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Das Buch

Beim Muttersein zählt nicht so sehr das, was wir tun, sondern vielmehr, wer wir sind. Das Mutterwerden rüttelt Erinnerungen an unsere eigene Kindheit in uns wach – bewusste wie unbewusste. Und vor allem letztere beeinflussen uns stark, auch im Hinblick auf unsere Rolle als Mutter, ohne dass wir diese Erinnerungen so recht zu greifen bekommen.

Die Psychologin und dreifache Mutter Inga Erchova arbeitet mit jungen Müttern, die von ihren Erfahrungen regelrecht überrollt, überfordert oder auch einfach nur überrascht werden, weil sie niemand darauf vorbereitet hat oder unterstützt.

Sie erklärt anschaulich, wie die Auseinandersetzung mit dem inneren Kind auch die Beziehung zu den eigenen Kindern stärkt und festigt. Mit viel Feingefühl schafft die Autorin so ein Bewusstsein für die Hintergründe verschiedenster Schwierigkeiten und zeigt Auswege auf für Mutter und Kind.

Die Autorin

Inga Erchova ist Diplom-Psychologin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Aufgewachsen in Russland, lebt sie seit ca. 20 Jahren in Deutschland. Bis zur Geburt ihrer ersten Tochter arbeitete sie in der freien Wirtschaft. Nach ihrer eigenen intensiven Erfahrung mit dem ersten Kind widmete sie sich persönlich wie beruflich den wenig erforschten Phänomenen der Mutterschaft. Seit vielen Jahren arbeitet sie nun als Psychologin für junge Mütter und Familien, hält Vorträge und leitet Seminare für Hebammen zum Thema „Die Seele im Wochenbett“. Sie lebt in Flensburg und hat inzwischen drei Töchter.

Weitere Informationen unter: www.mutterinstinkt.net

Inga Erchova

Jede Mutter

kann glücklich

sein

Unser inneres Kind umarmen – unsere Kinder lieben

Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Empfehlungen sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen der Autor und der Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier beschriebenen Anwendungen ergeben. Bitte nehmen Sie im Zweifelsfall bzw. bei ernsthaften Beschwerden immer professionelle Diagnose und Therapie durch ärztliche oder naturheilkundliche Hilfe in Anspruch.

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Erste Auflage 2017

Copyright © 2017 by Integral Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Beratung: Stefan Linde

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG

unter Verwendung eines Motivs von: Pim / Shutterstock

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-20401-3
V001

www.integral-verlag.de

www.facebook.com/Integral.Lotos.Ansata

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Warum dieses Buch?

Zum Buchgebrauch

Teil I

Warum ist es heute so schwer, Mutter zu sein?

Wie die Jungfrau zum Kind

Mutterschaft ist eine Reise nach innen

Die Fähigkeit zu lieben zurückgewinnen

Auf der Suche nach dem Ursprung des menschlichen Leidens

Teil II

Ein Kind kommt auf die Welt

Geburt in einer maskulinen Welt

Vitaler Rhythmus der Geburt. Die Physiologie

Geburtsschmerz – Fluch und Segen. Warum der Schmerz für das erfüllende Geburtserlebnis wichtig ist

Eingreifen und Manipulieren während der Geburt ist zur banalen Routine geworden

Kyras Geburt: Das Feilschen um die Zeit

Was es bedeutet, eine Geburt zu verarbeiten

Jede Geburt kann liebevoll begleitet werden

Der Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt

Wochenbett – die tiefen Gewässer

Das unsichtbare Band zwischen Mutter und Baby

Schreibabys – gibt es die wirklich?

Nathalie: der ausgefallene Auftritt

Seelische Abnabelung vollzieht sich langsam und graduell

Diffuser seelischer Schmerz – das innere Kind erwacht

Lily: selbstlose Loyalität

Leere Gefäße können nichts geben

Anni: ein Wunschkind mit unerwünschten Folgen

Fehldiagnose Wochenbettdepression

Behandlung mit Psychopharmaka kann die Seele nicht heilen

Erleben Väter das Gleiche?

Mutterqualitäten sind für das Auge unsichtbar

Stillen ist Lieben

Seelische Sicht auf Stillprobleme

Alina: Das Baby lehnt die Brust ab

Geburt einer Familie

Was braucht eine Mutter im Wochenbett?

Der Vater muss die Mutter nicht ersetzen, aber er hat besondere Aufgaben

Stolpersteine der Kommunikation umgehen

Ein Kind macht die Elternbeziehung transparent

Nazira: der süßer Zündstoff

Was hilft, wenn ich alleinerziehend bin?

Das Bild des Vaters durch die Augen der Mutter

Teil III

Das innere Kind und der seelische Schatten

Einführung

Sind wir nicht Herren im eigenen Zuhause?

Wie ist mein seelisches Alter?

Der Preis des Unverstandenseins

Die Maske unserer Kindheit

Was tue ich für die Liebe?

Dorothee: Die, die sich um alle kümmert

Eingefahrenes Rollenspiel im Familiendrama

In Erkrankungen der Kinder spricht die Seele der Mutter

Erfahrungsbericht: Meine Tochter hat Neurodermitis

Teil IV

Wie die Schattenseiten unserer Seele den Alltag mit Kindern prägen

Warum unsere Erziehungsmethoden unwichtig sind

Anna: Wie sich ihre Eltern beweisen wollten

Das Fremde in meinem Kind

Polarisierung zwischen den Geschwistern

Wenn sich Erwachsene wie Kinder verhalten

Konsequent oder stur?

Verbote oder Begegnung?

Verbindlichkeit oder Willkür?

Unsichtbare Gewalt

Die ganze Bandbreite der Gefühle zulassen

Teil V

Was können wir tun?

Vom Baby leiten lassen – beim inneren Kind ankommen

Entdeckungsreise durch die eigene Seele

Das Kind bemitleiden, das wir einmal gewesen sind

Die persönliche Lebensgeschichte rekonstruieren

Sich die eigene Subjektivität eingestehen

Sich erlauben, nicht immer perfekte Mutter zu sein

In der Schwangerschaft vorsorgen?

Vom Schuldgefühl zum Verantwortungsbewusstsein

Die Krise der Mutterschaft: eine einzigartige Entwicklungschance im Leben einer Frau

Nachwort

Dank

Vorwort – Warum dieses Buch?

