Bernhard Heckler

Das Liebesleben der Pinguine

Roman

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage
der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung von © gettyimages/GlobalP
(Pinguin rechts), © gettyimages/Dorling Kindersley (Pinguine Mitte und links)

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50482-8

E-Book: ISBN 978-3-608-12091-2

Für meine Großeltern

»How come you never show it?

All this love you speak of

All I want is to love and be loved.«

Nicki Minaj – The Crying Game

Ihr Atem ging schnell. Sie spürten das feuchte und kühle Gras unter ihren nackten Füßen. Die Straße war weit weg, unten im Tal. Nach einer halben Stunde Rennen hatten sie die Lichtung erreicht. Dort standen sie nun, schnaufend, nackt. Sie waren Könige.

»Ich hab Bock, mir einen runterzuholen«, sagte Sascha.

»Mach halt«, sagte Niko.

Sascha stellte sich ein paar Meter weiter mitten auf die Wiese und legte los.

Nikos Blick glitt über Saschas Körper im Mondlicht, den kräftigen, sehnigen Rücken, die wuscheligen, kastanienbraunen Haare und den schneeweißen Arsch. Niko legte sich hin, streckte sich im vom Raureif nassen Gras aus und schaute hoch zu den Sternen. Irgendwas krabbelte über seinen Arm, ein Insekt. Sein Atem stieg in einer kleinen Dampfwolke über ihm auf. Firmament, das ist ein schönes Wort, dachte er. Himmelszelt. Er atmete tief ein, er wollte, dass der ganze Wald in seine Lunge strömte, das Moos, die Nadelbäume, die Kräuter.

Sascha war offenbar fertig. Er drehte sich um, kam auf ihn zu und legte sich neben ihn. Niko schaute ihn an, gar nicht verstohlen, sah zu, wie Saschas Brustkorb sich langsam hob und wieder senkte.

»Das ist die Freiheit, Mann«, sagte Sascha.

»Ja, Mann«, sagte Niko.

»Du bist mein bester Freund«, sagte Sascha.

1

Als Crèche bezeichnet man in der Zoologie eine Ansammlung von Jungtieren, die von unterschiedlichen Elterntieren abstammen. Der Begriff kommt aus dem Französischen und bezeichnet dort Hort oder Krippe. Die in einer Crèche versammelten Jungtiere entfliehen der Begleitung ihrer Eltern. Sie orientieren sich aneinander und versammeln sich an geschützten Orten. Pinguine zählen zu den Vogelarten, bei denen Crèching-Verhalten besonders häufig vorkommt.

2001

Niko

Sascha wohnte am hässlicheren Ende der U-Bahn-Linie. Seine Eltern waren geschieden. Er nannte seine Mutter »Mama« und seinen Vater »Hans«. Hans hatte sein Recht verwirkt, »Papa« genannt zu werden.

Nikos Eltern waren noch zusammen. Wenn Sascha bei ihm war, dann gingen sie meistens zum Bolzplatz und machten danach Hanteltraining und schauten sich dabei oberkörperfrei in Nikos Zimmerfenster an. Meistens aßen sie noch mit seinen Eltern, bevor Nikos Mutter Sascha mit dem Auto zur U-Bahn fuhr.

Wenn Niko bei Sascha war, machten sie Klimmzüge im Innenhof oder hingen bei der Tischtennisplatte rum und rauchten Black-Devil-Kippen. Am Hauptbahnhof gab es einen Tabakladen, der ihnen ohne Ausweis Zigaretten verkaufte. Black Devil hatte einen Sensenmann auf einem Motorrad als Logo. Die Zigaretten waren schwarz und schmeckten nach Vanille, absolut widerlich, aber bevor Niko das zugeben würde, hustete er sich eher die Lunge raus.

Sascha nahm einen tiefen Zug. Dann Niko.

Sascha sagte: »Ich war gestern bei Hans und seiner neuen Freundin. Ich durfte ihre Tangas aufhängen.«

»Geil, was hat sie für welche?«, fragte Niko.

»Nur schwarze«, sagte Sascha.

»Scharf«, sagte Niko.

Niko hatte noch nie Sex gehabt. Sascha schon, zumindest Petting. Nura hatte ihm einen runtergeholt, und er hatte sie gefingert, aber dann hatten sie aufgehört, als es gerade am besten war, weil sie irgendwie Schiss bekamen.

