Ina Linger und Cina Bard
Imperfect
Match
Liebe ist eigenwillig
Impressum
Copyright: © 2013 Ina Linger/Cina Bard
Neuauflage 2019
www.inalinger.de
Email: ina-linger@web.de
Veröffentlicht von I. Gerlinger, Spindelmühler Weg 4, 12205 Berlin
Einbandgestaltung: Ina Linger
Fotos: Shutterstock; Cristina Romero Palma; TairA
Lektorat: Faina Jedlin
Inhalt
Ein fataler Fehler
Der Wolf im Schafspelz
Das erste Mal
Ein Plan mit Raffinesse
Späte Vögel
Von Gurken und Menschen
Verknotet
Die Taube in der Hand
Zombieschreck
Wünsch dir was
Schwester Spencer
Dinner für Zwei
Niederlagen
Irrungen und Wirrungen
Dramaqueen
Lügner haben schnelle Beine
Epi-log-out
Andere Bücher von den Autorinnen:
Für all unsere lieben Freunde, die uns beim Schreiben dieses Romans so unterstützt und motiviert haben. Wir danken euch von Herzen!
Und ein Extra-Dankeschön an unsere liebe Freundin Ayça, die uns so erfolgreich dabei half, den Titel für diesen Roman zu finden und der Snowball ihre Existenz zu verdanken hat.
„Liebe - das charmanteste Unglück,
das uns zustoßen kann.“
Curt Goetz (1888-1960)
Menschen sind nicht perfekt. Das lernt man recht schnell im Laufe seines Lebens. Ganz im Gegenteil – die Lebensgeschichte eines jeden Menschen wimmelt nur so von Fehlern; kleinen, verzeihlichen; mittleren, an deren Ausbügelung man manchmal schon ganz schön hart zu arbeiten hat, und großen, die einem das Leben ziemlich schwer machen und so manches Mal wünschen lassen können, es möge doch, wie bei einem Computerspiel, irgendwo einen Reset-Knopf geben. Leider gibt es den nicht. Insbesondere nicht bei der schlimmsten Kategorie aller Fehler: dem fatalen Fehler. Dieser Bursche ist der schrecklichste von allen und kommt – Dem Himmel sei Dank! – eher selten vor.
Ich kenne nur wenige Leute persönlich, denen dieses Monster über den Weg gekrochen ist, zum Beispiel in Form eines Besäufnisses vor einer Examensprüfung, um die Aufregung in den Griff zu bekommen; oder der Idee, man könne auch mit dem Coitus interruptus wunderbar verhüten … O ja! Auch in Form des Gedankens, es könne ja nicht so schwer sein, eine Satellitenschüssel auf dem Dach eines dreistöckigen Hauses selbst anzubringen.
Oft ist einem leider nicht bewusst, dass man gerade dabei ist, einen dieser schwerwiegenden Fehler zu begehen, weil sich diese fiesen Dinger gern in der Verkleidung einer guten Idee nähern und die eigene kurzzeitige, unbemerkte Ausschaltung des Verstandes ausnutzen. Das klingt wie eine dumme Ausrede, aber so ist es nun einmal.
Mein ganz persönlicher fataler Fehler, beziehungsweise dessen Vorbeben, begann mit folgenden harmlosen Worten in einer noch viel harmloseren Unterhaltung im Privat-Chat eines Online-Spiel-Forums:
Shadowhunter: Ich fahr dieses Wochenende nach London! Und rate mal mit wem!!
Klingt gar nicht schlimm, oder? M-hm, das dachte ich auch. Die Antwort brachte leider aber nicht den erwarteten Namen, sondern die eigentliche Hiobsbotschaft:
Midnightrider: Echt?? Wie krass ist das denn?? Ich WOHNE in London!!
Etwa zwei Minuten lang starrte ich den Bildschirm an, einen Ausdruck höchsten Entsetzens auf dem Gesicht (ich wusste das genau, denn ich konnte mich selbst in der spiegelnden Oberfläche sehen). O mein Gott. Oh! Mein! Gott!! Das war ja furchtbar, das war schrecklich, das war so wie festzustellen, dass man seine Examensarbeit gar nicht erst in drei Monaten abgeben musste, sondern schon am nächsten Tag und man noch keinen einzigen Satz geschrieben hatte.
Midnightrider: Okay, das hat dich jetzt erschreckt, oder?
Hysterisches Lachen hier, gespielte Entwarnung online.
Shadowhunter: Und wie!
Hatte ich das gerade ernsthaft getippt? Ich fügte ein Smiley hinzu. Ein trauriges. Dann noch eins – diesmal das richtige, das, das die Zunge herausstreckte. Und noch eins. Dann eins, das eine Umarmung darstellte. Ich starrte auf die kleine blaugelbe Armee des Wahnsinns und ließ dann meinen Kopf in einem buchstäblichen *Headkeyboard* nach unten sausen. Natürlich stoppte ich etwa zwei Zentimeter darüber, schließlich brauchte ich sowohl Tastatur als auch das knöcherne Gehirnbehältnis mit vier Buchstaben noch.
‚Night‘ hatte mir derweil ein dickes LOL geschickt, gefolgt von einer Reihe ebenso skurriler Smileys, die mich trotz meiner Misere zum Schmunzeln brachten. Wie ich diese Frau liebte! Ich weiß, dass dieses Wort viel zu oft in völlig falschem Kontext benutzt wird, aber in diesem Fall war es tatsächlich wahr, denn Night war eine Person, die man nur lieben konnte. Sie war witzig und schlagfertig, einfühlsam und zuvorkommend, intelligent und kreativ und wir teilten so viele Interessen und Überzeugungen, dass es manchmal fast gruselig war.
