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Buch

Anno Domini 1346. Der junge Kaufmannssohn Adrien Fleury studiert in Montpellier Medizin und träumt von einer Laufbahn als Arzt. Als er nach Varennes-Saint-Jacques zurückkehrt, erkennt er seine Heimatstadt kaum wieder. Reiche Patrizier regieren Varennes rücksichtslos. Das einfache Volk rebelliert gegen Unterdrückung und niedrige Löhne. Die Juden leiden unter Hass und Ausgrenzung. Als Adrien eine Stelle als Wundarzt antritt, lernt er die jüdische Heilerin Léa kennen. Sie verlieben sich und bringen sich damit in höchste Gefahr. Doch dann wütet der Schwarze Tod in Varennes, und Adriens Fähigkeiten werden auf eine harte Probe gestellt …

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Daniel Wolf

Die
Gabe des Himmels

Historischer Roman

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Umschlagmotiv FinePic®, München, Getty Images, Javier Piña,
photography from Barranquilla Colombia

Seated crowned figure surrounded by musicians playing the lute,
bagpipes, triangle, horn, viola and drums (manuscript), Czech School,
(14th century) / Private Collection / Bridgeman Images

Add 16997 f.57 Nativity, from the Chevalier Hourse, c.1420 (vellum),
French School, (15th century) / British Library, London, UK /
© British Library Board. Bridgeman Images; Male figure
with a drop capital letter, illuminated page, France 14th Century. /
De Agostini Picture Library / M. Seemuller / Bridgeman Images

Redaktion: Eva Wagner

BH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-16048-7
V005

www.goldmann-verlag.de

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Dramatis Personae

DIE FAMILIE FLEURY

Adrianus, ein angehender Medicus

César, sein Bruder, ein Kaufmann

Josselin, ihr Vater

Hélène, Césars Weib

Michel, Césars und Hélènes Sohn

Sybil, ihre Tochter

VARENNES-SAINT-JACQUES

Bénédicte Marcel, der Bürgermeister

Louise Marcel, seine Tochter

Luc Duchamp, der Zunftmeister der Knochenhauer und Kürschner

Edmé, der Zunftmeister der Weber, Walker und Tuchfärber

Laurent, der Zunftmeister der Bader, Bartscherer und Wundärzte

Philibert Leblanc, der Stadtarzt

Jacques, ein alter Wundarzt

Fernand, ein Webergeselle

Théoger Le Roux, ein Ratsherr

Amédée Travère, ein Ratsherr

Everard Deforest, der Stadtkämmerer

Thierry de Châtenois, der königliche Vogt

Gosselin, ein Bäckergeselle

Deniselle, eine alte Kräuterfrau

Vater Severinus, ein Priester

Pierre, ein Webergeselle und Flagellant

Jean, ein blinder Zimmermann

DAS JUDENVIERTEL

Léa, eine Heilerin

Baruch ben Abraham, ihr Vater; Rabbiner und Apotecarius

Solomon ben Abraham, sein Bruder, ein Kaufmann

Judith, Solomons Frau

Esra und Zacharie, ihre Söhne

Aaron ben Josué, ein Geldverleiher und Kaufmann

Haïm, der Fleischer

Malka, eine junge Frau

Eli, ein Bäckergehilfe

Alisa, ein hübsches Mädchen

David Levi, ihr Vater, ein Edelsteinhändler

Moser Fyvelmann, ein Talmudschüler aus Straßburg

Ruth, eine alte Frau

Uriel und Gershom, zwei alte Männer

MONTPELLIER

Hervé Laxart, ein Wundarzt

Madeleine, Hervés Weib

Jacobus, ein Student der Medizin

Hermanus, ein Student der Medizin

Doctor Girardus, ein Lehrer an der Medizinschule zu Montpellier

SONSTIGE

Meir ben Jitzchak, ein jüdischer Kaufmann aus Erfurt

Matthias, ein Flagellant

Bruder Aldus, ein Mönch des Antoniusordens

Tommaso Accorsi, ein Florentiner Bankier

HISTORISCHE PERSONEN

Philippe VI., König von Frankreich

Edward III., König von England

Clemens VI., Papst

Gérard de Saint-Dizier, Dekan der Medizinischen Fakultät zu Paris

Pierre Gas de Saint-Flour, ein Pariser Magister und Arzt

Karl IV., König des Heiligen Römischen Reiches

Prolog

AUGUST 1331

Heiliges Römisches Reich

Der Mörder kauerte in der Finsternis und lauschte dem Heulen der Dämonen.

Es mussten Dämonen sein: Keine menschliche Kehle wäre imstande, solche Laute hervorzubringen. Schrilles Geschrei drang in das Kellerverlies, kehliges Kichern, schnaufendes Stöhnen. Zweifellos, draußen in der Nacht tanzten Luzifers Horden.

Sind sie gekommen, mich zu holen?

Gott hätte allen Grund, seine Seele in die Hölle zu schleudern. Der Mörder hatte ein Verbrechen begangen und den Himmel erzürnt. Noch aber weilte er unter den Lebenden. Er hätte erwartet, den Teufel erst kennenzulernen, wenn sein Kadaver mit gebrochenem Genick vom Galgen baumelte. War Satan ungeduldig und wollte nicht auf den Henker warten?