Solche Sachen sagte er einfach so. Dass er Schiss bekam oder sich bei irgendwas unsicher war. Hätte Niko nie zugegeben. Sascha hatte eine Ernsthaftigkeit an sich, die Mädchen anzuziehen schien. Nura war siebzehn, also zwei Jahre älter als er. Ihr Vater kam aus Ghana, aber sie kannte ihn nicht. Sie wohnte bei ihrer Mutter. Niko hatte noch nie so ein aufregendes Gesicht gesehen. Darin schoben sich die Kontinente ineinander. Eurasien um die Augen herum und Afrika um den Mund. Nura hatte ein Erdbebengesicht. Als Niko sie zum ersten Mal sah, trug sie ihre Haare im Afro-Look. Das sah unglaublich aufregend aus. Doch schon beim zweiten Mal waren ihre Haare mit dem Glätteisen zusammengefaltet wie für ein Bravo-Poster, und dabei war sie geblieben.

In der Nacht, bevor Sascha mit dem Austauschprogramm seiner Schule über den Sommer nach Neapel gehen würde, saßen sie zu dritt im Park. Nura, Sascha und Niko. Saschas Koffer stand neben der Bank. Es war vier Uhr nachts. Außer ihnen war keine Menschenseele da. Es war neblig. Nura saß auf Saschas Schoß.

»Hey Jungs, ich hab was dabei.«

Sie zog ein kleines Plastiktütchen aus der Tasche ihres Kapuzenpullovers.

»Hat mein Nachbar auf dem Gang verloren.«

Sie hatte auch Drehzeug dabei. Aber niemand wusste, wie man dreht. Nach ungefähr fünfzehn Versuchen hatte Nura den Filter irgendwie hinten im Paper eingerollt und oben das Gras reingestopft. Tabak hatten sie keinen.

Sascha schaute Niko an. »Hast du schon mal gekifft?«

»Klar«, sagte Niko.

Klar. Hattest du schon mal Sex? Klar. Mit Kondom? Klar. Hattest du keinen Schiss, was falsch zu machen? Natürlich nicht. Ging es schnell? Nein, mega lang. Fand sie es geil? Klar.

Niko hatte den Moment verpasst, ehrlich zu sein. All die Geschichten, von denen Sascha dachte, sie hätten Niko geprägt, waren erfunden. Niko war nicht mehr als seine eigene Erfindung. Der erfundene Freund. Der Typ, der schon mit dreizehn keine Jungfrau mehr gewesen war.

Er war zu groß und zu dünn. Wenn er sich zufällig in einem Schaufenster sah, schämte er sich für seine schlechte Haltung. Die feinen Haare stellte er mit Gel in alle Richtungen auf. Er hatte eine feste Zahnspange. Immer, wenn er lachen musste, hielt er sich die Hand vor den Mund.

Als der Joint ihn erreichte, stellte Niko sich darauf ein, dass es noch schlimmer würde als mit den Black-Devils. Aber es war überhaupt nicht schlimm. Weil kein Tabak drin war, kratzte es überhaupt nicht. Nikos Körpertemperatur stieg auf fünfzig Grad. Sein Gesicht wurde heiß und begann zu kribbeln. Dann wurde er zweihundert Kilo schwer. Gleich würde es ihn durch die kleinen Löcher in der Bank drücken wie durch ein Nudelsieb. Er konzentrierte sich, damit das nicht passierte.

Sascha schaute ganz ruhig über die Wiese. Er sah friedlich aus, wie meistens. Sein Gesicht hatte etwas Weibliches, er hatte einen fein geschwungenen Mund und lange Wimpern. Und eine ziemlich markante, um nicht zu sagen sehr große Nase. Nura saß immer noch auf seinem Schoß und zog an dem Joint. Der Rauch verließ in einer dicken Wolke ihre Lunge. Ihre vollen Lippen glänzten leicht. In ihrem Mundwinkel hing ein kleiner Graskrümel. Dann drehte sie sich um und küsste Sascha. Ihre Lippen legten sich aufeinander, umeinander.

Niko merkte, dass er einen Ständer kriegte, und er merkte auch, dass er gar nicht wusste, wen von den beiden er schöner fand. Dann merkte er, dass er die beiden anstarrte, aber er konnte nichts dagegen tun, und sie merkten es eh nicht. Sein Ständer pulsierte, und er fragte sich, wie sich Nuras Lippen anfühlten. Und wie sich Saschas Lippen anfühlten. Er begann, seine eigenen dünnen Lippen vorsichtig an seinen Handrücken zu drücken. Den Mund leicht offen, mit etwas Spucke. Ganz vorsichtig berührte er mit seiner Zungenspitze die Haut seiner Hand. Er spürte die kleinen Härchen und die leichte Gänsehaut auf seinem Handrücken.