Wir waren Seelenverwandte, die durch das böse Schicksal zwar im selben Land, jedoch in zwei verschiedenen Städten geboren worden waren und sich erst viel zu spät auf einem Onlinespielboard kennengelernt hatten. Das war jetzt ein Jahr her. Zunächst hatten wir uns nur zufällig ab und an beim Spielen ein paar verbale Bälle zugeworfen, dann war die erste Kontaktaufnahme im Chatraum erfolgt, die ersten Privatnachrichten, zunächst nur auf unsere Spielstrategien bezogen, bald aber auch persönlicher Natur. Unsere Gespräche waren immer länger geworden und nach einer Weile hielt ich es kaum aus, wenn ich mal einen Tag lang nichts von ihr hörte. Wir konnten über alles reden, uns bei Problemen beraten, uns trösten und aufmuntern und waren immer von Grund auf ehrlich zueinander. Bis auf einen kleinen, winzig kleinen Punkt: Ich hatte mich bei dem Onlineboard aus Spaß von Anfang an als Mann ausgegeben, weil man dann meist von den anderen, vornehmlich männlichen Spielern ganz anders behandelt wurde, als wenn man sich als Frau zu erkennen gab.
Leider hatte ich es versäumt, Night irgendwann zu beichten, dass ich eigentlich auch ein Mädchen war und nach ein paar Monaten war dann der richtige Zeitpunkt auch schon viel zu lange vorüber gewesen. Erst recht nach einem Jahr. So hatte ich dieses kleine Spiel weitergespielt, auch wenn es mir immer wieder einen Stich versetzt hatte, sie anlügen zu müssen, speziell wenn es dann um Dinge ging, die man mich ‚mal als Mann‘ fragen musste.
‚Lügen‘ war vielleicht nicht der richtige Begriff, immerhin ist nirgendwo gesetzlich verankert, wie Männer und Frauen genau zu sein, beziehungsweise was genau sie für jeweilige Ansichten zu vertreten haben. Darüber hinaus war ich wohl auch keine typische Vertreterin meines Geschlechtes – etwas, was Colin, mein Mitbewohner und bester Freund, mir immerzu auf die Nase binden musste. Mit einer Begeisterung, die ich so gar nicht teilen konnte. Nein, ich war keine seiner kleinen Prinzessinnenfreundinnen, die auf zierlichen Füßchen durchs Leben schwebte, und ich wollte es auch nicht sein, zumindest nicht immer. Mit Make-Up umzugehen hatte ich nie wirklich gelernt und die Tatsache, dass meine ‚beste Freundin‘ seit meinem fünften Lebensjahr der absolute Prototyp eines kernigen Jungen war, schaffte nicht gerade Abhilfe.
Die Hündin, die ich als Kind gehabt hatte, war mit einer äußerst dominanten anderen Hündin aufgewachsen, die ihr alles Wichtige beigebracht hatte – einschließlich des Beinhebens und Scharrens, das meist nur bei Rüden zu finden ist. Vermutlich war es mit mir so ähnlich und ich würde Colin an dem Tag erwürgen, an dem er es wagte, zu erzählen, wie ich das Im-Stehen-Pinkeln gelernt hatte. Ich würde gerne die vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit durch Alkohol als Erklärung anbringen – leider war ich zu diesem Zeitpunkt noch ein unschuldiges Kind gewesen.
Midnightrider: Noch da?
Herrje, denken und schreiben zur gleichen Zeit war manchmal nicht gerade meine Stärke – vor allen Dingen wenn ich emotional belastet war.
Shadowhunter: Na klar! Ich denk nur grad nach. Hattest du nicht gesagt, du lebst in Brighton?
Als Antwort erschien ein Smiley, das eine Augenbraue hob. Dann eines, das zu schlafen schien, mit dem Wort ‚du‘ davor. Reizend! Manchmal war Night auch ein wenig zu direkt. Wir hatten sogar schon richtig heftige Chat-Streits gehabt. Aber machte das nicht eine gut funktionierende Beziehung erst aus? Beziehung … Ich musste grinsen. Doch Night war neben Colin nun mal meine allerbeste Freundin.
Midnightrider: Ich bin vor ein paar Wochen umgezogen. Kram mal ein bisschen in deinen grauen Zellen herum!
Oh! Sie hatte Recht. Ganz dunkel fiel es mir jetzt ein. Sie hatte gesagt, sie wolle nicht über diesen Umzug des Grauens sprechen, und deswegen waren wir nicht lange beim Thema geblieben. Dann war sie auch schon in den Urlaub gefahren. Kein Wunder, dass London bisher kein großes Thema bei uns gewesen war. Und so saß ich in der Falle. Unrettbar. Zum Tode verurteilt. Denn ich wusste genau, welche Idee in dem hübschen kleinen Kopf meiner Freundin herumspukte.
Midnightrider: Das ist doch DIE Gelegenheit uns endlich mal persönlich zu treffen!
Das war sie tatsächlich. Oder wäre es gewesen, wenn es nicht so viele Punkte gegeben hätte, die dagegen sprachen, uns in natura zu begegnen.
Midnightrider: Boah, jetzt bin ich nervös.
Da war sie nicht die einzige. Während meine Finger über den Tasten schwebten und verschiedene Smiley-Kompositionen zu tippen anstrebten, die ich dann wieder kurzfristig verwarf, vergingen einige Minuten des Schweigens, die meine Freundin vermutlich zu ihrem nächsten Kommentar veranlassten:
Midnightrider: Und du sagst auch nix mehr. Heyyy, ich bin kein Monster und du musst dich meiner auch nicht schämen. Ich bin schon groß, kann mir schon alleine die Zähne putzen und mich anziehen. Und wenn ich nicht endlich in dieser Schreibanzeige über meinem Texteingabefeld (wtf? was für ein Wort) sehe, dass du tippst, logge ich mich aus und mache mir einen neuen Account woanders.
Shadowhunter: Sorry, ich musste schnell wohin. Kennst mich ja.
Oder auch nicht. Bei meinen Erklärungen zu Toilettengängen hatte ich allerdings stets die Wahrheit gesagt: Ich trank pro Tag recht viel, hasste es aber, ständig aufs Klo zu müssen, also hibbelte ich mitunter eine Stunde auf meinem Stuhl herum, bis es gar nicht mehr ging, nur um dann loszustürmen. Nicht, dass was davon hier wichtig wäre.
Midnightrider: Maaaaaann. Ich dachte schon, du lässt mich hier hängen mit meiner Idee. Müssen uns ja auch nicht sehen, wenn du nicht willst.
An dieser Stelle folgten viele verschiedene traurige und heulende Smileys und ich musste kichern.
Shadowhunter: Na klar werden wir uns sehen! Hey, wann komme ich schon mal nach London? Und einen besseren Stadtführer als dich kann es ja wohl kaum geben.
