Cover

Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Widmung
Prolog
ERSTER TEIL - Hereroland
Doppelhochzeit
Alles fügt sich
Die Quelle
Hakoma
Rechtsprechung
Sarahs Geheimnis
Musht
Aufstand
Waterberg
Flüchtlingsleid
Gewitterwolken
Gefangenschaft
Riccarda
Fritz
Flucht
ZWEITER TEIL - Rajasthan (Indien)
»Star of India«
Das Wagenfest
Unstimmigkeiten
Aufregung
Tigerjagd
Verbotene Liebe
Vergeltung
Nägel mit Köpfen
Diwali
Entscheidungen
Zurück nach Afrika
Wanderer zwischen den Welten
Klare Worte
Entscheidungen
Schmerz und Freud
Owitambe
Epilog
Danksagung
Sachworterklärungen
Copyright

Danksagung

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie viel Rückhalt und Unterstützung ich während der doch langen Phase des Planens, Recherchierens und Schreibens meines Buches erfahren durfte. Wieder einmal boten mir die Erlebnisse, die ich während meiner Reisen nach Afrika und nun auch Indien machen durfte, eine große Fülle von neuen Geschichten. Es ist nicht die Menge an Gesehenem, was mich beeindruckt hat, sondern das unmittelbare Erleben des Alltäglichen in einer fremden Kultur. Besonderer Dank gilt meinem indischen Freund Mukesh Saharan, der immer und unermüdlich, erst vor Ort im nordindischen Rajasthan, später dann aus der Ferne auf all meine Fragen antwortete und dabei versuchte, mir seine Welt nahezubringen. Er ist mein Tor nach Indien. Über ihn gelang es sogar, Kontakte zu den Dienern des Maharanas von Udaipur zu knüpfen. Die Diener stehen seit Generationen im Dienste ihrer Fürsten und konnten mir wertvolle Auskünfte über das damalige Hofleben geben. Im Gegensatz zu der überwältigenden Pracht an den Fürstenhöfen steht das Leben des größten Teils der Bevölkerung. Elend, Armut, Hunger, Krankheit, Tod – das alles begegnete mir auf Schritt und Tritt bei meinen Gängen abseits der Touristenschauplätze in den oft riesigen indischen Städten und Slums. So sehr mich das als Westeuropäerin auch mitgenommen hat, so verwundert war ich über den stoischen Gleichmut und die gegenseitige Hilfsbereitschaft der Armen untereinander, mit denen sie ihr Schicksal zu ertragen scheinen. Auch diesen Teil Indiens durfte ich hautnah miterleben.

Launig und anregend waren wie immer unsere »Fetten-Dichter«-Treffen!

Ein großer Dank geht an meinen lieben Agenten Bastian Schlück, der mir immer wieder erfrischende Anregungen gibt und sich so rührig für mich einsetzt. Auf Verlagsseite danke ich Nicola Bartels und Doreen Fröhlich für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung, Rainer Schöttle für das umsichtige Lektorat und dem Team von Blanvalet für die schöne Gestaltung des Buches. Bruni Thiemeyer und Margrit Burde danke ich von Herzen für ihre inhaltlichen und sprachlichen Anregungen, ebenso meinen Töchtern und meinem lieben Mann, der mir immer und allezeit den Rücken freihält.

Autorin

Patricia Mennens große Leidenschaft ist das Kennenlernen von Menschen ursprünglicher Kulturen. Wann immer es geht, macht sie sich auf und versucht, einen authentischen Einblick in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet sie in ihren Büchern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern abwechselnd in der Nähe des Bodensees und der Provence. Derzeit schreibt Patricia Mennen an der Fortsetzung zu Sehnsucht nach Owitambe.

Epilog

Am Ende eines arbeitsreichen Tages führte Fritz seine Frau zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Hügel unter der großen Schirmakazie. Er wollte die kurze Zeit vor dem gemeinsamen Abendessen nutzen, um ihr die neuen Pläne zu zeigen. In Owitambe ging es seit der glücklichen Rückkehr wie in einem Bienenschwarm zu. Nachdem die erste Wiedersehensfreude abgeebbt war, begannen die Männer, sich zu überlegen, wie man mehr Platz auf der Farm schaffen konnte. Fritz und Johannes hatten Pläne für den Bau zweier neuer Häuser geschmiedet. Außerdem sollte ein kleines Lazarett entstehen, in dem Jella auch operieren konnte. Die beiden Männer waren mit Feuereifer und voller Elan darangegangen. In eines der Häuser wollte Fritz mit seiner Familie ziehen, das andere war für Raffael bestimmt. Als Fritz die Pläne ausbreiten wollte, winkte Jella ab.

»Lass uns das später machen. Ich habe Raffael heute untersucht«, begann sie. Ihr Bruder war immer noch schwer von dem Elefantenunfall gezeichnet. Sein linkes Bein war nicht ordentlich verheilt und verursachte ihm höllische Schmerzen. »Er muss dringend operiert werden. Ich fürchte nur, die Ärzte hier in Südwest sind nicht ausreichend ausgebildet. Das Beste wäre, wenn er sich in der Charité in Berlin behandeln ließe oder einem anderen großen Krankenhaus. Die Medizin ist heutzutage weit fortgeschritten.«

»Und was sagt dein Bruder dazu?«

Jella zuckte bekümmert mit den Schultern. »Er will nichts davon wissen.«

»Auch ich habe gelernt, als Krüppel zu leben«, meinte Fritz ernst.

