Dr. med. Eben Alexander
BLICK IN DIE
EWIGKEIT
Die faszinierende Nahtoderfahrung
eines Neurochirurgen
Aus dem Englischen übersetzt
von Juliane Molitor
Ansata
Dr. med. Eben Alexander
BLICK IN DIE
EWIGKEIT
Die faszinierende Nahtoderfahrung
eines Neurochirurgen
Aus dem Englischen übersetzt
von Juliane Molitor
Ansata
Ich widme dieses Buch meiner gesamten liebevollen Familie in unendlicher Dankbarkeit.
Inhalt
Vorwort
1Der Schmerz
2Das Krankenhaus
3Aus dem Nichts
4Eben IV.
5In der Unterwelt
6Ein Anker im Leben
7Die kreisende Melodie und der Übergang
8Israel
9Das Zentrum
10Was zählt
11Das Ende der Abwärtsspirale
12Die Botschaft des Zentrums
13Mittwoch
14Eine besondere Art von Nahtoderlebnis
15Die Gabe des Vergessens
16Der Brunnen
17N von 1
18Vergessen und Erinnern
19Kein Verstecken mehr möglich
20Der Abschluss
21Der Regenbogen
22Sechs Gesichter
23Letzte Nacht, erster Morgen
24Die Rückkehr
25Noch nicht wieder da
26Die Nachricht verbreitet sich
27Wieder zu Hause
28Das Ultra-Reale
29Eine häufig gemachte Erfahrung
30Zurück von den Toten
31Drei Lager
32In der Kirche
33Das Rätsel des Bewusstseins
34Ein letztes Dilemma
35Das Foto
Eternea
Dank
Literatur
Anhang A: Stellungnahme von Scott Wade, M. D.
Anhang B: Neurowissenschaftliche Hypothesen, die ich einbezogen habe, um meine Erfahrung zu erklären
Vorwort
Aber ebenso klar ist es, dass von dem, was ist, kein Weg führt zu dem, was sein soll.
Albert Einstein (1879–1955)
Als Kind träumte ich oft vom Fliegen. Meistens stand ich nachts im Hof unseres Hauses, schaute hoch zu den Sternen und schwebte plötzlich nach oben. Die ersten paar Zentimeter ergaben sich automatisch. Aber bald stellte ich fest, dass mein Fortschritt, je höher ich schwebte, umso mehr von mir selbst abhing – davon, was ich tat. Wenn ich zu begeistert war, mich zu sehr von dem Erlebnis hinreißen ließ, stürzte ich wieder zu Boden … und landete hart. Aber wenn ich fast unbeteiligt und locker blieb, hob ich ab und stieg schneller und immer schneller in den Sternenhimmel hinauf.
Vielleicht waren diese Träume ein Grund, warum ich mich, als ich älter wurde, in Flugzeuge und Raketen und überhaupt in alles verliebte, was mich vielleicht in jene über dieser liegende Welt zurückbringen würde. Wenn ich mit meiner Familie im Flugzeug unterwegs war, klebte mein Gesicht vom Start bis zur Landung am Fenster. In Sommer 1968, als ich vierzehn war, gab ich das ganze Geld, das ich durch Rasenmähen verdiente, für Segelflugstunden bei einem Typen namens Gus Street aus. Der Unterricht fand am Strawberry Hill statt, einem kleinen Grasstreifen-»Flughafen« westlich von Winston-Salem, North Carolina, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Ich erinnere mich immer noch, wie ich mein Herz pochen fühlte, als ich den großen, kirschroten Knopf zog und damit die Leine löste, die mich mit dem Schleppflugzeug verband, und mein Segelflugzeug in Richtung Feld eindrehte. Ich fühlte mich zum ersten Mal wirklich allein und frei. Die meisten meiner Freunde hatten dieses Gefühl in Autos, aber für mein eigenes Geld in dreihundert Meter Höhe in einem Segelflugzeug zu sitzen schlug diesen Nervenkitzel um das Hundertfache.
In den 1970er-Jahren schloss ich mich dem Fallschirmspringer-Team der University of North Carolina (UNC) an. Es fühlte sich wie eine geheime Bruderschaft an – eine Gruppe von Menschen, die über etwas Spezielles und Magisches Bescheid wussten. Mein erster Sprung war furchterregend und der zweite sogar noch mehr. Aber als ich bei meinem zwölften Sprung aus der Tür des Flugzeugs trat und mehr als dreihundert Meter tief fallen musste, bevor ich meinen Fallschirm öffnen durfte (meine erste »Zehnsekundenverzögerung«), wusste ich, dass ich »zu Hause« war. In meiner Zeit am College machte ich 365 Fallschirmsprünge und verbrachte über dreieinhalb Stunden im freien Fall, hauptsächlich in Formationen mit bis zu fünfundzwanzig Mitspringern. Obwohl ich 1976 mit dem Fallschirmspringen aufhörte, hatte ich weiterhin lebhafte Träume davon, die immer sehr angenehm waren.