Da waren sie, die Worte, die ich eigentlich nicht hätte schreiben dürfen. Aber was hätte ich anderes tun können? Meine beste Freundin vor den Kopf stoßen? Oder ihr gar sagen, dass ich kein Mann war und sie die ganze Zeit nur auf den Arm genommen hatte? Denn so würde es garantiert auf sie wirken. Auf wen nicht?
Ich raufte mir nicht nur im übertragenen Sinne die Haare und starrte mit vor Verzweiflung verzerrtem Gesicht auf den Bildschirm.
Midnightrider: Ganz genau! Oh, Mann, ich freu mich so! Das wird definitiv das beste Wochenende unseres Lebens!
Nur dass es nicht nur ein Wochenende war, sondern ganze fünf Tage. Aber das machte den Kohl jetzt auch nicht fett. Ich war erledigt! In die Enge getrieben. Tot.
Shadowhunter: Ganz bestimmt.
Was für eine Heuchlerin ich doch war! Mir wurde heiß und kalt, dann wieder heiß … Panikattacke. Eindeutig. Für die Wechseljahre war es mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch zu früh.
Shadowhunter: Du, lass uns das später nochmal genauer besprechen. Emma kommt grad nach Hause und ich will nicht, dass sie gleich mitbekommt, was wir hier planen.
Emma Spencer – so war ihr voller Name – bewegte in Wirklichkeit momentan nichts weiter als ihre Finger. Ja, ich benutzte meinen eigenen Namen für Colin und den seinen für meine ‚Tarnung‘. So weit war es mit mir gekommen. Night hatte mal gefragt, wie ich wirklich heiße und ich war mit der Frage so überfordert gewesen, dass mir nichts Besseres eingefallen war, als den Namen meines besten Freundes zu benutzen. Seitdem wusste ich, dass sie Anna hieß, vierundzwanzig war und in Brighton lebte. Gut, jetzt war es London. Überraschung!!!
Natürlich war Colin gerade nicht im Anmarsch, wie ich behauptet hatte, sondern noch bei seinem Gig, doch gegenwärtig war mir jede Ausrede recht, um aus dem Internet zu verschwinden und endlich den hysterischen Anfall zu bekommen, der schon die ganze Zeit in einer Ecke meines Bewusstseins herumzappelte.
Midnightrider: Oh, na gut, dann lass uns später alles genauer bequatschen. Grüß Emma von mir! Spaaaaaß! XO XO
Ich x-te und o-te zurück, loggte mich aus und erhob mich. Für ein paar Minuten stand ich einfach nur so da, regungslos, in Schockstarre verfallen. Das erste, was mir dann wieder gelang, war schwer zu schlucken. Das tat ich gleich ein paar Mal hintereinander. Ich plumpste schwerfällig zurück auf meinen Stuhl und schüttelte den Kopf – ebenfalls mehrmals, was mir nicht gut tat, da mir sofort schwindelig wurde.
„Emma, du hast komplett deinen Verstand verloren!“, stieß ich aus und lachte hysterisch. „Aus der Scheiße kommst du nicht mehr raus. So gute Verkleidungen gibt es nicht!“
Gut. Ich hatte relativ kurze Haare, nur ungefähr bis zur Schulter. Eine schicke Männerhaarfrisur war schnell gemacht und stand mir noch nicht einmal schlecht. Hatte ich alles schon ausprobiert. Aber rein figürlich kam ich einem Mann nicht gerade sehr nahe. Einem Knaben vielleicht – ich war eigentlich immer zu groß, zu schlank und zu schlaksig gewesen und meine Oberweite passte maximal in einen A-Cup – aber für einen Mann fehlten mir einfach das notwendige Kreuz und die Körperbehaarung. Als Teenager war ich zu meinem Leidwesen noch öfter als unterentwickelter Junge durchgegangen, mit zweiundzwanzig sahen die meisten Männer jedoch ganz anders aus. Ganz davon abgesehen, dass meine Stimme auch nicht tief genug war, um einen Kerl überzeugend zu verkörpern. Night war ein kluges Mädchen. Sie würde jede Verkleidung ohnehin sofort durchschauen. Verfluchte Sch…
Ich stand wieder auf und begann in meinem Zimmer auf und ab zu laufen, jede einzelne graue Zelle aufscheuchend, die bisher noch in meinem Kopf vor sich hin geschlummert hatte. Es musste doch eine Lösung für mein Problem geben – eine, mit der ich leben konnte; eine, die meine Freundschaft mit Night nicht für immer zerstörte.
Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass mein Unterbewusstes die Stimme, die ein lautes, fröhliches „Ich bin wieder da-aaaaa!“ in die Wohnung rief, dem im Hintergrund laufenden Fernseher zuordnete und nicht meinem nach Hause kommenden Mitbewohner.
Nur das war der Grund, warum ich aufschrie und beinahe aus dem Fenster sprang, als Colin plötzlich mit gerunzelter Stirn direkt vor mir aus dem Nichts auftauchte.
„BIST DU DENN DES WAHNSINNS?!“, kreischte ich, als ich endlich wieder Luft bekam und begriffen hatte, dass der vermeintliche Freddy Krueger niemand anderes als mein verwirrter bester Freund war. „ICH STEHE KURZ VOR EINEM HERZINFARKT!“
Er zog die dunklen Brauen zusammen. „Ich hab laut angekündigt, dass ich wieder da bin! Komm mal wieder runter!“
Ich schloss die Lider und schüttelte den Kopf, um dann weiter durch das Zimmer auf und ab zu laufen.
„Lass mich einfach in Ruhe, okay?“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. „Essen steht im Kühlschrank.“
Normalerweise lösten diese Worte bei Colin eine Pawlowsche Reaktion aus: ein ‚Wortloses-aus-dem-Raum-Stürzen-und-sich-auf-das-Essen-Werfen‘, mit dazugehörigem Sabberfluss. Dieses Mal blieb er allerdings stehen, mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck.
