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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Über den Autor
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Rolf Völkel
Täter
mit russischem
Akzent
Krimi
DeBehr
Copyright by Rolf Völkel
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage 2020
ISBN: 9783957538024
Umschlaggrafik Copyright by AdobeStock by Grigory Bruev
Kapitel 1
Für Viktor Patschenko bricht eine Welt zusammen, als der Abzug sowjetischer Truppen verkündet wird. Kann ein Angehöriger dieser Armee solch eine Politik verstehen? Zumal er von seiner Frau Rossaja geschieden wurde. Ein räumlicher Abstand, bis hierher nach Deutschland, sollte auch sein bisheriges Leben vergessen machen. Kaum zu ertragen, die heruntergewirtschaftete Kaserne in der Nähe von Moskau. Das neue Zuhause kennt der Oberleutnant schon seit der militärischen Ausbildung. Zu allem Unglück lässt er seine neue Liebe Helga, die hübsche Krankenschwester aus dem Naumburger Klinikum, zurück, welche Viktor bei einer deutsch-sowjetischen Begegnung kennengelernt hatte. Zudem ist sie nicht ganz uneigennützig schwanger. Ja, in Sachen Liebe läuft alles vorzüglich, was nicht in jeder Beziehung selbstverständlich ist. Kein Vergleich mit seiner ehemaligen Frau Rossaja, die das Leben nur im Wodka-Rausch ertragen konnte. Als unwiderruflich gilt der Entschluss, Viktor will nach Deutschland zurückkehren. Sogar ein Leben in der Illegalität wäre vorstellbar. Kein vernünftiger Mensch kann die illegal, entgegen allen Vorschriften und Befehlen, zurückgelassenen Güter einfach so vergessen. Von einem unterirdischen Bunkersystem, dessen Zugänge alle von einer Planierraupe mit Kies und Erde zugeschüttet sind, kennt nur er die genauen Koordinaten. Im Inneren sind Waffen versteckt. Eine ganze Kiste Neun-Millimeter-Makarow-Pistolen, mehrere Kalaschnikows sowie anderes Gerät.
Ganz sicher beabsichtigt Viktor nicht, einen Krieg gegen die Deutschen zu führen. Aber für alle Fälle könnten diese nützlich sein, immerhin besitzen sie einen materiellen Wert. Zudem ein Verkaufserlös, bei einem Neuanfang mit Helga, die Haushaltskasse auffüllen würde. Denn ohne Geld läuft auch in diesem wunderschönen Land nichts.
Der letzte Panzer rollte soeben am Ostbahnhof auf einen Güterwaggon. Noch einmal wird die Anzahl der Fahrzeuge sowie die der Mannschaften überprüft. Eine russische Diesellok hat schon angekoppelt, das Signal steht jedoch immer noch auf Rot. Auf den harten Bänken eines alten Reichsbahn-Personenzuges sitzend, blicken die russischen Offiziere ziemlich ratlos, wie konnte das nur geschehen. Die Deutschen wurden von der Roten Armee besiegt. Sie sollten bis in alle Ewigkeit, für das von ihnen angerichtete Leid und Elend, als auch den materiellen Schaden, Reparationen bezahlen. Jetzt plötzlich ziehen wir uns als Sieger aus diesem Land zurück. Man kann wirklich nur mit dem Kopf schütteln. Solch einen Befehl versteht keiner der hier anwesenden Offiziere und Soldaten. Natürlich scheint es unvernünftig, sogar dumm, jetzt aus dem Zug zu springen. Mit den Worten: „Ich bleibe hier.“ Ohne zu zögern, würde der Major seine Waffe ziehen. Dann, wenn er diesen Deserteur nicht erwischt, wird per Haftbefehl nach ihm gesucht, geht Viktor durch den Kopf. Seine Dienstzeit endet ohnehin in einem halben Jahr.
Dann ruckt der Zug plötzlich an, die Puffer der Waggons krachen aneinander, alle stürzen zu den Fenstern. Herrlich friedlich ziehen die Häuser, Bäume, Flusslandschaften und Gärten vorbei. Wehmut kommt auf: „Geliebte Helga, vergiss mich nicht, in einem halben Jahr komme ich zurück“, spricht Viktor leise zu sich selbst. Die Fahrt vom Ostbahnhof zum Hauptbahnhof Naumburg dauert nur einige Minuten. Jetzt wird eine Elektrolok vorgespannt. Zunächst rollt der Zug mehrere Stunden nach Norden in Richtung Berlin, von dort aus geht es tagelang ostwärts. Ganz Polen muss durchquert werden, die Menschen winken fröhlich. Irgendwie scheinen sie froh zu sein, die Besatzer endlich nach Hause fahren zu sehen, das konnte man schon in Deutschland spüren. Wie soll es danach weitergehen in Russland, überlegt sich Viktor. Ostdeutschland hat sogar Kartoffeln nach Moskau geliefert. Die hat er selbst mit seinen Soldaten, am Ostbahnhof, in offene Güterwaggons geschaufelt. Wo sollen die vielen Heimkehrenden in Russland wohnen? Wenn ohnehin schon seit Stalins Zeiten Wohnungsnot herrscht. Mit einigen Unterbrechungen fährt der Zug mehr als zwei Tage durch Polen. An der Grenze zu Russland wird das gesamte Material, einschließlich der Panzer und Lastwagen, umgeladen. Die russische Staatsbahn besitzt eine andere Spurweite. Natürlich ist das auch äußerst gefährlich, Kettenfahrzeuge sowie Lastwagen auf offene Waggons zu rangieren. Immer wieder geschehen Unfälle, sogar tödliche. Aber der Einfallsreichtum von Mannschaften oder Offizieren in der russischen Armee, an Alkohol zu gelangen, versetzt einen fortwährend in Erstaunen. Soeben war ein Kommandant volltrunken aus der Luke seines auf den Waggon rollenden Panzers neben die Gleise gestürzt. Sein Schädel wurde zertrümmert, fraglich, ob er das wohl überleben wird.
