hatte sich eine schwere Schnittwunde zugezogen, als das große Metallstück in seinen Arm eingedrungen war, und es waren höllische Minuten gewesen, während er versucht hatte, es aus dem Fleisch zu ziehen. Doch das war nicht sein größtes Problem. Viel schwerwiegender war die Tatsache, dass er sich den Arm ausgekugelt hatte. Die Schmerzen waren furchtbar gewesen, als M’k’n’zy die Zähne zusammengebissen und den Knochen zurück ins Gelenk gestoßen hatte. Es waren solche Höllenqualen gewesen, dass er sofort das Bewusstsein verloren hatte. Als er wenige Minuten später wieder zu sich gekommen war, hatte er sich wegen dieser Schwäche verflucht.

M’k’n’zy genoss den winzigen Flecken Schatten, den er gefunden hatte. Er streckte seine Finger aus, spannte sie an, ballte sie zu einer Faust und streckte sie noch einmal. »Na los«, murmelte er mit aufgesprungenen Lippen, um seinem Missfallen über diese unkooperativen Teile seines Körpers Ausdruck zu verleihen. »Na los!« Er bewegte die Finger, das Handgelenk und den Ellbogen, bis er mit den Reaktionen zufrieden war. Dann verschaffte er sich einen Überblick über die Umgebung, um zu einer Einschätzung seiner Situation zu gelangen.

Während Falkar durch die gegenwärtigen Umstände zu einer wilden Erscheinung geworden war, sah M’k’n’zy in jeder Lage genauso wie jetzt aus. Auch seine Haut hatte einen metallischen Schimmer, obwohl ihre Textur ledriger als die Falkars war, was in erster Linie daran lag, dass er so viel Zeit in der Sonne verbrachte. Sein Haar war zerzaust. Die Xenexianer standen im Ruf, ein wildes Volk zu sein, doch ein Blick in M’k’n’zys violette Augen verriet beträchtliche Intelligenz, Gerissenheit und Umsicht. Wer ihn für einen primitiven Wilden gehalten hätte, wäre durch einen einzigen Blick in sein Gesicht eines Besseren belehrt worden.

Kaum jemand hätte es für möglich gehalten, dass M’k’n’zy erst neunzehn Jahre alt war. Ein hartes Leben hatte ihm dieses wettergegerbte Aussehen verliehen, und in seine Stirn hatten sich bereits mehrere tiefe Falten eingeschnitten. Und noch mehr dieser Härte war in seinen Augen zu finden. Aus ihnen war jegliche Unschuld, die er einmal besessen haben mochte, verschwunden.

Diese wilden Augen überblickten nun die Region von Xenex, die als Öde bezeichnet wurde. Dieser Bereich hatte ungefähr einen Durchmesser von fünfzig Kilometern und war den Bewohnern von Calhoun, M’k’n’zys Heimatstadt, als ein Ort bekannt, von dem man sich unter normalen Umständen fernhalten sollte. Erstens war es ein sehr unwirtliches Land, voller kleiner Lebensformen, die verschiedene unangenehme Fähigkeiten entwickelt hatten, die sie zum Überleben in dieser Wüstenregion benötigten. Zweitens war das Wetter äußerst launisch, da sich immer wieder verschiedene Fronten dorthin verirrten und dann von den Bergen festgehalten wurden, die einen Teil dieser Region umringten. Jederzeit konnten heftige Sandstürme aufkommen. Oder es gab wolkenbruchartige Regenfälle, die manchmal tagelang andauerten. Darauf folgten oft eine derartige Trockenheit und Stille, dass man meinen konnte, hier hätte es seit Ewigkeiten keine Niederschläge mehr gegeben. In manchen Bereichen war der Boden von Trockenrissen durchzogen, während er andernorts butterweich war.

Abgesehen von den materiellen Herausforderungen, die hier herrschten, gab es noch einen ganz anderen Aspekt. Hier geschahen Dinge, die an übernatürliche Erscheinungen grenzten. Die Befürworter der Pseudowissenschaften behaupteten immer wieder, in der Öde gäbe einen Riss in der Realität. Ihnen zufolge stellte sie eine Art Nexus dar, einen Schnittpunkt unterschiedlichster Wirklichkeiten, die hier ungehindert ein- und ausgingen, so mühelos wie Staubkörnchen, die von flüchtigen Brisen aufgewirbelt wurden. Wer sich nicht zu den Anhängern der Pseudowissenschaften zählte, glaubte einfach nur, dass dieser Ort verflucht war.

Wie dem auch sein mochte, es handelte sich jedenfalls um den unberechenbarsten Landstrich von ganz Xenex.

Obwohl zeitgenössische Xenexianer einen möglichst großen Bogen um die Öde machten, hatte diese Region in früheren Zeiten eine wichtige Bedeutung für die Initiationsriten heranwachsender Jugendlicher besessen. Wenn ein Xenexianer ein bestimmtes Alter erreichte, marschierte er oder sie mitten in die Öde hinein, um mit der »Suche nach der Allzeit« zu beginnen, wie es genannt wurde. Wenn man lange genug durch die Öde wanderte, so hieß es, würden sich Visionen einstellen, in denen sich die Zukunft der jeweiligen Person offenbarte, sodass diese den wahren Sinn ihres Lebens erkannte.