»Alter, alles okay?«

»Was?«

»Wieso machst du mit deiner Hand rum?«

Sascha und Nura fingen an zu lachen, kriegten sich gar nicht mehr ein.

»Mich hat da ne Mücke gestochen, Mann. Das juckt ohne Ende.«

»Na klar«, sagte Sascha. »Vielleicht nimmst du die Süße heute noch mit nach Hause, hm?« Er machte eine Runterholbewegung.

»Halt die Fresse.«

Dann war es Morgen, und sie standen hundemüde am Bahnsteig. Sascha hatte seinen Koffer schon in den Zug gehievt. Er gab Nura einen langen Kuss. Beide hatten Tränen in den Augen.

»Machs gut, ja? Ich schreib dir, wenn ich da bin.«

Niko gab er eine liebevolle Backpfeife und einen Kuss auf die Stirn. »Und du, pass auf sie auf, ja? Macht euch einen schönen Sommer, wir sehen uns im Herbst. A presto, amici.« Dann verließ der Zug den Bahnhof, Nura weinte, Niko nahm sie halb entschlossen in den Arm und dann gingen sie nach Hause, jeder für sich.

SMS von Sascha, 17.07., 21.12 Uhr

Na, alles gut? Hier ist es Hammer, die Mädels sind meravigliose, alle trinken Rotwein, finds schwer, viel davon zu saufen, gewöhne mich aber langsam dran. Wie läufts bei dir?

SMS von Sascha, 29.07., 02.33 Uhr

Hey, ich hab heute den ganzen Tag nichts von Nura gehört. Mach mir bisschen Sorgen. Kannst du sie vielleicht anrufen?

SMS von Sascha, 30.07., 11.46 Uhr

Sie wohnt beim Feringapark, sauhässliches Hochhaus, nicht zu übersehen. Ganz oben, steht kein Name auf der Klingel. Kannst du vielleicht vorbeischauen?

In dieser Gegend war Niko noch nie gewesen. Die Häuser sahen alle ein bisschen trostlos aus. Hier und da blätterte Farbe ab, und in jedem Haus schienen wahnsinnig viele Leute zu wohnen. Dicht an dicht drängten sich kleine Balkone aus Beton. Er musste gar nicht nach der unbeschriebenen Klingel suchen, weil Nura vor dem Haus auf einer Schaukel saß. Sie sah verheult aus.

»Alles okay bei dir? Sascha erreicht dich nicht.«

»Ich hab kein Geld mehr auf meiner SIM-Karte.«

»Willst du was essen gehen?«

»Ich hab auch kein Geld mehr im Geldbeutel.«

»Meine Eltern sind in Urlaub gefahren und haben mir was dagelassen. Ich hab genug. Geht auf mich.«

»Niko?«

»Ja?«

»Meine Mama hat mich rausgeschmissen. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Du kannst zu mir, wenn du willst. Meine Eltern kommen erst in sechs Wochen wieder.«

Jetzt wohnte Niko also mit einem Mädchen zusammen. So schnell ging das. Zuerst gingen sie in den Supermarkt. Ein Kilo Erdbeerjoghurt, Tiefkühlpizza, Tomaten und Mozzarella, zwei Kartons Eistee und auf dem Weg noch Sandwiches bei Subway, die sie daheim als Vorrat in den Kühlschrank legten. Sie kochten und aßen zusammen, rechneten, wie viel Geld sie pro Einkauf ausgeben könnten, hingen im Garten rum und schauten Fernsehen. Wie ein altes Ehepaar.

Am Freitagabend in der zweiten Ferienwoche war eine Party bei einem Nachbarn. Als sie sich schminkte, ließ Nura die Badezimmertür halb offen. Langsam fuhr sie mit einem roten Lippenstift die Konturen ihres Mundes nach und riss dabei weit die Augen auf. Unter ihrem schwarzen Top zeichnete sich der Spitzenstoff ihres BHs ab.

Die Musik hörte man schon von Weitem. Das verheißungsvolle Wummern vom anderen Ende der Reihenhaussiedlung. Der Gastgeber hatte im Wohnzimmer ein DJ-Pult aufgebaut mit riesigen Boxentürmen. Es war unglaublich voll. Nura und Niko tranken Wodka-Brause. Niko wollte sich beeilen, besoffen zu werden. Wenn er besoffen war, wurden seine Handflächen trocken, die sonst immer schwitzten, weil er zu viel über irgendeinen Scheiß nachdachte.