Nichts prägt unser Elternsein mehr als die eigene Kindheit. Nicht die pädagogischen Ansichten über Richtig und Falsch, nicht Bildung oder sozialer Status, nicht die Berufstätigkeit, nicht das Alter und nicht einmal die Kultur oder die Gesellschaft, in der wir leben. Dafür aber das, was wir einst als kleines Mädchen oder kleiner Junge in den entfernten und fast vergessenen Jahren unserer Kindheit erlebt haben. Diese Erfahrungen sind in den tiefsten Schichten unserer Seele gespeichert. Und wenn eine Frau dann Mutter wird, geht sie ihren eigenen Weg, und nichts kann sie von ihrem Weg abbringen – weder gute Ratschläge der Angehörigen noch kompetente Fachmenschen oder schlaue Bücher, nicht die anderen Mütter und schon gar kein Gruppenzwang. Auch wenn die Mutter sich ihres Weges nicht sicher ist, sich verirrt oder vom (rechten) Weg abkommt, kann nur ihre eigene innere Stimme sie wieder ans Licht leiten. Dieses Buch lässt die innere Stimme jeder Mutter so erklingen, dass sie selbst sie hört und auch verstehen kann.

Es gibt viel Trubel um das Bild der Mutter in unserer heutigen Gesellschaft. Wir sind nicht mehr bereit, das einseitige, flache, verzerrte und idealisierte Bild der Mutter hinzunehmen, das wie eine unförmige Schablone zu keiner realen Mutter passen will. Immer häufiger zeigt sich ein ganz anderes Bild – ambivalente Gefühle, Verzweiflung angesichts enormer Herausforderungen bis hin zum Bereuen der Tatsache, überhaupt Mutter geworden zu sein. Allein das Ansprechen der negativen Gefühle wird schon als Befreiung gefeiert. Es wirkt vielleicht beruhigend zu wissen, dass es anderen Müttern ähnlich geht. Doch diese Beruhigung lässt mit der Zeit nach, und ein schaler Beigeschmack bleibt zurück. Macht es mich wirklich glücklicher zu wissen, dass andere Mütter ebenfalls unglücklich sind? Einigen reicht dieses Trostpflaster vielleicht aus, und sie lesen dieses Buch mit Sicherheit nicht. Denn dieses Buch geht einen entscheidenen Schritt weiter. Es hilft, dem Ursprung und dem Sinn der verwirrenden Gefühle in Bezug auf das Mutterssein im eigenen Inneren auf die Spur zu kommen.

Frauen, die ihr Muttersein bereuen, wussten zumeist nicht, was auf sie zukommt. Sie waren nicht vorbereitet auf die unvermeidliche innere Verwandlung und konnten sich dementsprechend auch nicht darauf einlassen. Mutterschaft wird von ihnen vielmehr als unüberwindbares Hindernis für die eigene Selbstverwirklichung erlebt. Und Hand aufs Herz, wir alle vermissen ein wenig das alte Leben, den Lifestyle, die Freiheit, jederzeit das zu tun, was frau möchte: die Selbstbezogenheit, die Ungebundenheit und das Abenteuer. Doch allzu leicht vergessen wir dabei, dass unsere wahre Selbstverwirklichung im Inneren stattfindet. Und das Muttersein ist die ideale Chance für eine solche innere Verwirklichung und die Gelegenheit, an intimste Bereiche der eigenen Seele heranzukommen, die uns ansonsten für immer verschlossen geblieben wären. Ein wahres Geschenk.

Viel Trubel in den Medien bedeutet nicht zwingend mehr Bewusstsein über die seelischen Höhen und Tiefen des Mutterseins, ganz im Gegenteil. Heiße Debatten fördern keine Selbsterkenntnis, sie bauen viel mehr Fronten auf, die unseren Blick auf das Bekämpfen des Gegenübers richten, nicht auf uns selbst. Und das ist der entscheidende Punkt. Die Antwort auf unsere persönlichen Fragen liegt in uns, nicht irgendwo da draußen.

Ich verbreite hier keine Parolen, bekämpfe keine Feindbilder und gebe keine Tipps oder gar Anweisungen für die Kindererziehung. Vielmehr möchte ich mit diesem Buch die kleine Tür zur persönlichen Wahrheit jeder Mutter und jedes Menschen öffnen, der mit Kindern lebt. Ich habe versucht, Worte für die subtilen Empfindungen zu finden, die wir kaum in Worte fassen können, und ich möchte verstehen helfen, woher sie kommen. Das Verstehen der eigenen Gefühle – deren Ursprung und Sinn – hat eine magische Kraft. Es verleiht unseren Empfindungen erst einen Sinn und macht sie zu uns gehörig. Nicht grundlos ist die Frage nach dem Warum der ewige Antrieb der menschlichen Seele.

Vor guten Ratschlägen können wir Mütter uns nicht retten, doch die guten Ratschläge vermögen uns nicht zu helfen. Ständig pendeln wir hin und her zwischen banaler Alltagsbewältigung, unserer Müdigkeit und dem Respekt und der Ehrfurcht, die diese überwältigend große, lebenslange Aufgabe uns zugleich einflößt.

In meiner psychologischen Praxis helfe ich jungen Müttern, das Wirrwarr ihrer Gefühle nach der Geburt zu ordnen. Und dies nicht etwa mit guten Ratschlägen oder magischen Formeln wie »Es ist normal und geht vorbei«, »Das ist nur eine Phase« oder »Hör auf dein Bauchgefühl«. Sondern so, dass die Gefühle für die jeweilige Mutter und ihren persönlichen Lebensweg einen Sinn ergeben. Uns geschieht nichts, was nicht ohnehin zu uns gehört. Wir müssen nur die Verbindung herausfinden. Nach der gemeinsamen intensiven Arbeit werde ich Zeugin einer wundervollen Verwandlung, wie wenn aus einer dicht verpuppten Raupe ein wunderschöner Schmetterling in die Freiheit schlüpft. Die Frauen brauchen einen geschützten Raum für ihre Gefühle, jemanden, der liebevoll und mitfühlend zuhört, die Intimität der menschlichen Beziehung. Offen und ehrlich müssen sie sich mutig auf den Weg machen und ihn zu Ende gehen. Es gibt keine Abkürzungen oder Tricks auf dem Weg zu sich selbst.

In meiner Arbeit habe ich oft erlebt, dass das Verstehen der eigenen Gefühlswelt heilende Kräfte in sich birgt. Das Wissen, dass es anderen Müttern ähnlich geht, entlastet zwar, aber erst das Verstehen der persönlichen Wahrheit löst den großen Knoten. Es heilt die Mutter, das Kind, die Beziehung zum Partner und die Familie als Ganzes. Es ist eine unglaubliche Macht, über die wir Mütter verfügen. Wir missbrauchen diese Kraft im Grunde tagtäglich, wenn uns unser Einfluss als Mutter nicht bewusst ist. Sind wir uns dessen bewusst, kann sie hingegen wahrlich Berge versetzen.