Viel Zeit verstreicht, der Major läuft wütend brüllend durch die Fahrzeugreihen. Verschiedene Motoren wollen nicht anspringen. Weit nach Mitternacht donnert der letzte Panzer auf einen russischen Waggon. Das Ergebnis: Zwei beschädigte Reichsbahn-Güterzugwagen, ein verletzter Soldat, zudem ein toter Offizier. Trotzdem geht es jetzt weiter, gemächlich rollt die Fracht in Richtung Moskau. Nur die Schienenstöße erzeugen einen gleichmäßigen Takt, man kommt in Versuchung, diese zu zählen. Der Koch hat es sich im Führerhaus seines Lastwagens bequem gemacht. Gleich dahinter blubbert in einer Gulaschkanone Kapusta, eine Weißkohlsuppe. Hoffentlich gerät der Zug in den nächsten Stunden an ein Haltesignal. Den ganzen Tag mussten die Soldaten mit Brot und Tee auskommen. Erst am Abend holpern bei langsamer Fahrt mehrere Weichen. Bis schließlich der Güterzug zum Stillstand kommt. Ganz schnell steht der Koch auf den Beinen, denn mehrere Soldaten klopfen schon an die Lastwagentür. Für drei Personenzugwagen muss die Kohlsuppe in drei Transportkübel umgefüllt werden. Nicht vorhersehbar, jeden Moment könnte der Zug wieder anfahren. Hoffentlich gibt der Lokführer vorher ein Zeichen, bis jetzt steht das Signal immer noch auf Halt. Mit seiner großen Schöpfkelle sind die Kübel auch ganz schnell gefüllt.
Ja, diesen Kapusta lieben wir Russen, nach Großmutters Rezept zubereitet, schmeckt er auch wirklich gut. Die Stimmung scheint gleich viel besser, die Fahrt kann weitergehen. Plötzlich sind Akkordeonklänge zu hören, es gibt jedoch keinen Grund, fröhlich zu sein. Viktor fühlt sich, als hätte sein Land nach fünfundvierzig Jahren kapituliert. Mit Grauen denkt er an die noch verbleibende Armeezeit. Wenn doch wenigstens Helga abends auf ihn warten würde. Dreieinhalb endlose Tage rollt der Zug, dann endlich ist Moskau erreicht.
Schon wieder verliert ein junger Soldat, beim Abladen der Fahrzeuge, sein Leben. Als Einweiser wird er zwischen zwei Panzern zerquetscht. Der einzelne Mensch spielt in der russischen Armee eine untergeordnete Rolle. In der berüchtigten Kaserne hat sich nur verändert, dass sie noch heruntergewirtschafteter wirkt. Immer mit mindestens dreißig Soldaten sind die Mannschaftsräume belegt. Ein Privileg für Offiziere, zwei Mann teilen sich ein Zimmer. Viktor bleibt zuversichtlich, die bevorstehenden Wochen werden auch noch vergehen. Denn schon am dritten Tag bekommt er Post von Helga. Ihr gemeinsames Kind wird ein Mädchen, schreibt sie. Eigentlich bedeutet das eine gute Nachricht. Zumal er anfangs gar nicht begeistert von seiner Vaterschaft war. Nun, nach reiflicher Überlegung, könnte das sogar hilfreich für Viktors Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland bedeuten. Seine wenigen Ostmark hat er Helga geschenkt, um sie in harte D-Mark umzutauschen. Eines scheint klar, mit Rubel kann ein Mensch in Deutschland überhaupt nichts anfangen. Ganz ohne Zweifel wird diese Tatsache zum eigentlichen Problem. Nämlich dort eine Arbeitsstelle zu finden, dazu in welchem Beruf. Vielleicht kann ein Oberleutnant als Computerfachmann arbeiten. Deshalb wäre es unbedingt wichtig, noch zu Armeezeiten einen Lehrgang über computergesteuerte Waffensysteme zu absolvieren. Nach so vielen Jahren hängen Viktor das Fahren mit dem Panzer und die Schießübungen zum Hals heraus. Sein Zimmerkamerad scheint das alles besser zu verkraften, der steht täglich unter Strom. Schon, wenn der seinen Spind öffnet, rollen leere Wodkaflaschen über den Fußboden. Aber als Politoffizier kann er sich auch mehr erlauben.
Ein riesiges Gelände befindet sich hier, wo mehr als tausend Soldaten Dienst tun und ausgebildet werden. Panzerbesatzungen lernen nicht nur das Fahren mit solch einem Ungetüm, sogar Schießübungen mit deren Kanonen finden statt. Alles modernste Technik, ein Richtschütze braucht nicht mehr zu zielen wie mit einem Jagdgewehr. Die Zielerfassung erfolgt elektronisch, computergesteuert. Aber das hilft Viktor keinesfalls weiter, damit kann man im zivilen Leben nichts anfangen. Dort gibt es Computerprogramme für die Berechnung von Steuern. Und vielerlei Möglichkeiten für Wirtschaft oder privat, sogar Briefe und Bücher kann man schreiben und versenden. Wenn wenigstens die Grundkenntnisse vorhanden wären.
Aber der Genosse Oberst hat ganz andere Vorstellungen von Viktors Zukunft. Er erhält den Befehl, mit einem Panzerbataillon auf einem Übungsgelände in fünfzig Kilometern Entfernung den Angriff auf feindliche Stellungen zu trainieren.
Oh mein Gott, es herrscht zwar noch Sommer, selbst in dieser Jahreszeit bereitet es kein Vergnügen, im Zelt zu schlafen. Von den anderen unwürdigen Bedingungen ganz zu schweigen. Schon seit Tagen werden Panzer und Versorgungsfahrzeuge flottgemacht, jedoch fehlen immer wieder Ersatzteile. Eine Panzerkette lässt sich nicht so einfach wie ein Reifen montieren.
Befehl ist Befehl, einige Lastwagen mit Material und Mannschaften sind schon vorausgefahren. Zelte, eine Wasserversorgung mit Tankfahrzeugen müssen aufgebaut werden. Die Köche brauchen einen Stellplatz für ihre Gulaschkanone.
