Katja Bauer und Maria Fiedler

DIE METHODE AfD

Der Kampf der Rechten:
Im Parlament, auf der Straße –
und gegen sich selbst

Klett Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock, Cafe Racer

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98412-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12101-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»Deutsche,
kauft deutsche Zitronen!«

Kurt Tucholsky, aus dem Gedicht Europa (1932)

Prolog

24. September 2017: Der Traffic Club am Berliner Alexanderplatz ist eigentlich kein Ort der ersten Wahl für Herren wie Alexander Gauland. Aber an diesem Abend sieht das Publikum hier anders aus als sonst. Ausgerechnet unter einer Berliner Discokugel wird ein neues Kapitel der parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik aufgeschlagen.

Die AfD steht vier Jahre nach ihrer Gründung kurz vor dem Einzug in den Bundestag. Ein anderes Ambiente wäre ihr für diesen Tag sicher lieber gewesen – aber im traditionell linken Berlin hat die Partei Schwierigkeiten, einen Raum zu mieten. Schon vor der ersten Prognose sammeln sich auch vor dem Traffic Club Hunderte Demonstranten: »Ganz Berlin hasst die AfD«, rufen sie in Sprechchören. Die Anhänger der jungen Partei schauen vom Balkon auf die Protestierenden hinab. »Ganz Berlin wählt die AfD«, ruft einer nach unten.

Drinnen im Saal haben sich die Dekorateure große Mühe gegeben, den Raum dem Anlass gebührend einzunehmen: Die Scheinwerfer tauchen die Gesichter in die Parteifarben Blau und Rot, das Wahlkampfmotto »Trau Dich, Deutschland!« steht auf Stellwänden, selbst über die Pissoirs der Herrentoilette hat jemand die Plakate der Kampagne gehängt.

Kurz vor 18 Uhr steht der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland, der den größten Teil seines Lebens CDU-Mitglied war, unter einem mit weißen und blauen Luftballons gefüllten Deckennetz und wartet auf die Prognose. Die Balken der Parteien erscheinen auf der Leinwand – als Letztes der der AfD: 13 Prozent. Im Traffic Club brechen die Gäste in Jubel aus. Gauland applaudiert seiner Partei, bevor er seinen alten Freund Armin-Paulus Hampel umarmt. Dann beginnen die Ersten, die Nationalhymne zu singen.

Aus dem Stand zieht die AfD als drittstärkste Fraktion ins Parlament ein. Mit einem solchen Ergebnis ist noch nie zuvor eine so junge Partei in den Bundestag gelangt. Gauland schiebt seine Rührung beiseite. Er weiß, dass er diesen Triumph nun in eine Ansage an die Wähler verwandeln muss.

Und es folgen jene Sätze, mit denen Gauland das Profil seiner künftigen Fraktion für die kommende Legislaturperiode beschreibt: »Liebe Freunde, das ist ein großer Tag in unserer Parteiengeschichte, wir haben es geschafft. Wir sind im Deutschen Bundestag und wir werden dieses Land verändern. Da wir ja nun offensichtlich drittstärkste Partei sind, kann sich diese Bundesregierung, die gebildet wird, wie immer sie aussieht, sie kann sich warm anziehen.« Und mit lauter, rauer Stimme fährt er fort: »Wir werden sie jagen! Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen!«

Alice Weidel mag den historischen Moment ebenso fühlen, doch äußert sie sich an diesem Abend ganz anders. Mit Demut und Sorgfalt, so sagt die designierte Fraktionschefin, sollten die Neuen ihr Amt annehmen. Man wolle »vernünftige Oppositionsarbeit« leisten. »An alle zukünftigen Bundestagsabgeordneten: Seien Sie sich Ihrer Verantwortung stets bewusst.«

Was Gauland und Weidel sagen, ist wohlüberlegt. Sie versuchen in ihren kurzen Ansprachen die ganze Breite der Bühne abzuschreiten, die sie von nun an bespielen können. Im Rückblick wird klar: Beide zeichnen schon in diesen ersten Stunden der neuen politischen Zeitrechnung die Entwicklung der kommenden Jahre vor. Für das Land und für ihre eigene Partei.

Gaulands Aufruf zur Jagd folgt dem bekannten Duktus der AfD: Provokation lautet die Taktik. Eines ihrer Mittel ist das Dagegensein – gegen alle anderen Parteien, gegen egal welche Bundesregierung, gegen Migration, Islam, die EU. Mit seinen Worten vom »Jagen« gibt Gauland den Plan vor: Stören als Prinzip. Die Disruption des demokratischen Miteinanders ist zwingend, um, so glauben radikale Denker in der AfD, den Staat »vom Kopf auf die Füße« zu stellen. Für Gauland sind Grenzüberschreitungen und das Schüren von Konflikten Teil der Aufgabe, wenn die AfD »das Spektrum der politischen Debatte« erweitern will.

Weidels Appell erzählt dagegen etwas über das radikale, unberechenbare Potenzial in der eigenen Truppe und über die Fliehkräfte, welche die AfD an den Rand einer Spaltung bringen werden. Weidel selbst ist damals noch die Kandidatin des eher im Westen beheimateten Parteiflügels, der als konservativ und im bürgerlichen Milieu anschlussfähig verstanden werden will. Was die Politikerin damals nicht weiß: Die radikal rechten Kräfte gewinnen in den Folgejahren so viel Einfluss, dass sie sich auf deren Seite schlagen wird.

