ARTHUR C. CLARKE
3001
DIE LETZTE ODYSSEE
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
www.diezukunft.de
Für Cherene, Tamara und Melinda.
Ich wünsche euch Glück in eurem Jahrhundert –
möge es besser sein als das meine.
Widmung
Prolog: Die Erstgeborenen
I. Star City
1. Der Kometencowboy
2. Erwachen
3. Resozialisation
4. Zimmer mit Aussicht
5. Weiterbildung
6. Der Zerebralhelm
7. Lagebesprechung
8. Rückkehr nach Olduvai
9. Skyland
10. Ikarus lässt grüßen
11. Hier wohnen Drachen
12. Abgeblitzt
13. Fremd in einer fremden Zeit
II. Die »Goliath«
14. Abschied von der Erde
15. An der Venus vorbei
16. Am Kapitänstisch
III. Die Welten des Galilei
17. Ganymed
18. Im Grandhotel
19. Der Wahn der Menschheit
20. Der Ketzer
21. Quarantäne
22. Wer nicht wagt …
IV. Das Königreich des Schwefels
23. Die »Falcon«
24. Fluchtmanöver
25. Feuer in der Tiefe
26. Tsienville
27. Eis und Vakuum
28. Die kleine Dämmerung
29. Gespenster in der Maschine
30. Raumlandschaft aus Gas und Schaum
31. Die Kinderschuhe
V. Vollendung
32. Jahre der Muße
33. Kontakt
34. Das Urteil
35. Kriegsrat
36. Die Schreckenskammer
37. Operation DAMOKLES
38. Präventivschlag
39. Gott ist tot
40. Mitternacht: Am Pico
Epilog
Quellen und Danksagungen
Zum Abschied
Prolog
Die Erstgeborenen
Nennen wir sie die Erstgeborenen. Sie waren keine Menschen, oh nein, aber sie waren aus Fleisch und Blut, und wenn sie hinausblickten in die Tiefen des Weltalls, dann wurden sie von ehrfürchtigem Staunen erfasst – und von tiefer Einsamkeit. Sowie sie dazu imstande waren, nahmen sie den Weg zu den Sternen, um nach Gesellschaft zu suchen.
Auf ihren Reisen begegnete ihnen das Leben in vielerlei Gestalt, und auf tausend Welten konnten sie das Wirken der Evolution beobachten. Oft mussten sie mit ansehen, wie ein erstes, allzu schwaches Fünkchen Intelligenz in der kosmischen Nacht aufflackerte und wieder erlosch.
Der Geist war das Kostbarste, das sie in der gesamten Galaxis fanden, und so förderten sie seine Entwicklung allenthalben. Die Sterne wurden ihnen zu Äckern, sie säten, und mitunter konnten sie auch ernten. Doch wo das Unkraut wucherte, rissen sie es gnadenlos aus.
Die Zeit der großen Dinosaurier war längst vorüber – ein Hammerschlag aus dem All hatte diese aufdämmernde Hoffnung zerstört –, als das Forschungsschiff nach einer Reise von tausend Jahren das Sonnensystem erreichte. Es raste an den im Eis erstarrten äußeren Planeten vorbei, verharrte kurz über den Wüsten des sterbenden Mars und erreichte schließlich die Erde.
Vor den Blicken der Reisenden lag eine Welt voll wimmelnden Lebens. Jahrelang beobachteten, sammelten und registrierten sie, und als es nichts mehr zu erforschen gab, begannen sie mit der Umgestaltung. Viele Arten zu Wasser und zu Lande wurden Gegenstand ihrer Experimente. Doch was davon Früchte trug, würde sich frühestens in einer Million Jahren offenbaren.
Sie hatten viel Geduld, doch sie waren noch nicht unsterblich. Das Universum mit seinen hundert Milliarden Sonnen bot ihnen ein reiches Betätigungsfeld, und immer neue Welten lockten. So machten sie sich abermals auf in die große Leere, wohl wissend, dass sie niemals wiederkehren würden. Doch das war auch nicht nötig, denn sie hatten Diener zurückgelassen, die den Rest erledigen konnten.
Eiszeiten gingen über die Erde hinweg, während der Mond von jedem Wandel unberührt blieb und getreulich das Geheimnis von den Sternen hütete. Langsamer noch als die Gletscher bewegten sich die Zivilisationsströme durch die Galaxis. Glanzvolle und schreckliche Reiche entstanden und zerfielen wieder, und alle gaben sie ihre Erfahrungen an ihre Nachfolger weiter.
Draußen, inmitten der Sterne, trieb die Evolution währenddessen neuen Höhepunkten zu. Längst hatten die ersten Besucher der Erde die Grenzen überwunden, die Fleisch und Blut ihnen setzten. Sobald sie Maschinen entwickelt hatten, die besser waren als ihre Körper, taten sie den logischen Schritt und verpflanzten erst ihre Gehirne, dann nur noch ihr Bewusstsein in blanke Gehäuse aus Metall und Plastik, um darin die Galaxis zu durchstreifen. Raumschiffe bauten sie nicht mehr. Sie waren selbst zu Raumschiffen geworden.
Diese Phase der Maschinenexistenz währte freilich nicht lang. Dank unermüdlicher Forschungsarbeit lernten sie irgendwann, ihr Wissen in der Struktur des Raumes zu speichern und ihre Gedanken in starren Lichtrastern zu fixieren.
Schließlich verwandelten sie sich in reine Energie; auf tausend Welten zuckten die leeren Hüllen, die sie abgestreift hatten, noch eine Weile im seelenlosen Totentanz, um dann zu Staub zu zerfallen.
Nun waren sie die Herren der Galaxis. Endlich befreit von der Tyrannei der Materie, streiften sie ungehindert zwischen den Sternen umher oder drangen wie dünner Nebel durch die Risse und Sprünge des Raumes. Dennoch hatten sie ihre Anfänge im warmen Schlamm eines längst versiegten Meeres nicht vergessen. Auch ihre großartigen Werkzeuge funktionierten noch und wachten weiter über die vor Äonen begonnenen Experimente.