Zwei Stunden oder fünf Stunden später stand Niko auf der Tanzfläche. Er merkte, dass er nicht mehr richtig stehen konnte und versuchte, sein Wanken wie Absicht aussehen zu lassen.

Nura hatte er schon länger nicht gesehen. Plötzlich stand sie vor ihm auf der dunklen Tanzfläche. Sie trug eins seiner T-Shirts. Wieso das denn, vorher hatte sie doch noch ihr schwarzes Top an. War sie es überhaupt? Ja, war sie, Mann, hatte die einen tollen Mund.

Niko trug eine Goldkette an dem Abend, so eine Rapperkette, und machte Scheiß damit, drehte sie rum und tat so, als würde er sich dran aufhängen. Nura lachte. Sie nahm ihn an seinen trockenen Händen und sie tanzten übertrieben, machten Verrenkungen, wirbelten sich rum, lachten beide, und dann stand sie plötzlich ganz nah vor ihm. Niko nahm das Ende seiner Rapperkette und streifte es ihr um den Kopf. Jetzt waren sie verbunden. Die Tanzfläche verschwand. Er spürte Nuras Brust an seiner Brust und jede Bewegung ihres Halses an seinem Hals. Wie die Kette sich spannte, wenn sie sich ein kleines Stück nach hinten bewegte, und wie sie sich lockerte und leicht auf seinem Nacken lag, als sie ihm näher kam. Und wie sie zu schweben schien, als ihre schönen, schönen Lippen seine berührten.

In dieser Nacht schlief Nura in seinem Bett und Niko am Boden auf dem Teppich. Er träumte von ihren Lippen. Davon, wie Nura Sascha auf der Parkbank küsste. Davon, wie seine Lippen seinen Handrücken berührten, und er sich vorstellte, dass er Nura war, die von Sascha geküsst wurde. Davon, wie Saschas Brust sich neben ihm hob und senkte. Wie sein nackter Rücken nass war vom Raureif der Wiese, und er sich über ihn beugte. Saschas Brust an seiner Brust. Saschas Hand, die seinen Schwanz umschloss. Seine langen Wimpern und sein fein geschwungener Mund. Als Niko aufwachte, waren Unterhose und Bauch feucht und klebrig. Er war so beschissen verwirrt wie noch nie in seinem Leben.

SMS von Sascha, 15.08., 13.20 Uhr

Hey, alles gut bei euch? Schreibst du mir jetzt auch nicht mehr? Habt ihr noch Subway-Sandwiches? Hier alles super. Bin ganz im Süden gerade, Reggio Calabria, kann Sizilien sehen.

SMS von Sascha, 15.08., 15.02 Uhr

Klar hab ich Zeit zu telefonieren, ist was Wichtiges?

SMS von Sascha, 16.08., 03.54 Uhr

Du dummes Arschloch.

Nura konnte sich nicht an den Kuss erinnern. Sagte sie. Niko konnte das einfach nicht glauben. Klar, sie waren beide total besoffen gewesen, aber wie konnte sie sich daran nicht erinnern? Auf dem Nachhauseweg hatten sie normal geredet und sich sogar noch mal geküsst.

Nura wollte nicht weiter darüber reden. Sie holte den letzten Joghurtbecher aus dem Kühlschrank. »Wollen wir noch mal einkaufen?«, fragte sie.

»Ich hab es Sascha erzählt«, sagte Niko. »Tut mir leid.«

Ihr Gesicht verdunkelte sich wie die Sonne, wenn sie von einem Moment auf den anderen hinter einer Gewitterwolke verschwindet.

In ihren Augen blitzte Wut. Niko hatte sie noch nie so gesehen. Nura ließ den Becher auf den Teppich fallen, fing an zu weinen und lief raus aus der Küche nach oben, in Nikos Zimmer. Als sie wieder runterkam, sprach sie kein Wort mehr. Er dachte, sie würde jetzt gehen. Aber sie blieb. Wortlos schrieb sie einen Einkaufszettel, nahm den geklauten Edeka-Korb und ging Richtung Supermarkt. Niko lief ihr hinterher.