Seit diesem Wahlabend liegen knapp vier politisch atemlose Jahre hinter Deutschland. Im Mittelpunkt der Aufregung steht bis zur Corona-Krise immer wieder die AfD. Seit der Wiedervereinigung hat nichts die politische Landschaft so sehr verändert wie diese Partei. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik hat sich rechts des konservativen Spektrums eine politische Kraft dauerhaft überregional verankert.

Mal fassungslos, mal empört schaut die Mehrheit der Wähler in dieser Legislaturperiode auf eine lange Reihe von Premieren: Vorher unvorstellbare Tabubrüche gehören inzwischen so sehr zur Regel, dass man die Einzelheiten schnell wieder vergisst. Vorher unsagbare Wörter finden durch Dauerwiederholung ihren Weg in die Debatte. Das Parlament gerät durch Provokationen und Störungsversuche zeitweise an seine Grenzen, sodass es sich neue Regeln geben muss – und auch Fehler macht.

Lange hat es gedauert, bis die Mehrheit verstanden hat, dass man nicht von einem Ausrutscher ausgehen sollte, wenn von der NS-Zeit als »Vogelschiss« gesprochen wird. Ebenso planmäßig trägt die AfD den rechtsextremen Verschwörungsmythos von einer angeblichen »Umvolkung« ins Parlament. Sie diffamiert Muslime, fragt nach dem Migrationshintergrund Behinderter und der Nationalität von Theaterschauspielern, beschimpft den Bundespräsidenten, den Verfassungsschutz, die Gerichte, die anderen Parteien.

All das ist Teil der Strategie, das Land zu polarisieren und einen Keil in die bereits bestehenden gesellschaftlichen Risse zu treiben. Es ist die Strategie eines neurechten Netzwerks, zu dessen parlamentarischem Arm die Partei in den vergangenen Jahren geworden ist. Die Rolle der AfD hierbei lässt sich in einem Bild festhalten, das man bei fast jeder ihrer Kundgebungen im Land sehen kann: Oben auf der Bühne schüren die Politiker als selbst erklärte Volksseelenversteher das Feuer, legen immer wieder nach. Und dann lodert die Wut. Beifällig blicken sie auf ihre Anhänger, die unten laut skandieren: »Widerstand! Widerstand!«

Für die AfD sind die anderen Parteien keine Volksvertreter, sondern die Vertreter eines korrupten, kaputten Systems, das sich »den Staat zur Beute gemacht« hat. Der AfD geht es um »Wir gegen Alle«.

Man vergisst es leicht, aber zu Beginn der Legislatur formulierten viele Kommentatoren und Politiker die Hoffnung, dass die Partei sich mit dem Einzug ins Hohe Haus mäßigen könnte. Sie setzten auf die Kraft des demokratischen Räderwerks, auf inhaltliche Auseinandersetzung, auf Respekt.

Aus heutiger Sicht klingt diese Vorstellung fast naiv. Aber das ist sie nicht. Sie ist konstitutiv. Sie folgt der Grundidee des Parlaments, denn die repräsentative Demokratie ist ein auf Vertrauen angelegtes System. Zu ihrem Kern, dem Streit um die beste Lösung, gehört die grundsätzliche Gutwilligkeit im Umgang mit dem politischen Mitbewerber. Auf dieser Basis funktionierte bisher die Auseinandersetzung, durchaus mit harten Bandagen, mit Tricks und Zuspitzungen. Sie bewegte sich in einem Rahmen, der sich nicht als Gesetz festschreiben lässt – dem Rahmen des Anstands derer, die unterschiedlicher Meinung sind, aber das System an sich für tauglich und schützenswert halten. Stattdessen sieht man sich nun einer Partei gegenüber, die den Parlamentarismus benutzt, um die Demokratie von innen heraus anzugreifen.

Rückblickend muss man sagen: Das Land und die anderen Parteien waren darauf nicht gefasst.

Doch nach vier Jahren gilt die Erkenntnis: Unsere Demokratie ist nicht wehrlos.

1.

Die Macht des »Flügels«: Wie die AfD sich selbst radikalisiert

Andreas Kalbitz trägt ein feines Lächeln auf den Lippen, als er auf den Pritschenwagen klettert, der auf dem Marktplatz von Senftenberg als Bühne dient. Der kleine Ort liegt anderthalb Autostunden südlich von Berlin. Aber die Hauptstadt ist weit weg. »Es ist gut, Euch zu sehen«, ruft Kalbitz den 150 Anhängern zu, die sich hier versammelt haben. Jubel brandet auf an diesem kühlen Sommerabend im Juni 2020. Es nieselt, der große Marktplatz ist ziemlich leer. Kalbitz merkt man trotzdem die Genugtuung an, mit der er da am Rednerpult steht.