Freilich gehorchten sie den Geboten ihrer Schöpfer nicht mehr zuverlässig, denn gleich allen Kindern der Materie waren sie anfällig für den Zahn der Zeit und für ihren geduldigen, ewig wachen Diener, die Entropie.
Und manchmal fanden und verfolgten sie auch eigene Ziele.
I.
Star City
1. Der Kometencowboy
Captain Dimitri Chandler [M 2973.04.21 /93.106/ /Mars/ /Raumakad3005] – seine Freunde nannten ihn einfach »Dim« – hatte allen Grund, sich zu ärgern. Sechs Stunden hatte die Botschaft von der Erde gebraucht, um den Raumschlepper »Goliath« hier draußen jenseits des Neptunorbits zu erreichen. Nur zehn Minuten später, und er hätte sagen können: »Bedaure kann jetzt nicht weg – haben eben damit begonnen, den Sonnenschutz anzubringen.«
Es wäre ein triftiger Grund gewesen: einen Kometenkern in eine reflektierende Folie von nur wenigen Molekülen Dicke, aber mehreren Kilometern Seitenlänge zu wickeln, war eine Aufgabe, die man nicht halb vollendet liegenlassen konnte.
Doch wie die Dinge lagen, musste er dem albernen Wunsch wohl oder übel entsprechen: Er stand sonnenwärts ohnehin bereits in Ungnade, wenn auch ganz ohne sein Zutun. Schon vor dreihundert Jahren – im 27. Jahrhundert also – hatte man angefangen, Eisklumpen aus den Saturnringen zu sammeln und zur Venus und zum Merkur zu schicken, wo sie dringend gebraucht wurden. Seither lamentierten die Sonnensystemschützer über diesen kosmischen Vandalismus und suchten ihre Vorwürfe mit »Vorher«- und »Nachher«-Aufnahmen zu stützen. Captain Chandler hatte die angeblichen Unterschiede auf den Bildern nie so recht erkennen können, aber die breite Öffentlichkeit war durch die Umweltkatastrophen früherer Jahrhunderte sensibilisiert und reagierte entsprechend. Das Referendum »Hände weg vom Saturn!« war mit großer Mehrheit verabschiedet worden und hatte Chandler vom Ringdieb zum Kometencowboy gemacht.
Im Moment befand er sich ziemlich weit in Richtung Alpha Centauri und fing versprengte Teile des Kuiper-Gürtels ein. Hier draußen gab es genügend Eis, um Merkur und Venus mit kilometertiefen Ozeanen zu bedecken, aber bis das Höllenfeuer auf den beiden Planeten gelöscht und die Voraussetzungen für die Ansiedlung von Lebewesen geschaffen waren, konnte es noch Jahrhunderte dauern. Die Sonnensystemschützer protestierten natürlich auch gegen diese Projekte, aber nicht mehr mit dem gleichen Eifer wie früher. Der Asteroideneinschlag im Pazifik im Jahre 2304 hatte einen Tsunami ausgelöst, der Millionen Opfer forderte – Ironie des Schicksals, dass der Schaden bei einem Einschlag auf dem Festland sehr viel geringer gewesen wäre! –, und hatte damit alle nachfolgenden Generationen aufs eindringlichste gewarnt, dass die Menschheit viel zu viel auf eine einzige, schlechte Karte setzte.
Dieses Paket, dachte Chandler, braucht fünfzig Jahre, um sein Ziel zu erreichen, es kommt also nicht darauf an, ob es eine Woche früher oder später abgeht. Aber die Rotation, das Massenzentrum und die Schubvektoren mussten samt und sonders neu berechnet und zur Überprüfung zum Mars gefunkt werden. Wenn man mehrere Milliarden Tonnen Eis auf einen Orbit brachte, der sie womöglich auf Rufweite an der Erde vorbeiführte, konnte der kleinste Rechenfehler fatale Folgen haben.
Wie schon so oft, wanderte Captain Chandlers Blick zu dem alten Foto über seinem Schreibtisch. Es zeigte ein Dampfschiff mit drei Masten vor einem riesigen Eisberg – der es ebenso winzig erscheinen ließ wie der Komet die »Goliath«.
Unglaublich, dachte er wieder einmal, dass diese primitive »Discovery« und das Schiff, das unter gleichem Namen zum Jupiter geflogen war, nicht mehr als ein langes Menschenleben trennte! Was hätten die Südpolforscher von anno dazumal wohl gesagt, wenn sie auf seiner Brücke gestanden hätten?
Auf jeden Fall wären sie verwirrt gewesen, denn die Eiswand, vor der die »Goliath« schwebte, erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte. Und das Eis sah ganz anders aus als auf den Polarmeeren. Die reinen Weiß- und Blautöne fehlten, es wirkte geradezu schmutzig – und das war es auch. Denn nur etwa 90 Prozent waren Wassereis: Der Rest war eine Giftbrühe aus Kohlenstoff- und Schwefelverbindungen, die zumeist nur bei Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt stabil blieben. Wenn man sie auftaute, kam es oft zu bösen Überraschungen. Der Ausspruch eines Astrochemikers: »Kometen haben Mundgeruch«, war weithin berühmt geworden.
»Skipper an Mannschaft«, verkündete Chandler. »Kleine Programmänderung. Wir haben Anweisung, die Arbeiten zu verschieben, um uns ein Objekt anzusehen, das die Radargeräte von SPACEGUARD entdeckt haben.«
Aus allen Interkomlautsprechern drang lautes Stöhnen. »Weiß man Genaueres?«, fragte schließlich jemand.