Die Suche nach der Allzeit forderte jedoch einen immer höheren Tribut an Todesopfern, denn es kam oft vor, dass junge Xenexianer den Gefahren erlagen, die in der Öde lauerten. Infolgedessen war die Suche allmählich aus dem praktizierten Brauchtum der Xenexianer verschwunden. Doch das bedeutete nicht, dass sie nun überhaupt nicht mehr praktiziert wurde. Sie verlagerte sich lediglich in den Untergrund und wurde zu einer Art Mutprobe, um Ausdauer und Persönlichkeit zu testen … und in vielen Fällen wurde sie aus reiner Geltungssucht durchgeführt. Wer der Meinung war, er hätte eine Bestimmung – in welcher Form auch immer –, machte sich häufig aus eigenem Antrieb auf die Suche. Die Eltern versuchten, ihre Kinder davon zu überzeugen, wie unsinnig ein solches Unterfangen war, genauso wie es zuvor ihre Eltern mit ihnen versucht hatten. Und in den meisten Fällen hatten sie genauso wenig Erfolg, ihre Kinder davon abzubringen, wie ihren Eltern wiederum vor all den Jahren mit ihnen vergönnt gewesen war.

Als M’k’n’zy dreizehn geworden war, hatte er keine Eltern mehr gehabt, die ihn zur Vernunft hätten bringen können. (Doch um fair zu bleiben: Es wäre ihnen höchstwahrscheinlich auch nicht gelungen, wenn sie noch am Leben gewesen wären.) M’k’n’zy hatte lauthals verkündet, dass er ein junger Mann mit einer großen Bestimmung sei und sich auf den Weg zur Öde gemacht, um in Erfahrung zu bringen, was seine strahlende Zukunft für ihn bereithielt. Wie es die (inoffizielle) Tradition vorschrieb, brach er ohne Lebensmittel auf und nahm nur einen kleinen Wasservorrat mit, der unter normalen Umständen einer Tagesration entsprochen hätte.

Trotz strengster Einteilung hatte er diesen Vorrat am fünften Tag aufgebraucht.

Es war am achten Tag, als sein großer Bruder D’ndai ihn fand, bewusstlos, halb verdurstet und vor sich hinmurmelnd. D’ndai brachte ihn nach Hause, und als M’k’n’zy sich wieder erholt hatte, berichtete er seinen Freunden von den denkwürdigen Visionen, die er erlebt hatte. Visionen, in denen sein Volk sich von der Herrschaft der Danteri befreit hatte. Visionen eines stolzen und ehrenhaften Volkes, das sich gegen seine Unterdrücker erhob. Und er erzählte mit solcher Eindringlichkeit, Kraft und Überzeugung von diesen Visionen, dass diese Ziele tatsächlich erreichbar schienen, woraufhin sie schließlich die Grundlage für den folgenden Aufstand des xenexianischen Volkes wurden.

In Wirklichkeit hatte er gar nichts gesehen.

Diese Tatsache hatte bei ihm tiefste Verzweiflung ausgelöst. Es war das Letzte, was er eingestehen wollte. Und als seine Freunde ihn gedrängt hatten, zu erzählen, was genau er gesehen hatte – falls das überhaupt der Fall gewesen sein sollte –, hatte er sich ein Gespinst aus Lügen zurechtgelegt, das mit jeder Nacherzählung größer geworden war. Bis M’k’n’zy irgendwann selbst an die Wahrheit seiner Behauptungen geglaubt hatte.

Tief im Innern wusste er natürlich, dass dem nicht so war. Doch wie die meisten Männer mit einer Bestimmung würde er sich niemals durch solch unbedeutende Banalitäten wie die Wahrheit von seinem Ziel abbringen lassen.

Die Danteri drangen langsam durch den nordwestlichen Korridor der Öde vor. Sie bewegten sich mit äußerster Vorsicht und untersuchten praktisch jeden Quadratmeter des Landes, das vor ihnen lag. Sie alle wussten, dass die Öde kein Erbarmen mit denen hatte, die nicht ständig auf der Hut waren.

Falkar behielt außerdem stets den Himmel im Auge, um jede plötzliche Wetterveränderung rechtzeitig zu bemerken. Er hatte sich nie zuvor in der Öde aufgehalten, aber er wusste genau, für welche Art von Gefahren sie berüchtigt war.

Delina, Falkars Adjutant, erstarrte plötzlich, während er die Anzeigen eines Sensorgeräts beobachtete. »Was gibt es?«, wollte Falkar wissen.

Delina drehte sich zu ihm herum und blickte seinen Vorgesetzten mit einem grimmigen Lächeln an. »Wir haben ihn«, sagte er und tippte mit dem Finger auf die Sensoranzeigen. »Er hält sich etwa hundert Meter westlich von uns auf und rührt sich nicht von der Stelle.«

»Er lässt keine Bewegung erkennen?«

»Nicht die geringste.«

Falkar runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Er könnte wissen, dass wir ihn suchen, und sich verschanzt haben, um uns in eine Falle zu locken.«

»Aber ist es nicht genauso möglich«, warf Delina ein, »dass er verletzt ist? Hilflos? Vielleicht hat er sich versteckt und hofft einfach, nicht gefunden zu werden. Woher soll er überhaupt von seinen Verfolgern wissen?«

Falkar rieb sich nachdenklich das Kinn und starrte in die Richtung, die das Gerät anzeigte. Er starrte mit solcher Intensität, dass man hätte meinen können, er wäre tatsächlich dazu in der Lage, M’k’n’zy mit bloßem Auge zu sehen. »Er weiß von uns, Delina.«

»Bei allem Respekt, Sir, aber das lässt sich nicht mit Gewissheit …«

Falkars Blick wanderte zu Delina. »Als unsere Truppen zum Überraschungsangriff auf Calhoun ansetzten … da wusste er Bescheid, und die Verteidigungskräfte der Stadt konnten uns zurückschlagen. Als wir überzeugt waren, ihn auf der Ebene von Seanwin in die Enge getrieben zu haben … wusste er es ebenfalls, sodass er uns überlisten und fünf Schwadronen auslöschen konnte. Als meine besten Berater mir versicherten, die Schlacht von Condacin ließe sich unmöglich vorhersehen, da der Plan das genialste militärische Unternehmen des Jahrhunderts darstelle …«

