Annette von Droste-Hülshoff

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen

Annette von Droste-Hülshoff

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Insel Verlag, Leipzig, 1919
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-45-2

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Die Judenbuche


Wo ist die Hand so zart, dass ohne Ir­ren
Sie son­dern mag be­schränk­ten Hir­nes Wir­ren,
So fest, dass ohne Zit­tern sie den Stein
Mag schleu­dern auf ein arm ver­küm­mert Sein?
Wer wagt es, eit­len Blu­tes Drang zu mes­sen,
Zu wä­gen je­des Wort, das un­ver­ges­sen
In jun­ge Brust die zä­hen Wur­zeln trieb,
Des Vor­ur­teils ge­hei­men Seelen­dieb?
Du Glück­li­cher, ge­bo­ren und ge­hegt
Im lich­ten Raum, von from­mer Hand ge­pflegt,
Leg hin die Waag­schal, nim­mer dir er­laubt!
Lass ruhn den Stein – er trifft dein eig­nes Haupt!

Fried­rich Mer­gel, ge­bo­ren 1738, war der ein­zi­ge Sohn ei­nes so­ge­nann­ten Halb­mei­ers oder Grund­ei­gen­tü­mers ge­rin­ge­rer Klas­se im Dor­fe B., das, so schlecht ge­baut und rau­chig es sein mag, doch das Auge je­des Rei­sen­den fes­selt durch die über­aus ma­le­ri­sche Schön­heit sei­ner Lage in der grü­nen Wald­schlucht ei­nes be­deu­ten­den und ge­schicht­lich merk­wür­di­gen Ge­bir­ges. Das Länd­chen, dem es an­ge­hör­te, war da­mals ei­ner je­ner ab­ge­schlos­se­nen Erd­win­kel ohne Fa­bri­ken und Han­del, ohne Heer­stra­ßen, wo noch ein frem­des Ge­sicht Auf­se­hen er­reg­te, und eine Rei­se von drei­ßig Mei­len selbst den Vor­neh­me­ren zum Ulys­ses sei­ner Ge­gend mach­te – kurz, ein Fleck, wie es de­ren sonst so vie­le in Deutsch­land gab, mit all den Män­geln und Tu­gen­den, all der Ori­gi­na­li­tät und Be­schränkt­heit, wie sie nur in sol­chen Zu­stän­den ge­dei­hen.

Un­ter höchst ein­fa­chen und häu­fig un­zu­läng­li­chen Ge­set­zen wa­ren die Be­grif­fe der Ein­woh­ner von Recht und Un­recht ei­ni­ger­ma­ßen in Ver­wir­rung ge­ra­ten, oder viel­mehr, es hat­te sich ne­ben dem ge­setz­li­chen ein zwei­tes Recht ge­bil­det, ein Recht der öf­fent­li­chen Mei­nung, der Ge­wohn­heit und der durch Ver­nach­läs­si­gung ent­stan­de­nen Ver­jäh­rung. Die Guts­be­sit­zer, de­nen die nie­de­re Ge­richts­bar­keit zu­stand, straf­ten und be­lohn­ten nach ih­rer in den meis­ten Fäl­len red­li­chen Ein­sicht; der Un­ter­ge­be­ne tat, was ihm aus­führ­bar und mit ei­nem et­was wei­ten Ge­wis­sen ver­träg­lich schi­en, und nur dem Ver­lie­ren­den fiel es zu­wei­len ein, in al­ten stau­bi­gen Ur­kun­den nach­zu­schla­gen.

Es ist schwer, jene Zeit un­par­tei­isch ins Auge zu fas­sen; sie ist seit ih­rem Ver­schwin­den ent­we­der hoch­mü­tig ge­ta­delt oder al­bern ge­lobt wor­den, da den, der sie er­leb­te, zu viel teu­re Erin­ne­run­gen blen­den und der Spä­ter­ge­bo­re­ne sie nicht be­greift. So viel darf man in­des­sen be­haup­ten, dass die Form schwä­cher, der Kern fes­ter, Ver­ge­hen häu­fi­ger, Ge­wis­sen­lo­sig­keit sel­te­ner wa­ren. Denn wer nach sei­ner Über­zeu­gung han­delt, und sei sie noch so man­gel­haft, kann nie ganz zu­grun­de ge­hen, wo­ge­gen nichts see­len­tö­ten­der wirkt, als ge­gen das in­ne­re Rechts­ge­fühl das äu­ße­re Recht in An­spruch neh­men.

