Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Debatte um Identitätspolitik und Rassismus keinen neuen Aufschlag bekommt. Waren es gestern noch »alte, weiße Männer«, die unter Beschuss gerieten, so wird heute darüber gestritten, wer Amanda Gorman übersetzen oder wer für diverse Charaktere in Film und Theater gecastet werden darf. Der Ton: wütend, aggressiv, spaltend. Längst geht es nicht mehr um Gleichbehandlung, sondern Deutungshoheit: Wer hat hier das Sagen und darf mitreden?
Die türkischstämmige Journalistin und Autorin Canan Topçu sagt: »Das ist nicht mein Antirassismus.« Sie begibt sich auf Spurensuche ihrer ganz persönlichen Identitätsentwicklung und wehrt sich gegen Denkverbote und Tabus. Stattdessen streitet sie für den Dialog, für das Besonnen-Miteinander-Umgehen und dafür, die eigene Meinung nicht zum alleinigen Maß der Dinge zu machen.
Canan Topçu, geboren in der Türkei, ist Journalistin und Dozentin mit Schwerpunkt auf die Themen Migration, Integration, Teilhabe und muslimisches Leben in Deutschland. Sie arbeitet für die Hochschule Darmstadt und die Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung. Darüber hinaus engagiert sie sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in Stiftungen und Organisationen für Integration und Chancengleichheit.
Mit ihren Positionen zu Teilhabe, Zugehörigkeit und Diskriminierung eckt sie immer wieder bei sogenannten People of Color und Minderheitengruppen an, weil sie nicht bereit ist, Schwarz-Weiß-Malerei zu betreiben und Opfernarrative zu reproduzieren.
Nicht mein Antirassismus
Warum wir einander zuhören sollten,
statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten.
Eine Ermutigung.
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Angela Kuepper, München
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock: Callahan
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-1835-6
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Can, Melis, Mignon – und für Sie, für euch, für uns alle
Editorische Notiz
Der, die, das. Er, sie, es. Bis ich das grammatische Genus verstand, verging viel Zeit. Deutsch habe ich mir mit viel Mühe angeeignet – und dabei erfahren, wie wichtig Wörter und Worte sind. Deutsch ist die einzige Sprache, in der ich meine Gedanken und meine Gefühle differenziert ausdrücken kann. Ich weiß: Sprache ist politisch. Sprache ist aber auch Schönheit. Sprache ist Heimat.
Doppelpunkt, Unterstrich, Sternchen: Sosehr ich um deren Bedeutung weiß, mich entfremden sie von der Sprache, in der ich so richtig zu Hause bin. Aufs Gendern verzichte ich aus persönlichen und nicht aus politischen Gründen – und nenne dort, wo es sonst ausschließend verstanden werden könnte, beide Geschlechter. Mit dem Wissen, dass es kein grammatisches Genus im Türkischen gibt. Zur Gleichstellung hat es bekanntlich nicht beigetragen.
Mögen sich alle, auch wenn sie sich sprachlich nicht wiederfinden, mitgemeint fühlen.
Alle im Text genannten Personen sind real. Zum Schutz ihrer Rechte wurden einige Namen geändert.
Ende September 2020 erschien in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel »Nicht mein Antirassismus« ein Essay von mir.1 Der Text beginnt so: »Stimmt mit mir was nicht?« Diese Frage beschäftigte mich ernsthaft. In knapp zweihundert Zeilen dachte ich darüber nach, was genau mir an den gegenwärtigen Debatten über Rassismus, Diskriminierung und Identitätspolitik Unbehagen bereitet. Die Stimmen aus den postmigrantischen Gruppen, die Deutschland als durch und durch rassistisch beschreiben, decken sich nur bedingt mit meiner Wahrnehmung. In dem SZ-Beitrag positionierte ich mich gegen diese Dämonisierung, weil ich eine Lanze brechen wollte für dieses Land, in dem ich seit meinem achten Lebensjahr sehr gerne lebe. Ich bin ermuntert worden, es nicht bei den zweihundert Zeilen zu belassen, sondern mein Nachdenken in einem Buch fortzusetzen. Ich habe mich auf dieses Experiment eingelassen.