„Ist alles in Ordnung?“
Scheiße. Warum nur besaß selbst ein Egomane wie Colin manchmal ein gewisses Einfühlungsvermögen? Hm. Wahrscheinlich war ich selbst dran schuld, weil bestimmte Verhaltensmuster dann doch irgendwann auf die Personen abfärbten, die mit einem die meiste Zeit ihres Tages verbrachten. Und er kannte mich einfach verdammt gut!
„Ja, ja, alles klar. Mir geht’s gut. Geh nur ruhig was essen.“
Sehr überzeugend, Emma. Gut, dass ich mich schon früh gegen eine Karriere als Schauspielerin entschieden hatte.
„Ist was passiert?“, bohrte er weiter. „Geht es deinen Eltern gut?“
„Ja, ja, keine Sorge, es ist wirklich alles gut“, bekräftigte ich und versuchte mich an einem Lächeln, das mir gänzlich misslang. „Ich … ich verliere nur bald meine beste Freundin!“
Zur Krönung dieses peinlich kindisch hervorgebrachten Geständnisses brach meine Stimme auch noch am Ende des Satzes, mein Kinn begann zu zittern und Tränen stiegen in meine Augen. Toll! Die taffe Emma, die sich von nichts und niemandem so schnell aus der Bahn werfen ließ, musste sich ausgerechnet jetzt dazu entscheiden, das Handtuch zu werfen. Und das auch noch so schnell und ohne Vorwarnung!
Colin machte einen leicht verwirrten Eindruck. „Wen? Jennifer?“
„Ach, Jennifer!“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die ist doch nicht meine beste Freundin! Ich rede von Night!!“
„Oh!“, war Colins nicht gerade sehr geistreiche Reaktion auf meine Offenbarung. Er hatte allerdings auch nicht die Zeit, um viel mehr zu sagen, denn auf einmal platzte alles aus mir heraus, wie aus einem Bierfass, dem man den Hahn abgeschlagen hatte.
Colin wusste nur ein paar wenige Dinge über meine Internetbeziehung mit Night. Er hatte sich nie so wirklich für mein Onlinespiel-Hobby interessiert und sogar zeitweilig angenommen, dass es dabei in Wirklichkeit um „nette Sauereien“ ging, wie er es so freundlich ausgedrückt hatte. Innerhalb weniger Sekunden entwickelte er sich jedoch von Mr. Kein-Blasser-Schimmer zu Lord Überinformiert und zwar ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.
Seine Augen wurden unter meiner verbalen Lawine immer größer und der noch zum ‚O‘ geformte Mund immer ovaler, bis es ihm schließlich zu viel wurde und er Einhalt gebietend eine Hand hob. Stoppen konnte mich das nicht. Ich hatte mich gerade so schön eingejammert.
„Emma! EMMA!“ Colin packte mich bei den Schultern und hielt mich fest. „Halt doch endlich mal die Klappe!“
Seine plötzliche Nähe und der Druck seiner Finger konnten mich tatsächlich aus meiner Hysterie reißen. Ich schloss meinen Mund, presste fest die Lippen zusammen und verdrängte tapfer meine Tränen der Verzweiflung. Ein wahrer Kraftakt. All das war ja so furchtbar. Colin hatte gar keine Ahnung wie –
„Ein und aus. Aaatmen.“ Er wartete, bis ich seiner Aufforderung nachkam, und nickte dann zufrieden. „Und jetzt mach so: f-f-f-f …“ Er begann stoßweise auszuatmen und ich schob ihn ärgerlich weg.
„Ich will keine Presswehen simulieren, du Idiot!“
„Soll ich dir besser eine kleben? Soll auch gegen Hysterie helfen.“ Er grinste. Mein Blick wurde nur noch finsterer.
„Okay, doofer Witz“, gestand er und zog mich einfach in seine Arme.
Ich sträubte mich ein wenig, aber im Grunde war das nicht ernstgemeint. Ich mochte es, wenn Colin mir so nahe kam – mehr als gesund für mich war. Trotz dieses Bewusstseins schloss ich die Lider, drückte meine Nase an seine Brust und atmete noch einmal tief ein und aus, seinen Duft inhalierend. In der Tat entspannte ich mich wieder. Dumm. Denn erstens würde auch Colins Umarmung mir nicht aus meiner Misere helfen und zweitens war er ja der Grund, warum ich überhaupt in Schwierigkeiten geraten war. Er und meine blöde Verliebtheit in ihn.
Ich wusste nicht mehr genau, wann meine Gefühle für ihn angefangen hatten, sich zu wandeln. Gut, ich war schon mal als Kind, so mit zehn, elf Jahren in ihn verliebt gewesen. Aber das zählte nicht. Als Kind war man nicht zurechnungsfähig – erst recht nicht als Teenager, wo diese Gefühle noch mal so richtig aufgeflammt waren. Aber dann war erst einmal für eine Weile Ruhe gewesen. Nicht nur durch unsere räumliche Trennung – Colin hatte ein Auslandsjahr in den USA verbracht, das er irgendwann auf zwei Jahre gestreckt hatte – sondern auch weil ich gemerkt hatte, dass unsere Interessen völlig auseinander gedriftet waren. Er war zu einem Partymenschen geworden, der keine Lust hatte, erwachsen zu werden, während ich klare Ziele für meine Zukunft gesteckt hatte: Journalismus studieren, Geld verdienen, um mir einen angenehmen Lebensstandard leisten und für meine Pulitzer-Preis-würdigen Reportagen durch die Welt reisen zu können.
Es war unseren Eltern zu verdanken gewesen, dass wir ungefähr vor zwei Jahren wieder zueinander gefunden hatten. Meine Mutter und die seine waren schon ein Leben lang befreundet und hatten wohl irgendwann, als wir noch Kinder gewesen waren, beschlossen, dass Colin und ich füreinander geschaffen waren und eines Tages zusammenfinden und heiraten mussten. Von Kindesbeinen an hatten wir ihre ‚lustigen‘ Bemerkungen diesbezüglich über uns ergehen lassen müssen, die mit unserem Erreichen der Volljährigkeit in ernsthafte Verkupplungsversuche gegipfelt waren.