Der Mörder biss die Zähne zusammen und robbte durch das faulige Stroh. Das Verlies war modrig und feucht und so niedrig, dass ein Mann darin nur gebückt gehen konnte. Bei jeder Bewegung schmerzte sein Rücken von den Malen der Folter, unter der er alles gestanden hatte: seine tatsächlichen Verbrechen und ein paar erfundene, damit die Tortur endlich aufhörte. Die Wunden verheilten schlecht. Außerdem war er schwach. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Er konnte sich nicht erinnern. Wegen der Hungersnot im vergangenen Winter verschwendete man kein kostbares Getreide an einen Todgeweihten. Nur etwas Wasser gab man ihm gelegentlich. Wobei es lange her war, dass der Wächter den Eimer gefüllt hatte. Der Mörder war so durstig, dass jeder Atemzug seinen Rachen brennen ließ.

Er kroch zur einzigen Stelle, an der man aufrecht stehen konnte. Ein Schacht befand sich über seinem Kopf, eine breite Spalte im Fels, die zwei Klafter steil nach oben führte und an einem rostigen Eisengitter endete, das auf den Burghof wies. Bei Tag ließ der Schacht spärliches Licht in den Kerker … und nicht nur Licht. Manchmal pissten die Kinder des Gesindes durch das Gitter, wie der Mörder am ersten Tag leidvoll erfahren hatte. Seitdem schlief er auf der anderen Seite der Zelle.

Er hielt sich an der Mauerkante fest und zog sich ächzend hoch. Der Burghof war in Fackelschein getaucht. Das Heulen und Wimmern wurde immer lauter. Ganz in der Nähe des Gitters wisperte eine Stimme.

»Unrein. Sie sind unrein, nicht wahr, mein Küken?«, krächzte ein Dämon. »Ja, das sind sie. Das haben wir gleich gemerkt, du und ich. Uns entgeht nichts. Mein Küken, mein liebes kleines Küken. Wir sind so klug, so klug. Nicht wie diese Bauerntrampel. Diese stinkenden, ungebildeten Tölpel. Unrein sind sie, unrein …« Der Dämon kicherte meckernd.

Der Mörder schluckte. Als sich ein Schatten im Fackellicht bewegte, duckte er sich hastig. Vielleicht, wenn er sich still verhielt, fanden ihn die Dämonen nicht.

Ein törichter Gedanke. Satan sah alles, hörte alles, wusste alles. Er würde ihn aufspüren und seine Seele mitnehmen in die Hölle.

Der Mörder sank zu Boden, saß mit dem Rücken an der feuchten Felswand, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen.

Irgendwann vernahm er stolpernde Schritte. Jemand ging, nein, torkelte die Treppe hinab und prallte gegen die Kerkertür. Der Mörder widerstand dem Drang, den Kopf einzuziehen und wie ein kleiner Junge die Knie mit den Armen zu umschlingen. Ungeschickt wurde der Schlüssel ins Schloss geschoben, und die Tür öffnete sich. Der Wächter stand da, in einer Hand eine Fackel, in der anderen den Wassereimer. Er stierte den Mörder an, als sähe er ihn zum ersten Mal, reglos wie ein Altarbild, bis plötzlich seine Wange zu zucken anfing. Der Wächter rammte die Fackel in die Wandhalterung, tat einen Schritt in die Zelle und zischte einen unverständlichen Fluch. Dann ließ er den Eimer fallen und kratzte sich an Armen und Beinen. Er begann zu stöhnen, erst leise und beinahe lustvoll, dann laut und voller Pein, während er sich immer hektischer kratzte. Schließlich brach er in die Knie, kippte zur Seite und wand sich in Krämpfen im Stroh.

Der Mörder starrte den Besessenen an. Der Wächter krümmte sich, strampelte mit den Beinen und schlug keuchend mit den Fäusten auf den Boden. Endlich kam er zur Ruhe. Speichel troff aus seinem offenen Mund, er atmete flach.

Hilf mir, flehte sein trüber Blick.

Der Mörder schloss die Augen, öffnete sie wieder und schaute zur offenen Zellentür.

Da begriff er.

Satan war nicht hier, um ihn zu holen.

Er wollte ihn retten.

Der Mörder richtete sich auf und hielt sich so weit wie möglich von dem Besessenen fern, als er aus der Zelle schlüpfte. Schritt für Schritt quälte er seinen zerschundenen Leib die Stufen hinauf, beide Hände an der Wand. Er kam in einen finsteren Raum; hier hatten sie ihn gefoltert, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte. So schnell er konnte, taumelte er weiter, die Treppe hinauf zu einer Tür, die er einen Spalt öffnete.

Vor ihm lag die Halle. Wappenschilde und Hirschgeweihe schmückten die Wände. Wenige Schritte vor ihm lag ein Knecht und gebärdete sich wie der Besessene im Kellerverlies, nur dass seine Krämpfe noch viel schlimmer waren. Grunzend und schnaufend wälzte er sich auf dem Boden, jeder Muskel in seinem Leib schien unkontrolliert zu zucken.

Der Burgherr hockte mitten auf der Tafel, mit seinem gekrümmten Rücken und den seitlich weggespreizten Knien erinnerte er den Mörder an einen grotesken Wasserspeier. Der Mann klaubte Brot, Gemüse und Fleisch von den Platten, stopfte sich die Speisen in den Mund und schluckte sie, ohne zu kauen. Fett triefte auf sein Gewand, Essensreste klebten ihm im Bart. Sein Weib saß breitbeinig auf der Bank und hatte sich das Kleid zerrissen, sodass der Mörder ihre nackten Brüste sehen konnte. Sie kratzte sich Arme und Schultern blutig und weinte dabei.