»Nicht viel, aber ich schätze, es ist wieder mal ein Projekt des Jahrtausendkomitees, das man übersehen hat.«
Auch das wurde mit einem Aufstöhnen quittiert: Man hatte die zahllosen Veranstaltungen, die zur Feier der Jahrtausendwende geplant worden waren, inzwischen gründlich satt. Alle Welt hatte aufgeatmet, als der 1. Januar 3001 heil überstanden war und die Menschheit wieder zur Tagesordnung übergehen konnte.
»Wahrscheinlich ist es nur blinder Alarm, genau wie beim letzten Mal. Wir machen so bald wie möglich weiter. Skipper Ende.«
Das war nun schon das dritte Mal, dachte Chandler verdrießlich, dass er einem Phantom nachjagte. Obwohl man das Sonnensystem seit Jahrhunderten bis in den letzten Winkel erkundete, gab es immer noch Überraschungen, und SPACEGUARD hatte vermutlich gute Gründe für seine Bitte. Hoffentlich hatte nicht wieder irgendein Phantast den legendären Goldasteroiden gesichtet. Falls er tatsächlich existierte – was Chandler für ausgeschlossen hielt –, wäre er ohnehin nur eine mineralogische Kuriosität; der Wert der Eisklumpen, die die »Goliath« sonnenwärts schickte, um öden Welten das Leben zu bringen, war sehr viel größer.
Es gab jedoch eine weitere Möglichkeit, die Chandler sehr ernst nahm. Die Menschheit hatte ihre Robotsonden inzwischen über hundert Lichtjahre im Umkreis im All verstreut und der Tycho-Monolith bewies zweifelsfrei, dass sehr viel ältere Zivilisationen ähnliche Initiativen ergriffen hatten. Nicht auszuschließen, dass sich noch andere Objekte außerirdischen Ursprungs im Sonnensystem befanden oder auf der Durchreise waren. Captain Chandler vermutete, dass auch SPACEGUARD in diese Richtung dachte: Sonst hätte man wohl kaum einen Raumschlepper Klasse 1 umdirigiert, damit er einem obskuren Radarsignal hinterherjagte.
Fünf Stunden später entdeckte die »Goliath« das Echo in großer Entfernung; selbst auf diese Distanz war es enttäuschend schwach. Doch mit der Zeit wurde es klarer und stärker, und schließlich stellte sich heraus, dass es von einem vielleicht zwei Meter langen Metallgegenstand abgegeben wurde. Das Objekt bewegte sich auf einer Bahn, die aus dem Sonnensystem hinausführte, es handelte sich also, dachte Chandler, mit ziemlicher Sicherheit um ein Stück Raumschrott, wie es die Menschheit im Lauf des letzten Jahrtausends so zahlreich zu den Sternen geschleudert hatte. Irgendwann würden diese Trümmer vielleicht das Einzige sein, was von der Existenz der menschlichen Rasse zeugte.
Als sie dem Objekt so nahe gekommen waren, dass eine visuelle Untersuchung möglich war, konnte Captain Chandler nur noch staunen. Irgendein fleißiger Historiker wühlte offenbar immer noch in den frühesten Aufzeichnungen des Raumfahrtzeitalters herum. Ein Jammer, dass die Computer die Antwort erst jetzt gegeben hatten, ein paar Jahre zu spät für die Jahrtausendfeiern!
»Hier ›Goliath‹!«, funkte Chandler erdwärts. Ehrfürchtiger Stolz klang aus seiner Stimme. »Wir holen soeben einen tausend Jahre alten Astronauten an Bord. Und ich kann mir sogar denken, wer es ist.«
Frank Poole erwachte, aber sein Kopf war so leer, dass ihm nicht einmal sein Name einfallen wollte.
Er befand sich in einem Krankenzimmer, das verriet ihm der primitivste und zugleich plastischste seiner fünf Sinne, noch bevor er die Augen aufschlug. Jeder Atemzug trug ihm einen schwachen, nicht unangenehmen Geruch nach Antiseptika zu und versetzte ihn zurück in seine verwegenen Teenagerjahre, als er sich – natürlich! – in Arizona bei den Meisterschaften im Drachenfliegen eine Rippe gebrochen hatte.
Dann kehrte die Erinnerung allmählich zurück. Ich bin Frank Poole, Kopilot und Erster Offizier der USSS »Discovery«, auf streng geheimer Mission zum Jupiter.
Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herzen. Wie in Zeitlupe lief die Szene vor seinem inneren Auge ab: die wildgewordene Raumkapsel, die mit ausgebreiteten Greifarmen auf ihn zugerast kam; der lautlose Aufprall – das vernehmliche Zischen, mit dem die Luft aus seinem Raumanzug entwich; danach – das letzte Bild – war er hilflos durchs All getaumelt und hatte sich vergeblich bemüht, den abgerissenen Luftschlauch wieder zu befestigen.
Warum auch immer die Steuerung der Raumkapsel verrücktgespielt haben mochte, jetzt war er jedenfalls in Sicherheit. Vermutlich hatte Dave kurz entschlossen das Raumschiff verlassen und ihn gerettet, bevor sein Gehirn durch den Sauerstoffmangel auf Dauer geschädigt worden wäre.
Der gute alte Dave!, dachte er. Ich muss mich bei ihm bedanken – Moment mal! – ich bin auf keinen Fall an Bord der »Discovery« – und ich kann unmöglich so lange bewusstlos gewesen sein, dass man mich zur Erde zurückgebracht hätte!
Er wurde aus seinen wirren Gedanken gerissen, als eine Oberschwester und zwei Pflegerinnen in der traditionellen Berufstracht das Zimmer betraten. Sie schienen bei seinem Anblick ein wenig überrascht. Bin ich etwa zu früh aufgewacht?, überlegte Poole. Der Gedanke erfüllte ihn mit kindlicher Befriedigung.