Delinas Miene verdüsterte sich. »Mein Bruder starb bei Condacin.«

»Ich weiß«, erwiderte Falkar. »Und zwar, weil M’k’n’zy auch diesmal Bescheid wusste. Ich habe keine Ahnung, wie er es anstellen konnte. Vielleicht ist er mit der Geisterwelt im Bunde. Vielleicht besitzt er übersinnliche Fähigkeiten. Es spielt keine Rolle, wie er es fertigbringt. Er wusste es damals, und er weiß es auch heute.«

»Soll er doch!«, sagte Delina grimmig. »Soll er sehen, was es ihm nützt! Wenn Sie es mir gestatten, Sir, werde ich ihm mit bloßen Händen das Herz herausreißen.«

Falkar musterte ihn anerkennend. »Sehr gut.«

»Vielen Dank, Sir.« Delina salutierte zackig.

Mit neuer Zuversicht setzten die Danteri ihre Verfolgung fort.

Diese Zuversicht hielt so lange an, bis sie sich durch einen schmalen Durchgang bewegten, der zu M’k’n’zys Versteck führte. Denn plötzlich war ein leises Rumpeln von oben zu hören, das schon kurze Zeit später gar nicht mehr leise war. Als sie aufblickten, sahen sie, wie eine bedrohliche Steinlawine auf sie zurollte. Die Männer hasteten hektisch weiter, um der Falle auszuweichen. Schreie ertönten und wurden unvermittelt abgeschnitten, als schwere Steine die Soldaten unter sich begruben. Es gab einen kurzen Moment des Zögerns, als die Danteri sich zu entscheiden versuchten, ob sie vorrücken oder sich zurückziehen sollten, während weiterhin der Tod auf sie herabregnete. Falkar brüllte Befehle, hatte jedoch Schwierigkeiten, sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen.

Aus diesem Grund hörte er auch Delinas Warnruf nicht. Er wusste nur, dass sich Delina plötzlich gegen ihn warf und ihn gegen eine Felswand stieß. Für einen Moment protestierte sein angeborenes Ehrgefühl energisch gegen eine solche Behandlung, aber diese Empfindung hielt nur für einen Sekundenbruchteil an. Denn im nächsten Augenblick landete der Felsbrocken, der Falkar ansonsten getroffen hätte, stattdessen auf Delina, der es nicht mehr schaffte, rechtzeitig beiseite zu springen. Delina verschwand unter dem Brocken, und sein Gesichtsausdruck zeigte im letzten Augenblick Zorn und Befriedigung zugleich.

All dies geschah innerhalb von Sekunden. Schließlich überwanden die Danteri ihre Unentschlossenheit und rückten weiter vor – oder zumindest die Handvoll Überlebender, die noch dazu imstande war.

Sie brachten sich überstürzt in Sicherheit – zumindest dachten sie das.

In Wirklichkeit stürzten sie kopfüber ins Verderben, denn plötzlich gab der Boden unter ihren Füßen nach. Falkar, der die Nachhut bildete, konnte gerade noch rechtzeitig abbremsen, als er die erschrockenen Rufe seiner Männer hörte. Das Poltern der Steinlawine hinter ihm ebbte ab. Auf Händen und Knien schob sich Falkar langsam vor und blickte in das Loch. Tief unten erkannte er die Formen einer unterirdischen Höhle und die zerschmetterten Körper seiner Soldaten. Als er über die Schulter zurückschaute, sah er vereinzelte Hände und Füße, die zwischen den herabgestürzten Steinbrocken hervorragten.

»Dreckskerl!«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

M’k’n’zy klopfte sich im Geiste auf die Schulter. Er hätte sich keine bessere Stelle für einen Hinterhalt aussuchen können. Im Verlauf der Woche, in der er mit der vergeblichen (und doch auf seltsame Weise ertragreichen) Suche nach der Allzeit beschäftigt gewesen war, hatte er sich mit einem großen Teil der Öde vertraut gemacht. Als er an diesem Ort Zuflucht gesucht hatte, tat er es in dem Bewusstsein, dass er jeden ausspielen und austricksen konnte, der so dumm war, ihm zu folgen und ihn jagen zu wollen. Eine kleine, simple Sprengladung, die er von seinem Versteck aus gezündet hatte, war mehr als ausreichend gewesen, um die Felsbrocken in die Tiefe stürzen zu lassen.

Was die unterirdische Höhle betraf, so wäre M’k’n’zy ihr selbst vor einigen Jahren beinahe zum Opfer gefallen. Zum Glück war er damals allein gewesen, sodass sein wesentlich geringeres Gewicht dazu geführt hatte, dass er lediglich mit einem Bein durch die dünne Höhlendecke gebrochen war. Es hatte ihm seinerzeit einen furchtbaren Schrecken eingejagt, aber mehr war nicht geschehen.

Für die Soldaten, die ihn verfolgt hatten, war die Situation jedoch erheblich lebensgefährlicher gewesen.

Dennoch war Vorsicht geboten. Er hatte nicht die Absicht, denselben dummen Fehler zu begehen, den sich seine Gegner erlaubt hatten.

M’k’n’zy verließ sein Versteck im oberen Bereich der Felsspalte und stieg langsam nach unten, um sich einen Überblick über die Verwüstung zu verschaffen. Er starrte hinunter. Zehn Meter tiefer schien sich nichts mehr zu rühren. Zwischen den Felsbrocken waren Gliedmaßen zu erkennen, und ein Stück weiter befand sich das große Loch, in das die übrigen Soldaten gestürzt waren.

Er nickte zufrieden, entschied jedoch, dass es vermutlich klüger wäre, nach Möglichkeit oben zu bleiben. Je höher der Weg lag, auf dem er sich bewegte, desto besser.

