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Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold

ISBN 978-3-492-96042-7
September 2017
© Elia Barceló 2004
Titel der spanischen Originalausgabe:
»Disfraces terribles«, Ediciones Lengua de Trapo,
Madrid 2004
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2006
Published by arrangement with UnderCover Literary Agents
Covergestaltung: U1 berlin/Patrizia Di Stefano
Coverabbildung: »Am Strassenrand« (Öl auf MDF)
von Edward B. Gordon
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers www.gordon.de
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Meinen Freunden Gertrut, Wolfram und Michael
und meinem Ehemann Klaus –
den besten Lesern, die man sich wünschen kann.
Danke!
Und natürlich für Nina und Ian.

Time is just memory
Mixed with desire

TOM WAITS

Alle Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit realen Geschehnissen oder toten wie lebenden Personen ist rein zufällig.

E. B.

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Gestern Nacht bin ich im Traum in die Wohnung in der Rue de Belleville zurückgekehrt. Mir klopfte das Herz vor Freude, mein Atem überschlug sich, die Bilder jagten einander in meinem Kopf, und alle Gegenstände, auf die mein Blick fiel, leuchteten in bunten Farben auf, sodass mir schwindlig wurde, selbst im Traum – und dass ich träumte, wusste ich. Taumelnd bin ich noch einmal durch die weiten Räume gegangen, habe noch einmal die Fensterläden geöffnet, um dieses Licht hereinzulassen, wie ich es seitdem nicht wieder erlebt habe, ein jubelndes, goldenes Licht, das die Bücherregale, die auf dem Boden verstreuten Blätter, die auf dem Tisch herumstehenden Gläser und Flaschen in glänzende Juwelen verwandelte, in ein Fest warmer, betörender Farben: Farben des Glücks.

Aus allem sprach ein rauschhaftes Leben, eingefangen in einem Augenblick der Ruhe und doch greifbar und lebendig; lange Nächte mit Freunden bei Kerzenschein; ein gemeinsames Glas Rotwein im dichten Qualm des schwarzen Tabaks, endlose Gespräche über Literatur; Lachen und bissige Bemerkungen; glänzende Augen und feuchte Lippen; Menschen, die das Hier und Jetzt genießen und die Vergangenheit missachten, die wissen, dass die Zukunft sich vor ihnen ausdehnt wie eine Autobahn am Meer.

Wie jung wir waren! Was konnten wir schon wissen?

Und ich war zurückgekehrt – in meinen Körper von damals, mein Denken, meine Fröhlichkeit, meine Gewissheit, dass das Leben ein niemals endendes Fest ist. »Paris war ein Fest.« Das stimmte. Das Leben war für uns wie ein junges Pferd, das nur wir zu zähmen wussten, es war ein einziges Fest.

Während ich durch die Zimmer ging, blieb mein Blick immer wieder an Einzelheiten hängen, an kleinen alltäglichen Gegenständen, die vergessen in einer Ecke lagen und auf ihre Besitzer warteten: ein Hut mit blauen Stoffblumen, den Marita im Frühling vergessen hatte, er saß noch immer auf der entsetzlichen Mozartbüste neben dem Klavier, die wir an einem Sonntag auf dem Flohmarkt gekauft hatten; eine Meerschaumpfeife, die irgendeiner der vielen Leute, die in unserer Wohnung ein und aus gingen, im Wohnzimmer zwischen den Büchern liegen gelassen hatte; ein Gedichtbändchen mit Widmung des Autors, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag, erdrückt unter einem von filterlosen Zigarettenstummeln überquellenden Aschenbecher.

Die Morgensonne fiel durch die leeren Flaschen aufs Parkett und zeichnete grüne Lichtseen, goldene Staubmotten tanzten darin, sodass es aussah, als regnete es Gold: Das war unser Reichtum, mehr besaßen wir damals nicht, und mehr brauchten wir auch nicht für unser vivre d’amour et d’air frais.

Die Tür zu unserem Schlafzimmer stand offen; man sah eine Ecke des zerwühlten Betts, von dem der indische Überwurf, scharlachrot, grün und gold, auf den Parkettboden herabwallte und einen meiner türkischen Pantoffeln gefangen hatte, der wehrlos in den üppigen Falten lag. Raúl würde noch im Bett liegen und mit dem Arm das Licht von seinem Gesicht abschirmen. Wenn ich die Tür öffnen würde – sachte, ganz sachte, damit das Quietschen ihn nicht weckte –, könnte ich ihn sehen, wie er damals gewesen war, einen jungen heidnischen Gott in den Tiefen des Kaminspiegels, schlafend wie ein Faun von Debussy.

Meine Hand sank auf den Lesesessel, und ich spürte die Wolle unter meinen Fingern, nahm ihren Geruch wahr. Wie immer würde Raúl sich auf dem Weg ins Bett ausgezogen und seinen Pullover auf dem Sessel liegen gelassen haben. Ich nahm ihn an mich wie ein schlafendes Kind und hielt ihn mir ans Gesicht, spürte seine Weichheit, seine Wärme, labte mich an dem satten Bordeauxrot – es war sein Lieblingspulli – und dem Geruch, den ich fast vergessen hatte, Raúls unverwechselbaren Geruch.

Unabsichtlich schmiegte ich mein Gesicht in die flauschige Wolle, rieb meine Haut an ihr, eine flüchtige, nur wenige Sekunden andauernde Liebkosung.

Als ich den Pullover wegnahm, war ich benommen vor Glück, aber als ich in den Spiegel links neben der Zimmertür schaute, sah ich, dass ich blutete, dass mein ganzes Gesicht mit kleinen Wunden übersät war, aus denen mein Blut quoll, rot wie Bordeaux. Ich blickte zurück auf den Pullover, den ich noch in der Hand hielt, er war nun braun, und in seinen Falten steckten Hunderte, Tausende winziger Glassplitter, wie Sternenstaub, die mir die Haut zerschnitten und sie in ein Schlachtfeld verwandelt hatten.

Da wusste ich, dass ich es schon wieder geträumt hatte; ich erwachte mit einem Schrei, schweißgebadet und gealtert, allein in meiner Wohnung, in der ich schon seit Jahren lebe, und der Gedanke, alles, was schon fast vergessen war, noch einmal durchleben zu müssen, erfüllte mich mit Grauen.