Bei unserem gemeinsamen Sonntagsbrunch vor zwei Jahren – Colin war damals erst vor drei Wochen wieder in unsere Heimatstadt Bristol zurückgekehrt – hatte meine Mutter es dann gewagt, den ‚genialen‘ Vorschlag zu machen, mir Colin als neues WG-Mitglied anzutun. Jennifer, meine ehemalige Klassenkameradin, gute Freundin und Mitbewohnerin der ersten Stunde als Studentin an der Universität Bristol, hatte mich am Tag zuvor mit der Nachricht schockiert, dass sie schwanger war, demnächst mit ihrem Freund zusammenziehen und heiraten werde. Und ich Kamel hatte das auch noch mit weinerlicher Stimme in die Runde blöken müssen.
Selbstverständlich hatte ich es nicht übers Herz gebracht, meinen alten Freund vor den Kopf zu stoßen, dessen erste Reaktion folgende Worte gewesen waren: „Martha! Darf ich dich küssen?!“
Meine Mutter hatte albern gekichert und ihm sofort die Wange hingehalten, die er unter meinem angeekelten Blick regelrecht mit Küssen eingedeckt hatte. Alle hatten herzlich gelacht – außer mir. Mir hatte sich ein verkrampftes Lächeln ins Gesicht gemeißelt. Dennoch hatte ich genickt und ein „Ja, coole Idee“ gemurmelt, als Colin mir seinen besten Hundeblick geschenkt hatte. Und damit war ich dazu verdammt gewesen, mit ihm auf unbestimmte Zeit zusammenzuleben.
Nachdem wir unsere persönlichen Grenzen gesteckt und unser Alltagsleben erstaunlich schnell geregelt hatten, waren wir trotz unserer unterschiedlichen Lebenseinstellungen ziemlich schnell wieder zusammengewachsen. Alles hätte so schön sein können, wären nicht plötzlich diese dämlichen Schmetterlinge in meinem Bauch erwacht, die sich immer dann besonders bemerkbar machten, wenn er mir sein süßestes Lächeln schenkte oder ein Kompliment machte (was selten genug vorkam). Ich fing an, seine Nähe zu suchen, sobald er zuhause war, ihn zu beobachten, wenn er abgelenkt war oder beim Fernsehen auf der Couch neben mir einschlief, und konnte es kaum ertragen, wenn er eins seiner dummen Weibchen mit nach Hause brachte. Ihn mit einer anderen herumknutschen zu sehen tat weh. Sehr. Und ab einem bestimmten Punkt konnte ich mich nicht mehr aus meinen Gefühlen herauslügen und musste mir eingestehen, dass ich bis über beide Ohren in Colin verliebt war und mir nichts sehnlicher wünschte, als mit ihm zusammenzukommen.
Mir diesen Wunsch zu erfüllen war gleichwohl ein mittelschweres bis unlösbares Problem, denn Colin sah in mir nichts weiter als seinen besten Kumpel. Ich war von seinem Typ Frau so weit entfernt wie unser Sonnensystem vom Urknall und Colin nahm mich im Grunde gar nicht als weibliches Wesen und somit auch nicht als mögliche Sexualpartnerin wahr. Das wusste ich mit Sicherheit, da er mir dies oft genug auch nicht durch die Blume gesagt hatte. Ich war die hartgesottene, coole Emma, der Jungs völlig schnuppe waren, mit der man Pferde stehlen gehen und Pub-Touren machen konnte und die immer ein offenes Ohr für Männerprobleme hatte, weil sie ja selbst ein halber Junge war.
Dabei entsprach das gar nicht der Wahrheit. Ich fühlte mich schon als Mädchen, beziehungsweise als junge Frau. Ich gab nur nicht so viel aufs Schminken und Schick-Anziehen (hohe Stöckelschuhe und kurze Kleider waren mir ein Graus) und meine Hobbys waren auch eher sportlicher Natur. Ich liebte es, draußen zu sein, ging gern laufen, Rad fahren und schwimmen und wagte mich auch schon mal an Sachen wie Fallschirmspringen und Drachenfliegen heran. Ich konnte derbe Witze machen und besaß ein handwerkliches Geschick, das mich mehr oder minder unabhängig von jedweder Hilfe anderer Menschen machte, und im logisch-räumlichen Denken war ich ein As. Meiner Ansicht nach waren das alles Dinge, die für eine moderne Frau wichtig und auch normal waren – Colins Frauenbild deckte sich damit jedoch in keinem Punkt. Für ihn war Frau gleich Tussi. Und damit hatte ich ein großes Problem.
Hinzu kam noch, dass mein eigenes Liebesleben in meinem bisherigen Leben oft zu kurz gekommen war. Ich hatte schon einen festen Freund und ein paar nicht so ernste, dafür aber recht heftige Flirts gehabt. Dennoch war ich ein sogenannter Spätzünder, dem es auch nach der ersten großen Liebe schwerfiel, sich wieder neu zu verlieben oder gar zu binden. Dabei war es nicht so, dass ich beziehungsgeschädigt war. Nein. Andrew und ich waren nach zwei Jahren in Frieden auseinander gegangen. Es war vernünftig gewesen, sich zu trennen, weil einfach die Luft aus der Beziehung heraus gewesen war, und seitdem war ich Single. Seit drei Jahren, um genau zu sein. Drei Jahre ohne Küsse, ohne Zärtlichkeit, ohne Sex – das konnte einen schon mürbe machen.
Mein Problem bestand darin, dass ich nicht nur verhältnismäßig hohe Ansprüche an meinen nächsten Partner hatte, sondern auch, dass ich schlicht und einfach nicht der Typ Mädchen war, auf den alle Jungs flogen und ich wollte es auch nicht sein. Sicher hätte ich mich über mehr Aufmerksamkeit von männlicher Seite gefreut, aber es gab ja auch noch andere Dinge im Leben, die sehr viel wichtiger waren – und wunderbare Schnulzen im Fernsehen, bei denen man sich insgeheim darüber ausheulen konnte, dass man etwas wollte, das man nicht bekam und auch nie zugeben würde, dass man es wollte.
Und natürlich spielte meine Verliebtheit in Colin eine große Rolle in meiner Unfähigkeit mich neu zu binden. Ich wollte ihn und keinen anderen! Ich wusste bloß nicht, wie ich ihn dazu bewegen konnte, mich anders wahrzunehmen und sich letztendlich auch in mich zu verlieben. Seine beste Freundin und Ansprechpartnerin bei Problemen zu sein, reichte nicht aus. Auch die Kuschelversuche beim Fernsehen und laszive Blicke hatten bisher nichts genützt. Als Colin mich das letzte Mal gefragt hatte, ob ich gekifft hätte, hatte ich beschlossen, dass ‚Lasziv-sein‘ nicht zu mir passte.