»Hallo!«, brachte er nach mehreren Versuchen heraus. Seine Stimmbänder waren wie eingerostet. »Wie geht's mir denn?«
Die Oberschwester legte lächelnd einen Finger auf die Lippen, eine unmissverständliche Geste. Dann machten sich die beiden Pflegerinnen routiniert ans Werk: Pulskontrolle, Fiebermessen, Reflextests. Als die eine seinen rechten Arm anhob und ihn wieder fallen ließ, stutzte Poole: Der Arm sank langsam herab und erschien ihm ungewöhnlich leicht. Er versuchte, sich aufzurichten. Auch sein Körper wog weniger als normal.
Ich muss also auf einem Planeten sein, dachte er. Oder in einer Raumstation mit künstlicher Schwerkraft. Bestimmt nicht auf der Erde – dafür bin ich nicht schwer genug.
Er hatte die entsprechende Frage schon auf den Lippen, als die Schwester etwas gegen seinen Hals drückte. Ein leichtes Kribbeln, und schon sank er wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Kurz bevor ihn das Bewusstsein verließ, ging ihm noch ein Gedanke durch den Kopf.
Sonderbar – sie haben die ganze Zeit über kein einziges Wort gesprochen.
Als Poole zum zweiten Mal erwachte und die Oberschwester und die Pflegerinnen an seinem Bett stehen sah, fühlte er sich kräftig genug, um etwas entschiedener aufzutreten.
»Wo bin ich? Wenigstens so viel können Sie mir doch verraten!«
Die drei Frauen wechselten ratlose Blicke. Dann sagte die Oberschwester sehr langsam und deutlich: »Es ist alles in Ordnung, Mr. Poole. Professor Anderson wird gleich hier sein … Er kann Ihnen alles erklären.«
Was gibt es da denn zu erklären?, dachte Poole gereizt. Immerhin spricht sie Englisch, wenn auch mit einem ziemlich merkwürdigen Akzent …
Dieser Anderson war offenbar schon unterwegs gewesen, denn gleich darauf ging die Tür auf – und Poole sah ganz kurz, wie eine Gruppe von Schaulustigen neugierig zu ihm hereinspähte. Allmählich kam er sich vor wie ein neues Tier im Zoo.
Professor Anderson war klein und sehr gepflegt. In seinen Zügen verbanden sich Schlüsselmerkmale mehrerer Rassen – der chinesischen, der polynesischen und der nordischen – zu einer höchst ungewöhnlichen Mischung. Zur Begrüßung hielt er Poole zunächst die rechte Handfläche entgegen, dann besann er sich kurz und schüttelte ihm die Hand, aber so zögerlich, als sei ihm diese Geste völlig fremd.
»Wie schön, dass Sie schon wieder so munter sind, Mr. Poole … Sie werden im Handumdrehen wieder auf den Beinen sein.«
Auch der Professor hatte diesen merkwürdigen Akzent, diese langsame Sprechweise – aber der demonstrative Optimismus am Krankenbett war offenbar allen Ärzten aller Zeiten gemeinsam.
»Freut mich zu hören. Vielleicht könnten Sie mir jetzt ein paar Fragen beantworten …«
»Natürlich, selbstverständlich. Nur einen Augenblick noch.«
Anderson wandte sich an die Oberschwester und redete leise und schnell auf sie ein. Poole bekam nur ein paar Worte mit, und davon waren ihm einige vollkommen unbekannt. Dann nickte die Oberschwester einer der Pflegerinnen zu, die öffnete einen Wandschrank, nahm ein schmales Metallband heraus und schickte sich an, es Poole um die Stirn zu legen.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte er – er war einer von den schwierigen und für die Ärzte so lästigen Patienten, die immer ganz genau wissen möchten, was mit ihnen geschieht. »Wollen Sie ein EEG schreiben?«
Professor, Oberschwester und Pflegerinnen sahen ihn gleichermaßen verdutzt an. Dann erhellte ein Lächeln Andersons Gesicht.
»Ach – Sie meinen ein Elektro…enzeph…alo…gramm«, sagte er so langsam, als müsse er das Wort aus den tiefsten Tiefen seines Gedächtnisses zutage fördern. »Ganz recht. Wir wollen Ihre Gehirnfunktionen überwachen.«
Mein Gehirn würde tadellos funktionieren, wenn ich es nur benützen dürfte, knurrte Poole innerlich. Aber jetzt kommen wir wenigstens weiter – endlich.
»Mr. Poole …« Andersons Stimme klang immer noch so gekünstelt, als unternehme er die ersten Gehversuche in einer Fremdsprache. »Sie wissen natürlich, dass Sie einen schweren Unfall hatten und – verletzt – wurden, als sie sich zu Reparaturarbeiten außerhalb der ›Discovery‹ befanden?«
Poole nickte.
»Ich habe allerdings das unbestimmte Gefühl«, bemerkte er trocken, »dass ›verletzt‹ leicht untertrieben sein könnte.«
Anderson atmete sichtlich auf, und wieder verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln.
»Sie haben ganz recht. Schildern Sie mir doch bitte, was Ihrer Meinung nach passiert ist.«
»Nun, im besten Fall hat mich Dave Bowman gerettet und ins Schiff zurückgebracht, nachdem ich das Bewusstsein verloren hatte. Wie geht's Dave überhaupt? Warum will mir niemand etwas sagen?«
»Alles zu seiner Zeit … Und im schlimmsten Fall?«
Frank Poole spürte die Angst wie einen eisigen Windhauch im Nacken. Ein langsam aufkeimender Verdacht erhärtete sich.
»Im schlimmsten Fall bin ich gestorben, aber man hat mich hierhergebracht – wo immer das sein mag – und Sie konnten mich wiederbeleben. Vielen Dank …«
»Ganz recht. Sie sind übrigens wieder auf der Erde. Oder jedenfalls fast.«
Was meinte er wohl mit »jedenfalls fast«? Immerhin herrschte hier Schwerkraft – wahrscheinlich befand er sich in einer Raumstation im Erdorbit, die sich langsam um sich selbst drehte. Wie auch immer, es war im Moment nicht weiter wichtig.