»Du hattest damals keine andere Möglichkeit«, widersprach seine Frau. »Außerdem ist der Armstumpf ordentlich verheilt. Ich habe zwar kein Röntgengerät, aber ich spüre, dass noch Knochensplitter in Raffaels Fleisch stecken. Sie werden ihm immer Schmerzen verursachen und unter Umständen sogar Entzündungen hervorrufen. Das kann sehr gefährlich werden. Er kann eine Sepsis bekommen und daran sterben.«

»Lass ihn erst mal zur Ruhe kommen«, riet Fritz. »Er ist so glücklich über seine junge Familie. Er braucht Zeit, um sich über alles klar zu werden. In ein paar Wochen wird er dafür viel zugänglicher sein.«

Jella schwieg nachdenklich und richtete den Blick auf die baumbestandene Savanne. Fritz zog sie zärtlich zu sich heran, sodass sie ihren Kopf auf seine Schulter legen konnte. Die Sonne war gerade dabei, den Horizont zu überschreiten, und ließ ein letztes Mal die Landschaft am Waterberg in warmen Orangetönen erstrahlen. Ein Toko lärmte in ihrer Nähe. Immer wieder riss er seinen großen, gelben Hornschnabel auf und schrie. In der Ferne war das Blöken der Schafe zu hören und der zufriedene Gesang eines Hirten.

»Meinst du, wir machen alles richtig?«, fragte Jella unvermittelt. »Ich habe manchmal das Gefühl, dass mir die Dinge entgleiten. Nimm nur einmal Ricky. Sie ist so groß geworden. Ich habe immer gehofft, dass sie so wird wie ich oder du. In Wirklichkeit ist sie das genaue Gegenteil. Als wir Indien verließen, hoffte ich, dass sie die Musik und das Tanzen ebenfalls hinter sich lassen würde. Aber seit das Klavier im Haus ist, denkt sie an nichts anderes. Dieses unsinnige Geklimper führt doch zu nichts.« Sie seufzte. Fritz strich ihr beruhigend über den Rücken.

»In wenigen Tagen beginnt die Schule in Windhuk. Sie wird neue Freundinnen kennenlernen und sich ablenken. Du wirst sehen, alles wird sich fügen.«

Die Sonne war wie ein großer, reifer Apfel hinter den Horizont gefallen und hinterließ die Schatten der hereinbrechenden Nacht. Der Himmel verfärbte sich erst türkis und danach violett, bevor die Schwärze der Nacht aufzog. Eng umschlungen wartete das Paar auf den magischen Moment, an dem die Sterne wie von Zauberhand am Himmel angeknipst wurden. Als es endlich so weit war und das Kreuz des Südens über ihnen erstrahlte, begleitet von unendlich vielen anderen Sternen, wurde es Jella wieder leichter ums Herz. Endlich hatte der langsame, bedächtige Puls, der den Takt in Afrika bestimmte, auch sie erfasst. Gleichmäßig und unbeirrbar bestimmte er den Lauf der Dinge in diesem geheimnisvollen Land, das ihre Heimat geworden war. Was kümmerte sie schon die Zukunft? Sollte sie kommen! Sie würde die Veränderungen willkommen heißen.

Sachworterklärungen

Bambuse: ein hauptsächlich in Deutsch-Südwestafrika gebrauchter Begriff für eingeborene Diener.

 

Buschmänner: nomadisch lebendes Jäger- und Sammlervolk im südlichen Afrika. Sie gelten als Urbevölkerung dieser Gegend.

 

Chai massala: indischer Würztee mit aufgekochter Milch und unterschiedlichen Gewürzen.

 

Dhoti: traditionelles indisches Beinkleid der Männer. Es besteht aus einem langen Stück Stoff, das um die Taille geknotet wird und dann hosenähnlich um die Beine geschlungen wird.

 

Diwali: mehrtägiges, bedeutendes hinduistisches Fest, das auch Lichterfest genannt wird. Das Fest ist in spiritueller und sozialer Bedeutung vergleichbar mit dem christlichen Weihnachten.

 

Gwi auch Gauab: schalkhafter Geist im Glauben der Buschmänner. Er spielt Menschen oft bösartige Streiche und stielt ihren Atem.

 

Haveli: prächtig ausgestattete und bemalte Häuser in Nordindien. In Rajasthan bewohnten sie meist Kaufleute und Angehörige der Fürsten.

 

Herero: ein die Bantusprache sprechendes Hirtenvolk, das Mitte des 16. Jahrhunderts gemeinsam mit den Ovambo aus Zentralafrika in das heutige Namibia einwanderten.

 

Hidjra: Indische Bezeichnung für Mitglieder des »dritten« Geschlechts. Viele Hijras sind rituell kastrierte Männer oder von Geburt an intersexuell. Oft leben sie gezwungenermaßen in eigenen, recht disziplinierten Gemeinschaften, einem Gurukulam. Sprachlich bezeichnen sich Hijras selbst als weiblich.