Die besten Sprünge fanden oft am Spätnachmittag statt, wenn die Sonne hinter dem Horizont zu verschwinden begann. Es ist schwer, das Gefühl zu beschreiben, das ich bei solchen Sprüngen hatte: Es war ein Gefühl, mich an etwas anzunähern, das ich nie recht benennen konnte, von dem ich aber wusste, dass ich mehr davon haben musste. Es war nicht wirklich Einsamkeit, denn die Art und Weise, wie wir das Fallschirmspringen betrieben, hatte nichts mit Einsamkeit zu tun. Wir sprangen zu fünft, zu sechst, manchmal zu zehnt oder zu zwölft gleichzeitig und bildeten im freien Fall Formationen. Je größer und herausfordernder, desto besser.
An einem schönen Herbstsamstag im Jahr 1975 kamen die anderen UNC-Springer und ich mit einigen unserer Freunde in einem Fallschirmspringerzentrum im Osten von North Carolina zusammen, um ein paar Formationen zu springen. Bei unserem vorletzten Sprung des Tages aus einer D18 Beechcraft und einer Höhe von 3 200 Metern bildeten wir mit zehn Mann eine Schneeflocke. Wir schafften es, eine vollständige Formation zu bilden, bevor wir 2 100 Meter nach unten fielen, und konnten uns daher ganze achtzehn Sekunden daran erfreuen, in dieser Formation durch einen lichten Abgrund zwischen zwei sich auftürmenden Kumuluswolken zu fallen, bevor wir uns auf 1 000 Meter losließen und auseinanderdrifteten, um unsere Fallschirme zu öffnen.
Als wir den Boden erreichten, stand die Sonne schon ganz tief. Aber wir eilten zu einem anderen Flugzeug und hoben schnell noch einmal ab und schafften es dadurch, noch einmal in die letzten Sonnenstrahlen zu fliegen und einen zweiten Sonnenuntergangssprung zu machen. Dabei bekamen zwei Nachwuchsmitglieder ihre erste Chance, in eine Formation einzufliegen – das heißt, sich der Formation von außen anzuschließen, statt deren Basis oder Angelpunkt zu sein (Letzteres ist einfacher, weil man im Prinzip nur die Aufgabe hat, gerade nach unten zu fallen, während alle anderen auf einen zumanövrieren). Es war aufregend für die beiden Nachwuchsspringer, aber auch für diejenigen von uns, die mehr Erfahrung hatten, weil wir das Team aufbauen und etwas zu der Erfahrung von Springern beitragen konnten, die später in der Lage sein würden, noch größere Formationen mit uns zu bilden.
Ich sollte der Letzte sein, der für einen Sechs-Mann-Sternversuch über den Rollfeldern des kleinen Flughafens am Stadtrand von Roanoke Rapids, North Carolina, aus dem Flugzeug sprang. Der Typ, der unmittelbar vor mir sprang, hieß Chuck. Chuck hatte ziemlich viel Erfahrung im Bilden von Formationen für den freien Fall. In 2 300 Meter Höhe schien immer noch die Sonne, aber tief unter uns wurden schon die Straßenlaternen angeschaltet. Sprünge in der Dämmerung waren immer außergewöhnlich, und dieser sollte ganz eindeutig ein wunderschöner werden.
Obwohl ich nur etwa eine Sekunde nach Chuck aus dem Flugzeug aussteigen würde, musste ich mich beeilen, um die anderen noch zu erwischen. In den ersten rund sieben Sekunden würde ich kopfüber wie eine Rakete senkrecht nach unten schießen. Dies würde bewirken, dass ich fast 160 Kilometer pro Stunde schneller sank als meine Freunde, wodurch ich sofort bei ihnen sein konnte, nachdem sie die anfängliche Formation gebildet hatten.
Die übliche Prozedur bei Formationssprüngen sieht vor, dass sich die Springer in etwa 1 000 Meter Höhe loslassen und so weit wie möglich von der Formation entfernen. Dann winkt jeder mit den Armen (und kündigt damit den bevorstehenden Einsatz seines Fallschirms an), wendet den Blick nach oben, um sicherzustellen, dass niemand über ihm schwebt, und zieht die Reißleine.
»Drei, zwei, eins … los!«
Die ersten vier Springer stiegen aus, Chuck und ich folgten ihnen auf dem Fuß. Kopf voran näherte ich mich mit einem Hechtsprung meiner Endgeschwindigkeit und lächelte, als ich die Sonne an jenem Tag zum zweiten Mal untergehen sah. Nachdem ich zu den anderen hinuntergeflitzt war, wollte ich die Luftbremse ziehen, indem ich meine Arme ausbreitete (wir hatten Gewebeflügel von den Handgelenken bis zu den Hüften, die enormen Widerstand boten, wenn sie bei hoher Geschwindigkeit ganz aufgebläht wurden) und die ausgestellten Arme und Hosenbeine meines Springeranzugs geradewegs in die entgegenkommende Luft hielt.
Aber ich hatte keine Chance.