Was mich zu diesem Buch bewegt hat? Wenn ich Frauen kennenlerne, die bereits größere Kinder haben, und ihnen erzähle, was ich beruflich mache, dann kommt eigentlich immer die gleiche Reaktion: »Mensch, damals hätte ich dich sehr gebraucht, als ich Mutter geworden bin und nicht weiterwusste.« Offenbar irren die meisten von uns im Dickicht der Gefühle alleine vor sich hin und wissen nicht, wo sie Hilfe suchen sollen. Das hat mich zu diesem Buch motiviert. Ich möchte möglichst viele Frauen erreichen und ein Bewusstsein darüber verbreiten, was das Muttersein seelisch mit uns macht.

Natürlich hat mich meine persönliche Erfahrung, dreimal Mutter zu werden, ebenfalls sehr bewegt, und ich gewähre auch einige Einblicke in meine eigene Gefühlswelt. Diese mit nichts vergleichbare Erfahrung hat mich nicht nur als Frau beeindruckt, sie hat auch mein berufliches Interesse geweckt. Da ich mich als Psychologin der menschlichen Seele besonders verbunden fühle, habe ich in alle Richtungen nach einer Erklärung für die rätselhaften Phänomene der Mutterschaft gesucht. Meine Fundstücke habe ich hier zusammengetragen.

Dieses Buch ist für Mütter geschrieben, nicht für Psychologen, obwohl die Letzteren das Buch selbstverständlich auch lesen können, zumal wir oft beides sind – Mütter und Psychologinnen (Erzieherinnen, Pädagoginnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Hebammen oder Krankenschwestern und alle, die mit Frauen und Müttern beruflich zu tun haben). Psychologische Phänomene habe ich versucht, alltagsnah und hoffentlich verständlich zu präsentieren. Väter können von diesem Buch selbstverständlich auch profitieren, nicht nur, weil sie ihre Frauen und Kinder dadurch besser verstehen werden, sondern auch, weil es einige extra den Vätern gewidmete Kapitel gibt.

Wir Mütter sind gemeinsam mehr als die Summe unserer einzelnen Erfahrungen.

Nichts prägt unser Elternsein mehr als die eigene Kindheit. Es ist eine einfache Wahrheit, die wir aber oft vergessen oder im Alltag nicht zu gebrauchen wissen. Dieses Buch verbindet das Heute mit dem Damals, stellt Zusammenhänge her und bringt die Enden zueinander wie im »Spaghetti-Salat« einer Kinderzeichnung. Daraus ergeben sich vielleicht im zweiten Schritt die ganz persönlichen Imperative im Umgang mit Kindern und mit sich selbst, die nur für jede einzelne Mutter – und jeden Vater – wahr und wirksam sind.

Zum Buchgebrauch

Natürlich ist es Ihnen überlassen, was Sie mit dem Buch machen, ob sie es von vorn bis hinten in einem Stück lesen oder nur einzelne Kapitel herauspicken wollen. Man kann es jedoch nicht nur lesen. Es gibt darin auch praktische Übungen, die dazu einladen, über sich nachzudenken, sich Fragen zu stellen oder das Gelesene im Alltag anzuwenden. Wer wirklich etwas verändern und in der Selbsterkenntnis weiterkommen möchte, wird das Buch nicht einfach überfliegen wollen, sondern von Zeit zu Zeit auch in sich hineinhorchen. Es empfiehlt sich daher, ein Notizbuch für Gedanken und Zeichnungen in greifbarer Nähe zu haben, damit Sie Ihre innere Stimme darin festhalten können. So ein Notizbuch kann zu einem Gesprächspartner werden oder zu einem Ort für intime Gefühle. Am besten liegt es nicht weit vom Bett. Viele Einfälle kommen uns ganz plötzlich kurz vor dem Einschlafen oder direkt nach dem Aufwachen (natürlich nicht, wenn wir mit dem Wecker wie bei der Armee aufspringen). Ich wurde zum Beispiel durch das Stillen oft in einen kreativen, tranceartigen Zustand versetzt. Meine besten Einfälle habe ich tatsächlich während des Stillens bekommen. Zum Glück habe ich lange gestillt und von diesen Phasen in Fülle profitiert. Von wegen Stilldemenz!

In diesem Buch finden sich einige Fallgeschichten. Sie sind von realen Fällen inspiriert, selbstverständlich anonymisiert und verändert. Schon im Interesse der realen Personen habe ich keine Lebensgeschichte ungefiltert wiedergegeben. Wenn sich jemand in ihnen dennoch selbst erkennt, dann kann es daran liegen, dass unsere Schicksale oft ähnlicher sind, als wir meinen.

Beim Schreiben ging es mir nicht darum, auf alle Fragen eine Antwort zu finden, sondern vielmehr einen Stein ins Rollen zu bringen, eine kleine innere Bewegung anzustoßen, die wie eine Schlüsseldrehung vieles bewirken kann. Auch ein kleiner Schlüssel kann eine große und wichtige Tür öffnen. Sind Sie bereit hineinzuschauen?

Teil I

Warum ist es heute so schwer, Mutter zu sein?

Wie die Jungfrau zum Kind

»Hätte ich doch damals gewusst, dass es dich gibt«, sagen öfters Frauen zu mir, denen ich erzähle, dass ich als Psychologin mit jungen Mütter arbeite. »Nach der Geburt hätte ich jemanden wie dich sehr gebraucht, aber ich wusste nicht, was mit mir geschieht und wo ich hingehen soll.« Diese Äußerung ist sehr typisch. Fast alle Frauen beschreiben die ersten Tage, Wochen und Monate nach der Geburt eines Kindes als eine Zeit der kompletten Desorientierung, als wären sie plötzlich in eine Parallelwelt katapultiert worden und wüssten nicht mehr, wo oben und wo unten ist.