Allah’ ın sevgili kulu – »Gottes geliebtes Kind«, mit dieser Redewendung wird im Türkischen ausgedrückt, dass man es gut getroffen hat. Ich und auch viele andere, die wie ich Kinder von Arbeitsmigranten sind, haben es hier gut; wir bekamen Chancen, die wir in den Herkunftsländern nicht gehabt hätten. Die Geschichten der »Gastarbeiter«-Kinder ähneln sich: Die Väter und Mütter wollten nur ein paar Jahre in Deutschland bleiben, so schnell wie möglich viel Geld verdienen und wieder zurückkehren in die Heimat. Das hatten auch meine Eltern vor, sie erkannten aber glücklicherweise – im Gegensatz zu manch anderen, die noch immer von der Rückkehr träumen – schnell, dass sich dieser Plan nicht umsetzen lassen würde. Und so holten sie ihre drei Töchter recht bald zu sich. Der Wechsel von der einen Welt in die andere hat Spuren hinterlassen. Das Trauma der Migration nagt an fast allen von uns. Auch an mir. Und trotzdem empfinde ich Dankbarkeit darüber, in Deutschland zu leben und all die Freiheiten zu haben, die sehr viele Menschen in sehr vielen anderen Ländern nicht haben.
Wenn ich lese oder höre, dass man sich in dieser Gesellschaft als »Nicht-Weißer« in ständiger Lebensgefahr befinde und dass das Leben an einem seidenen Faden hänge, dann frage ich mich ernsthaft, ob ich mit denen, die solche Szenarien entwerfen, im selben Land lebe. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Antirassismus-Akteuren und eine Reihe von Menschen, die sich selbst als »People of Color« (dazu später mehr) beschreiben und in den Medien, in Workshops, Vorträgen und Podiumsgesprächen ein zu schlechtes Bild von Deutschland zeichnen. Manchmal stutze ich über das, was sie sagen und schreiben. Ich ertappe mich dabei, dass ich an mir zweifele und denke, sie haben recht und ich habe eine rosarote Brille auf, durch die ich mir dieses Land anschaue. Bei etlichen, die sich zu Wort melden, werde ich aber auch den Verdacht nicht los, dass sie zu dick auftragen mit Rassismus und Diskriminierung – aus Kalkül, Kränkung oder anderen Ressentiments heraus und möglicherweise gar, um das persönliche Scheitern zu überdecken.
Auch wenn mir vorgehalten wird, mich den Realitäten nicht zu stellen: Natürlich weiß ich um Diskriminierungen, um Mechanismen der Ausgrenzung. Keine Frage: Es gibt Rassismus, es gibt Gewalt gegen Menschen, die aufgrund ihres Äußeren oder ihres Namens als fremd wahrgenommen und vorverurteilt werden. Was mir Unbehagen bereitet: Es wird zu wenig differenziert und kaum in Erwägung gezogen, dass das wahrgenommene Schlecht-behandelt-Werden, das Benachteiligt-Werden und die Ausgrenzung – sei es schulisch, beruflich oder wo auch immer – nicht allein auf Rassismus zurückgeführt werden können. Es gibt viele andere Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt. Rein persönliche Animositäten etwa, diese werden aber selten in Betracht gezogen. Die vermeintlich Schuldigen sind meist schnell gefunden: die »Weißen« und der Rassismus, der in jedweder Struktur dieser Gesellschaft steckt.
Es kann, muss aber nicht jede Abweisung damit zusammenhängen, dass mein Gegenüber rassistisch ist. Dieses Menschenbild ist nicht meines. Es ist nun einmal so, dass nicht jeder grundsätzlich Sympathie für jeden anderen Menschen empfindet. Wenn jemand mir gegenüber unfreundlich ist, mich schlecht behandelt und mir Steine in den Weg legt, dann kommen mir dafür nicht sogleich rassistische Motive in den Sinn. Das ist wohl das, was mich von manchen Antirassismus-Akteuren unterscheidet. Ich diagnostiziere nicht reflexartig Rassismus als Ursache aller Missstände. Ich plädiere dafür, einen kühlen Kopf zu behalten, nachzufragen, das Gespräch zu suchen über individuelle Erfahrungen und ihre Folgen. Im besten Falle wird so ein gegenseitiger Austausch ermöglicht. Zumal es ungeheuer schwer geworden ist, diesen Begriff anzuwenden, weil inzwischen unterschiedliche Formen und Strukturen von Rassismus differenziert werden – mit biologischen, religiösen, geografischen und ethnischen Bezugspunkten wie beispielsweise antischwarzer Rassismus, antimuslimischer Rassismus, antislawischer Rassismus und antikurdischer Rassismus.