Der Mörder huschte geduckt in die Halle und hielt sich im Schatten, bis er begriff, dass niemand Notiz von ihm nahm. Der Burgherr starrte ihn sogar geradewegs an, während er mit den Zähnen das Fleisch von einer Gänsekeule riss. Vorsichtig trat der Mörder zur Tafel und fand einen gefüllten Bierkrug, den er auf einen Zug leerte.

Er seufzte. Hatte er je etwas Erquickenderes getrunken?

Sogleich fühlte er sich kräftiger. Er nahm eine Wurst an sich und biss davon ab, während er zum Ausgang der Halle schlurfte.

Der Burghof war erfüllt von Geschrei und zuckenden Schatten.

Der Wächter auf dem Wehrgang zerrte an seinem Panzerhemd, als er versuchte, die juckenden Arme freizulegen. Schließlich gab er auf und scheuerte sich wie ein Wildtier an der Zinne, das Gesicht eine Grimasse der Qual. Eine junge Magd taumelte aus der Küche, brach zusammen und wand sich in Krämpfen. Neben dem Brunnen kniete der Pferdeknecht, tauchte immer wieder den Kopf in den Wassereimer und schrie: »Es brennt, es brennt so sehr! Hilf mir, Herr! Mach, dass es aufhört.«

Kauend stieg der Mörder die Stufen hinab und spähte zu dem Turm hinüber, in dem er gefangen gewesen war. Eine Gestalt saß am Rande des Fackelscheins auf der nackten Erde – war das der Kaplan? Der Mann hielt ein totes Huhn auf dem Schoß und strich dem Tier zärtlich über das Gefieder.

»Unrein sind sie, allesamt«, brabbelte er. »Scheußlich, einfach scheußlich. Wir sollten gehen, mein Küken. Verschwinden sollten wir, bevor sie uns noch beschmutzen.«

Der Mörder schleppte sich über den Hof. Seine Beine waren kaum imstande, sein Gewicht zu tragen. Beim Stall fand er eine Heugabel, die er als Krücke benutzte. So ging es besser. Er schlurfte zum Torhaus und aß die restliche Wurst. Er begegnete mehreren Besessenen, die kicherten und schrien und weinten, die sich die Haut blutig kratzten, in wilden Krämpfen zuckten oder Unsinn faselten. Doch keiner hielt ihn auf, keiner schien ihn auch nur zu bemerken.

Obwohl tiefste Nacht, hatte niemand die Zugbrücke heraufgezogen und das Gitter herabgelassen: Das Burgtor stand offen.

Der Mörder lächelte. Er stützte sich auf die Heugabel, setzte langsam einen Fuß vor den anderen und trat hinaus in die Freiheit.

ERSTES BUCH

DER WUNDARZT

»Alles, was die Heilmittel nicht heilen,
heilt das Eisen; alles, was das Eisen nicht heilt,
heilt das Feuer; was aber das Feuer nicht heilt,
das muss als unheilbar gelten.«

Hippokrates von Kos

Kapitel eins

JUNI 1346

Montpellier, Königreich Mallorca

Als der letzte Student Platz genommen hatte, trat Doctor Girardus von der ehrwürdigen Medizinischen Fakultät Montpellier an den Katheder und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Was er sah, erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Vorne saßen die Studenten aus den Mönchsorden, in der Mitte die Adelssöhne, dahinter jene aus bürgerlichen Verhältnissen; ganz hinten die Armen, die auf mildtätige Stiftungen angewiesen waren. Die Sitzordnung entsprach exakt der von Gott eingerichteten ständischen Gesellschaft. Girardus schätzte es, wenn alles ordentlich war.

Es gab sogar einige Juden und Muslime unter seinen Zuhörern. Die Universität von Montpellier rühmte sich besonderer Offenheit und gestattete auch Nichtchristen ein Studium. Frauen waren selbstredend keine zugegen. Weibliche Studenten – allein der Gedanke ließ den Doctor schmunzeln. Chaos und Verwirrung wären die Folgen solcherart falsch verstandener Toleranz.

Girardus gab dem Pedell ein Zeichen, woraufhin der Hilfslehrer mit dem Stab aufstampfte. Sogleich kehrte Ruhe ein. Girardus öffnete sein Buch.

»Wir hören einen Abschnitt aus ›Über die Natur des Menschen‹ des Hippokrates von Kos«, verkündete der Doctor und begann seinen gelehrten Vortrag in lateinischer Sprache. Girardus hatte sich entschieden, über die Vier-Säfte-Lehre zu referieren, jene Theorie, auf der jegliches medizinisches Wissen basierte, verbreitet von Hippokrates und verfeinert von Galen, den beiden antiken Patriarchen des Arztberufes. Wer die Vier-Säfte-Lehre beherrschte, war gewappnet für die Krankenpflege und konnte es mit jedem Leiden aufnehmen.

»Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, sie stellen die Natur seines Körpers dar, und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund«, trug Girardus vor. »Gesund ist er nun besonders dann, wenn diese Substanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind; Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allen genannten gemischt ist.«

Die Studenten schrieben eifrig mit. Girardus beschloss, spontan ein wenig von dem autoritativen Text abzuweichen. Die Vorlesung vertrug etwas akademische Kühnheit. Er hatte nämlich eigene Überlegungen zur Vier-Säfte-Lehre angestellt und einen Kommentar verfasst, der Hippokrates’ Theorie klug, aber respektvoll ergänzte. Ja, man konnte durchaus sagen, dass der Kommentar die erhabene Symbiose aus Hippokrates’ Weisheit und seiner eigenen Genialität darstellte.