 

Himba: ein mit den Herero verwandtes nomadisierendes Hirten-, Jäger- und Sammlervolk. Sie leben im Norden Namibias. Besonders auffällig ist die fettige Creme, mit der Männer wie Frauen ihre Körper einreiben.

 

Joansi: Ein Stamm der Buschmänner in der nördlichen Kalahari

 

Kauha: Schöpfungsgott der Buschmänner

 

Kolam: zentrisch, symmetrische Muster, die von indischen Frauen mit gefärbtem Reismehl in den Eingangsbereich der Häuser gemalt werden. Sie haben rituelle Bedeutung.

 

Kurta: Kragenloses, weit geschnittenes Hemd, das meist von Männern getragen wird. Es ist etwa knielang.

 

Llangwasi: unberechenbare Geister der Buschmänner

 

Maharadscha/Maharana: wörtlich: Großkönig. Indischer Herrschertitel, der dem Rang eines Fürsten entspricht. Im Fürstentum Udaipur wird der Großkönig mit Maharana angesprochen.

 

Num: spirituelle Kraft der Buschmänner.

 

Ondjuwo: Wohnung der Himba. Die Rundhütte besteht aus biegsamen, mit Wedeln der Makalanipalme befestigten Stangen, die mit einer Mischung aus Kuhmist und Flusssand verputzt werden.

 

Onganda: Dorfähnliches Anwesen der Himba. Jede Onganda verfügt über ein im Mittelpunkt gelegenes Kälbergehege, um das die Hütten errichtet werden. Eine Linie von der Haupthütte, über das heilige Feuer bis zum Eingang des Kälbergeheges bildet den Teil des Anwesens, der für alle Fremden tabu ist.

 

Otjizero: Haupthütte eines Himbadorfes. Sein Bewohner ist der Dorfvorstand und hütet das heilige Feuer, das nie ausgehen darf.

 

Orlam: Mischlinge, die von holländischen Farmern und Nama-Frauen abstammen.

 

Pad: afrikaans: Schotterweg, Straße

 

Riviere: afrikaans: Fluss. Sie führen nur in der Regenzeit Wasser.

 

Tsamma-Melone: »Citrullus lanatus«, nahrhaftes, kartoffelig schmeckendes Gewächs in der Kalahari und der Namib

Doppelhochzeit

»Nein, nein, nein!« Nancy schwang ihr Hinterteil, während sie sich empört umdrehte, wobei ihre Röcke einen weiten Bogen beschrieben. In ihrer Hand hielt sie einen riesigen Kochlöffel, den sie drohend in Richtung Samuel und seiner Helfer schwang. »Was seid ihr nur für hirnlose Erdmännchen! Ich habe euch tausendmal gesagt, ihr sollt die Tafel unter dem großen Baum aufbauen, nicht bei den Ställen, wo alles nach Kuhmist riecht!«

Samuel grinste sie breit an.

»Das wissen wir auch, Mama Nancy«, sagte er schelmisch. »Wir wollten nur sehen, was du für ein Gesicht machst!«

»Ach ja?«, fragte Nancy scharf. »Und was für ein Gesicht habe ich deiner Meinung nach gemacht?«

»Sag einem Krokodil erst, dass es hässlich ist, wenn du den Fluss überquert hast!«, antwortete Samuel, wobei er den anderen Farmarbeitern vielsagend zuzwinkerte. Nancy stand fassungslos da; ihr Unterkiefer klappte nach unten. Die Männer hielt es nun nicht mehr. Erst Joseph, dann Ernst und schließlich auch Josua und Samuel begannen hemmungslos zu lachen. Die Freude über Samuels Scherz brachte ihre Augen zum Glänzen. Immer wieder klopften sie sich mit den Händen auf die Schenkel. Nancy hatte sich schnell wieder gefasst. Ihr dunkelhäutiges Gesicht bekam kurz grimmige Züge. Sie hob ihren Kochlöffel und machte Anstalten, sich auf die Lümmel zu stürzen, aber dann hellte sich ihre Miene wie eine aufgehende Sonne auf, und sie fiel unvermittelt in das Gelächter der Männer ein. Sollten sie doch ihren Spaß haben. Es zeigte nur, wie gut es ihnen ging. Kopfschüttelnd begab sie sich schließlich wieder in ihre Küche, wo die Vorbereitungen zu der großen Hochzeit auf Hochtouren liefen.

 