Also machte M’k’n’zy sich auf den Rückweg nach Calhoun. Er fragte sich, wie man ihn dort empfangen würde. Weiterhin fragte er sich, ob die Danteri nun endlich genug hatten. Er hoffte es und betete darum. Diese letzte und bisher größte Niederlage musste sie endlich davon überzeugen, dass die Xenexianer niemals aufgeben, niemals kapitulieren, niemals aufhören würden, an die Gerechtigkeit ihrer Sache zu glauben. Früher oder später musste diese Botschaft die Danteri erreichen. Und wenn es nötig war, sie ihnen wiederholt einzuprügeln, dann musste es eben so sein.

Er witterte eine Veränderung in der Luft, die ihm überhaupt nicht gefiel. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sich ein Sturm zusammenbraute, und er wusste aus persönlicher Erfahrung, wie schnell sich solche Veränderungen vollziehen konnten. In seiner Nähe gab es mehrere Felsvorsprünge, jede Menge sicherer Nischen, in denen er sich verkeilen konnte, um zu vermeiden, durch den heftigen Wind davongerissen zu werden, der für einen Sturm in der Öde typisch war. Er war sogar erst vor wenigen Minuten an einer Stelle vorbeigekommen, an der es höchstwahrscheinlich einen sehr gut geschützten Bereich gab. Es wäre wohl klüger, umzukehren und sich dort in Sicherheit zu bringen, bis der Sturm weitergezogen war.

Er drehte sich um, und als er plötzlich Gefahr spürte, war es höchstens ein Millimeter, der ihm das Leben rettete.

Die Klinge berührte sein Gesicht. Sie kam geflogen und zielte genau auf seinen Hals. Wenn er sich nicht in genau diesem Augenblick unverhofft umgedreht hätte, wäre seine Halsschlagader durchtrennt worden. Doch so rettete seine Reaktion ihm das Leben, während die glitzernde Klinge über sein Gesicht schnitt, von der rechten Schläfe nach unten über die Wange. Die Wunde klaffte tief und ging bis auf den Knochen. Blut strömte aus seiner rechten Gesichtshälfte, als M’k’n’zy hektisch zurückwich. Er wurde durch sein eigenes Blut geblendet, gleichzeitig explodierten Schmerzen in seinem Kopf, sodass der normalerweise trittsichere junge Mann den Boden unter den Füßen verlor. Er stürzte und schlug unglücklich auf, wobei seine bereits verletzten Arme zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Im Verlauf dieser gesamten Szene drang nicht ein Laut über seine Lippen.

»Kein Schmerzensschrei«, stellte Falkar fest, als er innehielt, um das Ergebnis seiner Arbeit zu begutachten. Erst dann besann er sich und wischte die Klinge seines Schwertes an seinem Gewand ab. »Ich bin beeindruckt, junger Mann. Genauso beeindruckt, wie du, hoffe ich, von meiner Fähigkeit beeindruckt bist, mich völlig unbemerkt an dich heranzuschleichen. Als wilder Kämpfer bildest du dir zweifellos einiges auf deine Instinkte und dein Geschick ein, dich niemals überraschen zu lassen … Bist du jetzt überrascht, dass du überrascht wurdest?«, setzte er hinzu, ohne seine Selbstgefälligkeit verbergen zu können.

M’k’n’zy sagte kein Wort. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Drang, laut aufzuschreien zu unterdrücken. Er kämpfte um seine Beherrschung, er atmete regelmäßig und verdrängte die Todesqualen, die ihm zusetzten, die seine Sinne betäubten, die es ihm fast unmöglich machten, sich auf die einfache Aufgabe zu konzentrieren, am Leben zu bleiben. Seine rechte Hand war blutüberströmt. Er musste sein Gesicht buchstäblich zusammenhalten.

»Hast du das Auge verloren?«, fragte Falkar, der keine Eile hatte, diese Arbeit zu Ende zu bringen. Er hatte schon zu viele Verluste hinnehmen müssen, die auf das Konto dieses jungen Einfaltspinsels gingen. In gewisser Weise war er sogar froh, dass sein erster Angriff nicht tödlich verlaufen war. Eigentlich hatte er ihn sofort töten wollen, aus Wut und – auch wenn er es sich nur widerstrebend eingestehen mochte – aus einem Hauch von Furcht, diesem geübten Killer von Mann zu Mann gegenüberzutreten. Doch so war es besser. So war es der Situation angemessener. Auf diese Weise konnte er beides haben: Er konnte seinem Opfer gegenübertreten und musste sich gleichzeitig keine Sorgen machen. »Vielleicht nehme ich dir auch das zweite. Ich könnte dich vor eine interessante Wahl stellen. Ich könnte dich töten … oder dich lebend, aber blind zurücklassen.«

Tatsächlich war da so viel Blut und Schmerz, dass M’k’n’zy gar nicht sagen konnte, ob er das eine Auge tatsächlich verloren hatte. Mit blutverschmierter Hand hielt er seine rechte Gesichtshälfte fest. Es fehlte nicht mehr viel, bis er von den gottlosen Qualen überwältigt wurde, die ihn zu lähmen drohten, das spürte er. Und er wusste auch, dass Falkar ihn auf keinen Fall am Leben lassen würde, auch wenn er soeben etwas anderes behauptet hatte. Sicher, er würde ihn vielleicht vorher blenden. Er würde ihn mit sadistischer Befriedigung beobachten und ihn dann töten. M’k’n’zy beschloss, auf Zeit zu spielen, und sagte: »Mir liegt nichts … an meinen Augen.«

»Wirklich nicht?«, fragte Falkar zurück. Die Sicherheit in M’k’n’zys Stimme beunruhigte ihn ein wenig. »Und warum nicht?«

M’k’n’zy begann, zu reden. Jedes Wort war mit einer gewaltigen Kraftanstrengung verbunden, aber er sprach immer weiter, um nicht die Konzentration zu verlieren, um die Schmerzen zurückzudrängen, um Zeit zu schinden … vielleicht sogar, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er noch am Leben war.