Rasch führte Poole einige Berechnungen durch. Wenn Dave ihn in Kälteschlaf versetzt, den Rest der Besatzung aufgeweckt und die Jupitermission zu Ende geführt hatte – ja, dann wäre er womöglich fünf Jahre lang »tot« gewesen!
»Was haben wir für ein Datum?«, fragte er so ruhig er konnte.
Der Professor und die Oberschwester sahen sich an. Wieder spürte Poole den Eishauch im Nacken.
»Ich muss Ihnen leider sagen, Mr. Poole, dass Bowman Sie nicht gerettet hat. Er hielt Sie – was man ihm nicht verdenken kann – für unwiderruflich tot. Außerdem steckte er mitten in einer schweren Krise, seine eigene Existenz war bedroht …
Sie entschwebten also ins All, passierten das Jupitersystem und strebten hinaus zu den Sternen. Zum Glück lag Ihre Temperatur so weit unter dem Gefrierpunkt, dass alle Stoffwechselvorgänge zum Stillstand gekommen waren – trotzdem ist es ein Wunder, dass Sie überhaupt gefunden wurden. Sie sind einer der größten Glückspilze, die es gibt. Nein – die es je gegeben hat!«
Wirklich?, fragte sich Poole entsetzt. Von wegen fünf Jahre! Es könnte ein Jahrhundert sein – oder sogar noch mehr.
»Heraus mit der Sprache«, verlangte er.
Der Professor und die Oberschwester schauten auf einen unsichtbaren Monitor, sahen sich an und nickten. Poole erriet, dass sie alle mit dem Informationssystem des Krankenhauses und damit auch mit seinem Stirnband in Verbindung standen.
»Frank.« Professor Anderson wechselte gekonnt in die Rolle des langjährigen Hausarztes. »Das wird ein ziemlicher Schock für Sie sein, aber Sie sind imstande, damit fertigzuwerden – und je früher Sie Bescheid wissen, desto besser.
Wir stehen am Anfang des vierten Jahrtausends. Glauben Sie mir – Sie haben die Erde vor nahezu tausend Jahren verlassen.«
»Ich glaube Ihnen«, antwortete Poole gelassen. Nur um gereizt festzustellen, dass sich plötzlich alles um ihn drehte. Und dann wusste er nichts mehr.
Als er das Bewusstsein wiedererlangte, lag er nicht mehr in einem kahlen Krankenzimmer, sondern in einer Luxussuite mit reizvollen – und ständig wechselnden – Bildern an den Wänden. Zum Teil waren es bekannte und berühmte Gemälde, zum Teil Landschafts- und Meeresaufnahmen, die aus seiner eigenen Zeit hätten stammen können. Fremdartige oder aufregende Szenen waren nicht darunter – das sparte man sich wohl für später auf.
Die gesamte Umgebung war offensichtlich mit großer Sorgfalt programmiert. Er fragte sich, ob es wohl irgendwo so etwas wie einen Fernsehapparat gab – und wie viele Kanäle man im vierten Jahrtausend wohl hatte. Im Umkreis seines Bettes waren jedenfalls keinerlei Bedienungselemente dafür zu entdecken. Er würde eine Menge lernen müssen in dieser neuen Welt: Er kam sich vor wie ein Wilder, der unversehens mit der Zivilisation konfrontiert wurde.
Doch zuerst musste er wieder zu Kräften kommen – und er musste die Sprache lernen. Obwohl die Technik der Tonaufnahme schon bei Pooles Geburt über hundert Jahre alt gewesen war, hatte sie gravierende Veränderungen im grammatikalischen Bereich und in der Aussprache nicht verhindern können. Außerdem gab es Tausende von neuen Begriffen, zumeist wissenschaftlicher und technischer Natur, deren Bedeutung er allerdings oft genug erraten konnte.
Schwieriger war es schon mit den unzähligen Namen berühmter und berüchtigter Persönlichkeiten aus dem vergangenen Jahrtausend, die ihm nichts bedeuteten. In den ersten Wochen, solange er sich noch keinen entsprechenden Datenspeicher angelegt hatte, führte er kaum ein Gespräch, das nicht von kurzgefassten Biographien unterbrochen worden wäre.
Als Poole wieder zu Kräften kam, ließ Professor Anderson allmählich eine immer größere Zahl von sorgsam ausgewählten Besuchern zu ihm. Fachärzte waren darunter, Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und – was Poole am meisten interessierte – Raumschiffkommandanten.
Den Ärzten und Historikern konnte er wenig erzählen, was nicht schon irgendwo in den gigantischen Datenspeichern der Menschheit lagerte, aber oft konnte er ihnen den Zugang zu seiner Zeit erleichtern und ihnen neue Einsichten vermitteln. Alle behandelten ihn mit ausgesuchtem Respekt und hörten geduldig zu, wenn er versuchte, ihre Fragen zu beantworten, aber sie zögerten, sich den seinen zu stellen. Poole hielt ihre Scheu, ihn eventuell einem Kulturschock auszusetzen, für ziemlich übertrieben, und schmiedete schon halbwegs ernstgemeinte Fluchtpläne. Doch wenn man ihn – selten genug – allein ließ, stellte er ohne große Verwunderung fest, dass die Tür zu seiner Suite versperrt war.
Mit Dr. Indra Wallace kam die Wende. Ihrem Namen zum Trotz hatte sie hauptsächlich japanisches Blut in den Adern, und Poole brauchte nicht viel Phantasie, um sie sich in manchen Situationen als ziemlich reife Geisha vorzustellen. Auch wenn der passende Vergleich für eine anerkannte Historikerin mit einem virtuellen Lehrstuhl an einer Universität, die sich immer noch ihres echten Efeus rühmte, wohl nicht ganz passend war. Sie war die erste Besucherin, die Pooles Englisch fließend beherrschte, und schon deshalb war er hocherfreut, ihre Bekanntschaft zu machen.