Als ich meine erste Tochter bekam, hörte ich gar nicht mehr auf zu staunen. Trotz Geburtsvorbereitungskursen, Schwangerenyoga, Austausch mit Müttern und Doulas hatte mir niemand erzählt, dass es sich so anfühlt, ein Kind zu haben. Es schien mir, als wäre mir das Wichtigste vorenthalten geblieben – das seelische Erdbeben, das mich ergriff. Wie durch eine innere Erschütterung wurde die Seele umgegraben und offengelegt, sie wurde weich, feucht, locker und verletzlich. Die Schutzkruste war weggeweht, und das blanke Innere lag offen da. Man konnte mich mit einem halben Wort verletzen und durch ein kurzes Wegschauen zum Weinen bringen. Ein Schalter wurde umgelegt, und nichts war wie vorher.

Mit dem Abstand einiger Jahre, ein wenig nüchtern betrachtet, kann ich erkennen, dass wir Frauen nach der Geburt einen Schock in zweierlei Hinsicht erleben:

Den Schock Nummer eins bereitet uns das Baby, oder, um genau zu sein, sein enormes Verlangen nach Nähe, Präsenz, Zuwendung, Kommunikation und Liebe. Wir sind von diesem Verlangen tatsächlich schockiert. Nichts zuvor in unserem Leben hat uns so absorbiert wie dieses kleine, hilflose Wesen. Das Baby saugt nicht nur unsere Milch. Es nimmt sich alles, was wir an Energie, Kraft, Einfühlungsvermögen, Geduld und so weiter zu bieten haben. Wir fühlen uns, als würden wir von unserem Baby mit Haut und Haar verschlungen. Und selbst wenn wir alles gegeben haben, scheint es oft immer noch nicht genug zu sein.

Wir sind nicht darauf vorbereitet, dass das Baby so viel von unserem emotionalen Raum und vom Platz in unserem Herzen beansprucht. Es möchte mit aller Kraft dorthin, als gäbe es keinen anderen möglichen Ort zum Leben. Es möchte darin sein, zu uns gehören. Wir dachten, wir könnten unser Leben wie bisher führen, nur mit einer kleinen Änderung am Rande. Weit gefehlt!

Hinzu kommt: Die Bedürfnisse des Kindes sind uns ein Rätsel. In der nonverbalen Kommunikation sind wir nicht geübt. Wir wissen nicht, was es will. Was, es will schon wieder an die Brust? Kann das sein? Ist das normal? Darf das Baby mit mir im Bett schlafen? Wenn ja, warum werden so viele Gitterbettchen verkauft? Soll es wirklich Babys geben, die darin schlafen? Ist es normal, dass mein Baby nur auf meinen Armen einschläft und sofort aufwacht, wenn ich es hinlege? Ist es normal, dass sich mein Baby nur bei mir beruhigt, beim Vater aber nicht? Ich glaube, der Satz, der eine junge Mutter am meisten beruhigen kann, ist: »Es ist normal, was dein Baby will.« Wir wissen wirklich nicht, was normal ist.

Und das Fatale ist, dass wir nicht wissen, dass das Baby vor allem anderen die Nähe der Mutter braucht. Ja, die Mama ist das Universum. Ohne sie kann das Baby nicht leben, nicht existieren, nicht sein, weil es emotional noch ein Teil von ihr ist. Wir haben es nicht gewusst und können es nicht glauben, dass wir so viel bedeuten können. Und weil wir das alles nicht gewusst haben, erleben wir es als Schock und brutale Überforderung. Aus Selbstschutz wird das Verlangen des Babys als übertrieben abgetan. Nach dem Motto: Wenn ich dieses Bedürfnis nicht befriedigen kann, dann kann es nicht normal sein. Uns kommt nicht in den Sinn, dass es an unserer eigenen Unfähigkeit liegen könnte. Wir haben für diese Situation nicht vorgesorgt und keine Hilfe organisiert, da wir doch schon immer alleine zurechtgekommen sind und es eigentlich auch weiterhin wollen. Und vielleicht zum ersten Mal im Leben merken wir, dass wir dringend Hilfe brauchen.

Den Schock Nummer zwei erleben wir mit uns selbst als Mutter. Wir erkennen uns nicht wieder, erschrecken vor unseren eigenen Gefühlen, Reaktionen und Gedanken. Etwas bisher Unbekanntes ist in uns zum Leben erwacht und bereitet uns Angst, weil es so unberechenbar ist. So manche Horrorberichte aus der Presse jagen uns Angst ein, wenn Kinder zum Opfer überforderter Eltern geworden sind. Viele Frauen aber gestehen ihre Mordfantasien als Fluchtgedanken und haben mir erzählt, dass sie es im Moment der Verzweiflung nachempfinden können, wie man das eigene Kind aus dem Fenster werfen kann. Sie würden es selbst natürlich niemals tun, aber im Kopfkino haben es viele wirklich schon durchlebt.

Die Anfangszeit mit dem Kind wird von vielen Frauen als dunkle und konfuse Zeit erlebt, angefüllt mit wirren Gedanken und ambivalenten Gefühlen. Hochstimmungen wechseln sich ab mit tiefer Traurigkeit, die Glücksmomente sind mit Tränen betupft. Wir wollen mit dem Baby zusammen sein und doch am liebsten vor ihm fliehen. Wir freuen uns, Mutter geworden zu sein, und wollen doch unser altes Leben zurück. Wir kämpfen uns durch den Tag mit seiner banalen Routine und haben in ruhigen Minuten große Ehrfurcht vor dieser Aufgabe und Verantwortung: Mutter zu sein. Wir wissen nicht mehr mit Sicherheit, wer wir sind und ob wir noch bei Sinnen sind.

Auch wenn wir den lachenden, ausgeschlafenen und gepflegten Müttern auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen nicht über den Weg trauen, sitzt die unbewusste Überzeugung tief, dass Muttersein vor allem Freude und Glück bedeuten soll. Mit Widersprüchlichkeiten konnten wir schon immer schlecht umgehen, weil wir uns mit einem Schwarz-Weiß-Denken wohler fühlen: Da weiß man, was man hat. Es fällt uns schwer, Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Stattdessen schaltet sich automatisch die Bewertung ein, und wir reduzieren komplexe, vielschichtige seelische Gefühlslagen auf gut oder schlecht, erwünscht oder nicht erwünscht, akzeptabel oder nicht akzeptabel. Dadurch verlieren wir die Tiefe, die Bandbreite der Gefühle und auch die Fähigkeit, im Frieden zu sein, auch wenn das Leben nicht dem ausschließlich positiven Bild entspricht. Die inneren Widersprüche und die dunklen Seiten der eigenen Seele werden verdrängt und bleiben unerforscht. Wir wissen nur wenig darüber, wer wir wirklich sind und woher wir kommen; daher stürzt uns jede unerwartete Wendung des Lebens ins seelische Chaos. Mit fest verbundenen Augen versuchen wir uns durch das Wirrwarr unserer Gefühle durchzukämpfen, statt diese zu erforschen und zu verstehen, angstfrei und im wahrsten Sinne des Wortes schamlos.