»Diese Augen«, sagte er, »sahen in ihrer Jugend … wie Rebellenführer bestraft wurden … indem man ihre ungeborenen Kinder aus … den Bäuchen ihrer Mütter riss. Sie sahen Dörfer, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Sie sahen … sie sahen sogenannte Kriminelle, die kleinere Vergehen begingen … und bestraft wurden, indem ihnen die Gliedmaßen mit Energiewaffen abgetrennt wurden … Stück für Stück, während sie um Gnade schrien … doch ohne Hoffnung auf Gnade. Sie sahen … wie mein Vater auf dem großen Platz gefoltert wurde, wie er für Verbrechen gegen den Staat bestraft wurde … eine Bestrafung, die von dir befohlen wurde, du Schweinehund … Mein Vater wurde geschlagen und ausgepeitscht, bis ein ehemals stolzer Mann … zu einem wimmernden Häufchen Elend geworden war, das schon schrie, wenn es den nächsten Schlag erahnte … Diese Augen … sahen den Schock und das Entsetzen in seinem Gesicht … kurz bevor sein kräftiges Herz zu schlagen aufhörte … Das Letzte, was mein Vater in seinem Leben hörte … war mein Flehen, mich nicht alleinzulassen … mein Flehen um ein Versprechen, das er niemals halten konnte …« Seine Stimme klang erstickt, als er weitersprach. »Diese Augen … haben die Hand der Tyrannei gesehen … und bevor ich zu einem Mann herangewachsen war, wollte ich diese Hand am Gelenk abhacken …«

Diese Worte machten Falkar sehr nervös. Obwohl es M’k’n’zy wiederholt gelungen war, schneller und klüger als Falkars Kriegsführer zu sein, hatte er von ihm immer das Bild eines grunzenden Wilden gehabt, dessen Erfolge hauptsächlich auf Glück und einen instinktiven Verstand zurückzuführen waren, der weit über das hinausging, wozu seine Artgenossen jemals imstande sein würden.

Doch was er soeben gehört hatte, war keineswegs das Gestammel eines kaum artikulationsfähigen Wilden gewesen. Wer war noch in der Lage, intelligente Worte zu formulieren, während literweise Blut aus seinem Gesicht strömte? Plötzlich verflüchtigten sich alle Vorstellungen, mit seinem Opfer zu spielen und das Ende in die Länge zu ziehen. Er wollte nur noch eins … dass diese Missgeburt tot war, mehr nicht. Tot und erledigt – und seinen Kopf als Trophäe.

Was Falkar jedoch nicht erkannte, war, dass M’k’n’zys kleine Rede einem zusätzlichen Zweck diente. Er wollte Zeit gewinnen, bis der Sturm einsetzte. Der Sturm, dessen Herannahen M’k’n’zy gespürt hatte, während Falkar offensichtlich nichts davon bemerkte. Doch es wurde im dem Moment offensichtlich, als der Sturm unvermittelt mit voller Gewalt über sie hereinbrach.

Er tobte über die nahe Ebene, raste durch die Schluchten und packte beide Männer gleichzeitig, als Falkar sich gerade M’k’n’zy nähern wollte, um ihn in Stücke zu schneiden. Der Wind brauste heulend um Falkar herum, der nicht mehr wusste, in welche Richtung er schauen sollte. Ihm war überhaupt keine Zeit geblieben, sich darauf vorzubereiten, und im nächsten Moment stand Falkar im Zentrum eines Wirbelwinds. Er taumelte, als die Naturgewalten an ihm zerrten, und er versuchte in seiner Verzweiflung sogar, sich mit Schwerthieben dagegen zu wehren. Der Wind riss ihm jedoch das Schwert aus der Hand. Er hörte, wie es klirrend davonwirbelte. Er drehte sich in die Richtung, die es seiner Ansicht nach genommen hatte, doch er konnte es nirgendwo mehr sehen. Stattdessen tappte er hilflos und ohne jede Orientierung umher. »Ich hasse diesen Planeten!«, fauchte er und in diesem Augenblick gelangte er zu einer Schlussfolgerung: Niemand außer den Xenexianern hatte etwas auf diesem Planeten zu suchen. Wenn Falkar ihn nach diesem Tag niemals wiedersah, konnte er sich für den Rest seines Lebens glücklich schätzen.

Er konnte nichts mehr sehen. Er ging in die Knie, blinzelte angestrengt und senkte den Kopf, um dem Wind eine geringere Angriffsfläche zu bieten. Er streckte die Hände aus und tastete, während er gegen jede Hoffnung hoffte, dass er seine Waffe wiederfand. Wahrscheinlich musste er die Suche nach M’k’n’zy noch einmal ganz von vorn beginnen, weil der kleine Barbar diese Deckung bestimmt für einen Fluchtversuch nutzen würde. Das war das Problem mit Xenex: Ganz gleich, worum es ging, auf diesem Planeten war nichts einfach.

Und dann geschah das Wunder, als seine suchenden Hände plötzlich die Waffe berührten, die er verloren hatte. Während der Wind ihm in die Ohren schrie, spürten seine Finger die vertrauten Konturen der Metallklinge auf dem Boden. Er stieß einen Triumphschrei aus und tastete nach dem Griff, damit er das Schwert aufheben konnte.

Plötzlich bewegte sich die Klinge, und zuerst glaubte er, der höhnische Wind hätte sie ihm erneut entrissen. Um sie nicht wieder zu verlieren, setzte er nach …

… und stellte mit einem Mal fest, dass die Klinge bis zum Griff in seiner Brust steckte.