Keine Frage: Es soll keine Ungleichbehandlung von Menschen geben. Dass Menschen unabhängig von ihrem Aussehen, ihrer Herkunft, ihrer Religion oder welchen Merkmalen auch immer gleich zu behandeln sind: Das gibt unsere Verfassung vor. Niemand soll übersehen oder angestarrt werden. Die Gleichheit des Menschen ist als Ideal derweil noch nicht allzu lange common sense, sondern eine Errungenschaft der Moderne. Dass alle Menschen als Gleiche unter Gleichen wahrgenommen werden – das ist leider, leider aus unterschiedlichen Gründen bis heute nicht in allen Köpfen angekommen. Diese Wahrnehmung und dieses Denken gilt es einzuüben. Und eben auch darauf hinzuwirken, dass Strukturen aufgebrochen werden, die diese Ungleichheit (re)produzieren und verfestigen. Hinter Strukturen stecken aber Menschen. Wer Strukturen verändern möchte, muss Menschen überzeugen.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass nicht alles super ist in Deutschland und dass es hier eine Menge Missstände gibt, die auf rassistisches Verhalten zurückgehen. Wenn ich all die Klagen und Kritik höre und lese, dann denke ich: Ja, all das gibt es. Aber: Es gibt auch noch vieles andere in diesem Land. Und ich konzentriere mich auf das, was gut gelaufen ist. Und gut läuft. Weil nur eine nüchterne, möglichst emotionsfreie Betrachtung der Gesellschaft ohne verständliche, aber zuweilen überbordende gegenseitige Vorwürfe uns hilft, unser Zusammenleben gemeinsam zu verbessern. Fronten und Widerstände schaden am Ende uns allen.
Ich bin für das Abwägen von Für und Wider und für das Besonnen-miteinander-Umgehen. Es ist wichtig, die eigene Perspektive mitzuteilen, sie aber nicht zum alleinigen Maß aller Dinge zu machen. Eine gut funktionierende Gesellschaft braucht Begegnungen und Austausch – sowohl Plaudereien als auch tiefsinnige Gespräche und auch Streit, sofern er in guter Absicht und konstruktiv ausgetragen wird. Wenn aber die einen sich von Ressentiments leiten lassen und andere als Nazis und Rassisten beschimpfen und wenn diese sich aufgrund der Generalanschuldigung davor scheuen, in Kontakt zu treten, dann bricht die Voraussetzung für den Dialog weg. Wenn aufgeschlossene Menschen sich schon nicht mehr trauen zu sprechen, weil sie verunsichert sind, ob sie die richtigen Worte finden oder was sie fragen dürfen und wie sie was sagen dürfen, dann ist es kaum möglich, die eigenen Vorbehalte zu hinterfragen und abzulegen.
Ich beobachte im privaten und beruflichen Umfeld: Die Unbefangenheit schwindet, die Begegnungen werden krampfhaft. Gerade aus der Neugier, die Menschen dazu brachte, mir Fragen zu stellen, entstanden tolle Gespräche und auch Freundschaften, öffneten sich Fenster in andere (Gedanken-)Welten. Es haben nicht nur die, die etwas über meine Herkunft wissen wollten, so manches Neue erfahren, sondern auch ich habe sehr viel von den anderen gelernt. Nicht zuletzt bin ich die, die ich bin, auch durch diese unbefangen geführten Unterhaltungen geworden: eine akkulturierte Frau türkischer Herkunft, die ihr Zuhause in Hanau gefunden hat. Ausgerechnet in der Stadt, die zum Symbol für den allgegenwärtigen Rassismus in Deutschland geworden ist, fühle ich mich sicher und wohl!
Wie können wir die zu Recht beanstandeten politischen und gesellschaftlichen Missstände zum Positiven verändern? Hinsehen, Beobachten, Zuhören, Nachdenken, das Wahrgenommene einordnen und die eigene Bewertung prüfen. Das sind erste Schritte, die helfen können – wie auch, Theorien und Ideologien nicht unhinterfragt als Analyse von Gesellschaft und Systemen zu übernehmen. Eine andere Sicht zuzulassen, die eigene Deutung und das eigene Handeln infrage stellen: Das würde sicher helfen. Doch wie können wir das hinbekommen? Einige Antirassismus-Akteure, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler scheinen sich zu sicher, wie der Weg in eine von Diskriminierung und Rassismus befreite Gesellschaft zu verlaufen hat.