Wir starten unser Muttersein entfernt von uns selbst – von unserem tiefsten Kern, von unserem inneren Drama, von der weiblichen Natur und von unserem eigenen Körper. Diese Entfernung macht uns zu leichten Opfern von Missbrauch in einer so sensiblen Situation wie der Geburt, wenn wir sinnlosen Praktiken unterzogen werden, die uns mehr schaden als helfen. Wir widersprechen nicht, da wir nicht wissen, was wir eigentlich wollen, was uns guttut und was uns wichtig ist. Diese Art von Gewalt und Missbrauch wären nicht so leicht möglich, wenn wir bewusster wären und bei uns bleiben könnten.

Warum finden wir nicht instinktiv den natürlichen Zugang zum Muttersein, wie es alle Lebewesen auf der Welt tun? Alles, was wir fürs Mutterwerden brauchen, sollte doch von Natur aus in uns angelegt sein. Unser weiblicher Körper sollte wissen, wie man ein Kind empfängt, austrägt und natürlich zur Welt bringt. Unsere Brüste sollten Milch in Fülle produzieren und das Baby ohne Probleme ernähren können. Unsere Arme sollten die Fähigkeit haben, das Baby zu tragen, zu wiegen und an uns schmiegen. Und unser Herz sollte dem Kind mit Leichtigkeit all die Liebe entgegenbringen können, die in ihm steckt. Doch so selbstverständlich, wie es eigentlich sein sollte, geschieht das alles nicht. Warum nur? Warum ist das Muttersein so schwer und manchmal so unerträglich?

Zum Teil liegt es an unserer Zeit – dem Zeitalter des Patriarchats, das den Fluss der weiblichen Energie immer noch behindert.

Unser Wertesystem ist männlich. Statt der Intuition schenken wir lieber harten Fakten Vertrauen. Informationen, die mit Zahlen belegt sind, halten wir für seriös, emotionale Sensibilität dagegen für eine Schwäche. Wir glauben dem, was wir sehen, anfassen oder ermessen können. Den guten Riecher haben wir längst dem Tierreich überlassen. Wir tun uns schwer mit Gefühlen, die kaum in Worte zu fassen sind, da der Drang zum Konkreten uns fest im Griff hat. Wir bewundern erfolgreiche Menschen und verstehen unter Erfolg das Erreichen von angestrebten Zielen, materiellen Reichtum oder machtvolle Positionen. Auch wir Frauen sind überflutet mit maskuliner Energie und verinnerlichen männliche Verhaltensmuster. Wer kann schon mit seiner Passivität punkten? Passiv setzen wir gleich mit faul und schwach. Nur entpuppt sich unsere männliche Weltanschauung als komplett unnütz angesichts eines weinenden Babys, das sich weder managen noch mit rationalem Denken begreifen lässt.

Zum anderen erschwert uns die unterbrochene Kette der Unterstützung von Generation zu Generation den Start in unser Leben als Mutter. Unsere Mütter haben uns wenig Wahrhaftes davon erzählt, was das Mutterwerden seelisch mit sich bringt oder was ein Baby braucht. Ihren Aussagen nach waren wir »pflegeleichte« Kinder, die brav alleine in ihrem Bettchen schliefen und auch sonst keine Probleme machten. Kann das wirklich sein? Waren wir so anders als unsere Kinder?

Später werden wir das, was uns als Kindern wirklich widerfahren ist, noch genauer unter die Lupe nehmen. Jetzt möchte ich nur sagen, dass der natürliche Informations- und Erfahrungsfluss von Mutter zu Tochter und von einer weisen Frau zur jungen Frau nicht stattfand. Unsere Mütter sind uns keine Hilfe, wenn es darum geht, sich emotional in die Mutterrolle hineinzufinden. Im Gegenteil, oft sind ihre mit Vorurteilen überladenen Ratschläge nur hinderlich, weil sie gegen unsere innere Stimme arbeiten und unser Selbstvertrauen untergraben. Als Mütter müssen wir wirklich von null anfangen und uns jeden Entwicklungsschritt und jede kleine Erkenntnis mühsam alleine erarbeiten. Das kostet Kraft.

Heute wissen meine drei Töchter (neun, fünf und zwei Jahre alt) schon mehr über das Muttersein, als ich es gewusst habe, als ich Mutter geworden bin. Und es geht nicht nur um die praktischen Dinge wie Wickeln oder Füttern. Sie wissen vor allem das Wichtigste: dass das Kind die Nähe seiner Mutter braucht und ohne sie nicht sein kann. Ich erkenne es, wenn ich sehe, wie sie ihre Puppen schlafen legen. Sie kuscheln sich nämlich dazu. Ich erkenne es auch daran, dass sie, wenn sie ein Baby sehen, sofort fragen, wo seine Mutter ist. Und sie reagieren verstört, wenn im Märchen ein Baby aus seiner Wiege von der Hexe geklaut wird. »Siehst du, Mama«, sagen sie, »deswegen darf ein Baby nie alleine schlafen.« Ich wusste das alles nicht und habe es auch intuitiv nicht gespürt. Umso größer waren mein Schock und meine Überforderung und umso mühsamer das Begreifen meiner neuen Realität.

Nun gut, die patriarchale Gesellschaft können wir so schnell nicht verändern. Auch das Fehlen der Unterstützung seitens der weisen Frauen und den familiären Rückhalt können wir nicht einfach so ersetzen. Doch neben diesen erschwerenden äußeren Bedingungen für die Mutterschaft gibt es noch eine wichtige innere Komponente, an der wir sehr wohl drehen können und der sich dieses Buch widmet. Nennen wir sie die seelische Schatzkammer, die wir bisher noch nicht betreten haben. Sie ist die innere Stimme, die uns leitet, der innere Kompass, der sich nicht an den äußeren Meinungen ausrichtet, sondern an der persönlichen und intimen Wahrheit jeder einzelnen Frau, die Mutter geworden ist. Eingeschlossen in dieser Schatzkammer, findet sich eine ungeheure Kraft, die es uns erlaubt, Berge des Unmöglichen zu versetzen, und uns die Fähigkeit zurückgibt, uns selbst und unsere Kinder besser zu behandeln und aus vollem Herzen lieben zu können.