»Mr. Poole«, begann sie sehr sachlich. »Man hat mich zu Ihrer offiziellen Führerin und – sagen wir – Mentorin bestimmt. Die erforderlichen Qualifikationen sind vorhanden – ich habe mich auf Ihre Zeit spezialisiert – meine Doktorarbeit trug den Titel: ›Der Zusammenbruch des Nationalstaats in den Jahren 2000–2050.‹ Ich glaube, wir können uns gegenseitig in vielen Dingen behilflich sein.«
»Davon bin ich überzeugt. Bitte, holen Sie mich schnellstens hier heraus, damit ich wenigstens etwas von Ihrer Welt sehen kann.«
»Genau das hatte ich vor. Aber zuerst brauchen Sie einen Identifikator, denn ohne ihn wären Sie – wie war noch der Ausdruck? – eine Unperson. Sie könnten praktisch nirgendwo hingehen und so gut wie nichts erreichen. Kein Eingabegerät würde Ihre Existenz anerkennen.«
»Darauf war ich gefasst.« Poole lächelte säuerlich. »Es hatte schon zu meiner Zeit angefangen – und vielen Leuten war die Vorstellung ein Gräuel.«
»Manche denken immer noch so. Das sind die Aussteiger, die sich in die unberührte Natur flüchten – wovon die Erde heute viel mehr zu bieten hat als in Ihrem Jahrhundert! Aber sie nehmen immer ihre Kom-Paks mit, damit sie um Hilfe rufen können, sobald sie in Schwierigkeiten geraten. Was im Durchschnitt nach fünf Tagen der Fall ist.«
»Wie bedauerlich. Die Menschen von heute sind offenbar ziemlich dekadent.«
Er wollte sich behutsam an die Grenzen ihrer Toleranz herantasten, um ihre Persönlichkeit auszuloten. Sie würden viel zusammensein, und er war in hundert verschiedenen Dingen auf ihre Hilfe angewiesen. Dabei war er noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt sympathisch fand; und für sie war er womöglich nur ein interessantes Museumsstück.
Sehr zu seiner Überraschung pflichtete sie ihm bei.
»Da mögen Sie recht haben – in mancher Beziehung. Schon möglich, dass wir physisch schwächer sind, aber dafür sind wir gesünder und besser angepasst als die meisten unserer Vorfahren. Der Edle Wilde war nie etwas anderes als ein Mythos.«
In der Tür war in Augenhöhe eine kleine, rechteckige Tafel eingelassen, etwa so groß wie eins der Schundhefte, die einst in grauer Vorzeit, als das gedruckte Wort noch dominierte, wie eine Seuche grassiert hatten. Mindestens eine solche Tafel gab es offenbar in jedem Raum. Normalerweise war sie leer, aber manchmal zeigte sie auch Buchstaben und Ziffern, die langsam weiterliefen und für Poole keinen Sinn ergaben, obwohl er die meisten Worte kannte. Einmal hatte die Tafel in seiner Suite hektisch zu piepsen begonnen, aber er hatte nicht weiter darauf geachtet und sich darauf verlassen, dass sich schon jemand darum kümmern würde. Zum Glück hatte das Geräusch so plötzlich aufgehört, wie es angefangen hatte.
Dr. Wallace ging zur Tür, legte die flache Hand auf die Tafel und zog sie nach wenigen Sekunden wieder zurück. Dann sah sie Poole lächelnd an und sagte: »Kommen Sie, sehen Sie sich das an.«
Langsam las er die Schriftzeichen, die da so plötzlich aufgetaucht waren, und diesmal ergaben sie durchaus einen Sinn:
WALLACE, INDRA [W2970.03.11/31.885//HIST.OXFORD]
»Das heißt vermutlich ›weiblich, geboren am 11. März 2970‹ – und dass sie der historischen Fakultät der Universität Oxford angehören. Und 31.885 ist Ihr persönlicher Identifikationscode. Richtig?«
»Ausgezeichnet, Mr. Poole. Ich habe einige von Ihren E-mail-Adressen und Kreditkartennummern gesehen – Ketten von alphanumerischem Schwachsinn, wer sollte sich das jemals merken? Aber jeder Mensch kennt sein Geburtsdatum, und es gibt niemals mehr als 99 999 Personen, die am gleichen Tag geboren sind. Eine fünfstellige Zahl genügt also vollkommen … und selbst wenn Sie die vergessen, ist das nicht weiter schlimm. Sie ist schließlich ein Teil von Ihnen.«
»Implantat?«
»Ja – Nanochip bei der Geburt, zur Sicherheit in jeder Handfläche einer. Sie werden nichts spüren, wenn Sie den Ihren bekommen. Allerdings haben Sie uns vor ein kleines Problem gestellt …«
»Nämlich?«
»Die meisten Lesegeräte, mit denen Sie zu tun haben werden, sind so einfältig, dass sie Ihr Geburtsdatum nicht akzeptieren. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, haben wir Sie also um tausend Jahre jünger gemacht.«
»Meinetwegen. Und die restlichen Angaben?«
»Liegen ganz bei Ihnen. Sie können sie offenlassen, Sie können aber auch Ihre derzeitigen Interessen oder Ihren Wohnort eingeben – oder den Speicherplatz für persönliche Mitteilungen an die Allgemeinheit oder an bestimmte Personen verwenden.«
Poole war überzeugt davon, dass sich gewisse Dinge auch über die Jahrhunderte nicht verändert hatten. Ein großer Teil dieser »Mitteilungen für bestimmte Personen« war sicher mehr als persönlich.
Ob es wohl auch heute noch Zensoren gab, die für den Staat arbeiteten oder weil sie sich dazu berufen fühlten? Und ob ihre Bemühungen um die Moral ihrer Mitmenschen von mehr Erfolg gekrönt waren als zu seiner Zeit?
Er musste Dr. Wallace danach fragen, wenn er sie erst etwas besser kannte.