Und da war ein Mund, der leise in sein Ohr sprach. Er war sehr nah, wodurch die Situation beinahe intim wirkte. Eine Stimme, die flüsterte: »Hast du das hier gesucht?«

Falkar wollte antworten, doch er brachte nicht mehr als ein abgehacktes Gurgeln zustande. Der Lärm des Sturms ließ nach und wich einem Pochen in seinem Kopf, das jedes andere Geräusch übertönte. Dann fiel er auf den Rücken, und der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war genau derselbe, den er nur wenige Augenblicke zuvor gehabt hatte …

Ich hasse diesen Planeten

II

Er wollte nicht darüber nachdenken, was er zu tun im Begriff war … er wollte sich nicht völlig vom Schmerz überwältigen lassen … M’k’n’zy hielt sein Gesicht fest, bis er einigermaßen sicher war, dass sich das Blut nicht mehr in Strömen aus der klaffenden Wunde ergoss. Allerdings hatte er keine Ahnung, ob die Blutung dauerhaft zum Stillstand kam. Er war überzeugt, dass nur der Druck, den er auf das Gewebe ausübte, dafür verantwortlich war, und da er ständig gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfen musste, konnte er diesen Druck möglicherweise nicht mehr lange ausüben. Er sah immer wieder, wie er zusammenbrach und durch sein aufgeschlitztes Gesicht verblutete.

Er fragte sich, ob er in diesem Zustand träumen würde. Er fragte sich, wovon er träumen würde. Würden sein Vater und seine Mutter aus wirbelnden Nebeln hervortreten, ihm einladend die Hand reichen und ihn an jenen Ort bringen, an dem ihre Seelen Zuflucht gefunden hatten (wie die Priester von Calhoun es predigten)? Oder würde nur Dunkelheit und Vergessen folgen (wie M’k’n’zy vermutete)? Dann wurde ihm bewusst, dass seine Gedanken abschweiften, woraufhin er sich zusammenriss und sich wieder zu konzentrieren versuchte.

Der Sturm hatte bereits etwas nachgelassen, und M’k’n’zy untersuchte nun Falkars Leiche. Er benutzte nur eine Hand, während er die andere weiterhin gegen sein Gesicht presste. Zu diesem Zeitpunkt war er einigermaßen davon überzeugt, dass sein rechtes Auge noch intakt war, hauptsächlich aus dem Grund, weil offenbar keine Flüssigkeit aus der Augenhöhle zu sickern schien. Trotzdem konnte er fast nichts sehen, und er musste sich mehr auf seinen Tastsinn als auf seine Augen verlassen.

Falkars Schwert hatte er sich bereits in den Gürtel gesteckt. Als seine Finger den kunstvoll gearbeiteten Griff betasteten, gelangte er zu dem Schluss, dass dieser Schmuck vermutlich in irgendeiner Weise mit dem königlichen Haus zusammenhing, dem Falkar diente. Er untersuchte Falkars Gürtel und entdeckte eine Art Beutel, der daran befestigt war. Er zerrte daran, doch er wollte sich nicht lösen. Er riss erneut, lenkte einen Teil der Schmerzen, gegen die er kämpfte, in diese Bewegung um, und diesmal kam der Beutel frei. Er durchsuchte ihn, weil er hoffte, darin etwas wie eine Erste-Hilfe-Ausrüstung zu finden. Aber seine Hoffnung wurde enttäuscht. Es schien sich vielmehr um eine Art Werkzeugtasche zu handeln. Nichts Ungewöhnliches, auch wenn jemand von Falkars Rang wohl kaum zu simplen Reparaturarbeiten herangezogen wurde. Die Danteri bildeten sich einiges darauf ein, auf alle möglichen Situationen vorbereitet zu sein, und die Befähigung zu schnellen Instandsetzungsarbeiten fiel zweifellos unter diese Art von Vorkehrungen.

Dann schlossen sich seine Finger um etwas, von dem er unverzüglich erkannte, dass es ihm von großem Nutzen sein konnte. Es war ein kleiner Schweißlaser, dazu geeignet, metallische Oberflächen zu reparieren – zum Beispiel ein zerbrochenes Schwert oder möglicherweise ein Fahrzeug mit einem Loch in der Seite.

Natürlich war es nicht zum Schließen von Fleischwunden gedacht. Dennoch hatte M’k’n’zy die Absicht, das Gerät genau zu diesem Zweck einzusetzen.

M’k’n’zy setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Felsen. Er zog das Schwert und steckte sich den Griff zwischen die Zähne, um darauf zu beißen. Dann hob er den Laser vor sein Gesicht und betätigte den Schalter. Von den zwei Zinken, die aus der Oberseite hervorragten, ging ein feiner, aber intensiver Lichtstrahl aus, zunächst flackernd, dann beständiger. M’k’n’zy regulierte die Kontrollen, um die Energieabgabe auf die niedrigste Stärke einzustellen. Der Strahl wirkte in diesem Zustand zwar immer noch gefährlich, doch er durfte sich kein Zögern erlauben, denn er spürte, wie nun wieder Blut aus der Wunde sickerte. Er konnte nicht einschätzen, wie viel Blut er bereits verloren hatte, aber wenn er nicht bald etwas unternahm, würde er zweifellos in absehbarer Zeit an Blutverlust sterben.

Sein einziger Trost bestand darin, dass sein Gesicht bereits völlig gefühllos war, weshalb die Nerven vermutlich kaum noch Schmerz empfinden konnten.

Er hob den Schweißlaser vor das Gesicht und atmete einige Male ein und aus, um sich auf das vorzubereiten, was er möglicherweise doch spüren würde. Dann legte er den Laser an die Schläfe, wo der Schnitt begann.