Der Hauptmann ist wütend, bei einigen Panzern springen die Motoren nicht an, oder müssen wegen der Ersatzteilmisere zurückbleiben. Jetzt rollt die Kolonne, auf Schotterpisten, in Richtung Norden. Straßen und Wege werden durch die schweren Kettenfahrzeuge und Lastwagen nicht besser. Eine riesige Staubwolke, mit Abgasen vermischt, verdunkelt den Himmel. Zum Glück darf Viktor im Jeep des Hauptmanns auf dem Rücksitz Platz nehmen. Drei bis vier Stunden wird die Fahrt dauern, wenn wir nur schon dort wären. Zumindest fährt das Kommandantenfahrzeug an der Spitze dieser Kolonne, dass man nicht den Dreck einatmen muss.
Von der Zeltstadt ist noch nicht viel zu sehen, ganz sicher wird es heute nichts mit Kapusta aus der Gulaschkanone. Aber russische Soldaten sind genügsam, sie begnügen sich auch mit Brot und Speck. Es dauert bis zum Abend, bis die letzten Fahrzeuge auf dem Gelände eintreffen. Am nächsten Morgen schrillt um fünf Uhr dreißig die Trillerpfeife. Ganz furchtbar hat Viktor in diesem grässlichen Feldbett geschlafen. Brotscheiben mit Margarine bestrichen, dazu zwei Scheiben Wurst, sind das erste Frühstück. Das Getränk schmeckt weder nach Tee noch Kaffee.
Heute wird der Ernstfall trainiert, die imperialistischen Invasoren müssen, ohne Rücksicht auf Verluste, unschädlich gemacht werden. Jedoch, wer sollte dieses Land angreifen, kann einem schon durch den Kopf gehen. Eigentlich wollte der Leutnant nie wieder in solch ein stählernes Ungeheuer klettern, aber das geht auch vorbei. Eines Tages wird er vor Helgas Wohnungstür stehen, ein neues Leben beginnt, ohne Uniform.
Hauptmann Iwanow hat im Hintergrund auf einer erhöhten Plattform Stellung bezogen und blickt durch das Fernglas. Im Kopfhörer erschallt seine Stimme: „Zum Ruhm der sozialistischen Sowjetrepubliken, Angriff!“
Die Ketten von sechsundfünfzig Panzern, in einer Reihe, bewegen sich mit hoher Geschwindigkeit auf den Aggressor zu, der hinter aufgeschütteten Erdwällen mit Kanonen Stellung bezogen hat. Noch etwa fünfhundert Meter, dann brüllt Viktor ins Mikrofon: „Feuer!“
Fast gleichzeitig, mit ohrenbetäubendem Lärm, explodiert die Treibladung der Geschosse, um in Bruchteilen von Sekunden im Ziel eine gewaltige Explosion, aus sechsundfünfzig Geschützrohren, zu verursachen. Aber was ist denn das? Dort vorn in den eingegrabenen, alten und defekten Lastkraftwagen sowie unbrauchbaren Kettenfahrzeugen, winken Leute mit weißen Stoffresten:
„Feuer einstellen!“, brüllt Viktor ins Mikrofon. Oh mein Gott, das sind Soldaten, welche die Ziele vorbereitet hatten. Erschießen wir jetzt unsere eigenen Leute. Keiner hat geprüft, ob sich noch Arbeitskräfte hinter den Erdwällen befinden.
Plötzlich brüllt der Hauptmann: „Oberleutnant Patschenko, was sind sie für ein Feigling. Will ein Offizier der russischen Streitkräfte mit solch einer Moral im Krieg sein Vaterland verteidigen? Ich hatte Angriff befohlen, für diese Befehlsverweigerung werden sie zur Verantwortung gezogen. Unfähige Offiziere haben in diesen Streitkräften keine Existenzberechtigung und verlassen sofort den Kampfpanzer. Kommen sie zu Fuß zurück, um Meldung zu erstatten.“
Viktor scheint fassungslos, diese Sauerei gibt es nur in der russischen Armee, sonst nirgendwo auf der Welt. Da blickt dieser Idiot von Hauptmann durch das Fernglas, sieht nicht, dass dort noch Leute am Werk sind. Und besitzt die Frechheit, seinem Untergebenen die Schuld anzulasten.
Außerdem sind andere Offiziere für die Erstellung von Zielobjekten verantwortlich, somit auch für die Arbeitskräfte. Nun ja, da wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als dem Befehl des Vorgesetzten Folge zu leisten.
„Der Hauptmann hat mir befohlen, zu Fuß zu seinem Beobachtungsposten zu kommen“, sagt Viktor seinen drei Kameraden, klettert aus der Luke und springt vom Panzer. Nein, auf keinen Fall wird er diesen Befehl ausführen, auch wenn daraus eine Befehlsverweigerung konstruiert werden kann. Zunächst ist wichtig, nach vorn in Richtung der Ziele zu laufen. Dort könnten Kameraden verletzt oder sogar ums Leben gekommen sein. So schnell als möglich muss er dort hin. Ein guter Tausendmeterläufer war der Oberleutnant schon immer. Nur noch den Erdwall hinauf, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Zwei tote, zerrissene Soldaten und fünf Verletzte sind zu beklagen. Viktor steigt auf den Erdhügel in nächster Nähe: „Wir brauchen ganz schnell Krankenfahrzeuge und Sanitäter!“, brüllt er mit lauter Stimme.
Zum Glück hatten einige Panzerbesatzungen ihre Motoren abgestellt. „Keiner von uns verfügt über Verbandszeug“, sagt ein Soldat.
„Los, Beeilung, wir müssen unsere Klamotten ausziehen und in Stücke reißen, sonst verbluten die armen Kerle“, sagt der Oberleutnant, mit gutem Beispiel vorangehend.