Er hat harte Tage hinter sich. Seine Parteifreunde wollen ihn aus der AfD werfen. Ihn, den Ziehsohn des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland, den Strippenzieher der rechtsextremen Strömung des »Flügels«. Kalbitz ist zur Symbolfigur für den Richtungsstreit geworden, der sich schon seit Monaten innerhalb der AfD abspielt. Er sieht sich als Bauernopfer einer öffentlich inszenierten Säuberungsaktion, mit der die Partei der Beobachtung durch den Verfassungsschutz entgehen will. Noch ist in diesem Kampf das letzte Wort nicht gesprochen.

Seinen Anhängern in Senftenberg ist eine AfD ohne Kalbitz unvorstellbar. Als »frischer, alter und neuer Landesvorsitzender« hat der Vorredner ihn gerade begrüßt. Dieser Tag im Juni ist ein Triumph für Kalbitz – ein Gericht hat ein paar Stunden zuvor entschieden, dass er vorerst wieder Mitglied seiner Partei sein darf.

Und so kann Kalbitz in Senftenberg noch einmal als Mitglied des Bundesvorstandes der AfD rufen: »Wir haben in Deutschland kein Problem mit strukturellem Rassismus, wir haben ein Problem mit struktureller Inländerfeindlichkeit.« Der Satz erinnert an einen alten NPD-Slogan. Auf dem Marktplatz scheint das niemanden zu stören. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass der Ex-Fallschirmjäger Kalbitz vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist geführt wird.

Nach seinem Auftritt scharen sich die Anhänger um Kalbitz, der an seinem blauen Jackett wie immer ein kleines silbernes Fallschirm-Abzeichen trägt. Die Menschen wollen ein gemeinsames Foto oder wenigstens seine Hand schütteln. Auch ein Kamerateam hat noch Fragen: Was denn jetzt mit denen sei, die ihn aus der Partei haben wollten? »Abgerechnet wird immer am Schluss«, sagt Kalbitz ruhig.

Man könnte das auch mit dem platten Spruch übersetzen: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Es ist das Motto, nach dem die Radikalen und Extremen in der AfD jahrelang Politik gemacht haben. Sie wussten: Die Zeit spielt für sie.

In den vergangenen Jahren hat sich die AfD zwar stark professionalisiert, die Prognose aber, die Partei werde sich – ähnlich wie die Grünen – mäßigen, wenn sie in Parlamenten sitzt, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die AfD hat sich weiter radikalisiert. Etliche innere Machtkämpfe hat die AfD seit ihrem Einzug in den Bundestag ausgetragen, und diejenigen, die sich innerhalb der Partei als gemäßigt verstehen, waren stets die, die an Einfluss verloren.

Der Treiber für diese Entwicklung ist der »Flügel«. Die 2015 vom thüringischen AfD-Chef Björn Höcke und seinen Vertrauten gegründete völkische Strömung wirkte jahrelang als Radikalisierungsmotor von der außerparlamentarischen Rechten in die AfD hinein. Zahlenmäßig hatte der »Flügel« nie die Mehrheit, aber die Opportunisten in der AfD duldeten seine Machenschaften oder paktierten zum Machterhalt sogar mit ihm. Sie sahen lange tatenlos zu, wie die organisierten Rechtsradikalen der Partei ihren Stempel aufdrückten. Im Versuch, sich dem »Flügel« anzubiedern, hielten selbst moderatere Parteifunktionäre immer schärfere Reden. Eine ernsthafte Abgrenzung vom rechtsextremen Rand gab es nie.

Erst die drohende Beobachtung durch den Verfassungsschutz führte schließlich bei einer Reihe an Funktionären, allen voran Parteichef Jörg Meuthen, zum Kurswechsel. Sie sind der Meinung, dass es zumindest dem Anschein nach eine Abgrenzung nach Rechtsaußen braucht. Nachdem der Verfassungsschutz begonnen hatte, den »Flügel« offiziell zu beobachten, forderte der AfD-Bundesvorstand diesen zur Selbstauflösung auf. Doch vollzogen worden ist die Auflösung nur formal. Die Netzwerke, die hinter der mächtigen Strömung stehen, sind nach wie vor da und immer wieder auch in der Lage, Mehrheiten zu mobilisieren. Aus Sicht seiner führenden Köpfe hat der »Flügel« seinen Zweck ohnehin erfüllt. Die Kraft, einen Höcke oder einen Kalbitz auf regulärem Wege durch ein Parteiausschlussverfahren loszuwerden, hat die AfD nicht mehr.

Kalbitz’ Mitgliedschaft konnte nur mit einem juristischen Kniff annulliert werden, weil er beim Eintritt seine rechtsextreme Vita verschwiegen hat. Ob das rechtens war – darüber streitet er vor Gericht. Vorher war er jahrelang eine Schlüsselfigur bei der Radikalisierung der AfD. Und er hält sich auch keineswegs für unersetzlich. Unzählige andere sind noch in der Partei – und werden es noch lange sein. Gibt es für die AfD überhaupt ein Zurück?

Wer verstehen will, wie die AfD innerhalb weniger Jahre zu einer Partei werden konnte, die eine potenzielle Bedrohung für die Demokratie darstellt, der muss die Geschichte der Partei auseinandernehmen. Die Geschichte ihrer Radikalisierung ist geprägt von Ideologen, Opportunisten und Machthungrigen. Und sie hängt zusammen mit der bisherigen inneren Logik der Partei, die nur eine Richtung kannte: nach noch weiter rechts.