Sie wohnte noch vier Wochen bei ihm. Ihre körperliche Nähe war ihm unerträglich. Wenn er ihre Schritte hörte, ihren Geruch wahrnahm, leicht versengt, eine Mischung aus Shampoo und Lagerfeuerrauch, verkrampfte sich sein Bauch. Er wollte, dass sie ging, wollte sie darum bitten, aber die Worte schafften es nicht aus seinem Mund. Und irgendwie wollte er auch, dass sie blieb.

Er hörte mit, wie Sascha mit ihr Schluss machte. Sie hatte sich zum Telefonieren zwei Stunden lang im Bad eingesperrt und war danach noch zwei Stunden nicht wieder rausgekommen, bis Niko sich wirklich Sorgen gemacht und so lange gegen die Tür gehämmert hatte, bis sie endlich rausgekommen war.

Besonders schrecklich war, dass er in ihrer Gegenwart dauernd eine schmerzhafte Erektion hatte. Im Bad holte er sich einen runter und dachte dabei an nichts. Er wollte nur, dass dieser sinnlose Ständer wegging. Als er ihr sagte, dass er sie liebe, sagte sie nichts. Niko wusste überhaupt nicht, ob das stimmte, also ob er sie liebte. Er wusste eigentlich gar nichts mehr. Als sie ging, sagte sie ihm Tschüss wie jemandem, den man gerade zufällig getroffen hat. Hey, na, wie läufts denn so, ach ja, schön, ich muss jetzt leider weiter, also bis bald mal. Es war verstörend.

Kurz bevor Sascha zurückkam, fuhr er noch mal zu ihrer Wohnung. Aber in dem sauhässlichen Hochhaus mit den vielen Balkonen beim Feringapark war jede Klingel beschrieben, kein Name fehlte, und Niko wusste nicht, wo er klingeln sollte. Er wusste nicht mal, wie Nura mit Nachnamen hieß. Sascha war selbst auch nur zwei- oder dreimal bei ihr gewesen, aber da hatte sie auch immer draußen auf ihn gewartet. In ihrer Wohnung waren sie nie gewesen. Niko wartete zwei Stunden darauf, dass sie vielleicht rauskommen würde, dann ging er nach Hause.

Am Tag von Saschas Rückkehr stand Niko am Bahnsteig. Der Zug aus Neapel würde in drei Minuten kommen. Sascha wusste nicht, dass Niko da war. Er wollte ihn nicht sehen, und zwar nie wieder, daran hatte er bei ihrem letzten Telefonat keinen Zweifel gelassen.

Auf Gleis 12 war die Neonröhre kaputt. Sie flackerte und fiel immer wieder für Sekunden aus. Das flaue Gefühl in Nikos Bauch breitete sich mit jedem Herzschlag in seinem Körper aus, in die Brust und in die Arme, bis in die Fingerspitzen. Ihm war leicht übel, und er hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen. Nachts hatte er im Bett gelegen, und der Lärm in seinem Kopf war nicht weggegangen. Er konnte nicht einschlafen, obwohl er unglaublich müde war. »Bitte, mach, dass es weggeht«, hatte er geflüstert, als draußen die Sonne aufging und er noch immer wach gelegen hatte.

Der Zug fuhr ein.

1973

Franco

Am 16. September schien die Sonne über Kalabrien, und Franco Cristofaro kam im Wohnzimmer eines kleinen Hauses in der Via Itria in der Küstenstadt Reggio Calabria am südlichsten Ende Italiens auf die Welt. Seine Mutter starb bei der Geburt. Franco überlebte nur knapp. Er lernte seinen Vater nie kennen. Sein Onkel nahm ihn zu sich, ein hagerer Mann mit kalten, wachen Augen. Weil er aussah wie der Diktator, nannten ihn alle Pinochet. Sein Blick brachte Leute zum Verstummen.

Glück war in Francos Leben von Anfang an nicht vorgesehen. Umso mehr verlor er sich im Augenblick. Auf dem Weg zur Schule kam Franco immer an einer Ameisenstraße vorbei. Er nahm sein Brot aus der Tasche, zupfte ein paar Brösel ab und gab sie den Ameisen. Er sah zu, wie sie in einer perfekten Choreografie die Krümel über die Straße zu ihrem Haufen transportierten. Er war fasziniert, vergaß die Zeit und kam immer zu spät. Wäre seine Mutter noch am Leben, hätte sie ihn vielleicht darin bestärkt, von Zeit zu Zeit seinen Gedanken nachzuhängen und Insekten zu beobachten. Oder sie hätte ihm wenigstens Entschuldigungszettel geschrieben.