Es dauert eine Ewigkeit, bis zwei Sanitätsfahrzeuge am Ort des Geschehens eintreffen. Die verletzten Kameraden werden abtransportiert. Viktor begleitet sie bis zur Krankenstation. Armeeärzte werden sich um sie kümmern, fraglich, ob einer von ihnen durchkommt. Auch der Standortkommandant hat zwischenzeitlich von diesem Ereignis Kenntnis bekommen:
„Oberleutnant Patschenko, Sie werden vorläufig, bis zur Klärung dieses Vorfalls, vom Dienst suspendiert. Ihnen wird das Verlassen des Militärgeländes untersagt. Der Staatsanwalt wird die Vorkommnisse aufklären. Dann soll ein Gericht entscheiden, ob ein Fehlverhalten vorliegt oder nicht.“ Dem Beschuldigten bleibt nur ein Kopfnicken, um sich wie ein reuiger Sünder davonzustehlen.
Aber der Kommandant hat nicht von einer Befehlsverweigerung gesprochen, das bedeutet zunächst einmal eine gute Nachricht. Eine schreckliche, ungewisse Zeit, tatenlos im Zimmer sitzen zu müssen. Nur zu den Mahlzeiten die Kantine aufsuchen zu dürfen. Viktor liest in der Prawda und besorgt sich Bücher. Mehr als drei Wochen sind vergangen, als er zu einer ersten Vernehmung vorgeladen wird. Nach einer weiteren Woche findet eine Gerichtsverhandlung statt.
„Oh mein Gott, bei diesen Richtern ist alles möglich. Viele Jahre Zwangsarbeit in Sibirien oder Freispruch“, geht ihm durch den Kopf. Mindestens zehn Offiziere sitzen in einer Reihe, an einem langen Tisch. Davor ein Stuhl, für den Angeklagten.
„Oberleutnant Patschenko, Ihnen werden folgende Straftaten zur Last gelegt. Befehlsverweigerung, mehrfacher Mord an Armeeangehörigen, zudem Benutzung von Kriegsgerät für diese Taten“, sagt der Militärstaatsanwalt.
Viktor: „Das stimmt doch überhaupt nicht, ich habe den Angriff gestoppt, weil hinter dem Ziel Stofffetzen geschwenkt wurden, also befanden sich dort Personen.“ Aber der Oberleutnant wird sogleich unterbrochen. Offensichtlich gibt es einen Verteidiger:
„Zur Entlastung des Angeklagten gibt es folgende Beweise. Der Hauptmann Iwanow war betrunken, 1,9 Promille wurden festgestellt. Für die Freigabe von Zielen ist Leutnant Jugolow verantwortlich, diese Freigabe wurde vom Hauptmann nicht eingeholt. Außerdem ist es keine Befehlsverweigerung, wenn ein Offizier seinem vorsätzlich verletzten Kameraden zu Hilfe eilt. Ich beantrage Freispruch für Oberleutnant Viktor Patschenko“, sagt der Verteidiger.
Der Angeklagte muss, von zwei Militärpolizisten begleitet, diesen Raum verlassen. Womöglich findet jetzt eine Beratung statt. Die schwerste Zeit, die einem jemals widerfahren kann, endlos lange wird diskutiert. Wer wird den vorsitzenden Richter von Schuld oder Unschuld überzeugen, sicher kann man sich nie sein.
Jetzt wird das Urteil gesprochen: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte, Oberleutnant Viktor Patschenko, wird freigesprochen.“ Anschließend folgt eine ausführliche Begründung. „Oh mein Gott, das ist noch einmal gut gegangen, hoffentlich hält die Glückssträhne weiter an“, flüstert Viktor.
Nun werden wohl noch ein paar Köpfe rollen, wie der von Hauptmann Iwanow, das zurecht. Dann ist es tatsächlich geschafft, auf dem Exerzierplatz findet eine feierliche Verabschiedung statt. Noch eine Nacht schlafen, gleich am nächsten Tag wird Viktor ein freier Mann sein. Nun steckt er in seinem guten zivilen Anzug, der obere Kragenknopf bleibt geöffnet. Es gibt keine Uniform mehr, in der man Stärke demonstrieren könnte. Mit einem kleinen Köfferchen in der Hand, in dem sich seine wenigen Habseligkeiten befinden, läuft der Oberleutnant auf die Wachhabenden am Kasernenausgang zu.
Natürlich werden die Entlassungspapiere eingehend geprüft: „Viel Glück und alles Gute“, sagt dann der Sicherheitsoffizier. Viktor darf als ehrenhaft entlassener Soldat durch das offene Kasernentor in das jetzt folgende zivile Leben gehen. Wenn man nur wüsste, wohin, es bleibt wirklich nur seine alte, kranke Mutter, die in einem zweitausend Kilometer entfernten, kleinen sibirischen Dorf von einer winzigen Rente lebt. Eigentlich wollte er nie wieder in solch ein primitives Leben zurückkehren. Aber um sofort nach Deutschland zu reisen, fehlt ihm ganz einfach das Geld. Zumal es ziemlich merkwürdig erscheint, dass Helga vor einem halben Jahr zum letzten Mal geschrieben, sowie auf seine Briefe überhaupt nicht geantwortet hat. Viktor befürchtet, sie könnte sich in der Zwischenzeit einem anderen Mann zugewandt haben. Denn bei dem sexuellen Bedürfnis dieser Frau war dies zu befürchten. Ganz bestimmt ist das kleine Mädchen schon geboren. Jetzt sitzt er im nach Osten rollenden Schnellzug, die Fahrt dauert fast zwei Tage und Nächte. Wie wird seine alte Mutter reagieren, wenn er plötzlich vor der Tür steht. Der Sommer währt kurz in seiner sibirischen Heimat. Schon viele hundert Kilometer zuvor liegt eine erste dünne Schneedecke auf Wiesen und Feldern. Vom Bahnhof in der Industriestadt mit Kohlebergwerken, dazu Eisenerzgruben, sind es noch mehr als einhundert Kilometer bis ins Heimatdorf. Zum Glück war sein alter Kumpel Pawel gerade von der Nachtschicht nach Hause gekommen. Er fährt Viktor über staubige Schotterpisten seinen Kindheitserinnerungen entgegen. Es gibt viel zu erzählen, die beiden könnten noch zwei Tage fahren, trotzdem reicht die Zeit nicht. Der Fahrer stoppt, Viktor blickt durch die Scheiben. Dort steht sein Elternhaus, genauso wie er es vor mehr als zehn Jahren verlassen hat. Nur der blaue Anstrich wirkt verblichener.