Der ganze Distrikt sprach von dem bevorstehenden Ereignis. Von »unerhört!«, »skandalös«, »Verkafferung und Verlust der guten Sitten« bis hin zu »mutig«, »Respekt« reichte die Palette der diversen Meinungen. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass Vater und Tochter gleichzeitig vor den Traualtar traten. Doch das allein war an sich nichts Anstößiges. Es gab noch viel mehr Anlass für Klatsch und Tratscherei. Johannes von Sonthofen hatte eine Affäre mit einer Himbafrau, aus der ein gemeinsamer Sohn hervorgegangen war. Das war zwar verwerflich, aber an sich nichts Ungwöhnliches, denn der Bastard hatte kaum mehr Rechte als ein gewöhnlicher Schwarzer. Aber um genau das zu ändern, hatte Sonthofen sich entschlossen, die Himbafrau zu ehelichen. Mischehen waren in den Kolonien generell verpönt. Vor allem den Nationalisten lag daran, solche Beziehungen strikt zu verbieten, weil sie ihrer Meinung nach »Schmutz« in das reine, deutsche Blut brachten und die Menschen »verkafferte«. Ein Gesetz, das Mischehen verbot, stand kurz vor dem Inkrafttreten. Aus diesem Grund hatte der Distriktchef von Otjiwarongo die Ehe zwischen Johannes von Sonthofen und der Himbafrau Sarah verbieten wollen. Doch die guten Kontakte, die Johannes schon seit längerer Zeit zu Gouverneur Leutwein unterhielt, machten sich jetzt bezahlt. Auf höchste Anweisung von oben wurde der Distriktchef gezwungen, das Paar dennoch zu trauen. Auch das andere Brautpaar war nicht ohne Makel. Die Tochter des Farmers Sonthofen würde den anschwellenden Bauch unter ihrem Brautkleid wohl kaum verbergen können.

 

Das alles scherte die eintreffenden Gäste wenig, und wenn, dann sprach man nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Ein Fest war schließlich ein Fest und in diesen Breiten ein willkommener Anlass, sich untereinander auszutauschen. Nach und nach trafen die Ochsenwagen der Nachbarn ein, von denen einige schon seit dem Morgengrauen über die staubigen Wege, die Pads, unterwegs gewesen waren. Einige wenige besaßen Kutschen mit Pferden und brachten die langen Strecken wesentlich komfortabler hinter sich. Samuel, der Vorarbeiter der Farm, hatte eine ganze Scheune leer geräumt, in der die Gäste ihre Tiere unterstellen konnten. Überall gab es ein großes Willkommen. Johannes begrüßte alle Gäste persönlich. Mit Rücksichtnahme auf Sarah, die keine Christin war, hatte er auf die kirchliche Trauung verzichtet.

Das Fest am heutigen Tag sollte ganz allein dem jungen Brautpaar gehören. Die meisten Nachbarn brannten darauf, Jella nun endlich kennenzulernen. Die junge Frau war erst einige Monate zuvor überraschend aus Berlin angereist und hatte sich als uneheliche Tochter aus einer früheren Beziehung Sonthofens vorgestellt. Doch bisher war die Braut nicht zu sehen. Sie bereitete sich offensichtlich noch auf das große Ereignis vor. Heute sollte die kirchliche Trauung sein. Die standesamtliche Trauung hatte bereits vor einigen Tagen in Otjiwarongo stattgefunden. Johannes und Sarah sowie Jella und Fritz hatten sie in kleinstem Kreis abgehalten.

 

Die ersten Gäste waren bereits vor einigen Tagen eingetroffen. Unter ihnen war auch Lisbeth Eberle, die aus Stuttgart stammende Krankenschwester, mit der Jella vor etwa einem Jahr nach Deutsch-Südwest gekommen war. Die beiden jungen Frauen hatten einige Zeit zusammen im Missionskrankenhaus in Windhuk gearbeitet und waren bestens befreundet.

Lisbeth war mindestens ebenso aufgeregt wie Jella, die wie ein aufgescheuchtes Huhn im Bademantel durch das Haus lief.

»Wo habe ich nur das Medaillon hingelegt?«, rief Jella verzweifelt und fuhr sich mit beiden Händen in ihr aufgestecktes Haar.

»Jesus, Maria und Josef«, stöhnte Lisbeth, die das widerspenstige Haar gerade zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt hatte. »Jetzt siehst du aus wie ein gerupftes Huhn! Wir können gleich noch mal von vorn anfangen!«

Jella ließ das alles ziemlich unberührt. Sie suchte fieberhaft weiter, öffnete Schubladen, suchte hinter der Obstschale auf dem Buffet und drang dann sogar in Nancys Reich ein. Doch Nancy verwehrte ihr mit ihrer ganzen breiten Statur den Eintritt.

»Raus!«, schimpfte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Dabei rollten ihre schwarzen Augen gefährlich in den Augenhöhlen.

»Aber … ich muss …«, versuchte Jella ihr Anliegen vorzutragen. Doch Nancy duldete keinen Widerspruch und schob sie hinaus. Jella musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Schließlich fand sie das Medaillon in seinem kleinen Beutel neben ihrem Bett.

»Gott sei Dank«, seufzte sie erleichtert. Vorsichtig zog sie es heraus und klappte es auf. Das Bild ihrer Mutter lächelte ihr entgegen. »Ohne meine Mutter bei mir zu haben, hätte ich nicht heiraten können«, erklärte sie ihrer Freundin. »Wenn ich es trage, dann ist es fast so, als wäre sie hier bei uns!«

Ein paar Tränen kullerten aus Jellas hellgrünen Augen und rollten ihr über die Wange. Lisbeth strich ihrer Freundin tröstend über den Arm.

»Sie würde sich sicherlich sehr über Fritz freuen!«, versicherte sie ihr. Jella schniefte und ließ sich ungeduldig nochmals die Haare aufstecken.

»Wo ist eigentlich Fritz?«, wollte sie wissen. Sie hatte ihren Zukünftigen heute nur kurz gesehen.