Sofort stellte er fest, dass er schmerzempfindlicher war, als er angenommen hatte. Ein lautes Zischen drang explosionsartig zwischen seinen Zähnen hervor, während er sich darauf konzentrierte, seine Hände ruhig zu halten, und darum kämpfte, den Kopf nicht zu bewegen. M’k’n’zy biss noch stärker in den Schwertgriff. Er nahm den Geruch von verbranntem Fleisch wahr und erkannte, dass es sein eigenes war. Er sagte sich immer wieder: Löse dich davon. Ignoriere es. Jemand anders, der ganz weit weg ist, spürt diese Schmerzen. Du hast damit nichts zu tun. Beobachte alles aus großer Ferne und lass dich nicht davon beunruhigen. Und während er diese Litanei im Geiste aufsagte, bewegte er den Laser langsam über sein Gesicht nach unten. Es war eine schwierige Aufgabe, denn er konnte sich nur nach seinem Tastsinn richten und musste die Teile seines zerstörten Gesichts zusammenhalten, während er die Wunde versiegelte, und gleichzeitig dafür sorgen, dass seine Finger nicht mit dem Laser in Berührung kamen. Einmal verschätzte er sich und hätte sich beinahe den Daumen abgetrennt.

Er konnte nicht sagen, wie lange er brauchte, um diese scheußliche Arbeit zu erledigen. Als er fertig war, fiel ihm der Schweißlaser aus den tauben Fingern. M’k’n’zy kippte nach vorn, während sich die Welt um ihn drehte, und erst dann wurde ihm bewusst, dass er immer noch auf den Griff des Schwertes biss. Er öffnete den Mund ein wenig, und das Schwert fiel scheppernd zu Boden. Mit grimmiger Befriedigung wurde ihm klar, dass er so fest zugebissen hatte, dass seine Zähne tiefe Abdrücke im Griff zurückgelassen hatten.

M’k’n’zy amüsierte sich immer noch leise kichernd darüber, als er schließlich in Ohnmacht fiel.

Als er erwachte, war sein erster Gedanke, dass er ungefähr eine Woche lang so dagelegen haben musste. Er konnte seinen Mund überhaupt nicht mehr spüren. Seine Lippen waren angeschwollen und völlig taub. Um ihn herum war Nacht, was ihn beruhigte. Die kühle Luft umströmte ihn sanft wie die Umarmung einer Geliebten.

Sein Verstand teilte ihm mit, dass es Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Er musste sich auf die Beine erheben und die Öde so schnell wie möglich hinter sich lassen. In der Nacht war es am einfachsten, sich fortzubewegen. Und er beschloss, genau das zu tun … nachdem er sich noch ein wenig ausgeruht hatte. Er schloss die Augen – und als er sie wieder öffnete, ging die Sonne gerade über dem Horizont auf.

Und ein Geschöpf kam direkt auf ihn zu.

Es war klein und lief mit trippelnden Schritten. Wie es schien, war es sehr an der Blutpfütze interessiert, die unter M’k’n’zys Kopf geronnen war. Als zweites Objekt der Neugier hatte es sich offenbar die frisch verschweißte Wunde in seinem Gesicht ausgesucht. Das Tier besaß einen harten Panzer, schwarze Knopfaugen und kleine pinzettenartige Krallen, die sich klickend M’k’n’zys Augen näherten. Wenn nichts geschah, würde es in wenigen Sekunden sein rechtes Auge auslöffeln, als wäre es eine Portion Eiscreme.

M’k’n’zy war sich gar nicht bewusst, dass er immer noch das Schwert umklammert hielt. Er merkte nur, wie sich seine Hand instinktiv in Bewegung setzte, und er die glitzernde Klinge hob und niederfahren ließ, wodurch das Geschöpf in zwei Hälften geteilt wurde. Es geschah mit unglaublicher Kraft, wodurch diese beiden Hälften buchstäblich in entgegengesetzte Richtungen flogen.

Er lächelte grimmig – oder glaube zumindest, es zu tun, denn er hatte immer noch kein Gefühl in seinem Gesicht.

Langsam zwang er sich, aufzustehen, wobei seine Beine immer wieder einknickten, bis es ihm gelang, sie gerade auszustrecken. Er rieb sich vorsichtig das angetrocknete Blut aus dem Auge und stellte – nach mehrmaligem Blinzeln – zu seiner tiefen Genugtuung fest, dass das Auge unversehrt war. Er betrachtete seine Umgebung und zweifelte nicht daran, einen Weg durch die Öde finden zu können.

Diese Zuversicht hielt nur so lange an, bis er sich einen Überblick verschafft hatte. Denn in diesem Moment gelangte er zu der plötzlichen, entsetzlichen Erkenntnis, dass er keine klare Vorstellung hatte, wo er sich befand. »Das kann nicht sein«, murmelte er mit geschwollenen Lippen. »Es kann nicht sein.« Er war überzeugt gewesen, jeden Quadratkilometer, ja selbst jeden Quadratmeter dieses Geländes zu kennen.

Aber er war doch an Ort und Stelle zusammengebrochen … oder nicht? Nein. Offensichtlich doch nicht. Denn als M’k’n’zy sich nun die jüngsten Ereignisse noch einmal durch den Kopf gehen ließ, erkannte er, dass es immer wieder kurze Augenblicke der Klarheit gegeben hatte, die sich mit Bewusstlosigkeit abwechselten. Ihm wurde klar, dass er begonnen hatte, sich auf den Heimweg zu machen, obwohl er kaum bei Bewusstsein gewesen war. Es war, als hätte er seinen Autopiloten eingeschaltet. Doch weil sein Gehirn in dieser Situation nicht zuverlässig arbeitete, hatte er keine sinnvolle Richtung eingeschlagen. Vermutlich konnte er sich sogar noch glücklich schätzen, nicht von irgendeiner Klippe gestürzt zu sein. Trotzdem hatte er genug Blut verloren, um darauf eine Armada schwimmen zu lassen. Er hatte eine klaffende Wunde im Gesicht, bohrende Kopfschmerzen, und sein Puls raste. Es sah ganz danach aus, dass er fieberte. Das war großartig, einfach großartig. Nach allem, was er bereits durchgemacht hatte, war eine Infektion wirklich das Letzte, was ihm jetzt noch fehlte.