Reflexion

Mit welchen Gefühlen blicke ich auf die Anfangszeit meiner Mutterschaft zurück?

Wenn ich mein erstes Kind noch einmal bekommen könnte, was würde ich diesmal anders erleben wollen?

Was wünsche ich mir, damals gewusst oder gekonnt zu haben? Was habe ich aus meiner Erfahrung gelernt?

Mutterschaft ist eine Reise nach innen

Die größte Überraschung, die uns der Schritt in die Mutterschaft bereitet, ist die Tatsache, dass das Mutterwerden die sonderbare Fähigkeit besitzt, das bisherige Leben und ganz besonders die Erfahrung unserer eigenen Kindheit in ein neues Licht zu rücken. Es rüttelt Kindheitserfahrungen in uns wach und schenkt ihnen unerwartet eine neue Bedeutung. Und so ist das Mutterwerden, wie jede andere Lebenskrise auch, ein Resümee des bisherigen Lebens. Doch anders als andere Lebenskrisen schickt uns die Mutterschaft in unsere Kindheit zurück und lässt uns diese noch einmal erleben.

Das geschieht zunächst unbewusst, ohne dass wir es bemerken, und äußert sich als diffuser seelischer Schmerz; undefinierbare subtile körperliche Befindlichkeiten, die wir nicht zu deuten wissen; Übersensibilität; Traurigkeit ohne ersichtlichen Grund, Gereiztheit … Es sind die bekannten Wochenbetterscheinungen, die wir gerne auf die Hormone schieben oder als Babyblues bezeichnen und denen wir keine große Bedeutung beimessen. Erst wenn die Gefühlslage einer jungen Mutter ihrem Umfeld Sorgen bereitet und wenn sie »die Kurve zur Normalität« nicht bekommt, glauben wir, dass sie erkrankt ist. Darüber reden wir noch ausführlich im Teil über das Wochenbett.

Die Zeitreise zurück in die Kindheit wird durch die Anwesenheit unseres neugeborenen Kindes hervorgerufen, mit dem wir in der ersten Zeit emotional verschmolzen sind und eine Seele teilen. Wie unsere Kindheit wirklich war, zeigt sich in den Gefühlen, die wir unserem Kind gegenüber empfinden. Wenn sich die Nähe des Babys angenehm anfühlt, wenn uns seine Präsenz erstrahlen lässt, wenn die Milch zu fließen beginnt, wenn sich unser Herz und unsere Arme öffnen, dann haben wir eine schöne Erfahrung der Mutterbindung in unserem Inneren gespeichert. Das Urvertrauen ist intakt, und die Fähigkeit zu lieben ist stark.

Wenn die Nähe des Babys jedoch schmerzt, wenn wir lieber von ihm weggehen möchten, wenn wir nach Schutz suchen oder nach Gründen, es abzugeben, wenn uns bei seinem Anblick nach Weinen zumute ist, dann belebt seine Anwesenheit die alten Wunden in unserer Seele, die Spuren der Einsamkeit und der Verlassenheit, von denen wir heute vielleicht nichts mehr wissen. Wir glauben, das Baby tut uns weh. In Wirklichkeit erinnert es uns nur an unsere eigene Zeit als Baby, die für uns offensichtlich schlimm gewesen sein muss. So wird das Mutterwerden auch zum Test auf die Wahrhaftigkeit unserer »offiziellen« Kindheitsgeschichte.

Vielleicht stolpern Sie beim Lesen über diese Worte. Wie kann meine Kindheitsgeschichte nicht wahrhaftig sein? Tatsächlich können wir uns unter normalen Umständen nicht an unsere ersten Lebensjahre erinnern. Wir kennen das meiste über unsere Kindheit aus Erzählungen unserer Eltern. Haben sie uns vorsätzlich etwas Falsches erzählt? Warum sollten sie das tun? Nein, keiner hat uns absichtlich belogen. Die Erwachsenen haben lediglich übersehen, wie es uns wirklich ging, sie haben es nicht gemerkt oder nicht wahrhaben wollen, weil ihre subjektive Sichtweise es ihnen nicht erlaubte. Die Empfindungen eines Kindes sind sehr viel intensiver, dramatischer, und sie fühlen sich lebensbedrohlicher an als die eines Erwachsenen. Für Babys ist die Fürsorge durch die Bezugspersonen überlebenswichtig. Mit der Zeit haben wir vergessen, wie wir uns als Kinder gefühlt haben, und können uns heute nur noch schlecht in sie hineinversetzen. Vielen Eltern tut es bei klärenden Gesprächen mit ihren Kindern auch leid, wenn sie hören, was die Kinder in manchen Situationen empfunden haben. Eltern haben es wirklich nicht gewusst und haben es auch nicht gewollt. Dennoch erleben Kinder, was sie erleben, und das ist das Ausschlaggebende für ihre Psyche, nicht die guten Absichten ihrer Eltern.

Um die magische Zeitreise in die Kindheit nach der Geburt besser zu verstehen, möchte ich die Seele zur Veranschaulichung mit einem Haus vergleichen. Das Erdgeschoss repräsentiert den bewussten und »offiziellen« Bereich unserer Seele – unsere Persönlichkeit, die wir nach außen tragen (von lat. persona – die Maske). Es ist ein repräsentativer Bereich des Hauses, in dem wir Gäste empfangen. Die Einrichtung spiegelt unser Idealbild, unsere »beste« Seite. Hier dekorieren wir gezielt, um eine gewünschte Wirkung auf die Besucher zu erzeugen, gemäß den akzeptierten Bildern in unserer Kultur. So möchten wir gerne wahrgenommen werden. Die Fassade ist perfekt.

Das Haus hat aber auch ein Obergeschoss – die Privatsphäre. Dieser Bereich ist uns ebenfalls bewusst, er ist jedoch weniger vorzeigbar. Hier ist es ein wenig unaufgeräumt, chaotisch oder wild. Das stört uns nicht, wir navigieren in diesem Chaos »im Schlaf«. Dieser Bereich entspannt uns, weil wir hier kein Gesicht wahren müssen. Er bleibt für die Einblicke von außen geschlossen, weil hier unsere geheime Wünsche und Fantasien Platz finden.

Und das Haus besitzt auch einen Keller – ein Fundament, auf dem alles steht. Der Keller repräsentiert unser Unbewusstes. Sowohl das Erdgeschoss als auch das Obergeschoss bauen auf ihm auf. Der Keller ist dunkel und kühl. Wir gehen nur selten dorthin. Einige Ecken des Kellers haben wir vielleicht noch nie betreten, aus Angst vor der Dunkelheit. Im Keller gibt es aber nicht nur Gruseliges. Da verbergen sich auch manche Schätze, Fundgruben aller Art und stille, höhlenartige Räume, die bestens dafür geeignet sind, um alles Seelische darin hallen zu lassen und ungestört bei sich selbst zu sein.