Als Girardus gerade mit seinen Ausführungen beginnen wollte, rief jemand: »Bei allem Respekt, Doctor, aber ich kann es nicht mehr hören!«

Stirnrunzelnd hob Girardus den Kopf. Dies war eine Vorlesung, keine Disputation – Lautäußerungen der Zuhörer waren weder üblich noch erwünscht. Was einige Studenten nicht davon abhielt zu kichern.

»Ich meine, schon wieder die Vier-Säfte-Lehre«, fuhr der Zwischenrufer fort. »Es vergeht keine Woche, ohne dass einer der Doctoren über die vier Säfte, die vier Temperamente oder die vier Elemente referiert. Ich bin sicher, jeder hier kann die Theorie im Schlaf aufsagen. Lernen wir auch einmal etwas anderes?«

Girardus war ein alter Mann; seine Augen und Ohren waren nicht mehr die besten, und er brauchte einen Moment, bis er den Störenfried ausgemacht hatte. Adrianus, natürlich. Ein Medizinstudent im letzten Jahr. Fraglos ein kluger Kopf. Leider auch ein Unruhestifter, dessen Überschuss an Blut und gelber Galle ihn dazu trieb, ständig zu widersprechen.

»Seit fünf Jahren sitze ich hier und höre Euch Doctoren zu, wie Ihr Galen und die anderen antiken Autoritäten zitiert«, fuhr Adrianus fort. »Wenn wir wenigstens einmal Hippokrates’ ›Über das Einrenken der Gelenke‹ hören würden. Aber nein, immer sind es die vier Säfte. Nachts träume ich schon davon, in einem Meer aus Schleim zu ertrinken. Wenn ich ein Bier genießen will, sehe ich einen Humpen mit gelber Galle vor mir. Und wenn ich ein Mädchen betrachte, kann ich mich nicht an ihren Rundungen erfreuen, weil ich mich immerzu frage, ob ihr Blut und ihre schwarze Galle im Gleichgewicht sind.«

Die Studenten johlten. Der Pedell sah sich gezwungen, mit dem Stab aufzustampfen und scharf Ruhe einzufordern.

Girardus’ Stimme knarzte vor Empörung. »Magister Adrianus, ich darf dich daran erinnern, dass wir alle nur Zwerge sind, die auf den Schultern von Riesen stehen. Nicht umsonst lautet das Motto der Medizinischen Fakultät: ›Olim Cous nunc Monspeliensis Hippocrates – In früherer Zeit war Hippokrates von Kos, heute ist er von Montpellier.‹ Wir tun gut daran, die antiken Autoritäten zu respektieren. Sie gründlich zu studieren ist die einzig nutzbringende Art des Lernens. Das gilt auch und besonders für dich.«

»Ich habe nichts gegen die antiken Meister.« Adrianus stand auf. »Aber würde es schaden, gelegentlich auch einmal etwas Neues zu lehren? Womöglich etwas, das uns beim Dienst am Kranken tatsächlich nützt?«

»Die Vier-Säfte-Lehre ist überaus nützlich«, entgegnete Girardus schneidend. »Wer dies bestreitet, ist hier fehl am Platz. Außerdem studiert ihr die Schriften des Constantinus Africanus und des Nicolas von Salerno und bekommt eine profunde Ausbildung in Astrologie!«

»Astrologie ist nicht eben das, was Roger Bacon unter pragmatischer Medizin versteht. Er rät den Ärzten, sich mehr auf die eigene Beobachtung statt auf die Sterne zu verlassen.«

Stille herrschte im Saal, als die Studenten gefesselt dem Wortgefecht lauschten. Girardus war entschlossen, den frechen Magister mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, ihn mit gelehrten Argumenten zu vernichten. »Roger Bacon glaubt auch, dass es eines Tages Wagen geben wird, die ohne jegliches Zugtier fahren, und dass die Menschen mit Fluggeräten zum Himmel aufsteigen werden. Der Mann ist ein Fantast!«

»Mag sein«, sagte Adrianus. »Aber wenigstens hatte er den Mut, überkommene Ansichten infrage zu stellen.«

»Ah.« Der Doctor lächelte dünn. »Und du hältst dich zweifellos für genauso mutig. Dann verrate uns doch, Magister Adrianus – was sollte die Medizinische Fakultät deiner Meinung nach lehren?«

»Wie wäre es mit Chirurgie?«

»Chirurgie ist das Feld des handwerklich ausgebildeten Wundarztes. Der akademische Physicus ist gehalten, den menschlichen Körper unversehrt zu lassen und daher von solch brachialen Methoden Abstand zu nehmen. Fünf Jahre Studium, und ich muss dir tatsächlich solche Selbstverständlichkeiten erklären!« In seinem Zorn nahm Girardus das Lehrbuch in beide Hände und schlug es dröhnend auf das Lesepult.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Chirurgie dem gelehrten Medicus verboten ist«, erwiderte Adrianus. »Aber vielleicht ist diese Regelung unzeitgemäß und töricht und sollte aufgegeben werden.«

»Der Papst selbst hat dies verfügt. Und du nennst es töricht?« Der Doctor schrie nun. »Seit zweiundzwanzig Jahren lehre ich an dieser Universität, aber so eine Frechheit ist mir noch nie untergekommen! Ich sollte dich vor deinen Kommilitonen vom Pedell züchtigen lassen!«

»Ich werde Euch schwerlich daran hindern können.« Adrianus besaß tatsächlich die Unverschämtheit, ihn anzugrinsen. »Zum Glück kenne ich einen guten Wundarzt, der nachher meine Blessuren kurieren wird.«

Das Gelächter der Studenten dröhnte Girardus in den Ohren. Der Doctor richtete einen zitternden Finger auf die Tür.