Wenn Franco aus der Schule nach Hause kam, war die Wohnung immer leer. Pinochet ging seinen Geschäften nach. Eines Tages schloss Franco beim Nachhausekommen die Tür nicht richtig hinter sich. Als er am Küchentisch saß und eine Schüssel Cornflakes aß, sein typisches Mittagessen, hörte er ein Geräusch hinter sich. Eine graue Katze war durch den Türspalt gehuscht. Ihr Fell hatte exakt die Farbe der Hausfassade. Sie hatte blaue Augen. Franco näherte sich ihr vorsichtig. Erst wich sie zurück, aber dann ließ sie sich streicheln. Sie war dreckig und ungepflegt.

Franco setzte sie in die Badewanne. Als er den Duschstrahl auf sie richtete, das Shampoo schon in der Hand, fauchte sie, kratzte mit aller Kraft Francos Arm und flüchtete aus dem Badezimmer. Er fand sie eine halbe Stunde später vorwurfsvoll dreinblickend unter dem Küchentisch. Als Entschuldigung stellte Franco ihr seine Cornflakes-Schüssel hin. Sie akzeptierte die Wiedergutmachung, schleckte die Milch auf und blieb in der Wohnung.

Franco weinte und bettelte, als Pinochet die Katze am Abend vor die Tür setzen wollte. Schließlich setzte Franco sich durch. Pinochet legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Aber gewöhn dich nicht zu sehr an sie.« Franco taufte die Katze »Froot Loop«, nach seinen Cornflakes, erinnerte sich schon nach ein paar Minuten nicht mehr an das, was Pinochet gesagt hatte, und schlief jede Nacht mit Froot Loop in seinem Bett. Wenn er aus der Schule kam, war die Wohnung nicht mehr leer. Froot Loop wartete schon in der Küche, schnurrte und leistete ihm Gesellschaft, wenn er seine Cornflakes aß.

An einem Samstagabend schreckte Franco aus dem Halbschlaf hoch, als Pinochet plötzlich sein Zimmer betrat. Mit seinen kalten Augen sah er sich um, entdeckte, was er suchte, packte Froot Loop an der Nackenfalte, trug sie zum Klo und tauchte ihren Kopf in die Schüssel. Die Katze zappelte wie verrückt, und Franco schrie und weinte und schlug Pinochet mit aller Kraft auf den Rücken, ins Gesicht, aber er war noch ein Kind. Es war, als würde er gegen eine Hauswand trommeln. Der Todeskampf dauerte ewig. Als die Katze tot war, sank Franco auf den Boden und weinte nicht mehr. Er saß einfach nur da. Pinochet trug die Katze raus in den Hof und warf sie in den Müll. Franco stand in dieser Nacht mit der Küchenschere vor Pinochet, der auf der Couch eingeschlafen war. Bestimmt eine halbe Stunde stand er da, völlig regungslos, und traute sich nicht, zuzustechen.

Schließlich packte er ein paar Klamotten in einen Rucksack und lief hinaus. Als er auf der Straße stand, wusste er nicht, wohin. Er lief bis zur Schnellstraße Richtung Neapel. Die Sonne ging auf. Nach ein paar Kilometern brannten seine Beine vom vielen Gehen. Er setzte sich an den Straßenrand und streckte den Daumen raus, wie er es mal in einem Film gesehen hatte. Er hoffte, jemand würde ihn mitnehmen. Aber kein Auto hielt an. Schließlich war es neun Uhr, und Franco war hungrig. Er drehte um und ging Richtung Schule. Dort gab es immer Frühstück.

Als er vierzehn war, hörte Franco auf, in die Schule zu gehen. Pinochet hatte ihm gesagt, er würde jetzt als Arbeitskraft gebraucht. Also begann er mit kleinen Botengängen. Er machte seine Sache gut und wurde schon bald abgestellt, um Geld von Verkäufern an Marktständen einzusammeln. Wer nicht zahlte, musste den Platz räumen. Wer beim nächsten Mal wieder nicht zahlte, dem zertrümmerte Franco den Stand und, wenn nötig, den Kiefer. Er war ein kräftiger Junge. Mit fünfzehn schlug er zum ersten Mal zu. Mit sechzehn spritzte er sich zum ersten Mal Anabolika fünf Finger breit unter dem Hüftknochen in die linke Arschbacke. Mit siebzehn warteten fünf oder sechs Leute auf eine Gelegenheit, ihn fertigzumachen. Und er küsste zum ersten Mal Antonella, und einen Sommer lang war das Glück zum Greifen nah, sogar für ihn.

cafécornetto