»Ich glaube, er hilft den anderen beim Aufbau der Tanzbühne. Das Orchester ist auch schon eingetroffen. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich allerdings nicht, dass sie sehr gut spielen können. Die meisten Instrumente sehen ziemlich verbeult aus!«

Jella lachte vergnügt. »Imelda hat unbedingt darauf bestanden. Sie meinte, eine Hochzeit ohne Orchester ist wie ein Weihnachtsessen ohne Gans. Sie hat die Leute selbst zusammengestellt und behauptet steif und fest, dass sie den Hochzeitswalzer richtig gut spielen könnten. Außerdem hat Fritz noch ein Grammofon organisiert. Damit ist der musikalische Teil der Feier wohl gesichert.«

»Ist diese kleine, fette Witzfigur tatsächlich der Pfarrer? Wieso ist er eigentlich schon hier?«

Jella zuckte mit den Schultern. »Mein Vater hielt es für das Beste, Traugott Kiesewetter gleich in der Missionsstation abzuholen, damit er die Hochzeit nicht vergisst. Der gute Mann ist zwar herzensgut, aber er neigt dazu, manche Dinge zu vergessen.«

»Und jetzt macht er sich daran, das Hochzeitsessen schon vor der eigentlichen Feier zu vertilgen«, kicherte Lisbeth. »Ich habe ihn die paar Tage, die ich hier bin, noch nie ohne Essen herumlaufen sehen. Ich glaube, er ist der Einzige, der sich ungestraft in Nancys Küche begeben darf.«

»Weiß der Teufel, wie er das anstellt«, meinte Jella. »Bist du nun endlich fertig?«

Lisbeth steckte die letzten Nadeln in die Frisur und betrachtete zufrieden ihr Werk.

»Wenn du deine Finger jetzt gefälligst bei dir behältst, dann bist du die schönste Braut Südwestafrikas!«

»Bis auf das Brautkleid! Wie spät ist es eigentlich?« Lisbeth sah auf die Taschenuhr auf der Kommode.

»O je, wir haben uns total verplappert! Schnell, du musst in dein Brautkleid schlüpfen! Aber vorsichtig. Nicht, dass du es noch zerreißt!«

 

Alles auf der Farm Owitambe war feierlich geschmückt worden. Jella, Imelda, Sarah und Nancy hatten sich alle Mühe gegeben. Herausgekommen war eine Mischung aus deutsch-burischer Gemütlichkeit und afrikanischen Elementen. Die Trauung selbst sollte oben auf dem Hügel stattfinden, wo die große Schirmakazie stand. In ihrem Schatten waren lange Tischreihen mit weißen, gestärkten Baumwolltischdecken aufgestellt worden. Nancy hatte einen Teil der Küche nach draußen verlagert und kochte auf offenem Feuer. Auf gusseisernen Dreibeinen standen riesige Töpfe mit Eintopf, Suppen und Gemüsegerichten. Samuel und Josua hatten sich weiße Schürzen umgebunden und sollten über gewaltigen Rosten das Fleisch garen. Dazu gab es verschiedene Fruchtsoßen, selbst gebackenes Brot, frisch gebrautes Bier, das Fritz extra aus Grootfontein hatte kommen lassen, und sogar einige Kisten mit südafrikanischem Wein. Auf den Tischen standen Schalen mit frischem Obst und Blumen aus dem hauseigenen Garten. In die weit ausladenden Zweige hatte Johannes bunte Papierlampions hängen lassen. Überall waren Fackeln und Petroleumlampen aufgestellt worden, die nach der früh einsetzenden Dunkelheit den Platz erhellen sollten. Auf dem Hof vor dem Wohnhaus stand eine Holzbühne für den Tanz. Daneben war Platz für das »Orchester«. Die vier dunkelhäutigen Musiker besaßen hauptsächlich Blechblasinstrumente, die so verbeult waren, dass die Vermutung nahelag, sie könnten schon bei der einen oder anderen Schlägerei eingesetzt worden sein. Imelda, Fritz’ Mutter, hatte die Instrumente aufgetrieben und kurzerhand dazu ein paar ihr musikalisch erscheinende Herero aus Okakarara ausgewählt. Mit unendlicher Geduld hatte sie mit ihnen in den letzten Wochen einige Tanzlieder, unter anderem auch den Kaiserwalzer, eingeübt. Hinter vorgehaltener Hand hatten Jella und Fritz kichernd die Befürchtung geäußert, dass wohl einige Gäste die Feier verlassen könnten, bevor überhaupt die Trauung stattgefunden hatte. Doch Imelda wollte davon nichts wissen. Sie war stolz auf ihre Musiker und überzeugt, dass sie ihre Aufgabe meistern würden. Nachdem sich alle versammelt hatten, schärfte sie den Männern noch einmal ausdrücklich ein, erst zu beginnen, wenn der Bräutigam vor dem Pastor stand. Die Musiker sahen einander an und nickten ernst.