Pawel verabschiedet sich mit einer russischen Umarmung. Die Gardine des Küchenfensters hat sich bewegt. Ziemlich sicher war seiner Babuschka nicht entgangen, wer aus dem Lada steigt. Da kommt sie auch schon in ihren Filzpantoffeln angeschlurft, sogleich liegen sich Mutter und Sohn in den Armen: „Entschuldige, ohne vorher Bescheid zu sagen, dich zu überfallen, aber ich wusste nicht wohin“, stammelt Viktor. Doch seine Mutter antwortet: „Diese Entschuldigung ist nicht nötig, ich habe es gefühlt, dass du nach Hause kommst.“ Natürlich freut sich seine Babuschka. Endlich wird ihre Einsamkeit beendet, zumal es einen gibt, der Holz hackt. Ursprünglich war das ganz anders geplant. Er wollte, sofort nach seiner Entlassung aus der Armee, nach Deutschland reisen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, zunächst muss Viktor das nötige Geld dafür verdienen. Wirklich ein erheblicher Fortschritt, das kleine Holzhaus verfügt jetzt sogar über einen Stromanschluss. Und in der Wohnstubenecke steht ein nagelneues Fernsehgerät. Es fehlt nur noch eine Waschmaschine, zudem ein Kühlschrank. Als wäre er niemals fort gewesen, findet der Sohn sein winziges Jugendzimmer vor. Babuschka redet unentwegt, es genügt, ja oder nein zu sagen. Sie will offensichtlich alles nachholen, was sie in den letzten Jahren versäumt hat, auch wird es spät an diesem Abend.
Am nächsten Morgen geht Viktor Patschenko auf Arbeitssuche. Jedoch im Tagebau oder im Schacht zu schuften, dazu verspürt ein Offizier keine Lust. Mal sehen, vielleicht findet sich noch etwas Besseres. Da gibt es glücklicherweise eine freie Stelle als Finanzbuchhalter bei der Kolchose. Natürlich sollte man sofort zugreifen. Vom heutigen Donnerstag an sind es noch drei Tage, um sich auszuruhen und für den Ofen Holz zu hacken. Denn schon am Montag beginnt sein erster Arbeitstag. Endlich befindet sich wieder ein Mann im Haus, dazu rollt mit seinem Verdienst auch sogleich der Rubel. Babuschka kocht und backt vor Glück fast den ganzen Tag. Sie ahnt noch nicht, dass in Deutschland ein Enkelkind geboren wurde. Während ihr Sohn nur dafür arbeitet, dorthin zu reisen. Eigentlich ist das eine gute Arbeit bei der Kolchose.
Hier geht es nicht so verbissen zu wie zum Beispiel bei der Armee. Eine Arbeit am Schreibtisch, mit Zahlen, sowie Computer, wird die reinste Erholung. Die Kollegen sind alle sehr nett und freundlich. Sogar der Kolchosvorsitzende, der des Öfteren wie seine Mitarbeiter das Leben nur im Wodka Rausch ertragen kann, hat ihm das Du angeboten. Man könnte hier tatsächlich in diesem geruhsamen Leben alt werden. Wenn da noch Helga mit dem kleinen Mädchen, dessen Namen er noch nicht einmal kennt, hier wäre, würde das Glück perfekt sein. Mit Helga und dem Kind, in diesem kleinen Häuschen, ohne Waschmaschine oder Kühlschrank zu wohnen, wird wohl für alle Zeiten nur ein Wunschtraum bleiben. Deshalb ist es wichtig, seiner Mutter alsbald die Wahrheit zu sagen, hoffentlich fällt sie nicht in Ohnmacht.
Ein bisschen Zeit bleibt noch, drei bis vier Monatslöhne müssen es schon sein. Da gibt es auch noch Olga, seine freundliche, nicht ganz hässliche Mitarbeiterin, die ihn immer so aufmunternd anlächelt. Sie wäre auch ein Grund, hier zu bleiben, um eine Familie zu gründen. Dann müsste er ganz gewiss sein Kind in Deutschland verschweigen. Weil diese Menschen doch einst unsere Feinde waren. Dann ginge alles vorbei, noch bevor diese Beziehung beginnt. Viktor spürt auch, dieser Arbeitsplatz bei der Kolchose erfüllt nicht seine beruflichen Ansprüche. Das ständige Sitzen vor dem Computer, sowie dem Jonglieren mit Zahlen, ist nichts für ihn. Dazu kommt ein reichlich primitives Dasein im Haushalt seiner alten Mutter, die ihn immer noch wie einen kleinen Jungen behandelt. Zwar meint sie es gut, es wäre ungerecht, sich zu beschweren, doch es wird Zeit, etwas Neues zu beginnen. Gerade zur rechten Zeit bringt der Postbote einen Reisepass an Viktors Arbeitsplatz. Babuschka soll vorerst nichts davon erfahren. Die Zeit erweist sich als günstig, in Deutschland hat man für russische Bürger die Vorlage eines Visums abgeschafft.