»Raus«, ächzte er mit erstickter Stimme. »Melde dich sofort beim Rektor.«

»Setz dich«, befahl der Pedell und verschwand in der Amtsstube des Rektors.

Man ließ ihn lange warten. Das war Teil der Strafe und sollte ihn Demut lehren. Adrianus machte das Beste daraus, indem er seine Gedanken treiben ließ und die Studenten beobachtete, die in dem steinernen Wohnhaus ein und aus gingen. Viele von ihnen waren Mönche; besonders an der Theologischen Fakultät waren sie stark vertreten. Auch Adrianus hätte man für einen Ordensbruder halten können, denn wie alle Studenten und Lehrer trug er eine Tonsur und ein schlichtes Gewand. Sämtliche Mitglieder der universitas, der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, gehörten dem Klerus an und unterstanden dem Papst.

Adrianus aber war kein Mönch. Er war der Zweitgeborene des Kaufmanns Josselin Fleury und kam aus der Freien Stadt Varennes-Saint-Jacques im Herzogtum Lothringen. Sein richtiger Name war Adrien, aber da man an der Universität ausschließlich Latein sprach, hatte er ihn entsprechend angepasst. Vor nunmehr acht Jahren war er nach Montpellier gegangen, um zu studieren – zuerst die Sieben Freien Künste an der Artistenfakultät, anschließend die Heilkunst an der renommierten Medizinschule. Denn sein sehnlichster Wunsch war es, Arzt zu werden.

Wobei er sich, was das betraf, schon lange nicht mehr sicher war. Die staubtrockenen Ausführungen eines Girardus, die endlosen Vorlesungen über Astrologie, die kritiklose Verehrung von Galen und Hippokrates seitens der Doctoren – all das erschien ihm inzwischen wie Zeitverschwendung. Wollte er wirklich sein restliches Leben damit verbringen, die Säfte seiner Patienten mit Diäten und fragwürdigen Trünken ins Gleichgewicht zu bringen, obwohl es so viel bessere Methoden gab, ihre Leiden zu lindern?

Er seufzte. Nun, er war es seiner Familie schuldig, zumindest das Studium zu beenden. Nur noch wenige Monate bis zur letzten Prüfung. So lange würde er noch durchhalten. Und danach würde man sehen.

Der Pedell öffnete die Tür und forderte ihn mit strengem Blick auf hereinzukommen. Adrianus trat an den Tisch, hinter dem der Rektor thronte, der gemeinsam mit dem Kanzler die vier Fakultäten leitete und die Gerichtsgewalt über die universitas ausübte. Ein eigentümlich dünner Mann und ein unangenehmer Charakter, der für Adrianus’ Geschmack seine Macht zu sehr genoss.

Der Rektor blickte ihn stechend an und sagte: »Als du dich vor acht Jahren an der Artistenfakultät eingeschrieben hast, hast du einen Eid geleistet. Du erinnerst dich?«

»Gewiss.«

»Du hast damals geschworen, die Oberen der Universität zu achten und dich ihnen in Demut unterzuordnen, richtig?«

Adrianus nickte knapp.

»Und trotzdem hast du Doctor Girardus, einen geachteten Lehrer und Arzt, in seiner Lectura attackiert und ihn lächerlich gemacht – und das nicht zum ersten Mal. Was ist nur in dich gefahren?«

»Ich wollte Doctor Girardus nicht attackieren«, verteidigte sich Adrianus. »Ich habe lediglich die Frage aufgeworfen, warum wir immerzu die Vier-Säfte-Lehre hören müssen und kaum je etwas anderes.«

»Es steht dir nicht zu, deine Lehrer zu kritisieren!« Der Rektor schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du bist nur ein Magister. Du kannst nicht beurteilen, welches Wissen angehende Ärzte für ihren Beruf benötigen. Deine Aufgabe ist es, schweigend der Lectura zu folgen. Hast du mich verstanden?«

Adrianus zwang sich, den Blick zu senken. »Gewiss.«

»Der Pedell berichtet außerdem, du hättest den Heiligen Vater verhöhnt. Ich warne dich, Adrianus. Ein weniger nachsichtiger Mann als ich könnte das für Blasphemie halten.«

Der Rektor ließ seinen Worten Schweigen folgen.

»Kommen wir also zu deiner Strafe«, erklärte er schließlich. »Da die Vergangenheit gezeigt hat, dass dich die üblichen Sanktionen nicht beeindrucken, ist es an der Zeit, dich da zu treffen, wo es schmerzt: an der Geldkatze. Für deine Impertinenz wirst du eine Buße von zwanzig Sous zahlen.«

Ein ganzes Pfund Silber – eine Menge Geld, selbst für einen Kaufmannssohn. Adrianus wäre es fast lieber gewesen, der Pedell hätte ihn gezüchtigt. Mit zusammengekniffenen Lippen zählte er dem Rektor die Münzen in die Hand.

»Ich erwarte, dass du dich besserst – das ist meine letzte Warnung«, sagte der Rektor. »Jetzt geh mir aus den Augen.«

Draußen wurde Adrianus von seinen beiden besten Freunden erwartet. Jacobus und Hermanus waren wie er dreiundzwanzig Jahre alt und studierten ebenfalls im letzten Jahr Medizin. Adrianus ging ihnen grinsend entgegen.

»Karzer? Stockhiebe? Latrinenputzen? Was ist es diesmal?«, fragte Hermanus, der lässig an einer Mauer lehnte.