Den zentralen Platz im Keller nimmt der Bereich unserer Kindheit ein. Wir nennen ihn unser inneres Kind, das heißt das Kind, das wir einmal gewesen sind, mit all seinen Erfahrungen, Gefühlen und Erlebnissen. Man kann sich diesen Bereich bildhaft als eine Anhäufung alter Spielzeuge, Bücher, Kinderkleider, Kinderzeichnungen oder Basteleien vorstellen. Etwas rührt sich tief in uns, wenn wir unsere kindliche Handschrift wiedersehen, wie naiv und unschuldig sie wirkt. Was haben wir in unseren ersten Lebensjahren erlebt? Welche Qualität der Mutterliebe haben wir von unserer engsten Bezugsperson erfahren? Konnten wir uns immer darauf verlassen, dass unsere Bedürfnisse von Erwachsenen wahrgenommen und liebevoll befriedigt wurden? Konnten wir unsere einzigartige Persönlichkeit und das gesamte Potenzial unserer Talente und Anlagen ungestört entfalten? Zu diesem Zeitpunkt kennen wir eher die Erzählungen der Erwachsenen über unsere Kindheit und können sie auf ihren Wahrheitsgrad nicht überprüfen. Alles, worauf wir uns verlassen können, ist das innere Gefühl – entweder das Gefühl der Stimmigkeit, der Zuversicht und tiefen Zufriedenheit oder das Gefühl der Unruhe und fehlender Bodenhaftung.

Warum unser inneres Kind sein Dasein im Keller fristen muss und nicht zu uns in den repräsentativen Bereich des Hausen kommen darf? Weil wir es nicht wirklich kennen oder seine Existenz nicht einmal ahnen. Weil wir nicht wissen, wie es ihm wirklich geht und woran es leidet. Weil uns seine Anwesenheit im Erdgeschoss zu viel Schmerz bereiten würde, wenn wir in seine verweinten Augen schauen würden. Weil wir begreifen müssten, dass wir dieses verlassene Kind in der Tiefe unserer Seele noch immer sind. Unsere wahren Kindheitserfahrungen sind uns weitgehend unbewusst. Daher muss das innere Kind im Keller bleiben, weggesperrt von der Schaltzentrale des Bewusstseins.

Nicht umsonst gibt es den Begriff der Kellerkinder, ein verstörendes Bild dafür, wie wir das Kindliche in den Kindern unterdrücken. Ihre ungestümes Wesen, die Unbeschwertheit, die ungezähmte Kreativität und der Forschungsdrang, aber auch ihre absolute Abhängigkeit von uns und ihre Sensibilität sind für uns Erwachsene umso unerträglicher und werden umso stärker unterdrückt, je mehr wir diese Unterdrückung selbst erlitten haben und je stärker unser eigenes inneres Kind verletzt ist. Das Mutterwerden führt uns also in den Keller und zu dem darin lebenden Kind, das wir einmal waren.

Einige Frauen erleben es als einen sanften Abstieg in eine zauberhafte Unterwelt oder als eine spannende Entdeckungsreise. Wenn sie Mut haben und mit der Unterstützung ihrer Nächsten rechnen können, entdecken sie viele verborgene Schätze und können sie mit nach oben nehmen. Von nun an bewohnen sie diesen neu entdeckten Raum genauso selbstverständlich wie die beiden oberen Geschosse ihres Hauses. Dadurch wirkt der offizielle Empfangsbereich weniger steif und künstlich, und das Obergeschoss muss weniger vertuscht werden. Sie fühlen sich durch die neuen Seiten bereichert und vervollständigt.

Andere Frauen weigern sich, in den Keller hinabzusteigen. Sie klammern sich krampfhaft an die Fassade und ihr altes Leben. In diesem Fall kommen die Bewohner des Kellers nach oben. Halb durchsichtige Gestalten verwandeln den bekannten Wohnraum in einen fremden, eiskalten Ort, in dem man es keine Minute länger aushalten kann. Dann stürzen die Mütter nach draußen, verabreden sich oder versuchen, so schnell wie möglich wieder arbeiten zu gehen, sie lenken sich mit Shopping ab oder trinken Kaffee mit Freundinnen, die noch keine Kinder haben, um sich daran zu erinnern, wie es einmal gewesen ist. Die Selbsttäuschung wird zum gefährlichen Spiel. Denn die Fassade bröckelt immer mehr und kann eines Tages nicht mehr aufrechterhalten werden, weil man vor sich selbst nicht fliehen kann.

Die Begegnung mit den unbekannten Seiten seiner selbst ist nach der Geburt eines Kindes unausweichlich. Dennoch erlebt jede Frau diese Begegnung auf die Art und Weise, die für ihr bisheriges Leben Sinn ergibt. Der Keller war schon immer da, auch bevor wir Mütter geworden sind. Wir haben ihn bisher bloß nicht wahrgenommen, jedenfalls nicht komplett, je nachdem, wie bewusst und ehrlich wir bisher gelebt haben. Spätestens jetzt bietet uns das Schicksal die einzigartige Chance zu verstehen, wer wir sind und woher wir kommen.

Wenn wir unser reales Baby erleben und spüren, wie hilflos und verletzlich es ist, wie sehr es uns braucht, wie wichtig die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse ist und wie stark es auf unsere Liebe angewiesen ist, kommt es zu einer Neubewertung des eigenen Großwerdens. So manches bekannte Lebensereignis bringt uns jetzt zum Grübeln: »Wie kann es sein, dass ich schon mit acht Wochen in die Obhut fremder Menschen gegeben wurde? Wie habe ich das als Baby wohl verkraftet?« Es werden neue Fragen gestellt und die Bausteine der eigenen Persönlichkeit neu sortiert.