»Frank – Professor Anderson meint, Sie seien kräftig genug für einen kleinen Spaziergang.«
»Freut mich zu hören. Kennen Sie den Ausdruck ›Gefängniskoller‹?«
»Nein, aber ich kann mir vorstellen, was damit gemeint ist.«
Poole hatte sich so sehr an die niedrige Schwerkraft gewöhnt, dass ihm seine langen Schritte ganz normal vorkamen. Ein halbes g, schätzte er – gerade genug, um sich wohlzufühlen. Sie begegneten nur wenigen Menschen, lauter Fremden, aber jeder schien ihn zu kennen und lächelte ihm zu. Inzwischen, überlegte Poole nicht ohne Selbstgefälligkeit, dürfte ich einer der berühmtesten Menschen auf dieser Welt sein. Vielleicht hilft mir das – bei der Entscheidung, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll. Wenn Anderson recht hat, sind das noch mindestens hundert Jahre …
Der Korridor, durch den sie gingen, war in keiner Weise bemerkenswert. Nur hin und wieder kamen sie an einer nummerierten Tür mit der unvermeidlichen Erkennungstafel vorbei. Nachdem Poole vielleicht zweihundert Meter hinter Indra hergelaufen war, blieb er plötzlich stehen. Die Erkenntnis war wie ein Schock. Wie hatte er nur so blind sein können?
»Die Raumstation muss ja riesig sein!«, rief er.
Indra lächelte.
»Gab es bei Ihnen nicht die Redensart – ›Das ist noch nichts‹?«
»Noch gar nichts«, verbesserte er zerstreut. Er war immer noch damit beschäftigt, die Größe des Komplexes abzuschätzen, als man ihm bereits die nächste Überraschung präsentierte. Wer hätte gedacht, dass eine Raumstation mit einer Untergrundbahn aufwarten könnte – einer zugegebenermaßen sehr kleinen Untergrundbahn mit einem einzigen Waggon für nicht mehr als ein Dutzend Fahrgäste.
»Panoramahalle Drei«, befahl Indra, und der Waggon entfernte sich rasch und lautlos von der Station.
Poole schaute auf das komplizierte Armband, dessen Funktionen er noch längst nicht alle kannte, um zu sehen, wie spät es war. Für ihn war es eine kleine Sensation gewesen, dass sich inzwischen die ganze Welt nach Universalzeit richtete. Die Einführung der globalen Kommunikationssysteme hatte das verwirrende Flickwerk von Zeitzonen einfach hinweggefegt. Im 21. Jahrhundert war die Frage häufig diskutiert worden, man hatte sogar den Vorschlag gemacht, die Solarzeit durch Sternenzeit zu ersetzen. Dann hätte sich die Sonne im Lauf eines Jahres rund um die Uhr bewegt und wäre zur gleichen Zeit untergegangen, zu der sie sechs Monate vorher aufgegangen war.
Dieser Plan »Gleiche Zeit unter der Sonne« war jedoch wie andere, nicht weniger lautstark propagierte Versuche einer Kalenderreform im Sande verlaufen. Eine Lösung dieses Problems, so sagten zynische Stimmen, müsse auf sehr viel größere technische Fortschritte warten. Eines Tages würde man Gottes kleinen Fehler sicher korrigieren und die Erdumlaufbahn so verändern können, dass jedes Jahr sich auf zwölf Monate mit dreißig genau gleichen Tagen belaufe …
Soweit Poole nach Geschwindigkeit und Fahrzeit schätzen konnte, hatten sie mindestens drei Kilometer zurückgelegt, bevor die Bahn lautlos anhielt, die Türen aufgingen und eine Automatenstimme höflich sagte: »Genießen Sie die Aussicht. Die Bewölkung beträgt heute fünfunddreißig Prozent.«
Wenigstens, dachte Poole, nähern wir uns jetzt endlich der Außenwand. Aber schon war er auf ein neues Rätsel gestoßen – die Schwerkraft hatte weder ihre Stärke noch ihre Richtung verändert, obwohl er sich erheblich von der Stelle bewegt hatte! Eine rotierende Raumstation, die so riesig war, dass der g-Vektor bei einer Verschiebung dieser Größe gleichblieb, konnte er sich nicht vorstellen … War er vielleicht doch auf einem Planeten? Aber auf jeder anderen bewohnbaren Welt im Sonnensystem müsste er leichter – sogar sehr viel leichter sein.
Als sich die Außentür der Endstation öffnete und Poole die kleine Luftschleuse betrat, wurde ihm klar, dass er sich tatsächlich im Weltall befand. Aber wo waren die Raumanzüge? Nervös sah er sich um: Es war ihm körperlich zuwider, nackt und ohne jeden Schutz nur durch eine dünne Wand vom Vakuum getrennt zu sein. Eine derartige Erfahrung hatte ihm vollauf genügt …
»Wir sind fast da«, beruhigte ihn Indra.
Die letzte Tür glitt auf, er stand vor einem riesigen, horizontal und vertikal gewölbten Fenster und blickte hinaus in die absolute Finsternis des Weltalls. Er kam sich vor wie ein Goldfisch in seiner Glaskugel. Hoffentlich hatten die Konstrukteure dieses kühnen technischen Wunderwerks gewusst, was sie taten. Auf jeden Fall gab es heute besseres Baumaterial als damals zu seiner Zeit.
Da draußen schienen sicher die Sterne, doch seine Augen hatten sich noch nicht umgestellt, und so sah er hinter der riesigen Fensterlinse nur schwarze Leere. Als er näher treten wollte, um seinen Blickwinkel zu vergrößern, hielt Indra ihn zurück und streckte die Hand aus.
»Schauen Sie genau hin«, sagte sie. »Sehen Sie es nicht?«
Poole kniff die Augen zusammen und starrte in die Nacht hinein. Das musste eine Täuschung sein oder – Gott bewahre! – das Glas hatte einen Sprung!
Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Nein. Seine Augen hatten ihn nicht getrogen. Aber was konnte es dann sein? Unwillkürlich kam ihm Euklids Definition einer Geraden in den Sinn: »Eine nach beiden Richtungen unbegrenzte Linie ohne Krümmung«.