Die Wegbereiter

Die AfD wird 2013 gegründet. Auch wenn die Radikalisierung erst mit dem Austritt von Parteichef Bernd Lucke richtig beginnt und mit dem Abgang seiner Nachfolgerin Frauke Petry weiter an Fahrt aufnimmt, lohnt es sich, einen Blick auf einige Ereignisse in der Anfangszeit der Partei zu werfen.

Die AfD gilt anfangs als Partei von Professoren und Eurokritikern, doch der Hang zur Radikalisierung ist damals bereits angelegt. Denn von Beginn an ist sie nicht nur eine Partei, die sich gegen die Europolitik der Bundesregierung stemmt und am liebsten die D-Mark wiederhaben will, sie ist auch »die Partei der unbegrenzten Redefreiheit«, wie es der Journalist Justus Bender einmal genannt hat. Das heißt: Die Partei kämpft gegen angebliche Denkverbote, gegen die verhasste »politische Korrektheit«, gegen die Moral der »Gutmenschen«. Und sie nimmt für sich in Anspruch, auf diese Weise die Sicht einer schweigenden Mehrheit – des Volkes – zum Ausdruck zu bringen. Der Spruch »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« ist von Anfang an so etwas wie das heimliche Wahlprogramm der AfD.

Das gilt in der Außendarstellung – aber ebenso stark auch nach innen. Es ist für die Führung immer ein Risiko, jemanden innerhalb der Partei aufgrund seiner Wortwahl zurechtzuweisen. Kritik an Äußerungen einzelner Mitglieder oder Funktionäre wird in den kommenden Jahren parteiintern oft als »Spaltung« wahrgenommen. Die Radikalen befeuern das noch, indem sie immer wieder die »Einheit der Partei« betonen, denn mit diesem Schlagwort lässt sich sicherstellen, dass jede noch so extreme Position ihren Platz in der AfD haben darf.

Darüber hinaus zieht die AfD sofort eine ganze Palette schwieriger Persönlichkeiten an. Sie besteht nicht nur aus eloquenten und präsentablen Professoren wie Lucke. Diese finden sich lediglich zu Beginn in der ersten Reihe. Dazu kommen von der CDU enttäuschte Konservative, Nationalisten, Ideologen, Querulanten sowie ehemalige Mitglieder anderer Parteien. Menschen, die in respektablen Berufen arbeiten, Rentner, gescheiterte Existenzen mit viel Zeit. Im Grunde von Beginn an herrscht in den E-Mail-Konversationen innerhalb der AfD ein ruppiger Ton. Wer nicht bereit ist, sich in der zum Teil feindseligen Atmosphäre zu engagieren, oder kein dickes Fell hat, verlässt die Partei so schnell wieder, wie er gekommen ist.

Dennoch steigen die Mitgliederzahlen, es strömen mehr nach, als austreten. Diese schleichende, von außen nicht sichtbare Veränderung der Mitgliederstruktur wird in den kommenden Jahren ein wichtiger Faktor für die Radikalisierung der AfD werden – und ein Instrument, dessen sich vor allem die Akteure des »Flügels« bedienen.

Auch den internen Streit um die Frage, wie weit sich die AfD nach rechts öffnen soll, gibt es von Anfang an. 2013 betrifft das die Aufnahme von Ex-Mitgliedern der islamfeindlichen Kleinstpartei »Die Freiheit«. Lucke will einen Aufnahmestopp, Petry stemmt sich dagegen – sie erklärt, sie werde ehemalige Mitglieder der »Freiheit« nicht generell als »rechtspopulistisch« abqualifizieren. Auch Gauland will sich von Lucke nichts vorschreiben lassen. Manchen gilt der Vorgang als »der erste Rechtsruck« der AfD.

Dass etwas aus dem Ruder läuft, merkt Parteichef Bernd Lucke zum ersten Mal im März 2014. Auf dem Bundesparteitag hält Alexander Gauland, damals stellvertretender Sprecher der AfD, eine Rede, in der er Verständnis zeigt für die russische Besetzung der Krim. Für Lucke Anlass aufzuhorchen: Eigentlich gibt es im AfD-Gründerkreis einen Konsens, die Westbindung und die außenpolitischen Grundsatzentscheidungen der Bundesrepublik nicht infrage zu stellen. »Eine starke Minderheit, etwa ein Drittel, spendete ihm kräftigen Beifall. Diese Minderheit hat sich auf dem Parteitag auch bei anderen Gelegenheiten mit Proteststimmung bemerkbar gemacht«, erinnert sich Lucke Jahre später im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Er habe das damals noch für kontrollierbar gehalten, zumal es teilweise ein ostdeutsches Phänomen war. »Wir tagten ja in Erfurt, und da waren ostdeutsche Mitglieder überrepräsentiert.«

Bereits im Herbst 2014 kippt nach der Wahrnehmung Luckes die Stimmung. Damals kommt die islamfeindliche Pegida-Bewegung auf. »Das Thema Islam war bei der Gründung der AfD gar nicht erwähnt worden und auch Ende 2013 innerparteilich noch unkontrovers. Aber ein Jahr später gewann es plötzlich an Gewicht und dies nicht nur in den ostdeutschen Verbänden«, erzählt Lucke. Viele AfDler hätten das Pegida-Bündnis als eine Bürgerbewegung gegen ein »Meinungskartell« der etablierten Parteien empfunden. Es habe einen heftigen Streit darum gegeben, ob dies ein Feld sei, auf dem sich die AfD mit einer Bürgerbewegung solidarisieren solle.