Er blickte nach oben, um die Position der Sonne am Himmel zu bestimmen. Da er definitiv plante, nach Osten zu gehen, schlug er entschlossen diese Richtung ein. Doch ihm waren die Gehirnerschütterung und der schwere Schock, den er erlitten hatte, nicht bewusst. Infolgedessen kämpfte er sich erschöpft und todmüde fast einen Tag lang nach Osten vor, bis ihm plötzlich klar wurde, dass er eigentlich nach Westen hatte gehen wollen.

Zu diesem Zeitpunkt konnte er seinen Arm überhaupt nicht mehr bewegen, und sein Gesicht fühlte sich an, als würde es in Flammen stehen. Aber die Sonne war aufgegangen, und er wusste, dass er keinen weiteren Tag überleben würde, wenn er durch die Hitze marschierte. Er konnte allerdings auch nicht bleiben, wo er war. Seine einzige Chance darin bestand, nachts weiterzugehen. Das kam ihm sogar entgegen, denn trotz seiner Erschöpfung hatte er Angst vor dem Schlaf, weil er befürchtete, nicht wieder aufzuwachen. Diese Besorgnis war nicht ganz unberechtigt. Also prägte M’k’n’zy sich den Punkt über dem fernen Gebirgsrücken ein, wo die Sonne aufgegangen war, und machte sich auf den Weg nach Westen, indem er die Sterne zur Orientierung nutzte.

Er hörte das Heulen des Sturmes nur wenige Momente bevor er ihn packte, sodass ihm keine Zeit mehr blieb, einen sicheren Unterschlupf zu suchen. Der Wind riss gnadenlos an ihm. M’k’n’zy wurde zu Boden geworfen wie ein Stein, der über die Oberfläche eines Sees hüpft. Und nachdem er so vieles schweigend ertragen hatte, stieß M’k’n’zy endlich einen Schrei der Verzweiflung aus. Wie viel sollte er noch einstecken? Nach allem, was ihm die Danteri angetan hatten, wollten sich jetzt auch noch die Götter an ihm rächen? Gönnten sie ihm nicht einmal mehr die winzigste Portion Glück?

Die Götter antworteten ihm. Doch ihre Antwort bestand leider darin, ihm zu verdeutlichen, dass er äußerst undankbar war. Schließlich war er immer noch am Leben. Die Götter – falls es sie gab – hatten ihn überleben lassen, und wenn ihm das nicht genügte, dann wollten sie ihn daran erinnern, wie dankbar er ihnen sein sollte. Der Sturm riss ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Seine Hände versuchten, sich in der Luft festzukrallen, was jedoch wenig nützte.

»Haaaalt!«, rief er, und dann hörten seine wilden Bewegungen tatsächlich auf … als der Wind ihn gegen einen Felsen schleuderte. Wieder stürzte M’k’n’zy in Dunkelheit.

Auch diese Dunkelheit wollte ihn nicht mehr loslassen. Nachdem er sich scheinbar eine Ewigkeit in ihrem Griff befunden hatte, konnte er sich endlich ins Bewusstsein zurückkämpfen. Als er erwachte, war es wieder Tag. Er hatte hohes Fieber, und seine Wunde war gerötet und entzündet. Es fühlte sich an, als gäbe es innerhalb seines Schädels nur noch zwei Dinge: ein konstantes Pochen und eine Zunge, die auf das Dreifache ihrer normalen Größe angeschwollen war. Jetzt hatte er auch noch einen furchtbaren violetten Bluterguss auf der linken Seite des Kopfes, gewissermaßen als Ausgleich zu der tiefen Schnittwunde in seiner rechten Gesichtshälfte.

An diesem Punkt hatte er keine klare Vorstellung mehr, in welche Richtung er gehen sollte, wo es für ihn Sicherheit gab – ja nicht einmal, was überhaupt Sicherheit war. Seine Identität begann, zu verschwimmen. Er strengte sich an, sich an seinen Namen zu erinnern, an seine Heimat, sein Ziel. Er war … er war M’k’n’zy von Calhoun … und er …

Und dann entglitt es ihm, bevor er es festhalten konnte, wie ein Insekt, das von einem Windstoß davongetragen wurde. Er versuchte, es zu jagen, als wäre es ihm möglich, tatsächlich einen flüchtigen Gedanken mit den Händen zu fassen, und schließlich brach er auf einer niedrigen Hügelkuppe zusammen. Er stürzte vornüber und rollte über den Schotter hinunter, der seinem ohnehin schon geschundenen Körper weiter zusetzte. Als er wieder zum Stillstand kam, war ihm alles gleichgültig geworden.

M’k’n’zy mochte dort stunden- oder tagelang gelegen haben. Er war sich nicht sicher. Es war ihm egal. Für ihn zählte nur, dass das Pochen aufhörte, dass die Hitze aufhörte, dass die Schmerzen nachließen. Wie viel sollte er noch ertragen? Wie viel stand ihm noch bevor?

Er hatte genug. Er wollte nicht mehr für andere entscheiden, die sich allein auf ihn verließen. Sein ganzes Leben, so weit er sich zurückerinnern konnte, war er von Entschlossenheit und einer einzigartigen Vision erfüllt gewesen. Manche hätten vermutlich von Besessenheit gesprochen. Und andere hätten ihn als wahnsinnig abgestempelt.