»Der Mistsack hat mir eine Geldbuße aufgebrummt.«

»Wie viel?«

»Zwanzig Sous«, antwortete Adrianus.

Sein Freund machte eine wegwerfende Handbewegung. Hermann von Plankenfels, wie er eigentlich hieß, entstammte einer steinreichen Familie des deutschen Ritterstandes – Geld bedeutete ihm nichts. Tatsächlich studierte er nur, weil er nicht wusste, was er sonst mit seinem Leben anfangen sollte. Bei seiner Aufnahme in die Artistenfakultät hatte sein Vater der Universität tausend Florins gespendet, weshalb die Oberen Hermanus alles durchgehen ließen. Hermanus nutzte diese Freiheit schamlos aus. Er war für jeden Unfug zu haben und scherte sich nicht um Verbote. Jetzt trug er beispielsweise ein protziges Gewand in auffälligen Farben, auf dem Kopf einen kecken Hut und am Gürtel einen juwelenbesetzten Dolch, obwohl all dies gegen die Statuten der universitas verstieß.

»Vergiss das Geld. Dein Vater wird dir schon neues schicken«, sagte Hermanus munter. »Hauptsache, du hast dich wieder einmal ins Gespräch gebracht. Von Girardus’ Wutanfall wird man noch in zehn Jahren reden.« Er klopfte Adrianus auf den Rücken. »Das war ein großartiger Spaß und genau das, was diese sterbenslangweilige Lectura gebraucht hat. Meinen Glückwunsch.«

»Das war kein Spaß, sondern eine ausgemachte Torheit«, widersprach Jacobus, »und du solltest ihn nicht auch noch dafür loben. Wie oft wurdest du schon zum Rektor zitiert? Fünfmal? Sechsmal?«, wandte er sich an Adrianus. »Seine Geduld ist gewiss bald erschöpft. Willst du so kurz vor der Prüfung der Universität verwiesen werden?«

Der kleine, quirlige Jude – sein Geburtsname lautete Jacob ben Amos – war in vielerlei Hinsicht das exakte Gegenteil von Hermanus. Immerzu machte er sich Sorgen. Hermanus und er gerieten deswegen oft aneinander. Aber wenn es darauf ankam, hielten die beiden zusammen.

»Sie werden mich schon nicht hinauswerfen. So schlimm war die Sache auch wieder nicht«, sagte Adrianus und dachte unwillkürlich an die letzte Warnung des Rektors.

»Eben«, stimmte Hermanus ihm zu. »Außerdem werden sie sich hüten, ihren besten Studenten und die Zierde der Medizinischen Fakultät vor die Tür zu setzen.«

Adrianus klatschte in die Hände. »Jetzt genug davon. Genießen wir lieber das herrliche Wetter.«

Hermanus nickte. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Gehen wir in die Taverne. Du kannst gewiss einen Schluck vertragen.«

»Ich habe kein Geld mehr.«

»Kein Problem. Unser jüdischer Freund gibt einen aus.«

»Wieso weiß der jüdische Freund davon nichts?«, entgegnete Jacobus.

»Nimm doch nicht immer alles so ernst, was ich sage. Wir trinken selbstverständlich auf Kosten der ebenso vornehmen wie freigiebigen Familie von Plankenfels – der Herr segne meinen Vater und seine überquellenden Schatullen, möge mir beides noch lange erhalten bleiben«, erklärte Hermanus und tätschelte seine prallvolle Geldkatze.

»Eigentlich beginnt gleich die Astrologie-Lectura«, gab Jacobus zu bedenken.

»Nichts, was wir nicht schon tausendmal gehört haben, oder?«, sagte Adrianus.

»Auch wieder wahr.«

Sie schlenderten los. Montpellier lag auf zwei Hügeln, ein gewaltiges Mosaik aus leuchtend roten Ziegeldächern und sandfarbenen Mauern, die in der salzigen Luft verwitterten und auf Adrianus ungeheuer alt wirkten. Labyrinthische Gassen schlängelten sich durch das Häusergewirr und führten vorbei an engen Treppchen, bröckelnden Torbogen und efeuüberwucherten Hofmauern. Der Boden unter ihren Füßen war gepflastert. Abwasser aus den Wohnhäusern und den Werkstätten der Tuchfärber sammelte sich in einer Rinne und spülte allerlei Unrat fort. Die Mittagssonne schien heiß herab und drängte die Schatten in Ecken und Winkel zurück, doch vom Meer kam ein frischer Wind, der nach Fisch und Algen roch, nach Bilgewasser und dem salzverkrusteten Holz der Handelsschiffe in den Häfen. Eine Art Fernweh ergriff Adrianus. Er verspürte den Wunsch, alles hinter sich zu lassen und anderswo ganz neu anzufangen.

»Eins nehme ich dir nicht ab«, meinte Hermanus.

»Was denn?«

»Dass du dich wegen Girardus’ Lieblingsthema nicht mehr an Mädchen erfreuen kannst. Ich fürchte, dafür bedarf es keiner Vier-Säfte-Lehre, alter Freund. Es muss nur ein halbwegs ansehnliches Weibsstück des Weges kommen, schon läufst du knallrot an und kriegst kein vernünftiges Wort mehr heraus.«

Adrianus brummte unwillig. Seine Unsicherheit gegenüber dem anderen Geschlecht war Hermanus und Jacobus nicht verborgen geblieben. Sie kannten ihn einfach zu gut.