Einer, der schon damals eine genaue Vorstellung davon hat, welche Partei die AfD einmal sein soll, ist Alexander Gauland. Er gehört zu den wichtigsten strategischen Köpfen der Partei – und hat die Entwicklung der AfD maßgeblich beeinflusst. Vorher war er fast 40 Jahre in der CDU. Er arbeitete als Büroleiter für den hessischen CDU-Politiker Walter Wallmann. Und als Wallmann hessischer Ministerpräsident wurde, folgte ihm Gauland und wurde Chef der Staatskanzlei.

In dieser Zeit erwirbt Gauland sich einen Ruf als geschickter Strippenzieher, als »graue Eminenz«. Später wird er Herausgeber der Märkischen Allgemeinen in Potsdam. Er verfasst Aufsätze für verschiedene Medien, schreibt als Kolumnist für den Tagesspiegel. Damals ist Gauland ein weithin geschätzter Intellektueller, er gilt vielen Politikern und Journalisten als kluger Kopf mit dezidiert konservativen Ansichten.

Aber er fühlt sich zunehmend entfremdet von seiner CDU. Den endgültigen Bruch markiert womöglich eine Szene, die Gauland in kleiner Runde schon oft erzählt hat: Der konservative »Berliner Kreis« der CDU ist 2012 beim damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe im Konrad-Adenauer-Haus zu Gast. Gauland ist dabei, ebenso der spätere AfD-Mitgründer Konrad Adam. Die Gruppe will ihren Positionen Gehör verschaffen. Doch Gröhe behandelt die Männer von oben herab, gibt ihnen zu verstehen, dass sie nicht gebraucht werden. So jedenfalls erinnert es Gauland. Und was für ihn fast genauso demütigend ist: das schlechte Essen, das ihnen aufgetischt wird. Auf dem Weg nach draußen ist ihm dann klar: Das war’s.

Nach dem Bruch mit der CDU tritt Gauland in die AfD ein, er ist von Anfang an dabei. Er wird Stellvertreter von Parteigründer Bernd Lucke, Landesvorsitzender in Brandenburg. Und Gauland merkt, womit er die AfD-Anhänger begeistern kann. Er doziert über die Gefahren des Flüchtlingszuzuges, fordert: Merkel muss weg. Nachdem die AfD 2013 knapp den Einzug in den Bundestag verpasst, schreibt er einen Gastbeitrag im Tagesspiegel, der den Weg, den seine Partei in den kommenden Jahren nehmen wird, bereits vorzeichnet. »Dem Volk aufs Maul schauen« heißt das Stück.

Darin beschreibt Gauland das Dilemma seiner Partei, dass sie zwar den »Euro-Wahnsinn« in den Mittelpunkt ihrer Programmatik gerückt hat, dass das Thema aber von vielen Menschen nicht als unmittelbare Bedrohung ihrer Existenz empfunden wird. Vielmehr glaubt Gauland, dass die AfD jenen Menschen eine Stimme geben müsse, die keine mehr hätten. Er meint damit Menschen, die dem linksliberalen »Mainstream« skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden. Er zählt die Klimaskeptiker auf und diejenigen, die »Gender-Mainstreaming für eine große Narretei« halten. »Ältere, die sich nicht länger einreden lassen wollen, dass alle deutsche Geschichte vor Hitler verfehlt war«. Menschen, die ihre Industriearbeitsplätze behalten wollten und nicht einsähen, dass sie mit hohen Strompreisen die Solaranlagen ihrer wohlhabenden Nachbarn finanzieren sollen. Gauland schreibt, dass die »multikulturelle Euphorie längst der Sorge vor Einwanderergruppen« gewichen sei. Der Flüchtlingssommer ist zu diesem Zeitpunkt noch eineinhalb Jahre entfernt.

Auch hat Gauland bereits damals verstanden, dass bei Teilen der AfD und ihrer Anhänger eine Sehnsucht nach der Straße herrscht. Ende 2014 reist er mit seiner Brandenburger Landtagsfraktion zu einer Pegida-Demo nach Dresden, zu der 15 000 Menschen kommen. Er sagt, er wolle sich ein Bild machen. Schon vor der Fahrt erklärt er, er sehe die AfD als »natürlichen Verbündeten« von Pegida. Bei den Wirtschaftsprofessoren herrscht dagegen Skepsis, ob es klug ist, sich mit den Islamgegnern auf der Straße gemein zu machen.

Nachdem sich Lucke auf einem Parteitag in Bremen Anfang 2015 mit seinen Plänen zur deutlichen Verschlankung der Parteispitze durchsetzt und damit seinen alleinigen Führungsanspruch untermauert, geht Gauland in die Offensive. Er kündigt einen Kampf um die »Seele der Partei« an.