Es gilt, nur noch den grausigen sibirischen Winter zu überstehen. Eine Unmenge an Feuerholz hat Viktor schon in ofengerechte Stücke zerkleinert. Sobald der Frühling hereinbricht, kann ihn hier nichts mehr zurückhalten. Seine Mutter wird dann hoffentlich davon ablassen, wieder zwei Schweine zu mästen und eine Kuh zu füttern, damit dem Sohn immer hausgeschlachtete Wurst, dazu reichlich Milch, zur Verfügung steht. Wenn Viktor diesbezüglich nur ein Wort sagt, sie würde, ohne zu zögern, auch noch Schnaps brennen. Aber der sibirische Winter herrscht länger und härter als anderswo. Ganz bestimmt ist in Deutschland die Natur schon längst erwacht. Während sie hier immer noch unter klirrender Kälte leiden. Dann endlich setzt Tauwetter ein. Der nach Wodka stinkende Kolchos-Vorsitzende zeigt sich sehr enttäuscht, als Viktor ihm die Kündigung auf den Tisch legt. Jetzt muss nur noch Babuschka überzeugt werden, denn das wird schwer genug. Am Abend hat der Sohn eine Flasche georgischen Wein geöffnet sowie zwei Gläser auf den Tisch gestellt. Eigentlich ungewöhnlich, wo er doch lieber die härteren Wässerchen trinkt. Sie blickt auch sogleich skeptisch, irgendetwas liegt in der Luft, das scheint sie instinktiv zu spüren. „Warum fällt mir das nur so schwer“, geht es Viktor durch den Kopf, als er die Gläser eingießt, dazu sie auffordert, mit ihm anzustoßen. Seine Mutter lässt sich auch nicht lange bitten: „Nastrowje“, spricht sie ganz langsam. Mit misstrauisch aufforderndem Blick, als könnte sie Gedanken lesen. Doch dann, als Viktor sein Vorhaben beichtet, schmeckt der gute Wein plötzlich nicht mehr: „Hier hat jeder sein Auskommen sowie ein gutes Leben, was willst du in Deutschland bei dieser Frau, kommen dort vielleicht gebratene Tauben angeflogen?“, fragt sie.
Eine schlüssige Antwort fällt dem Sohn gegenwärtig auch nicht ein. Natürlich liebt er Helga, sie erwartet ein Kind von ihm. Nun ja, genauso könnte sie mit dem kleinen Mädchen bei ihrem Mann in Russland wohnen. Viktor verspürt keine Lust, stundenlange Erklärungen abzugeben. Seine alte Babuschka würde das sowieso nicht verstehen. Dabei schüttelt sie immer wieder den Kopf, alles in ihrer Macht Stehende hat sie getan. Und jetzt will der Bursche nach Deutschland, soll da ein Mensch die Welt begreifen. Noch vier lange Wochen muss Viktor durchhalten, so lange verlangt sein Arbeitgeber eine Kündigungszeit.
Dann endlich ist es so weit, schon am Vortag verstaut Viktor seine wenigen Habseligkeiten im Koffer. Babuschka hat ihm reichlich Speck und Brot dazugelegt, jetzt liegen sie sich zum Abschied in den Armen. Wird das ein Abschied für immer, geht es dem Sohn durch den Kopf, als er ihr einen kräftigen Schmatz auf die Wange drückt, zudem die Tränen abwischt: „Es war schön bei dir, vor allem bleib gesund“, stammelt Viktor. Der alten Frau schnürt es vor Schmerz die Kehle zu, ihr gelingt es nicht, ein Wort zu sprechen. Dann muss der Sohn nur noch seinen Koffer greifen, der alte Kumpel wartet schon mit laufendem Motor. Er hat zum zweiten Mal auf die Hupe gedrückt. Ein einziges Gepäckstück verschwindet im Kofferraum, sogleich braust der Lada wie auf der Flucht davon: „Schreibe mir bitte sofort, wenn du in Deutschland ankommst“, ruft Babuschka hinterher. Erst jetzt hat sie sich von dem Schock erholt. Ziemlich bedenklich schwankt das Fahrzeug durch die mit Tauwasser gefüllten Schlaglöcher. Eine Fontäne nach der anderen spritzt zur Seite. Pawel scheint gut gelaunt zu sein: „Sag mal, gibt es in Deutschland wirklich so ein gutes Leben, wie hier alle erzählen. Glaubst du, dass ich dort auch eine Chance hätte“, fragt er, seinem Beifahrer auf die Schulter klopfend. „Na klar, ganz wichtig ist, die deutsche Sprache zu beherrschen. Wir könnten ein Unternehmen gründen und viel Geld verdienen“, antwortet Viktor. Sogleich blickt Pawel sehr nachdenklich, ganz bestimmt hat sein alter Kumpel recht. Auf was will ein Mensch hier in diesem Provinzkaff noch lange warten: „Bist du Gottes Sohn, dann hilf dir selbst“, hat Pontius Pilatus zu Christus gesagt.
Es gibt reichlich Gesprächsstoff. Erst als am Bahnhof der Schnellzug einfährt, zudem sich die beiden verabschiedet haben, überlegt Pawel. An welches Unternehmen hat Viktor eigentlich gedacht. Bis zum letzten Sitz- und Schlafplatz scheint der Zug besetzt, aber Viktor buchte vorsorglich eine Reservierung. Die Schaffnerin hat ihren Gast angewiesen, noch einen Waggon nach vorn zu gehen. Jetzt steht er vor der Kabinennummer achtundsechzig. Seine gute Erziehung sollte ein Offizier nicht vergessen, deshalb klopft Viktor an die Tür. Er teilt sich das Abteil mit einem anderen Fahrgast, sogleich erschallt es: „Herein!“ Ein älterer, bärtiger Mann begrüßt den Ankömmling: „Endlich gibt es einen Gesprächspartner“, freut der sich. Das obere Klappbett ist frei, jedoch zu früh, sich schlafen zu legen. Unaufhörlich redet der Mann, als müsste er seine Seele befreien. Dabei sind auch noch unliebsame Fragen zu beantworten. Mürrisch antwortet Viktor, ohne in jedem Fall die Wahrheit zu sagen. Dann verschwindet die Frühlingssonne über den riesigen Wäldern Sibiriens. Vielleicht könnte man vor dem Einschlafen bei der Zugbegleiterin noch einen Wodka trinken. Schließlich wurde die Armeezeit für immer beendet. Zum Glück fühlt sich der alte Herr sehr müde und bleibt im Abteil zurück. Gemächlich schwankt der Zug in Richtung Moskau, einer der Passagiere spielt auf dem Akkordeon, wozu die fröhliche Runde bekannte, russische Volkslieder singt. Es scheint keinen Reisenden zu geben, welcher kein Wodkaglas in den Händen hält, natürlich gibt es auch noch eines für Viktor.