Ihm meine Gefühle zu gestehen, traute ich mich nicht, weil ich furchtbare Angst davor hatte, von ihm zurückgewiesen zu werden und damit unsere Freundschaft zu zerstören. Also suchte ich schon seit Wochen nach einer neuen Möglichkeit, ihn irgendwie darauf aufmerksam zu machen, dass ich eine Frau war – eine begehrenswerte Frau, in die man sich durchaus verlieben konnte. Und diese Möglichkeit hatte sich mir gestern endlich geboten.
Colin war etwas niedergeschlagen von einem Date mit seiner Monatsfreundin Bridget nach Hause gekommen und hatte verkündet, dass diese mit ihm Schluss gemacht habe – und das direkt vor ihrem schon gebuchten Kurzurlaub in London. Ich hatte für kurze Zeit aufgehört zu atmen, weil mir der schlichtweg genialste Gedanke gekommen war, den ich jemals gehabt hatte.
„Also, wenn du trotzdem noch fahren willst …“, hatte ich ein wenig kurzatmig herausgebracht, „… ich könnte mir frei nehmen.“
Colin hatte mich ein paar Sekunden lang nur sprachlos angesehen. Dann hatte er aufgelacht, mich in seine Arme gezogen und mich ganz fest gedrückt.
„Em, du bist der beste Freund, den man haben kann“, hatte er behauptet. „Du wirst sehen: Das wird der genialste Urlaub, den wir je hatten!“
Das hatte ich auch geglaubt und mir einen genauen Plan zurechtgelegt, wie ich Colin verführen würde – denn das war es, was ihn meiner Meinung nach endlich dazu bewegen würde, mich mit anderen Augen zu sehen: Sex. (Ganz davon abgesehen, dass ich mich selbst ganz schrecklich nach dieser Art von Intimität sehnte.)
Nur leider geriet mein schöner Plan jetzt, mit diesem verfluchten Chat mit Night, ins Wanken und der Urlaub drohte zu einer glatten Katastrophe zu werden. Was hatte ich davon, wenn ich Colin um den Finger wickelte, aber dafür die Person verlor, die zu meiner engsten Vertrauten und hilfreichsten Beraterin in Sachen Colin geworden war? Night kannte mich und meine Gefühlswelt besser als jeder andere – sogar besser als meine eigene Mutter. Ich brauchte sie – gerade wenn mein Plan funktionierte. Sie war der Balsam für meine arme, gequälte Seele und ich konnte die Turbulenzen einer Liebesbeziehung mit Colin garantiert nicht ohne sie durchstehen – und schon gar nicht allein aus dem tiefen Loch hinauskriechen, in das ich fallen würde, wenn mein Plan schiefging.
Meine so belastenden Gedanken vertrieben sehr bald schon wieder die Ruhe, die Colins Umarmung mir geschenkt hatte, und veranlassten mich dazu, mich sanft aus seinen Armen zu befreien. Ich wischte mir eine mir entkommene Träne von meiner Wange und schniefte.
„Im … im Grunde kann ich jetzt gar nicht mehr mit dir nach London fahren“, brachte ich nur mit großer Mühe hervor. „Ich schreib ihr einfach übermorgen, dass ich krank geworden bin und …“
„Nein!“, protestierte Colin empört. „Das tust du nicht!“
Ich sah ihn verzweifelt an. „Aber was soll ich sonst tun? Ich kann sie nicht verlieren, Colin!“
Er zuckte die Schultern. „Na ja, du bist doch ich – also was spricht dagegen, dass ich du bin?“
Ich blinzelte ihn verstört an, weil mein Verstand Probleme hatte, aus seinen Worten einen Sinn herauszufiltern. Du – ich … Ich – du … Oh!
„Es geht doch nur um fünf Tage“, fuhr er fort, als er merkte, dass ich ihm langsam zu folgen begann. „Und wir haben noch drei Tage, um uns vorzubereiten.“
Meine Hand wanderte automatisch zu meinem Mund und mein Puls beschleunigte sich. Die Idee war irre! Aber sie konnte funktionieren. Immerhin hatte ich viele der Night geschilderten Details aus ‚meinem‘ Leben Colins Biografie entnommen. Er brauchte kaum etwas Neues zu lernen, musste sich nur zusammenreißen und charakterlich ein bisschen mehr ich sein. Und wir würden ja wohl auch kaum die ganzen fünf Tage mit Night verbringen. Dann blieb sogar Zeit, meinen Plan in Bezug auf Colin weiterzuverfolgen.
„Das … das …“, stammelte ich.
„… ist eine fantastische Idee!“, beendete er einfach meinen Satz. „Komm, sag schon: Colin, du bist genial! Sag es!“
Ich starrte ihn an wie ein armer Bettler, der gerade dabei war, dem Teufel seine Seele zu verkaufen.
„Das wird funktionieren, Em“, versuchte er mich weiter zu überzeugen. „Ganz bestimmt. Mach nicht unseren Urlaub kaputt, weil du zu feige bist, mal was zu riskieren. Du und ich in London! Das wird der Hammer! Und Night wird mich lieben – das verspreche ich dir. Ihr werdet danach noch bessere Freunde sein als zuvor.“
Ich atmete tief ein und wieder aus. Colin konnte verflucht charmant und süß sein, wenn er wollte, und seine Versprechen hatte er mir gegenüber bisher immer gehalten. Mehr oder minder.
„Okay“, gab ich schließlich nach und besiegelte damit mein Schicksal.
Colin strahlte mich an, packte meinen Kopf und drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange. „Ich sag dir, dieses Rollenspiel wird uns noch einen Heidenspaß machen!“
Oh-oh. Colin und sein ‚Heidenspaß‘. War das jemals gut gegangen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Zurück konnte ich jetzt allerdings auch nicht mehr. Colin hatte sich an seiner Idee festgebissen und in dieser Beziehung war er wie ein Pitbull: Er ließ nicht mehr los.