Gauland verschickt eine Mail an die Parteimitglieder. »Wer austritt, kann nicht verhindern, dass die Partei vermerkelt«, steht darin. Er ruft seine Parteifreunde auf, das »alte Schlieffen-Motto« zu beherzigen: »Macht den rechten Flügel stark!« Gemeint ist damit der Schlieffen-Plan zum Angriff Frankreichs, der vor dem Ersten Weltkrieg entstand. Dabei sollten die deutschen Truppen mit einem starken »rechten Flügel« durch Belgien nach Nordfrankreich vorstoßen, um den französischen Festungsgürtel zu umgehen. Gauland spielt also schon früh mit dem Begriff »Flügel«, der später für die Radikalen in der AfD zum Namen wird.

Dies ist auch die Zeit, in der Götz Kubitschek auf der Bildfläche erscheint. Der Verleger mit dem schwäbischen Dialekt und den kurz geschnittenen grauen Haaren lebt in einem kleinen Ort namens Schnellroda in Sachsen-Anhalt auf einem ehemaligen Rittergut. Damals ist Kubitschek nur Kennern der Szene ein Begriff. Doch bald kennen viele Kubitscheks ländlichen Lebensstil mit selbst gemachtem Brot und Käse und wissen, dass er in der Öffentlichkeit seine Frau Ellen Kositza siezt. Es ist Teil seiner Inszenierung. Kubitschek wird sich zum bekanntesten Strategen und Stichwortgeber der Neuen Rechten in Deutschland entwickeln.

Die Wurzeln der Neuen Rechten reichen zurück bis in die 1950er Jahre. Als ihr Gründervater in Deutschland gilt der Publizist Armin Mohler. Die Neue Rechte will akademisch und intellektuell sein und sich so habituell abgrenzen von Neonazis und den harten Rechtsextremisten von gestern. Auch die Wortwahl unterscheidet sich. Gesprochen wird nicht von »Rasse«, sondern von »Identität«, nicht von »Abschieben«, sondern von »Remigration«, und an die Stelle von »Ausländer raus« ist die Idee des »Ethnopluralismus« getreten. Der französische Philosoph Alain de Benoist erklärte schon in den 80er Jahren, wie die »Kulturrevolution von rechts« gelingen könne: Indem man zunächst jenseits der Parlamente – also im vorpolitischen, kulturellen Raum – daran arbeite, die Vorstellungen der Gesellschaft zu verändern.

Kubitschek und Kositza interessieren sich früh für die AfD. Die Partei ist das, worauf besonders Kubitschek gewartet hat. Die Neue Rechte sehnt sich schon lange nach einem parlamentarischen Arm. Kubitschek hat bereits im April 2014 einen Mitgliedsantrag an die AfD gestellt, Kositza einige Monate später. Zunächst wird der Antrag der beiden vom Landesverband bewilligt. Doch kurz darauf informiert man sie: Der Bundesvorstand der Partei habe in einer Telefonkonferenz beschlossen, den Mitgliedsantrag abzulehnen. Dem Parteigründer Lucke sind Leute wie Kubitschek nicht geheuer. Die Beiträge, die er von Kubitschek auf dessen Medium Sezession liest, behagen ihm nicht. Das Ehepaar wird gebeten, die Mitgliedsausweise, die man ihnen bereits zugeschickt hat, wieder abzugeben.

In Schnellroda ist man irritiert. Doch die Entscheidung wird Kubitschek nicht davon abhalten, Einfluss zu nehmen auf die AfD. Jahrzehnte in der rechten Szene haben ihm ein eindrucksvolles Netzwerk verschafft – das bis in die Partei hineinreicht. »In der AfD engagierten sich von Anfang an sehr viele Leute, die ich in den 25 Jahren zuvor kennengelernt hatte«, erzählt Kubitschek bei einem Spaziergang durch das Örtchen Schnellroda im Sommer 2018. »Sie lagen im Dämmerschlaf in ihren Zivilberufen und sind dann auf einen Schlag aufgewacht.«

Den Grundstock für sein rechtes Netzwerk hat Kubitschek schon in der Armee gelegt. Als Offizier der Reserve nahm er an einem Bundeswehreinsatz in Bosnien teil. Dort lernte er etwa den späteren AfD-Bundestagsabgeordneten Peter Felser kennen, der Teil einer Truppe für psychologische Kriegsführung war. Später schrieben Felser und Kubitschek ein Buch über diese Zeit. Auch Kalbitz kennt Kubitschek schon seit Jahrzehnten und schätzt ihn als »guten alten Bekannten«.

Im Jahr 2000 legte Kubitschek einen weiteren Grundstein für seine zentrale Stellung in der neurechten Szene. Gemeinsam mit dem Rechtsintellektuellen Karlheinz Weißmann gründete er das »Institut für Staatspolitik«, das fortan auch zur Schulung des Nachwuchses diente. Zur selben Zeit entstand Kubitscheks Verlag Antaios, 2003 seine Zeitschrift Sezession. Um die Jahrtausendwende herum war es auch, als Kubitschek Björn Höcke kennenlernte, der damals als Lehrer an einer hessischen Schule arbeitete. Wie die Spiegel-Journalistin Melanie Amann schreibt, begegneten sich die beiden erstmals bei einer Veranstaltung anlässlich der Gründung des »Instituts für Staatspolitik« – gefolgt sei ein intensiver Briefwechsel zwischen den beiden Männern.