Die Zugbegleiterin gießt immer wieder fleißig nach. Der Rubel rollt, hier verdient sie mehr als mit ihrem Gehalt. Um Mitternacht wird die Dame energisch, die Besoffenen sollen gefälligst in ihre Kabinen gehen. Aber Viktor fühlt sich überhaupt nicht besoffen. Er hat einen Kameraden getroffen, der auch als Soldat in Deutschland war. Er heißt Wladimir Kusnezow, zusammen mit seiner Enkelin befindet er sich auf der Rückreise vom Besuch seines Geburtsortes. Viktor stellt sich ebenfalls vor, denn sie plaudern auf dem Niveau von Offizieren prächtig. Über alte, schöne Zeiten, dabei berichtet er auch von seiner Liebe in Deutschland mit dem Kind. Doch unverhofft scheint Kusnezow erbost, in einem ziemlich rauen Ton spricht er: „Dann sind sie der Offizier unserer Streitkräfte, der im Naumburger Stadtpark eine junge deutsche Frau vergewaltigte, sowie danach den Polizisten L. K. erschossen hat, weil er ihre Hilferufe gehört und sie beschützen wollte.“ Kusnezow ist aufgesprungen: „Damals war ich Militärpolizist, ich weiß noch sehr genau, dass gegen Sie niemals ein Strafverfahren eingeleitet wurde, denn Sie sind mit dem Staatsanwalt verwandtschaftlich verbunden. Den deutschen Behörden, dazu den Kriminalbeamten wurde weisgemacht, den russischen Mörder und Vergewaltiger nur in der Sowjetunion seiner gerechten Strafe zuführen zu können. Mord verjährt nie, ich werde Sie beim nächsten Halt des Zuges der Polizei überstellen“, spricht Kusnezow empört, mit weit geöffneten Augen im Befehlston, um sich dann auf seinen Stuhl zu setzen, als wäre das ein Zeichen, es ernst zu meinen.
Ringsum hat keiner von dieser Szene etwas mitbekommen. Ungläubig blickt Viktor seinen Kameraden an. Ausgerechnet hier, in den Weiten Sibiriens, trifft er einen Mann, der sein dunkelstes Geheimnis kennt. Dazu ihn jetzt zur Rechenschaft ziehen will, der hat sogar das Zeug dazu, dies in die Tat umzusetzen. Eine gewaltige Gefahr bedeutet das für Viktor. Will er nicht lange fünfundzwanzig Jahre in russischen Straflagern verbringen, muss irgendetwas geschehen.
Wortlos, den Blick nach unten gerichtet, erhebt sich der Oberleutnant. Dann schwankt er schweren Schrittes in seine Kabine. Zum Glück schläft der ältere Herr schon. So elend und schlecht hat er sich sein ganzes Leben noch nicht gefühlt, an Schlaf ist nicht zu denken. In Viktors Hirn tobt ein Orkan, er sieht Bilder von abgemagerten Sträflingen, deren Körper von Peitschenhieben blutunterlaufen sind. Mehr als die Hälfte aller Insassen verlieren dort ihr Leben. Nicht nur ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Das kann auch einem gestandenen Mann den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Ein großer Fehler war es, seine Herkunft zudem die Militärzugehörigkeit in allen Einzelheiten zu schildern. Unaufhörlich rollt der Zug mit Viktor ins Verderben. Ein sich ständig wiederholendes Hämmern der Schienenstöße empfindet er fortan als Schläge auf den Körper. Wenn der Lokführer für kurze Zeit einmal langsamer fahren würde, könnte man einfach hinausspringen. Aber wohin sollte er gehen, in diesem weiten und kalten Land.
Die ganze lange Nacht erweist sich für Viktor als Qual. Gleich mit Beginn der ersten Morgenröte hat er einen Entschluss gefasst. Es gibt keinen anderen Ausweg, als diesen Militärpolizisten zu töten. Dazu bleibt nicht mehr allzu viel Zeit, in etwa fünfzehn Minuten läuft die Schaffnerin durch den Gang, um ihren Tee zu verteilen. Glücklicherweise befindet sich im Koffer ein vielseitig zu verwendendes Nahkampfmesser. Den Koffer öffnen, noch dazu dieses Messer in den Händen zu halten, wird sehr riskant. Der alte Mann hat sich im Bett schon mehrmals gewälzt, jeden Augenblick könnte er erwachen. Doch im Anschleichen an Feinde war Viktor schon immer gut, dafür bekam er auch besondere Auszeichnungen. Auf leisen Sohlen gelingt es, die Kabinentür zu öffnen, dann zu verschließen. Kein Kunststück bei dem ständigen Kreischen der eisernen Räder sowie Schlagen der Schienenstöße. Im Gang befinden sich keinerlei Personen. Nur wenige Schritte und das Abteil Nummer einundvierzig ist erreicht. Eine Verriegelung von innen wird angezeigt, jetzt muss Viktor drei Mal kurz hintereinander klopfen. Er versucht, die Stimme der Schaffnerin zu imitieren: „Wui Schai“, (ihr Tee) ruft er entschlossen. So schlecht war der Tonfall gar nicht, die Dame besitzt eine ziemlich raue Stimme. Sogleich öffnet sich die Tür, in Bruchteilen von Sekunden gerät das Gesicht des Militärpolizisten von freundlich lächelnd in unfassbares Entsetzen. Viktor hat ihm die Tür gegen den Kopf geschlagen, aus seiner Nase strömt Blut. Dann ein kräftiger Stoß, das Messer sitzt mitten im Herz des Opfers, das auch sogleich zu Boden stürzt. Der schaukelnde Waggon hat ohne ein Zutun die Tür wieder ins Schloss fallen lassen. Aber vom oberen Bett schaut, über die Matratze hinaus, der Kopf eines kleinen Mädchens. Sie blickt erschrocken, soeben hat sie den Mord an ihrem Großvater beobachtet. Einen Augenblick zögert Viktor, was nun, ein Zeuge könnte auf jeden Fall gefährlich werden. Oh mein Gott, dieses kleine Mädchen, warum hat sie nicht geschlafen, er muss an seine kleine Tochter denken.