Helfen die derzeit geführten akademischen Diskurse, Hass, Diskriminierung und rassistisches Handeln einzudämmen? Führt der Weg dahin wirklich über die aus den USA importierten Ansätze »Critical Race Theory« und »Post-Colonial-Studies«, die bei genauer Betrachtung auf die deutsche Migrationsgesellschaft nur bedingt übertragbar sind? Lässt sich respektvoller und wertschätzender Umgang nur in Antirassismus-Workshops oder Diversity-Trainings lernen? Sollte man Kurse besuchen, um durch den »schmerzhaften Prozess« zu erkennen, dass man als »weißer« Mensch Teil des rassistischen Systems ist? Teil eines Systems, das »Schwarze« und Minderheiten über Jahrhunderte unterdrückt und demütigt?
Falls Ihnen das jetzt übertrieben erscheint: Wenn Sie im Internet durch das Weiterbildungsangebot der Antirassismus-Akteure scrollen und sich ein wenig in die Kritische Weiß-Sein-Forschung einlesen, werden Sie bemerken, dass deren Vertreter es sehr ernst meinen. Auch mich beschäftigt wie so viele Akteure auf dem Weiterbildungsmarkt und ehrenamtlich Engagierte die Frage, wie wir diskriminierungssensibel sprechen und handeln können. Und zwar aus Einsicht, nicht etwa, weil es verordnet wird.
Es schwirren viele Fragen in meinem Kopf herum. Und auf viele habe auch ich keine Antworten. Doch ich bin überzeugt: Der Schlüssel für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Erfahrungen, Idealen, Hautfarben, Religionen etc. ist, dass wir uns jenseits unserer kollektiven Identität als Individuen begegnen. Wir lernen uns kennen, wenn wir ohne Anschuldigungen und pauschalisierende Zuschreibungen uns unsere Geschichten erzählen und einander zuhören. Mehr Gelassenheit täte gut – auch den Antirassismus-Aktivisten.
Im Laufe meines Berufslebens habe ich sehr viele Menschen kennengelernt, mit ihnen Zeit verbracht, bin – sofern sie mir Einlass gewährten – eingetaucht in ihre Lebenswelt, ich habe ihren Geschichten zugehört und diese aufgeschrieben. Es waren für mich sehr bereichernde Begegnungen, die vor allem dazu beigetragen haben, dass ich oft und vieles umräumen musste in meinen Schubladen im Kopf. Auch für dieses Buch habe ich anderen zugehört, mich mit ihnen ausgetauscht – und ja, so manches Mal mich auch gestritten. Manchmal ist Streit unvermeidbar, und es ist wichtig, hartnäckig zu bleiben … im Sinne des Sich-Verständigens. Mit dem Blick auf das gemeinsame Ziel kann Streiten auf Augenhöhe hilfreicher sein als Schweigen.
In den Identitätsdebatten wird aber inzwischen nicht nur debattiert und gestritten, sondern gekämpft. Es ist auch ein Kampf um Worte. Selbst ernannte Sprachpolizisten wollen Gendersternchen durchsetzen und rügen grundsätzlich die Verwendung des Begriffs »Neger«. Es bleibt aber nicht allein beim Bashing. Wer dem Diktat nicht folgt, riskiert Morddrohungen – wie etwa Florian Klenk, Chefredakteur des österreichischen Magazins Falter. Er hatte Ende Juli in einem Tweet dafür plädiert, »Worte in einem historischen oder politischen Kontext zu lesen und nicht so zu tun, als ob ein Wort alleine beleidigt und verletzt und nicht die Absicht, mit der es ausgesprochen wird«.2 Solch eine Entwicklung ist besorgniserregend und hat mit antirassistischem Aktivismus nichts mehr zu tun.
Was kann man jenen entgegnen, die immer neue Fronten schaffen zwischen »ihr« und »wir«, »schwarz« und »weiß«, »privilegiert« und »marginalisiert«, »Täter« und »Opfer«, den »Guten« und den »Bösen«? Es braucht die Fronten nicht, es braucht kein Entweder-Oder, ich tue mich schwer mit der Freund-Feind-Schablone und den Täter-Opfer-Zuschreibungen. Ich bin überzeugt davon, dass es Zwischentöne braucht, damit die Wortführer der Grabenkämpfe, die darauf pochen, im Recht zu sein, nicht den Diskurs bestimmen.