Ein Men­schen­schlag, un­ru­hi­ger und un­ter­neh­men­der als alle sei­ne Nach­barn, ließ in dem klei­nen Staa­te, von dem wir re­den, man­ches weit grel­ler her­vor­tre­ten als an­ders­wo un­ter glei­chen Um­stän­den. Holz- und Jagd­fre­vel wa­ren an der Ta­ges­ord­nung, und bei den häu­fig vor­fal­len­den Schlä­ge­rei­en hat­te sich je­der selbst sei­nes zer­schla­ge­nen Kop­fes zu trös­ten. Da je­doch große und er­gie­bi­ge Wal­dun­gen den Haup­treich­tum des Lan­des aus­mach­ten, ward al­ler­dings scharf über die Fors­ten ge­wacht, aber we­ni­ger auf ge­setz­li­chem Wege als in stets er­neu­ten Ver­su­chen, Ge­walt und List mit glei­chen Waf­fen zu über­bie­ten.

Das Dorf B. galt für die hoch­mü­tigs­te, schlaus­te und kühns­te Ge­mein­de des gan­zen Fürs­ten­tums. Sei­ne Lage in­mit­ten tiefer und stol­zer Wald­ein­sam­keit moch­te schon früh den an­ge­bo­re­nen Starr­sinn der Ge­mü­ter näh­ren; die Nähe ei­nes Flus­ses, der in die See mün­de­te und be­deck­te Fahr­zeu­ge trug, groß ge­nug, um Schiff­bau­holz be­quem und si­cher au­ßer Land zu füh­ren, trug sehr dazu bei, die na­tür­li­che Kühn­heit der Holz­frev­ler zu er­mu­ti­gen, und der Um­stand, dass al­les um­her von Förs­tern wim­mel­te, konn­te hier nur auf­re­gend wir­ken, da bei den häu­fig vor­kom­men­den Schar­müt­zeln der Vor­teil meist auf sei­ten der Bau­ern blieb. Drei­ßig, vier­zig Wa­gen zo­gen zu­gleich aus in den schö­nen Mond­näch­ten, mit un­ge­fähr dop­pelt so viel Mann­schaft je­des Al­ters, vom halb­wüch­si­gen Kna­ben bis zum sieb­zig­jäh­ri­gen Orts­vor­ste­her, der als er­fah­re­ner Leit­bock den Zug mit gleich stol­zem Be­wusst­sein an­führ­te, als er sei­nen Sitz in der Ge­richts­stu­be ein­nahm. Die Zu­rück­ge­blie­be­nen horch­ten sorg­los dem all­mäh­li­chen Ver­hal­len des Knar­rens und Sto­ßens der Rä­der in den Hohl­we­gen und schlie­fen sacht wei­ter. Ein ge­le­gent­li­cher Schuss, ein schwa­cher Schrei lie­ßen wohl ein­mal eine jun­ge Frau oder Braut auf­fah­ren; kein an­de­rer ach­te­te dar­auf. Beim ers­ten Mor­gen­grau­en kehr­te der Zug eben­so schwei­gend heim, die Ge­sich­ter glü­hend wie Erz, hier und dort ei­ner mit ver­bun­de­nem Kopf, was wei­ter nicht in Be­tracht kam, und nach ein paar Stun­den war die Um­ge­gend voll von dem Miss­ge­schick ei­nes oder meh­re­rer Forst­be­am­ten, die aus dem Wal­de ge­tra­gen wur­den, zer­schla­gen, mit Schnupf­ta­bak ge­blen­det und für ei­ni­ge Zeit un­fä­hig, ih­rem Be­ru­fe nach­zu­kom­men.