»Deswegen müssen wir dringend etwas unternehmen. Das kann so nicht weitergehen.«

»Danke, aber ich komme zurecht.«

»Schüchternheit, Einzelgängertum, ein Hang zum Grübeln – schuld daran ist natürlich ein Übermaß an schwarzer Galle«, erklärte Hermanus.

»Natürlich«, grunzte Adrianus.

Am späteren Nachmittag begab sich Adrianus zu einer kleinen Kirche, in der die Artistenfakultät Vorlesungen abhielt. Während die Studenten hereinströmten und auf dem Boden Platz nahmen, stieg Adrianus auf die Kanzel und breitete seine Bücher aus.

Die Artes liberales, die Freien Künste, galten als sieben Stufen, die zur Weisheit führten, denn sie dienten der Vorbereitung auf ein höheres Studium an der theologischen, der juristischen oder der medizinischen Fakultät. Adrianus hatte sie erfolgreich erklommen, aber ob er dadurch weise geworden war, bezweifelte er bisweilen. Zumindest hatte er den akademischen Titel des Magister artium erworben, mit dem die Verpflichtung einherging, die jüngeren Studenten zu unterrichten.

Seine Schüler kamen aus Frankreich, Aragon, Italien, England und den deutschen Ländern; sie waren zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt und hatten im vergangenen Herbst an der Artistenfakultät angefangen. Adrianus betrachtete die verschüchterten Gesichter. Diese Jungen fühlten sich verloren in der fremden Stadt. Manch einer lag gewiss nächtelang wach und fragte sich, ob er dem schwierigen Unterricht je gewachsen sein würde. Denn die Rats- oder Domschule in der Heimat hatte sie bestenfalls oberflächlich auf das Studium vorbereitet.

Genau wie ich damals. Adrianus erinnerte sich noch gut an sein erstes Jahr an der Artistenfakultät. Große Träume, aber schmerzliches Heimweh und die ständige Furcht vor den Magistern, die schnell mit der Zuchtrute bei der Hand waren. Adrianus hingegen hatte noch nie einen seiner Studenten geschlagen. Was diese Jungen brauchten, waren Respekt und Freundlichkeit, keine übergroße Strenge.

Er unterrichtete das Trivium, das aus den Fächern lateinische Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestand. Er schlug sein Ars medicinae auf, einen Sammelband mit übersetzten Schriften von Galen, Hippokrates und anderen antiken Heilkundigen. Gestern hatte er überlegt, daraus vorzutragen, damit seine Studenten anhand der alten Texte ihr Latein verfeinern und zugleich etwas medizinisches Wissen erwerben konnten. Aber wegen des Vorfalls heute Morgen erschien ihm diese Idee unsinnig. Falls die Jungen später Medizin studierten, würde man sie noch oft genug mit Galen traktieren. Außerdem war bei den meisten das Latein noch nicht gefestigt genug für einen derart komplexen Text. Er beschloss daher, weiter an den Grundlagen zu arbeiten, öffnete das Ars minor des römischen Grammatiklehrers Donatus und begann einen Vortrag über die verschiedenen Wortarten. Wichtige Passagen ließ er die Studenten wiederholen, bis sie das Wissen verinnerlicht hatten.

Er beendete die Vorlesung zum Angelusläuten und ging nach Hause. Die Sonne versank soeben hinter den Dächern und überzog die Stadt mit blutrotem Licht. In den Höfen und Torwegen sammelten sich Schatten wie Besucher mit schlechten Neuigkeiten. Adrianus durchquerte das Stadtzentrum, wo die Kaufleute gerade die Arbeit einstellten und aus der Markthalle strömten. Montpellier war berühmt für sein Tuchgewerbe und lockte Händler aus der ganzen Christenheit an, aber auch Juden aus Palästina und dem Sultanat der Mamelucken, die im Frühjahr mit ihren Schiffen die beiden Seehäfen der Stadt anliefen und auf den hiesigen Märkten duftende Gewürze, kostbare Farbstoffe und funkelnde Juwelen anpriesen. Die Herbergen teilten sich die Kaufleute mit Pilgern, die unterwegs waren nach Santiago de Compostela.

Adrianus ließ den Trubel hinter sich und bog in die Gasse der Wundärzte und Steinschneider ein, wo er ein Haus betrat, das zurückgesetzt hinter einem blühenden Kräutergarten stand. Anders als viele seiner Kommilitonen, die in schmutzigen Absteigen oder bei den Doctoren in winzigen Mietquartieren hausten, genoss Adrianus dank des Wohlstands seiner Familie ein komfortables Leben. Er hätte sich eine eigene Unterkunft leisten können, doch er zog es vor, bei dem Wundarzt Hervé Laxart zu wohnen, dem er als Gehilfe zur Hand ging.

Im Eingangsraum begegnete ihm Madeleine, die gerade den Boden fegte. Hervé und sie hatten vor einigen Monaten geheiratet, und Adrianus hatte sich noch immer nicht an die Anwesenheit einer Frau in diesem Haus gewöhnt.

»Ich habe Suppe gekocht. Es ist noch welche da, wenn du magst.«

»Hab Dank«, antwortete er einsilbig und mied ihren Blick. »Wo ist Hervé?«

»Nebenan. Er arbeitet noch.«

Ohne ein weiteres Wort stieg er die Treppe hinauf. Es lag nicht an Madeleine, dass er sich derart linkisch benahm. Sie gab sich redlich Mühe und behandelte ihn überaus freundlich. Schuld war die verfluchte Schüchternheit, mit der er geschlagen war. Dass Madeleine sehr schön war, machte es nicht eben leichter. Manchmal fragte er sich, ob seine Befangenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht nicht der wahre Grund war, warum er ein Studium aufgenommen hatte: In der abgeschotteten Männerwelt der Universität lief man kaum je Gefahr, Frauen zu begegnen.