Es gibt inzwischen etliche Bücher über Rassismus. Karl Valentin soll einmal gesagt haben: »Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.« Dieser Ausspruch ist richtig und falsch zugleich. Mir ist bewusst, dass ich all jene mit völkischen Ideen durchdrungenen Menschen in diesem Land nicht erreichen oder zum Nach- und Umdenken ermuntern werde, sodass sie beginnen, ihren Hass zu bändigen. Auch nicht die Akteure und Aktivisten, die im Antirassismus-Strudel so sehr damit befasst sind, ihre Annahmen zu bestätigen und ihre Ressentiments zu füttern.
Im Idealfall ermutigt dieses Buch aber jene, die wie ich viele Fragen haben, sich nicht mit zu einfachen Antworten zufriedenzugeben. Es möchte Mut machen, in sich hineinzuhorchen, die eigenen Borniertheiten aufzuspüren und zu hinterfragen. Es möchte aber auch darin bestärken, sich nicht einschüchtern zu lassen von wortgewaltigen Akteuren und Aktivisten, die mit Verweisen auf Wissenschaft und Geschichte die Deutungshoheit beanspruchen.
Gegenseitige Beschuldigungen können überwunden werden, wenn man nicht um jeden Preis recht behalten will. Ich bin oft genug mit dieser Absicht ins Gespräch gegangen und habe mir oft genug eingestehen müssen, dass es auch ganz andere Perspektiven gibt. Mein Wunsch ist, eine Verbindung herzustellen zwischen denen, die genervt sind von Identitätspolitik und Rassismus-Debatten, und denen, die nicht müde werden, auf die nicht eingehaltenen Versprechen eines demokratischen Staates hinzuweisen und Gleichbehandlung einzufordern. Eine große Aufgabe: über so komplexe Debatten zu Rassismus und Identitätspolitik ein Buch zu schreiben, ohne dass es nur Gemeinplätze enthält oder nur Gedanken, die andere schon viel besser und klüger geschrieben und gesagt haben. »Was für eine Chuzpe!«, werden manche denken. »Mut zur Lücke«, habe ich mir gedacht. Ich melde mich zu Wort aus der Perspektive einer Mittfünfzigerin mit türkischem Migrationshintergrund, als deutsche Staatsbürgerin und Journalistin und lade dazu ein, mich bei meinem Erkundungsgang zu begleiten. Es ist eine sehr persönliche Spurensuche, ein sehr persönliches Nachdenken über Deutschland.
Das Private ist politisch: Dieser Slogan der Frauenbewegung aus den 1970er Jahren hat mich beim Nachdenken über meine journalistische Arbeit und beim Schreiben an diesem Buch begleitet. Über Privates und Persönliches habe ich oft geschrieben – und dies in politischer Absicht. Politik wird von Menschen gemacht, von Menschen mit diesen oder jenen Ansichten und Überzeugungen. Diese entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern entwickeln sich über Wissen, Erlebnisse, Erfahrungen, Einblicke in Lebenswelten anderer. Persönliche Ansichten und Erfahrungen beeinflussen politische Prozesse und Entscheidungen in hohem Maße. Wenn ich mit Menschen über ihre Ansichten gesprochen habe und der Frage nachgegangen bin, wie sie zu diesen Ansichten und Einsichten gelangt sind, dann stellte sich früher oder später heraus, dass Begegnungen und Gespräche mit anderen dazu beigetragen haben.
Kritisieren wir beispielsweise »strukturellen Rassismus« und wollen wir die Strukturen knacken, in denen Rassismus und Diskriminierung wirkmächtig sind, dann gilt es zu bedenken, dass nicht abstrakte Mechanismen, sondern Menschen den Erhalt oder das Aufbrechen dieser Strukturen verantworten. Wollen wir Strukturen verändern, gilt es, Mitstreiter und Entscheidungsträger für unsere Ziele zu gewinnen. Überzeugen können wir über Argumente und Emotionen.
Wer sich die Fähigkeit bewahrt beziehungsweise sie entwickelt, aus unterschiedlichen Perspektiven die Bedingungen des sozialen Miteinanders zu betrachten, kann empathisch und solidarisch sein und sich für eine gerechtere Gesellschaft engagieren – und das eben auch in der Politik.
Politik braucht das Persönliche. Mir geht es in diesem Buch darum, das Abstrakte mit Leben zu füllen, und zwar mit meinem Leben.