In die­sen Um­ge­bun­gen ward Fried­rich Mer­gel ge­bo­ren, in ei­nem Hau­se, das durch die stol­ze Zu­ga­be ei­nes Rauch­fangs und min­der klei­ner Glas­schei­ben die An­sprü­che sei­nes Er­bau­ers, so­wie durch sei­ne ge­gen­wär­ti­ge Ver­kom­men­heit die küm­mer­li­chen Um­stän­de des jet­zi­gen Be­sit­zers be­zeug­te. Das frü­he­re Ge­län­der um Hof und Gar­ten war ei­nem ver­nach­läs­sig­ten Zau­ne ge­wi­chen, das Dach schad­haft, frem­des Vieh wei­de­te auf den Trif­ten, frem­des Korn wuchs auf dem Acker zu­nächst am Hofe, und der Gar­ten ent­hielt, au­ßer ein paar hol­zi­gen Ro­sen­stö­cken aus bes­se­rer Zeit, mehr Un­kraut als Kraut. Frei­lich hat­ten Un­glücks­fäl­le man­ches hier­von her­bei­ge­führt; doch war auch viel Un­ord­nung und böse Wirt­schaft im Spiel. Fried­richs Va­ter, der alte Her­mann Mer­gel, war in sei­nem Jung­ge­sel­len­stan­de ein so­ge­nann­ter or­dent­li­cher Säu­fer, das heißt ei­ner, der nur an Sonn- und Fest­ta­gen in der Rin­ne lag und die Wo­che hin­durch so ma­nier­lich war wie ein an­de­rer. So war denn auch sei­ne Be­wer­bung um ein recht hüb­sches und wohl­ha­ben­des Mäd­chen ihm nicht er­schwert. Auf der Hoch­zeit ging’s lus­tig zu. Mer­gel war gar nicht zu arg be­trun­ken, und die El­tern der Braut gin­gen abends ver­gnügt heim; aber am nächs­ten Sonn­ta­ge sah man die jun­ge Frau schrei­end und blut­rüns­tig durchs Dorf zu den ih­ri­gen ren­nen, alle ihre gu­ten Klei­der und neu­es Haus­ge­rät im Stich las­send. Das war frei­lich ein großer Skan­dal und Är­ger für Mer­gel, der al­ler­dings Tros­tes be­durf­te. So war denn auch am Nach­mit­tage kei­ne Schei­be an sei­nem Hau­se mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nacht vor der Tür­schwel­le lie­gen, einen ab­ge­bro­che­nen Fla­schen­hals von Zeit zu Zeit zum Mun­de füh­rend und sich Ge­sicht und Hän­de jäm­mer­lich zer­schnei­dend. Die jun­ge Frau blieb bei ih­ren El­tern, wo sie bald ver­küm­mer­te und starb. Ob nun den Mer­gel Reue quäl­te oder Scham, ge­nug, er schi­en der Trost­mit­tel im­mer be­dürf­ti­ger und fing bald an, den gänz­lich ver­kom­me­nen Sub­jek­ten zu­ge­zählt zu wer­den.