In der Küche aß er hastig etwas Suppe und Brot. Den letzten Bissen kauend ging er hinunter zum Behandlungsraum, wo Hervé gerade einen Verletzten versorgte. Während der akademische Physicus allzu engen Kontakt mit seinen Patienten vermied und Krankheiten vor allem mit gelehrten Ratschlägen behandelte, bestand der Alltag des handwerklich ausgebildeten Wundarztes buchstäblich aus spritzendem Blut, aufgeschlitzten Gedärmen und gesplitterten Knochen. Er machte all das, wofür sich ein studierter Medicus zu fein war: Er richtete gebrochene Gliedmaßen, nähte Wunden und entfernte Geschwüre. Zweifellos eine schmutzige und mitunter grausige Arbeit, aber in Adrianus’ Augen eine, die größte Bewunderung verdiente.

Die Kammer war vollgestopft mit medizinischen Utensilien; es gab ein Regal für Schröpfköpfe und Urinbecher, ein zweites für chirurgische Instrumente und Verbandsmaterial, ein drittes für heilkundliche Schriften. Kräuter hingen zum Trocknen an der Decke, mehrere Truhen enthielten Phiolen und Tiegel mit den verschiedensten Arzneien, Salben und Tinkturen. Auf dem Fenstersims standen zwei kleine Figuren von Cosme und Damien, den Schutzheiligen der Wundärzte.

Neben dem Behandlungsstuhl lag das Operationsbesteck bereit: verschiedene Skalpelle, die Knochensäge, der Schädelbohrer, der Pelikan zum Zahnziehen. Momentan brauchte Hervé keines davon. Der Verletzte, ein Zimmermann, hatte eine klaffende Wunde am Oberarm; im Fleisch steckten Holzsplitter, die Hervé mit der Pinzette entfernte. Der Zimmermann biss vor Schmerz die Zähne zusammen.

»Was ist passiert?«, fragte Adrianus.

»Der arme Kerl hat sich an einem morschen Balken den Arm aufgerissen.«

»Soll ich Euch zur Hand gehen, Meister?«

»Nicht nötig, ich bin fast fertig. Aber du könntest Schlafschwämme herstellen. Wir haben fast keine mehr.«

Hervé war ein gutaussehender Mann von dreißig Jahren mit nachtschwarzem Haar und aristokratischen Gesichtszügen, die darüber hinwegtäuschten, dass er einfachen Verhältnissen entstammte und sich mit Fleiß und Können zu einem geachteten Mitglied der wundärztlichen Zunft hochgearbeitet hatte. Der durchdringende Blick seiner waldgrünen Augen hatte Adrianus anfangs irritiert, doch schon bald hatte er gemerkt, dass sein Lohnherr von freundlichem Wesen war. Hervé hatte die Gabe, sich voll und ganz auf sein Gegenüber einzulassen und höchst konzentriert zuzuhören, wodurch der Eindruck entstehen konnte, er starre einen an.

Adrianus ging in seine Kammer, die neben dem Behandlungsraum lag. Er setzte sich an den Tisch, verrührte Opium, Nachtschatten, Bilsenkraut und Mandragora mit Wasser und tränkte mit dem Gemisch mehrere Schwämme. Mit Schlafschwämmen konnte man Kranke betäuben, um ihnen die Schmerzen einer Amputation oder eines anderen schweren Eingriffs zu ersparen. Die Methode war nicht ohne Risiko. Dosierte man die verschiedenen Ingredienzen falsch, erwachte der Patient womöglich nicht aus der Ohnmacht. Deshalb arbeitete Adrianus mit größter Sorgfalt.

Hervé verband derweil den Zimmermann und bat ihn, in zwei Tagen wiederzukommen. Für seine Dienste verlangte er kein Honorar. Hervé war ein amtlich bestellter Wundarzt und erhielt seinen Lohn von den Stadtherren.

Adrianus trug die Schale mit den Schlafschwämmen in den Behandlungsraum. Sein Lohnherr machte sich nicht die Mühe, sie zu kontrollieren. Er hatte schon vor Jahren gelernt, dass er sich auf seinen Gehilfen verlassen konnte. Als sie gemeinsam das Blut vom Behandlungsstuhl wuschen, unterdrückte Hervé ein Gähnen.

»Ich kann das machen«, sagte Adrianus. »Geht ruhig schon zu Bett, Meister.«

»Ich sollte wirklich schlafen – es war ein harter Tag. Hab Dank.« Der Chirurgus wünschte ihm eine gute Nacht.

Adrianus reinigte die Instrumente und räumte die Werkstatt auf, bevor auch er ins Bett kroch.

Es war längst dunkel, doch er fand keinen Schlaf. Immerzu dachte er an seine Auseinandersetzung mit Girardus und das Stelldichein mit dem Rektor. Er hatte einst bei Hervé angefangen, um sich ein Zubrot zu verdienen. Doch um das Geld ging es ihm schon lange nicht mehr. Er arbeitete hier, weil er von Hervé mehr lernte als von allen Doctoren der Medizinischen Fakultät zusammen.

Das war die triste Wahrheit.

Weit nach Mitternacht schlief er endlich ein. Er träumte von Frauen, die alle so schön waren wie Madeleine, und er konnte sogar mit ihnen sprechen, ohne rot zu werden.