Diese Neubewertung geschieht nicht über Nacht und wird zunächst auch nicht bewusst wahrgenommen. Es ist vielmehr ein langer Prozess, der sich nach der Geburt des ersten Kindes unbemerkt in Gang setzt und sich zunächst unbewusst in uns entfaltet. Am Anfang entsteht das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, als ob ein Puzzleteil fehlt und Informationen nicht ganz stimmig sind. Es beginnt ein Hadern mit sich selbst: Die schlimmen Vermutungen über die eigene Vernachlässigung als Kind werden vom Bewusstsein als unsinnig abgeschmettert, weil sie die Beziehung zu den Eltern zu belasten drohen oder das positive Selbstbild zu sehr verändern. Doch die Zweifel nagen weiter an uns. Manchmal kann uns erst eine außenstehende Person, wie zum Beispiel ein Psychotherapeut, die Bestätigung geben, dass es sehr wohl zur gewaltsamen Vernachlässigung unserer Grundbedürfnisse gekommen sein muss.

Und wenn wir keine Hilfe von außen haben, wie können wir dann Gewissheit erlangen? Ganz einfach: Wenn für mich das Leben mit dem Neugeborenen zur Hölle wird, wenn ich mich nicht um es kümmern kann oder wenn dieses Sich-Kümmern für mich einen enormen Kraftakt bedeutet, dann kann ich sicher sein, dass ich als Baby oder Kleinkind leiden musste. Denn damit ich meinem Kind selbstverständlich und spontan alles geben kann, was es braucht, muss ich selbst es erst von meiner Mutter oder einer Ersatzperson bekommen haben. Wir können unsere Kinder nur mit Liebe versorgen, wenn wir selbst mit Liebe versorgt worden sind. So ist der natürliche Fluss der Energie. Und wenn ich nicht ausreichend versorgt worden bin? Kann ich mein eigenes Kind trotzdem lieben und versorgen? Ja, sehr wohl! Doch in dem Fall geschieht es nicht so leicht, natürlich und selbstverständlich, sondern ist mit viel seelischer Arbeit verbunden. Welche Art von seelischer Arbeit das ist, auch darum geht es in diesem Buch.

Wir bleiben seelisch in dem Alter stecken, in dem wir nicht bekommen haben, was wir an Liebe und Zuwendung gebraucht hätten. So sind wir seelisch gesehen immer noch Babys, Kleinkinder oder Vorschulkinder, die im Körper eines Erwachsenen leben und nun versuchen, ihre eigenen Kinder großzuziehen. Jetzt wird es nachvollziehbar, warum es uns so furchtbar schwerfällt, Eltern zu sein: Wir rufen selbst in unserem Inneren immer noch verzweifelt nach der Mama.

Diese Tatsache zu realisieren bedeutet ein großes Umdenken und verlangt schonungslose Ehrlichkeit mit sich selbst. Es wird zum wichtigen Wendepunkt im Leben eines Menschen, dessen Bedeutung man kaum überschätzen kann. Das Gefühl für sich selbst ändert sich radikal. Es macht uns verletzlicher, ehrlicher und weniger defensiv. So manche Schwierigkeit in unserem Leben bekommt plötzlich mehr Sinn. Vielleicht haben wir eine Sucht, oder es fällt uns schwer, innige Beziehungen einzugehen. Vielleicht haben wir Angst vor Bindung, können uns nicht öffnen, sind rastlos oder entwurzelt? Die Folgen fehlender Bindung am Anfang unseres Lebens können viele Formen annehmen. Jetzt können wir sie besser verstehen. Es ist an der Zeit, das eigene Leben in einem neuen Licht zu sehen und das Selbstbild radikal zu ändern: Wer bin ich? Woher komme ich? Das Eingeständnis: »Ja, das Kind in mir ist ungeliebt, allein und verlassen«, ist wie ein großes Erwachen aus einem Traum. Es ist eine Tatsache. Macht sie mich traurig? Ja. Aber auch zuversichtlich. Denn nichts ist so befreiend wie die Wahrheit und nichts so lähmend wie die Lüge.

Wir Frauen haben das Privileg, durch die Mutterschaft an diesen Wendepunkt herangeführt zu werden. Doch nicht jede Frau ergreift diese Chance. Diese Arbeit an sich selbst erfordert viel Mut und ist ohne Unterstützung nicht zu schaffen. Einige Mütter ziehen es vor, mit der schönen Lüge weiterzuleben. Sollen wir sie dafür verurteilen? Keinesfalls! Es ist die persönliche Entscheidung eines jedes Menschen. Nur müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir diese Entscheidung nicht nur für uns alleine treffen, sondern auch für unsere Kinder.

Vielleich denken wir, alles war halb so schlimm. Wir sind ja groß geworden und kommen einigermaßen mit unserem Leben zurecht. Doch ich kann mit Sicherheit sagen, dass es eine wahre Katastrophe ist, mit der Erwartung, geliebt zu werden, und mit der Bereitschaft zu lieben auf die Welt zu kommen, und stattdessen die Kälte, Strenge, Einsamkeit und Gefühllosigkeit der Erwachsenen zu erfahren und ums Überleben zu kämpfen, statt die eigene Persönlichkeit entfalten zu können. Es ist ein echtes Desaster, nicht der oder die sein zu können, die wir in unserem Inneren sind.

Wir sind groß geworden und uns unserer seelischen Katastrophe nicht bewusst. Sie ist in den Keller des Unbewussten abgeschoben worden, damit sie den Alltagsfluss nicht zu sehr belastet. Nur hört sie dort nicht auf zu existieren. Wenn wir es schaffen, den Keller unseres seelischen Zuhauses als eine Schatzkammer zu betrachten, verliert er seine Bedrohlichkeit. Denn er ist der Wegweiser, der Ratgeber, die innere Stimme, die Intuition, das Bauchgefühl und der gesunde Menschenverstand anstelle von Vorurteilen und Selbstlügen. Mutterschaft kann eine Reise zu uns selbst werden, wenn wir uns dem Kind zuwenden, das wir einmal gewesen sind. Der erste Schritt ist jedoch zu realisieren, dass es dieses Kind überhaupt gibt und dass es ihm nicht gut geht. Später werden wir versuchen, dem inneren Kind das zu geben, was es gebraucht hätte. Doch zunächst müssen wir es einmal kennenlernen.

Meditative Zeitreise zum inneren Kind

Entspanne dich eine Weile mit geschlossenen Augen. Geh dann vor dem inneren Auge in der Zeit so weit zurück, bis du bei deiner allerfrühesten Kindheitserinnerung angekommen bist. Tauche in diese Situation ein, nimm die Umgebung und die anwesenden Personen darin wahr, fühle die Stimmung des Kindes nach. Was ist es für eine Situation? Was erlebt das Kind in dir? Wie fühlt es sich? Was möchte es? Was braucht es? Spüre nach, ohne einzugreifen. Mach Notizen und wenn möglich Zeichnungen.