In dieser Situation darf ein Mann keinesfalls sentimental werden. Seine linke Hand greift nach dem Hals des Mädchens, er wirft sie auf den Rücken und sticht zu. Warum hat sie eigentlich kein Wort gesagt oder geschrien. Hier in der Kabine können die Leichen nicht verbleiben. Viktor öffnet das Fenster, ein ziemlich frischer Wind fegt herein. Zuerst stößt der Mörder den Militärpolizisten nach draußen, dann das kleine Mädchen, sie schaut aus wie ein unschuldiger Engel. Noch schnell das Fenster schließen, ein kurzer Überblick in den Raum, es erscheint sinnvoll, möglichst keine Spuren zu hinterlassen. Vorsichtig öffnet Viktor die Kabinentür, streckt seinen Kopf hinaus. Etwas weiter vorn reicht die Schaffnerin gerade einem Fahrgast den Tee. Eine letzte Gelegenheit, unbemerkt diesen grausigen Ort zu verlassen, um wenige Schritte weiter im eigenen Abteil zu verschwinden. Der alte Mann strahlt über das ganze Gesicht, er freut sich, endlich seinen Gesprächspartner zurückzuhaben: „Na mein Lieber, Sie sind mit Sicherheit ein Frühaufsteher, haben sogar schon einen Spaziergang unternommen. Die hübsche Schaffnerin hat es Ihnen wohl angetan“, spricht er fröhlich lachend, glaubt jedoch, damit Heiterkeit verbreiten zu können. Viktor verspürt überhaupt keine Lust auf ein Gespräch, schon gar nicht zum Lachen. Er kann nur noch beten, dass die Leichen nicht, bevor Moskau erreicht ist, gefunden werden. Jetzt klopft es an der Kabinentür, die freundliche Schaffnerin reicht zwei Gläser mit Tee herein. Dann kommt das Abteil des Militärpolizisten mit dem kleinen Mädchen an die Reihe. Hier öffnet keiner, abgeschlossen scheint die Tür nicht, beherzt drückt die Uniformträgerin den Klinkengriff. Bekleidungsstücke, ein großer sowie ein kleiner Koffer sind vorhanden, nur von den Fahrgästen fehlt jede Spur. Nun ja, die können nicht weit sein, bisher haben sie immer Tee getrunken. Sie stellt einfach zwei Gläser auf das Klapptischchen am Fenster. Viel Zeit darf sie nicht verschwenden, die anderen Reisenden warten schon, denn einen Speisewagen sucht man hier vergebens. Noch den ganzen Tag, dazu eine lange Nacht braucht der Zug bis Moskau. Morgen um sieben Uhr sechzehn rollt er in den Hauptbahnhof ein. Wenn dort kein Polizist auf Viktor wartet, hat er es geschafft.
Ganz weit vorn, im Waggon gleich hinter der Lok, macht die Schaffnerin eine kleine Ruhepause, um sich mit dem Zugchef sowie einigen Fahrgästen zu unterhalten. Auf dem Rückweg in ihre Teeküche muss sie noch einmal einen Blick in Nummer einundvierzig werfen. Offensichtlich sind die Teegläser unangetastet und stehen noch genau so, wie sie hingestellt wurden. Außer, dass der Inhalt, durch die ewige Schaukelei, über den Rand geschwappt war. Ziemlich merkwürdig ist das schon, aber kein Grund zur Beunruhigung. Die beiden könnten sich auch in der Kabine anderer Fahrgäste aufhalten. Die Dame entschließt sich, ihren Weg fortzusetzen, irgendwann werden sie schon wieder auftauchen. Ein letztes Mal hält der Zug an einer größeren Station, bevor das Endziel erreicht wird, zwei Leute steigen ein. Mit ein wenig Glück dürfte dem Militärpolizisten während dieser letzten Nacht keine Verbindung zu einer Polizeistation gelungen sein. Das wird Viktor frühestens am nächsten Morgen erleben. Auch die folgende Nacht findet er keinen Schlaf. Womöglich war es ein Fehler, den Mann dazu das kleine Mädchen zu töten. Wenn zumindest diese Dunkelheit bald vorbei wäre. Dann endlich holpert der Zug des Öfteren über Weichen, es sollte nicht mehr allzu weit bis Moskau sein. Am Horizont zeigt sich schon die Sonne, Viktor steht am Fenster, den Blick nach draußen gerichtet. Diese Reise nach Deutschland beginnt unter keinem guten Stern. Wenn wenigstens der alte Mann nicht so viel reden würde. Glücklicherweise quietschen jetzt die Bremsen, eine Bahnsteigkante wird sichtbar. Die Überdachung bewirkt in den Abteilen ein wenig Dunkelheit, sodass automatisch die Beleuchtung brennt. Nur wenige Leute befinden sich auf dem Bahnsteig. Alle, die Besucher erwarten, jedenfalls sehen sie nicht aus wie Polizisten.
Schnell raus hier, dann erst einmal weit weg. Auch wenn der alte Mann sehr überrascht wirkt, von Viktors flüchtigem Lebewohl. So sind sie eben, diese neue Generation, immer muss alles schnell gehen. Keine Zeit mehr für eine ordentliche russische Verabschiedung, denkt er sich. Wie eine gewaltige Invasion von Schädlingen klettern aus allen Türen des Reisezuges die Menschen, um zum Ausgang zu strömen. Viktor läuft im Schutz einer größeren Gruppe. Nicht auszudenken, wenn ihm jetzt ein Polizist auf die Schulter klopft, ihn auffordert, mitzukommen. In seinem Koffer befindet sich immer noch das blutverschmierte Messer. Trotzdem geht alles gut, er wird erst einmal die Bahnhofshalle verlassen. Noch schnell eine Zeitung kaufen, diese Stunden bis zum Abend werden auch vergehen. Der Schnellzug nach Berlin setzt sich erst gegen zweiundzwanzig Uhr in Bewegung. Falls bis dahin nicht die Handschellen klicken, hat Viktor wirklich einmal Schwein gehabt. Weder auf den Titelseiten von Zeitungen noch auf den folgenden Blättern befinden sich Berichte über aufgefundene Leichen am Bahndamm. So schnell wird, in dieser Einöde, wohl kaum ein Mensch seinen Fuß in den Schnee neben den Bahndamm setzen, nun bleibt nur noch zu beten.