Nur drei Tage später befanden wir uns auf dem Weg nach London oder auch hinein in die Katastrophe, wie ich mittlerweile vermutete, ohne etwas an meinem Schicksal ändern zu können. Gottseidank lebten Night und ich nicht so weit voneinander entfernt, dass sich ein Flug gelohnt hätte – wenn Colin auch ein wenig eingeschnappt deswegen war; wenn möglich, würde er sogar einen Jet zur Uni nehmen. Ich dagegen war zum Fliegen einfach nicht geboren – oder eher nicht zum Landen. Der Start war stets okay, ich bekam keine Panikattacken, wenn es ab und an mal etwas ruckelte, mir wurde nicht schlecht – aber sobald es in den Landeanflug ging (also etwa eine halbe Stunde lang) spielten meine Ohren verrückt.
Ich hatte alles ausprobiert und sowohl die Pharmaindustrie als auch die Naturheilkundler hatten es bis jetzt versäumt, mir für einen finanziellen Aufschwung persönlich zu danken. Ich war bei vier Ärzten gewesen, hatte unzählige Stunden in Wartezimmern und Behandlungsräumen verbracht und immer wieder die gleiche Antwort bekommen: „Das ist eben bei Ihnen so. Nehmen Sie ein hochdosiertes Schmerzmittel“. Nach jahrelangen Migräneanfällen hasste ich nichts mehr als Tabletten, doch letztendlich verbrachte ich Flüge unter dem Einfluss von sehr viel Ibuprofen und wurde nach der Landung erst durch gefühlte vier Liter starken Kaffees wieder lauffähig.
So fuhren wir also eines schönen Vormittages von unserem Apartment in Horfield nach Temple Meads und bestiegen dort den Zug nach London, St. Pancras.
„Nervös?“, fragte Colin grinsend.
„Wieso? Weil ich zur größten Lüge meines Lebens unterwegs bin?“ giftete ich ihn an. Zu sagen, ich sei aufgeregt, war die Untertreibung des Jahres. Auch wenn es erst März war.
Er zuckte die Schultern. Colin war vieles, aber nicht nachtragend und wenn das nicht größtenteils daran gelegen hätte, dass er mich oft nicht ernstnahm, wäre das ein recht liebenswerter Charakterzug gewesen.
Ich ließ den Kopf hängen. Normalerweise hätte ich mich in einer solch vertrackten Situation in meinem Chat eingeloggt und geschaut, ob Night da war, um mich bei ihr auszuheulen, aber das ging ja jetzt schlecht. ‚Heeey, ein Freund von mir trifft sich demnächst mit seiner Internetfreundin, die er jahrelang angelogen hat. Wärst du sauer an ihrer Stelle? Waas? Neiiiin! Echt! Es geht nur um einen Freund …‘ – wäre wohl nicht die glaubhafteste Einleitung.
Ich fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht. Seit ich Kontaktlinsen hatte, war das endlich auch möglich, ohne dabei seltsam aussehende halbe Kreisbewegungen um das zugehörige Gestell herum zu machen.
„Sorry“, wandte ich mich wieder an Colin, doch er winkte nur mit seinem typischen ‚Pfff‘ ab, ein Laut, der mir zeigen sollte, für wie bedeutungslos er das Ganze hielt.
„Onkel Colin holt dich da schon wieder raus, lass mich mal machen“, fügte er hinzu und legte mir großvät… onkelig eine Hand auf die Schulter.
„Mach nicht zuviel“, ermahnte ich ihn sofort und erntete einen echauffierten Blick.
„Du erinnerst dich an den tosenden Applaus während meiner Schauspielzeit, ja? Ich war ein umjubelter Star, von allen geliebt und bewundert!“
„Du warst fünf und hast einen Baum gespielt.“ Ich rollte mit den Augen.
Er blätterte unbeeindruckt eine Seite seines Sportmagazins um. „Kunstbanause.“
Ich schüttelte den Kopf und legte ihn dann an Colins Schulter, woraufhin er mir liebevoll-ruppig das Haar verwuschelte.
„Wieso stöpselst du nicht deine Kopfhörer ein und genießt eine Folge ‚Outnumbered‘?“, schlug er vor und deutete auf die kleinen Bildschirme, die jeweils am Rückenteil des Vordersitzes angebracht waren.
Ich war in meiner Kindheit und Jugend nicht so häufig mit einem der Züge dieser Linie gefahren und als ich die Bildschirme das erste Mal gesehen hatte, hatte ich ganz verschüchtert einen der anderen Passagiere gefragt, ob ich versehentlich in der ersten Klasse gelandet sei. Es hatte mir ein kopfschüttelndes Lachen und die ersten unzähliger Stunden, in denen ich beinahe das gesamte angebotene Programm rauf und runter schaute und hörte, eingebracht.
Doch irgendwie wollte es mir diesmal nicht gelingen, mich auf eine der Episoden zu konzentrieren, dazu war ich viel zu aufgeregt, und auch die schöne Landschaft, die draußen vorbeiflog, konnte mich nicht ablenken.
Night war mir wichtig, sie war mir sogar verdammt wichtig. Ich wollte sie auf keinen Fall verlieren und von daher durfte nichts – rein gar nichts – schiefgehen. Patzer waren nicht erlaubt, von keiner Seite.
„Wie heißt du noch mal im Chat?“, fragte ich Colin, der gerade eine Tüte Chips hervorkramte: Shrimps Cocktail. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Er liebte diese Sorten, die Gerichten nachempfunden waren. Sein absoluter Favorit war eine neue Sorte à la Chili con Carne. Increíble.
„Wer if fett?“, fragte er abwesend und beäugte mich dann kritisch. „Du bift dof niff fett. Wirft du jäks dof wo’n“, er schluckte, „richtiges Mädchen mit Diätknall oder was? Damit sie keinen Verdacht schöpft?“
Die nächste Ladung Chips wanderte in seinen Mund und er hielt mir die Tüte hin. „Iff ma, du würft öff braum.“
Ich knuffte ihn ob seiner klischeehaften Ansichten in den Arm, doch er lachte nur. „Wie ‘n Mädpfn“, nuschelte er. „Fämpt schom am.“
„Colin!!“, rief ich und betonte, wie immer, wenn ich ärgerlich oder frustriert seinetwegen wurde, die zweite Silbe seines Namens.