Als Erster kam Traugott Kiesewetter. Der kleine Pastor hatte sich extra für den feierlichen Anlass in sein schwarzes Priestergewand geworfen und die weiße Halskrause angelegt. Mit würdevollem Schritt erklomm er den kleinen Hügel, wandte sich dann den unten sitzenden Gästen zu und faltete die Hände vor seinem Bauch. Schweiß rann über seine Stirn, doch er bewahrte Haltung. Mit aufmunternden Zurufen der verheirateten Männer wurde schließlich der Bräutigam empfangen. Fritz lächelte ihnen zu. Mit sicheren Schritten lief er durch das Spalier der Gäste in Richtung des Pastors. Er trug einen schwarzen Frack, darunter ein gestärktes, weißes Hemd mit Stehkragen und Binder. Seinen Kopf zierte ein glänzender Zylinder. Das dunkle Haar darunter war mit Pomade geglättet. Die jungen Fräulein der Gesellschaft stießen ein kaum zu überhörendes Seufzen aus. Fritz sah wirklich umwerfend aus. Mehr als eine war neidisch auf die gute Partie, die Jella machte. Wer es nicht wusste, konnte kaum erkennen, dass dem Bräutigam die linke Hand fehlte. Geschickt hielt er den Stumpf zwischen den Knöpfen seines Fracks versteckt.

Jetzt fehlte nur noch die Braut. Viele der Eingeladenen kannten Jella noch nicht. Umso heftiger waren die Spekulationen der Frauen und der jungen Mädchen über ihr Brautkleid. Würde sie es wagen, trotz ihrer Umstände einen Schleier zu tragen? War es nicht unerhört, dass sie überhaupt kirchlich heirateten? Die Braut sollte außerdem sehr hochgewachsen sein und nicht unbedingt dem deutschen Schönheitsideal entsprechen, tuschelten die einen. Diejenigen, die sie bereits kannten, schilderten sie demgegenüber als charmante, kluge Frau, die immer sagte, was sie dachte. Ihre Spekulationen wurden durch das laute Hupen einer Tuba unvermittelt unterbrochen. Der betreffende Musiker hatte sich mit seinem Einsatz vertan und schaute jetzt erschrocken in die Menge. Imelda, die bereits neben Sarah und dem kleinen Raffael in der ersten Reihe saß, bekam einen hochroten Kopf. Man konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten den Schuldigen erwürgt hätte. Sie gestikulierte und gab ihnen zu verstehen, dass sie es noch einmal von Neuem versuchen sollten. Doch der zweite Anlauf ging genauso schief wie der erste, nur dass dieses Mal alles durcheinander erklang. Imelda erhob sich von ihrem Sitz und marschierte unter den amüsierten Blicken der Gäste zu ihren Schutzbefohlenen. Nach einem kurzen, heftigen Wortwechsel hatte sie die Ursache des neuerlichen Scheiterns herausgefunden. Die Musiker kannten ihre Stücke auswendig, da sie keine Noten lesen konnten. Allerdings hatten sie vergessen, mit welchem Lied sie beginnen sollten. Der Tubaspieler und der Trompeter hatten sich kurzerhand für den Einzugsmarsch von Johann Strauß entschieden, der Posaunist und der Schlagzeuger dagegen für den Kaiserwalzer. Der Erfolg war eine entsetzliche Kakophonie gewesen. Imelda warf den Musikern einen mörderischen Blick zu und gab nun selbst den Einsatz. Schuldbewusst konzentrierten sich die vier und begannen zum dritten Mal. Zum Erstaunen der meisten Gäste konnte sich die Musik durchaus hören lassen. Das Orchester spielte zwar nicht unbedingt brillant, aber zumindest sehr eigenwillig und engagiert.

Inmitten dieses amüsanten Zwischenfalls hatten die Zuschauer nicht mitbekommen, wie Jella am Arm ihres Vaters aus der Haustür getreten war. Das schlichte, cremefarbene Brautkleid umschmeichelte elegant ihren Körper. Es war ärmellos und eng geschnitten und gab sich nicht ansatzweise die Mühe, die unübersehbare Wölbung ihres Bauches zu kaschieren. Gerade das machte den Reiz des Kleides aus und ließ die Braut noch attraktiver erscheinen. Das lockige, widerspenstige Haar war zu einer kunstvollen Steckfrisur aufgetürmt. Anstatt eines Schleiers oder eines Blumenkranzes trug sie locker verteilt blaue und weiße Blüten in ihrem roten Haar. Lange, goldene Ohrringe hingen bis zu ihren Schultern. Ihre limonengrünen Augen glänzten vor Aufregung, als sie gemeinsam mit ihrem Vater in viel zu großen Schritten auf Fritz zuging.

Fritz verschlug es den Atem. Jella war für ihn schon immer die schönste Frau gewesen, die er jemals kennengelernt hatte, aber heute sah sie einfach hinreißend aus. Am liebsten wäre er auf sie zugestürzt und hätte sie vor allen geküsst. Es kostete ihn Überwindung, es nicht zu tun. Mit einem leichten Nicken übernahm er von Johannes Jellas Arm, der bis zu den Ellenbogen in cremefarbenen Spitzenhandschuhen steckte. Jella sah Fritz an und strahlte. Gemeinsam traten sie vor den Pastor.

 

Nach der Trauung gab es einen kleinen Umtrunk, während die Gäste nacheinander dem Brautpaar gratulierten. Die meisten waren überrascht, wie natürlich Jella war. Sie war erstaunlich gut über die Familienverhältnisse der Nachbarn informiert und erkundigte sich sogar nach denen, die verhindert gewesen waren zu kommen.