Kubitschek baute Schnellroda in den Jahren darauf zum wichtigsten Zentrum der Neuen Rechten in Deutschland aus. Seit der Verfassungsschutz das »Institut für Staatspolitik« 2020 wegen Anhaltspunkten für »Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung« zum Verdachtsfall erklärte, muss Kubitschek zwar damit leben, dass er und seine Denkfabrik mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht werden. Doch zuvor konnte er ungestört walten.

Sein Plan ist es, die Grenzen des Sagbaren nach rechts zu verschieben. Den Botschaften der Neuen Rechten Gehör zu verschaffen, ihre Argumentation salonfähig zu machen, ihren Resonanzraum zu erweitern. Mit dem Aufkommen der AfD wittert Kubitschek eine Chance. Schon kurz nach der Gründung notiert er, das Thema Euro sei das »feine Thema, das Türöffner-Thema, und unsere Themen (Identität, Widerstand, Gender-, Parteien- und Ideologiekritik) kommen hinterdreingepoltert, wenn wir nur rasch und konsequent genug den Fuß in die Tür stellen«.

Kubitschek ist der Auffassung, dass es eine Art Aufgabenteilung geben muss. Das wird in seinen späteren Publikationen deutlich. »Die AfD ist innerhalb eines strukturell immer stabiler werdenden Widerstandsmilieus der parteipolitische Baustein«, schreibt er etwa. Und an anderer Stelle erklärt er: »Das Milieu besteht aus Partei, Milieumedien, vorpolitischen Initiativen und aktivistischen Initiativen. Wir sind wie bei so einer fröhlichen Regatta. Die Kriegsschiffe fahren nebeneinanderher, man winkt sich von der Brücke aus zu, aber mehr auch nicht.«

Kubitschek hat ein großes Interesse daran, dass die AfD ihre Aufgabe im von ihm erdachten »Widerstandsmilieu« auch wahrnehmen kann. Die Gelegenheit, Einfluss zu nehmen, bietet sich, als bei den AfD-Nationalisten um seinen Freund Björn Höcke der Unmut über den Führungsstil des Parteigründers Lucke wächst. Die Parteirechten stehen damals vor der Wahl: mit Lucke Frieden schließen, in der Hoffnung, dass er ihnen Raum gewährt – oder in die Offensive gehen. Sie entscheiden sich für Letzteres. Kubitschek liefert dazu den Entwurf für ein Manifest mit dem Titel »Erfurter Resolution«. Als Autor tritt er nie in Erscheinung, erst viel später wird er seine Beteiligung einräumen. Höcke bringt die Resolution in die Partei ein. »Das Projekt ›Alternative für Deutschland‹ ist in Gefahr«, heißt es darin. Anstatt die versprochene Alternative zu bieten, passe sich die AfD ohne Not »mehr und mehr dem etablierten Politikbetrieb an«.

Die Resolution ist ein Instrument, um dahinter Unterstützer zu sammeln und die Stärke der Strömung zu demonstrieren. Im Wortlaut ist sie so allgemein gehalten, dass sich AfD-Anhänger leicht mit ihr identifizieren können. Zahllose Mitglieder, so steht es im Text, verstünden die AfD als »grundsätzliche, patriotische« Alternative zu den etablierten Parteien und »als Partei, die den Mut zur Wahrheit und zum wirklich freien Wort besitzt«.

Bei einem Parteitag in Arnstadt im März 2015 stellen Höcke und der sachsen-anhaltinische Landeschef André Poggenburg die Resolution vor. Der Parteitag stimmt mit großer Mehrheit zu. Anschließend wird sie in der AfD bekannt gemacht. Die »Erfurter Resolution« ist ein Erfolg: Bereits innerhalb von 72 Stunden unterzeichnen mehr als 1000 AfD-Mitglieder das Papier. Die Sammlungsbewegung »Der Flügel« ist geboren.

Alexander Gauland steht gemeinsam mit Höcke und Poggenburg an der Spitze der Erstunterzeichner. Nicht alle, die das Dokument damals unterzeichnen, betrachten sich später als Teil des »Flügels« – das gilt auch für Gauland. Dennoch wird sich die Strömung in den folgenden Jahren zu einer der einflussreichsten Gruppierungen in der AfD und zum maßgeblichen Radikalisierungsmotor entwickeln.

Dabei darf man nicht vergessen: Kubitschek hat Höcke dabei geholfen, diese Machtbasis im rechten Parteiflügel aufzubauen. Er hat mit dazu beigetragen, dass die Partei diesen Rechtsruck genommen hat. Und auch in den Jahren darauf wird seine ideelle Wirkung auf die Partei bestehen bleiben. Seine Beratung, seine Bücher und Aufsätze haben einen enormen Einfluss auf die AfD. Der AfD-Nachwuchs ist zu Gast bei den Sommerakademien im »Institut für Staatspolitik«. Und immer wieder besuchen Funktionäre Kubitschek in Schnellroda. Auch solche, die nicht zum »Flügel« gehören, Kubitscheks Meinung aber durchaus schätzen – wie etwa Alexander Gauland.