„Emma!“, machte er mich nach und lachte dann. „Du hast den perfekten Namen: mit vollem und mit leerem Mund gut auszusprechen, egal ob man zu ist, breit, müde oder einfach nur am Essen.“
Ich rollte schon wieder die Augen – etwas, was ich in Colins Gegenwart oft und nur allzu gerne tat. Gleich würde er kommen, mein Lieblingssatz …
„Bist halt der perfekte Kumpel.“ Damit fuhr er mir durch die Haare und zerstrubbelte sie erneut auf diese liebevoll-raue Art, die junge Hunde unter sich pflegen.
„Was ich mich allerdings schon immer gefragt habe, ist, wie er wohl beim Sex klingt.“ Er seufzte und begann dann leise zu stöhnen. „Emma … oh Em, yeah Baby … yeah, genau so … Emma, fuck, yeah …“
Ich rammte ihm mit hochrotem Kopf den Ellenbogen in den (leider stahlharten) Oberarm. Er zuckte jedoch nur die Schultern.
„Besser als Stacey oder Dana in jedem Fall. Finden Sie nicht?“, fragte er ein Pärchen mittleren Alters, das sich von zwei Sitzen schräg vor uns zu uns umgedreht hatte und jetzt schleunigst wieder in seinen jeweiligen Lesestoff vertiefte.
Colin legte eine Hand unter mein Kinn und hob meinen Kopf an. Es wäre eine recht liebevolle Geste gewesen, wenn da nicht dieser mitleidige Ausdruck in seinen Augen gelegen hätte, der meine Bauch-Schmetterlinge sogleich wieder ins Puppenstadium verfallen ließ.
„Das war ein klares zwei zu Null gegen dich, Schnubbelchen, aber Onkel Colin mag dich trotzdem noch. Ach ja und übrigens: Shallow Chaser.“ Er grinste und zwinkerte mir stolz zu.
Nach siebzehn Jahren Freundschaft (mit kleinen Unterbrechungen) überraschte mich an seinem Verhalten kaum noch etwas. Ich hatte mich daran gewöhnt, mit ihm im sozialen Rampenlicht zu stehen, dennoch versuchte ich es gerne zu vermeiden.
„Shadowhunter, Colonel“, erwiderte ich seufzend. Colonel war ein selten genutzter Spitzname für ihn, der vor zirka zehn Jahren entstanden war. Auch wenn er seinen Sport oft mit militärischer Disziplin durchführte, so kam der Name nicht daher, sondern von der Abkürzung seines Namens, der der des militärischen Ranges entsprach: Col.
„Jaaa, schon klar“, erwiderte er und griff wieder nach seinen Knabbereien. „Shadowhunter und Morning Glory.“ Er zog eine Augenbraue hoch, als ich wiederholt den Kopf schüttelte. „Champagne Supernova? Wonderwall? Angel Child? The Girl in the Dirty Shirt?“
„Hör auf, Oasis-Titel zu zitieren! Du magst die Band nicht mal. Shadowhunter und Midnightrider, Colin. Shaaadooooowhuuunteeer und Miiiidniiightriiideeer. Los, wiederhol es zehn Mal!“
„Bist du irre?“ Er sah mich empört an. „Ich mach mich doch nicht hier vor allen Leuten lächerlich!“
Natürlich nicht. Blamiert wurden nur die Leute um ihn herum – oder eher ich im Speziellen.
„Ich nehme dich doch nur ein bisschen auf den Arm“, grinste er ein paar Sekunden später. „Kann mir das schon merken – keine Sorge. Und du nennst sie doch eh nur Night, oder?“
Ich nickte und versuchte, mich wieder zu entspannen. „Eigentlich heißt sie Anna. Anna Finchley.“
„Klar. Auch das hast du mir schon ein paar Mal gesagt.“ Er streckte sich und gähnte herzhaft. Dabei rutschte sein ohnehin viel zu eng anliegendes Shirt etwas höher und entblößte sein gebräuntes Sixpack.
Ich sah rasch aus dem Fenster, weil mir ein wenig heiß wurde. Warum nur musste Colin so verdammt gut in Form sein? Genügte es nicht, dass er ein klassisch schönes Gesicht hatte, einen von Natur aus gebräunten Teint und dieses dicke, dunkle Haar, das sich leicht lockte, wenn es nass wurde? Seine Oma war Italienerin, die sich im zweiten Weltkrieg in einen irisch-stämmigen Soldaten verliebt hatte und mit ihm nach Großbritannien gezogen war. Von dieser munteren, temperamentvollen alten Dame hatte Colin seine dunkelbraunen, lebhaft funkelnden Augen und diese verboten langen, dichten, schwarzen Wimpern. Er sah manchmal beinahe geschminkt aus – auf sehr natürliche Weise versteht sich – und wenn man ihm zu lange in die Augen sah, konnte man sich darin verlieren.
„Ist sie eigentlich heiß?“, vernahm ich nach einer kleinen Weile seine tiefe, ein bisschen schläfrige Stimme. „Anna, mein ich.“
Mein Kopf flog so ruckartig zu ihm herum, dass meine Nackenwirbel knackten, und ich schnaufte wie ein wildgewordener Stier.
„Wag es nicht!“, knurrte ich in dem unheilvollsten Ton, den ich zustande bringen konnte. „Wag es nicht, meine Freundin zu einer deiner kleinen Bettnummern zu machen!“ Bei jedem dieser Worte tippte ich ihm nachdrücklich gegen seine breite, durchtrainierte Brust. Und war nicht versucht, meinen Finger dort länger als notwendig ruhen zu lassen. Ich straffte die Schultern. „Nicht, dass sie überhaupt auf dich stehen würde! Aber versuch es trotzdem nicht. Hörst du?!“
„Jesus, Em! Jetzt atme mal!“
„Nein, nicht schon wieder Geburtsvorbereitungsatemübungen! Versprich es!“
Er seufzte auf diese Art, auf die er immer seufzte, wenn er kurz vor einer ‚Überdosis Frauengefühle‘, wie er es nannte, stand.
„Jaaa, ich verspreche es …“
„Ich meine das mit Anna!“