»Sag mal, Vater, warum ist eigentlich niemand von den Nachtmahrs erschienen?«, fragte Jella, als sie einen Augenblick von niemandem in Anspruch genommen wurde.

Johannes verzog sein Gesicht.

»Mit Rüdiger von Nachtmahr ist nicht unbedingt gut Kirschen essen. Er ist sehr eigenwillig. Es würde mich nicht wundern, wenn er dem Fest mit Absicht fernbliebe. Dabei hat er eine wirklich reizende Frau.«

»Auch egal. Ich werde ihn schon noch kennenlernen. Vielleicht sollten wir für ihn ja einmal einen Extraempfang geben.«

Bevor ihr Vater antworten konnte, wurde sie von Lisbeth unterbrochen.

»Du stehst schon viel zu lange hier herum. Denk an deinen Zustand. Du solltest dich endlich einmal hinsetzen!«

Sie schaute vorwurfsvoll Fritz an, der sofort reagierte.

»Ja, Liebes, lass uns endlich Platz nehmen. Ich glaube, die Leute haben alle Hunger!«

Jella verdrehte die Augen. »Warum behandeln mich alle wie ein kleines Kind? Ich bin schwanger und nicht krank.«

Dennoch ließ sie sich von Fritz an den Tisch führen, wo sie sich in der Mitte der langen Tafel hinsetzten. Für die anderen Gäste war das auch das Zeichen, Platz zu nehmen. Man plauderte, tauschte Freundlichkeiten aus und freute sich auf das bevorstehende Essen. Nancy kommandierte ihre Küchenmannschaft herum und bewachte mit argwöhnischen Augen die Arbeit von Samuel und Josua, die mit dem Grillen des Fleisches begonnen hatten. Rechts neben Fritz saßen Imelda und Jakob, links neben Jella Johannes, Sarah und deren gemeinsamer Sohn Raffael. Für die anderen Gäste gab es keine feste Sitzordnung. So mancher Farmer murrte, weil Schwarze mit am Tisch saßen, aber weder Jella noch ihre Familie scherten sich darum und taten einfach so, als hätten sie es nicht gehört. Schon bald beruhigten sich die erregten Gemüter und ließen sich von der freundlichen Atmosphäre auf Owitambe gefangennehmen. Nach dem ausgiebigen Mahl, das von Unmengen Wein und Bier begleitet wurde, kam das Orchester zu seinem zweiten Einsatz. Imelda hatte nicht zu viel versprochen. Die schrägen und falschen Töne machten die Musiker durch ihren Einsatz und ein erstaunliches Rhythmusgefühl wett. Mit einem ungewöhnlichen Kaiserwalzer eröffneten Fritz und Jella schließlich den gemütlichen Teil des Festes. Die Sonne stand mittlerweile tief am Horizont, was die Hitze des Tages etwas milderte. Die Stimmung war gelockert und fröhlich. Die älteren Männer rauchten gemeinsam Zigarren, während die jüngeren die seltene Gelegenheit eines Tanzes nutzten und ihre Frauen auf die Tanzfläche führten. Auch die schwarzen Arbeiter waren zu dem Hochzeitsfest geladen. Allerdings feierten sie etwas abseits und weigerten sich, mit den Weißen mitzufeiern, obwohl Jella sie mehrmals dazu aufforderte.

»Lass sie«, meinte Fritz. »Sie haben eben eine andere Kultur. Außerdem merken sie sehr wohl, dass es hier viele gibt, die ihnen mit Ablehnung gegenüberstehen.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte Jella. »obwohl ich es eigentlich nicht verstehe. Wir leben schließlich alle in demselben Land. Warum können wir uns dann nicht einfach gegenseitig als Menschen respektieren?«

Fritz gab Jella einen Kuss und spielte mit einer Strähne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Seine dunklen Augen glänzten leidenschaftlich. »Ich denke gerade an ganz andere Dinge!«, flüsterte er heiser in ihr Ohr, während er leicht an ihrem Ohrläppchen knabberte. »Meinst du, wir könnten schon gehen?«

Jella bekam eine Gänsehaut und errötete. Gleichzeitig drückte sie ihn leicht von sich weg. Fritz’ offenes Begehren war ihr peinlich, obwohl sie es selbst kaum erwarten konnte, mit ihrem Mann allein zu sein. Sie wollte gerade etwas erwidern, als ein von Pferden gezogener Pritschenwagen in rasendem Tempo auf den Festplatz gefahren kam. Alle Blicke wandten sich teils entsetzt, teils entrüstet dem Gefährt zu, das von einem jungen schmächtigen Mann gelenkt wurde. Erst als es in der Nähe der Tanzfläche zu stehen kam, konnte man erkennen, dass der Wagen Mist geladen hatte. Der junge Mann sprang von seinem Kutschbock auf die hintere Pritsche, auf der zwei schwarze Farmarbeiter bereits die Seitenwände gelöst hatten und sich daranmachten, den Mist mit Gabeln in hohem Bogen auf die Tanzfläche zu werfen. Eines der Tanzpaare bekam eine volle Ladung Mist ab und kreischte vor Entsetzen auf.