Kubitscheks Engagement hat allerdings wenig mit selbstloser Politikberatung zu tun. Es geht ihm darum, dass die AfD dabei hilft, die Ziele der Neuen Rechten umzusetzen. Lange haben Rechte wie Kubitschek auf eine Partei wie die AfD gewartet. Nun will er verhindern, dass sie zu schnell im Establishment ankommt. In einem Aufsatz spricht er vom »Flüssighalten des sowieso gefrierenden Wassers«. Der »Flügel« ist ein Instrument, um das zu erreichen. Er dient den Neuen Rechten als Arm in die AfD hinein.

Die erste Häutung

Nach der Gründung des »Flügels« spitzt sich der Machtkampf in der AfD im Frühjahr 2015 weiter zu. Lucke initiiert den »Weckruf 2015«, einen Verein, um seine Anhänger um sich zu scharen. Ähnlich wie Höcke versucht er, Verbündete hinter einer Gründungserklärung zu versammeln. In dem Dokument heißt es, man sei nicht bereit, Mitgliedern, die »pöbelnd Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen oder an den politischen Rändern unserer Gesellschaft hausieren gehen«, als seriöse, bürgerliche Fassade zu dienen. »Unser Engagement für eine gute Sache darf nicht für die Zwecke derer missbraucht werden, die aus der AfD eine radikale, sektiererische Partei von Wutbürgern machen möchten.« Mehr als 4100 Mitglieder schließen sich laut »Weckruf« an.

Doch wegen seiner Organisationsstruktur als Verein wird der »Weckruf«, anders als die »Erfurter Resolution«, als Partei in der Partei und damit als Spaltungsversuch wahrgenommen. Dazu kommt Luckes Führungsstil, den viele als abgehoben empfinden. Selbst langjährige Lucke-Fans wenden sich von ihm ab. Es steht schlecht um den Professor.

Der darauffolgende Parteitag in der Essener Grugahalle im Sommer 2015 ist schon fast legendär. Derart anarchisch geht es in der AfD danach nie wieder zu. Als »Hexenkessel« werden Beobachter die Halle später beschreiben, in der sich an diesem heißen Julitag mehr als 3300 Mitglieder drängen. Ein Spitzenfunktionär nennt die Zusammenkunft den »größten und wahrscheinlich spektakulärsten Parteitag nach dem Zweiten Weltkrieg«.

Die Lager von Bernd Lucke und Frauke Petry stehen sich verfeindet gegenüber. Jedem ist klar, dass hier ein Richtungsentscheid getroffen wird. Bei einem Gespräch Jahre später benennt Lucke die zentrale Frage: »Darf man in der AfD alles vertreten, was noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist? Oder definiert sich eine Partei durch bestimmte Werte und Standpunkte – und wer andere Meinungen hat, muss sich dafür eben eine andere Partei suchen?« Petry, Höcke und Gauland hätten den rechten Parteiflügel nicht verprellen wollen, während die »Weckrufler fanden, dass entweder die oder wir in der falschen Partei waren«. Im Grunde ist es der ewige Konflikt in der AfD.

Beide Lager bereiten sich akribisch auf den Parteitag vor. Sie sprechen über Busse für die Anhänger, WhatsApp-Gruppen, SMS-Verteiler. Doch die Petry-Leute sind siegesgewiss: Denn sie rechnen mit der Unterstützung durch Björn Höcke und seine Verbündeten. Der »Flügel«, obwohl zahlenmäßig unterlegen, wird an diesem Wochenende als Königsmacher fungieren. »Ich werde kein zweiter Bernd Lucke werden«, verspricht Petry ihren Anhängern am Abend vor dem Parteitag.

Für Lucke wird seine Bewerbungsrede für den AfD-Vorsitz auf dem Parteitag zum Albtraum. Immer wieder wird er von wütenden Zwischenrufen unterbrochen. Er warnt davor, den ganzen Islam als Religion zu diskreditieren und verteidigt die in Deutschland lebenden Muslime. Aus dem Publikum schallt es während seiner Rede »Lügen-Lucke«, Buhrufe werden laut. Am Ende gewinnt Petry deutlich – mit 60 Prozent der Stimmen. Der Machtkampf in der AfD ist entschieden. Für Lucke gibt es hier keinen Platz mehr. Petrys Co-Sprecher wird der VWL-Professor Jörg Meuthen.

Doch befriedet ist die Partei damit nicht – der nächste Konflikt ist schon angelegt. Denn obwohl der »Flügel« ihr zum Sieg verholfen hat, sieht Petry sich nicht zur Loyalität verpflichtet. Die Spiegel-Journalistin Amann zeichnete in einer Rekonstruktion des Parteitages nach, wie Petry schon kurz nach ihrer Wahl den Pakt bricht: Nicht der »Flügel«-Mann Poggenburg wird ihren Anhängern zur Wahl in den Vorstand empfohlen, sondern ein unbekannter Parteifreund aus Bayern. Höcke ist von diesem Augenblick an klar, dass es mit Petry noch Ärger geben wird.