Die Wirt­schaft ver­fiel; frem­de Mäg­de brach­ten Schimpf und Scha­den; so ver­ging Jahr auf Jahr. Mer­gel war und blieb ein ver­le­ge­ner und zu­letzt ziem­lich arm­se­li­ger Wit­wer, bis er mit ei­nem­ma­le wie­der als Bräu­ti­gam auf­trat. War die Sa­che an und für sich un­er­war­tet, so trug die Per­sön­lich­keit der Braut noch dazu bei, die Ver­wun­de­rung zu er­hö­hen. Marg­reth Semm­ler war eine bra­ve, an­stän­di­ge Per­son, so in den Vier­zi­gen, in ih­rer Ju­gend eine Dorf­schön­heit und noch jetzt als sehr klug und wirt­lich ge­ach­tet, da­bei nicht un­ver­mö­gend; und so muss­te es je­dem un­be­greif­lich sein, was sie zu die­sem Schrit­te ge­trie­ben. Wir glau­ben den Grund eben in die­ser ih­rer selbst­be­wuss­ten Voll­kom­men­heit zu fin­den. Am Abend vor der Hoch­zeit soll sie ge­sagt ha­ben: »Eine Frau, die von ih­rem Man­ne übel be­han­delt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenn’s mir schlecht geht, so sagt, es lie­ge an mir.« Der Er­folg zeig­te lei­der, dass sie ihre Kräf­te über­schätzt hat­te. An­fangs im­po­nier­te sie ih­rem Man­ne; er kam nicht nach Haus oder kroch in die Scheu­ne, wenn er sich über­nom­men hat­te; aber das Joch war zu drückend, um lan­ge ge­tra­gen zu wer­den, und bald sah man ihn oft ge­nug quer über die Gas­se ins Haus tau­meln, hör­te drin­nen sein wüs­tes Lär­men und sah Marg­reth eilends Tür und Fens­ter schlie­ßen. An ei­nem sol­chen Tage – kei­nem Sonn­ta­ge mehr – sah man sie abends aus dem Hau­se stür­zen, ohne Hau­be und Hals­tuch, das Haar wild um den Kopf hän­gend, sich im Gar­ten ne­ben ein Kraut­beet nie­der­wer­fen und die Erde mit den Hän­den auf­wüh­len, dann ängst­lich um sich schau­en, rasch ein Bün­del Kräu­ter bre­chen und da­mit lang­sam wie­der dem Hau­se zu­ge­hen, aber nicht hin­ein, son­dern in die Scheu­ne. Es hieß, an die­sem Tage habe Mer­gel zu­erst Hand an sie ge­legt, ob­wohl das Be­kennt­nis nie über ihre Lip­pen kam.

Das zwei­te Jahr die­ser un­glück­li­chen Ehe ward mit ei­nem Soh­ne – man kann nicht sa­gen – er­freut, denn Marg­reth soll sehr ge­weint ha­ben, als man ihr das Kind reich­te. Den­noch, ob­wohl un­ter ei­nem Her­zen voll Gram ge­tra­gen, war Fried­rich ein ge­sun­des, hüb­sches Kind, das in der fri­schen Luft kräf­tig ge­dieh. Der Va­ter hat­te ihn sehr lieb, kam nie nach Hau­se, ohne ihm ein Stück­chen We­cken oder der­glei­chen mit­zu­brin­gen, und man mein­te so­gar, er sei seit der Ge­burt des Kna­ben or­dent­li­cher ge­wor­den; we­nigs­tens ward das Lär­men im Hau­se ge­rin­ger.

*

Fried­rich stand in sei­nem neun­ten Jah­re. Es war um das Fest der hei­li­gen drei Kö­ni­ge, eine har­te, stür­mi­sche Win­ter­nacht. Her­mann war zu ei­ner Hoch­zeit ge­gan­gen und hat­te sich schon bei­zei­ten auf den Weg ge­macht, da das Braut­haus drei­vier­tel Mei­len ent­fernt lag. Ob­gleich er ver­spro­chen hat­te, abends wie­der­zu­kom­men, rech­ne­te Frau Mer­gel doch umso we­ni­ger dar­auf, da sich nach Son­nen­un­ter­gang dich­tes Schnee­ge­stö­ber ein­ge­stellt hat­te. Ge­gen zehn Uhr schür­te sie die Asche am Her­de zu­sam­men und mach­te sich zum Schla­fen­ge­hen be­reit. Fried­rich stand ne­ben ihr, schon halb ent­klei­det, und horch­te auf das Ge­heul des Win­des und das Klap­pen der Bo­den­fens­ter.

»Mut­ter, kommt der Va­ter heu­te nicht?« frag­te er. – »Nein, Kind, mor­gen.« – »Aber warum nicht, Mut­ter? Er hat’s doch ver­spro­­­­­­