Fritz und Johannes hatten sich mittlerweile mit Blicken verständigt. Sie waren beide ein ganzes Stück von dem Geschehen entfernt und eilten mit langen Schritten darauf zu. Doch bevor sie das Gefährt erreicht hatten, war die ganze Mistladung schon auf der Tanzfläche gelandet. Der junge Mann grinste unverschämt in die Menge, kletterte wieder auf den Kutschbock und ergriff drohend die Peitsche. Als er Fritz und Johannes vor sich stehen sah, erhob er seine Stimme, die sich vor Aufregung und Triumphgefühl überschlug.

»Einen schönen Hochzeitsgruß von meinem Vater«, schepperte er bösartig. »Das ist unser Hochzeitsgeschenk. Keiner von uns Nachtmahrs würde jemals auf eine Kaffernhochzeit gehen! Owitambe und seine Bewohner sind eine Schande für das Deutsche Reich, und für den Kaiser erst recht. Wir scheißen auf euch!«

Mit diesen ordinären Worten knallte er mit der Peitsche und lenkte seine Pferde vom Hof. Fritz wollte den Tieren in die Zügel fallen, doch Johannes schüttelte nur beschwichtigend den Kopf.

Triumphierend preschte der junge von Nachtmahr davon.

 

Die ausgelassene Stimmung war mit einem Mal wie weggeblasen. Überall bildeten sich Grüppchen, die den Zwischenfall eifrig kommentierten. Jella nahm sehr wohl wahr, dass es auch unter ihren Gästen einige Sympathien für die Nachtmahrs gab. Sie diskutierten gestenreich mit den anderen, die die Aktion empört als Sabotage bezeichneten. Die Heirat ihres Vaters mit einer Eingeborenen sorgte immer noch für viel Aufregung. Die nationalistisch eingestellten Farmer waren der festen Überzeugung, dass die schwarze Bevölkerung minderwertig und der europäischen Rasse weitaus unterlegen war. Es fiel ihnen schwer, Männer mit liberaleren Ansichten zu akzeptieren. Auf der anderen Seite war Johannes von Sonthofen bei allen wegen seiner politischen Weitsicht anerkannt. Ihm und seinen guten Beziehungen zu den Schwarzen war es schließlich zu verdanken, dass es in der Nachbarschaft von Owitambe bisher noch zu keinen Überfällen der Herero gekommen war. Ehe man sich’s versah, war aus der Hochzeit eine politische Debatte geworden. Erste Gäste brachen bereits auf, andere folgten, und die Gesellschaft drohte auseinanderzufallen, bevor der Abend überhaupt richtig begonnen hatte.

Wütend und verzweifelt eilte Jella zu ihrem Vater. Sie wollte den schönsten Tag ihres Lebens keinesfalls so enden lassen.

»Du musst zu den Gästen sprechen«, forderte sie. »Sag ihnen, dass das Fest jetzt erst richtig losgeht. Ich spreche mit Nancy, dass sie die Bowle bringen soll. Wir schenken sie einfach ein wenig früher aus!«

Johannes umarmte seine Tochter herzlich, bevor er sich auf die ruinierte Tanzfläche begab. Mit ruhiger, kräftiger Stimme brachte er die Gäste dazu, ihm zuzuhören.

»Wollt ihr euch wirklich von solch einem ungehobelten Raubein das schöne Fest verderben lassen?«, rief er. »Es mag unterschiedliche Meinungen geben, das gebe ich wohl zu. Aber muss das gleich mit barbarischen Mitteln kundgetan werden? Damit setzt er sich nur selbst ins Unrecht! Ich bitte euch, diesen billigen Zwischenfall zu vergessen. Heute ist der Hochzeitstag meiner einzigen Tochter. Da sollten Zwistigkeiten keine Rolle spielen. Lasst uns die Tische beiseiteräumen und eine neue Tanzfläche schaffen. Wir alle werden dem Fest einen neuen Glanz verleihen!«

Zustimmendes Gemurmel zeigte, dass Johannes die richtigen Worte gewählt hatte. Die verkrampfte Stimmung löste sich und wich einer neuen Heiterkeit. Mit einem Mal wurde der Zwischenfall mit Humor betrachtet und das mit Mist beworfene Tanzpaar gar zur geheimen Attraktion des Abends. Mit zufriedenem Lächeln stellte Johannes fest, dass sogar die zur Abfahrt bereiten Gäste wieder kehrtmachten und zurückkehrten. In der Zwischenzeit hatten Jella und Nancy die Bowle herangeschafft und begannen mit dem Austeilen des Getränks.

Fritz hatte unterdessen das Grammofon aufgestellt und eine moderne Tanzplatte aufgelegt. Die Musiker hatte er zu ihrer großen Erleichterung entlassen. Als die ersten beschwingten Takte erklangen, begab er sich zu Jella, nahm ihr den Schöpflöffel aus der Hand und trug sie auf die Tanzfläche. Die Gäste klatschten begeistert in die Hände, als er sie absetzte und mit ihr in einer wilden Polka über die Tanzfläche zu preschen begann. Es dauerte nicht lange, bis die nächsten Tanzpaare ihnen folgten und sich lachend zu den noch nie gehörten Rhythmen schwangen.