Denn über die gesamte Höhe des Fensters zog sich ein Lichtfaden, der sich offenbar nach oben und nach unten fortsetzte. Wenn man gezielt danach suchte, war er gut zu erkennen, aber er war so eindimensional, dass selbst »dünn« als Beschreibung nicht genügte. Dennoch war der Faden nicht völlig einheitlich: In unregelmäßigen Abständen waren immer wieder hellere Flecken zu erkennen – wie Wassertropfen an einem Spinnenfaden.
Poole näherte sich dem Fenster, und der Blick weitete sich, bis er schließlich sehen konnte, was unter ihm lag. Das Bild war ihm vertraut – der ganze Kontinent Europa und ein großer Teil des nördlichen Afrika –, er hatte es oft genug aus dem Weltraum gesehen. Also war er doch im All – wahrscheinlich auf einem äquatorialen Orbit in mindestens tausend Kilometern Höhe.
Indra beobachtete ihn mit spöttischem Lächeln.
»Treten Sie ganz dicht ans Fenster«, sagte sie leise. »Damit sie gerade nach unten schauen können. Hoffentlich sind Sie schwindelfrei.«
Was für ein Unsinn, er war doch Astronaut! Poole ging weiter. Wenn ich jemals unter Höhenangst gelitten hätte, wäre ich nicht in diesem Beruf …
Bevor er den Gedanken noch zu Ende geführt hatte, zuckte er zurück und schrie: »Mein Gott!« Dann riss er sich zusammen und wagte sich abermals nach vorne.
Er stand in einem runden Turm. Unter ihm lag das ferne Mittelmeer. Die sanfte Wölbung der Außenwand ließ auf einen Durchmesser von mehreren Kilometern schließen. Aber der stand in keinem Verhältnis zur Höhe des Bauwerks, das weiter und weiter in die Tiefe ragte – bis es irgendwo über Afrika im Nebel verschwand. Vermutlich setzte es sich bis zur Erdoberfläche fort.
»Wie hoch sind wir?«, flüsterte er.
»Zweitausend Kilometer. Aber schauen sie jetzt nach oben.«
Diesmal war der Schock nicht mehr ganz so groß: Er war auf den Anblick gefasst. Der Turm wurde immer schmäler, bis er wie ein glitzernder Faden vor der Schwärze des Raumes hing. Poole zweifelte nicht daran, dass er bis zum geostationären Orbit sechsunddreißigtausend Kilometer über dem Äquator reichte. Derartige Phantasien hatte man schon zu seiner Zeit gesponnen; aber er hätte sich nie träumen lassen, sie einmal verwirklicht zu sehen – und auch noch darin zu leben.
Er zeigte auf den fernen Faden, der weiter im Osten vom Horizont aus himmelwärts strebte.
»Das muss noch einer sein.«
»Ja – der Asienturm. Von dort aus sehen wir wahrscheinlich genauso aus.«
»Wie viele solcher Türme gibt es?«
»Nur vier, in gleichen Abständen über den Äquator verteilt. Afrika, Asien, Amerika, Pazifika. Der letzte ist noch fast leer – erst wenige hundert Stockwerke sind fertiggestellt. Man sieht nichts als Wasser …«
Poole hatte sich von seiner Verblüffung noch nicht erholt, als ihm ein erschreckender Gedanke kam.
»Schon zu meiner Zeit gab es Tausende von Satelliten in allen Höhen. Wie vermeidet man Zusammenstöße?«
Er hatte Indra tatsächlich ein wenig in Verlegenheit gebracht.
»Tja – darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, das fällt nicht in mein Fach.« Sie schwieg einen Augenblick, durchforstete ihr Gedächtnis. Dann hellte sich ihre Miene auf.
»Wenn ich mich recht erinnere, hat man vor ein paar hundert Jahren eine große Aufräumaktion gestartet. Jetzt gibt es unterhalb des stationären Orbits keine Satelliten mehr.«
Das klang einleuchtend, dachte Poole. Sie waren überflüssig geworden – die vier Riesentürme konnten alles leisten, wozu man früher Tausende von Satelliten und Raumstationen gebraucht hatte.
»Und es hat niemals Unfälle gegeben – keine Kollisionen mit startenden oder zurückkehrenden Raumschiffen?«
Indra sah ihn verwundert an.
»Kein Raumschiff startet mehr von der Erde.« Sie wies nach oben. »Alle Raumhäfen liegen da, wo sie hingehören – oben, am äußeren Ring. Ich glaube, die letzte Rakete hat vor vierhundert Jahren von der Erde abgehoben.«
Poole hatte diese Aussage noch nicht verdaut, als ihm eine kleine Unstimmigkeit auffiel. Als Astronaut war er sensibel für alles, was von der Norm abwich. Im Weltall hing von solchen Kleinigkeiten manchmal das Leben ab.
Die Sonne stand hoch am Himmel und war nicht zu sehen, aber ihr Licht fiel durch das große Fenster und zeichnete ein strahlend helles Band auf den Fußboden. Schräg über dieses Band zog sich ein zweites, sehr viel matteres, so dass der Fensterrahmen einen zweifachen Schatten warf.
Poole musste sich hinknien, um zum Himmel aufsehen zu können. Er hatte fest geglaubt, ihn könne nichts mehr erschüttern, aber als er die zwei Sonnen erblickte, verschlug es ihm die Sprache.
»Was ist das?«, keuchte er, als er wieder zu Atem kam.
»Ach – hat man Ihnen das noch nicht erklärt? Das ist Luzifer.«
»Die Erde hat eine zweite Sonne?«
»Viel Wärme spendet sie nicht, aber sie hat den Mond aus dem Geschäft gedrängt … Vor der Zweiten Mission, die den Auftrag hatte, nach Ihnen zu suchen, war das noch der Planet Jupiter.«