Als ich auf die Formation zustürzte, sah ich, dass einer der neuen Springer zu schnell dazugekommen war. Vielleicht hatte ihn der rasante Fall an den benachbarten Wolken vorbei ein wenig kopfscheu gemacht. Er erinnerte ihn daran, dass er sich mit etwa sechzig Meter pro Sekunde auf den gigantischen Planeten unter ihm zubewegte, der teilweise in zunehmende Dunkelheit gehüllt war. Statt also langsam an den Rand der Formation anzuschließen, plumpste er hinein und schlug alle auseinander. Jetzt taumelten die fünf anderen Springer unkontrolliert nach unten.
Sie waren auch viel zu nah beieinander. Ein Fallschirmspringer lässt einen extrem turbulenten Strom Niederdruckluft hinter sich. Wenn ein anderer Springer in diese Spur gerät, beschleunigt er sofort und kann mit der Person unter ihm zusammenstoßen. Dies wiederum kann dazu führen, dass beide Springer an Tempo gewinnen und auf jemanden aufprallen, der möglicherweise unter ihnen ist. Kurz, damit ist die Katastrophe vorprogrammiert.
Ich richtete meinen Körper aus und zog von der Gruppe weg, um dem taumelnden Durcheinander zu entgehen. Ich manövrierte so lange, bis ich genau über dem »Spot« nach unten fiel, einem magischen Punkt am Boden, über dem wir unsere Fallschirme für den gemächlichen zweiminütigen Sinkflug öffnen sollten.
Ich schaute mich um und war erleichtert, als ich sah, dass die orientierungslosen Springer jetzt auseinanderzogen und damit den tödlichen Pulk auflösten.
Chuck war dort unter ihnen. Doch zu meiner Überraschung driftete er genau in meine Richtung und kam direkt unter mir zum Stehen. Nun, nachdem die Gruppe ins Taumeln gekommen war, stießen wir, schneller als Chuck erwartet hatte, aus 600 Meter Höhe nach unten. Vielleicht dachte er, er habe das Glück, sich nicht wirklich an die Regeln halten zu müssen.
Er sieht mich wahrscheinlich nicht. Der Gedanke hatte gerade genug Zeit, mir durch den Kopf zu schießen, bevor Chucks bunter Hilfsfallschirm aus seinem Rucksack aufblühte. Sein Hilfsfallschirm fing die 193-km/h-Bö ein, die ihn umwehte, und sauste gerade auf mich zu, während er den Hauptfallschirm aus seiner Hülle zog.
Ab dem Moment, in dem ich Chucks Hilfsfallschirm auftauchen sah, hatte ich den Bruchteil einer Sekunde, um zu reagieren. Es wäre nämlich eine Sache von weniger als einer Sekunde gewesen, durch seinen sich entfaltenden Hauptfallschirm zu stürzen und – ziemlich wahrscheinlich – genau auf Chuck selbst. Wenn ich mit dieser Geschwindigkeit auf eines seiner Gliedmaßen – einen Arm oder ein Bein – getroffen wäre, hätte ich es glatt abgerissen und mir dabei selbst einen verhängnisvollen Stoß versetzt. Wenn ich auf seinen Rumpf geprallt wäre, hätte dies unsere beiden Körper regelrecht explodieren lassen.
Menschen sagen, dass sich in Situationen wie diesen alles ganz langsam bewegt, und das stimmt. Mein Verstand beobachtete die Handlung in den Mikrosekunden, die nun folgten, als sähe ich mir einen Film in Zeitlupe an.
In dem Moment, in dem ich den Hilfsfallschirm sah, flogen meine Arme an die Seiten meines Körpers. Ich streckte mich zum Sturzflug und knickte dabei in der Hüfte ein klein wenig ein. Die Vertikalität erhöhte meine Geschwindigkeit, und die Beugung erlaubte meinem Körper, zunächst eine kleine horizontale Bewegung zu machen und dann einen ganzen Schub, weil mein Körper zu einem effizienten Flügel wurde, der mich an Chuck vorbeischwirren ließ, und zwar genau vor seinem in allen Farben erblühenden Hochleistungsfallschirm.
Ich sauste mit mehr als 240 Kilometern pro Stunde oder 67 Metern pro Sekunde an ihm vorbei. Angesichts dieser Geschwindigkeit bezweifle ich, dass er den Ausdruck in meinem Gesicht sehen konnte. Aber wenn, dann hätte er einen Ausdruck des schieren Erstaunens gesehen. Irgendwie hatte ich in Mikrosekunden auf eine Situation reagiert, mit der ich nicht hätte umgehen können, wenn ich Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken, weil sie mir viel zu komplex gewesen wäre.
Und doch – ich war damit umgegangen, und wir beide konnten sicher landen. Es war, als habe mein Gehirn in dem Moment, in dem es mit einer Situation konfrontiert war, die mehr als seine übliche Fähigkeit zu antworten erforderte, Superkräfte aufgeboten.
Wie hatte ich das gemacht? Im Laufe meiner mehr als zwanzigjährigen Karriere in wissenschaftlicher Neurochirurgie, in der ich das Gehirn erforschte, beobachtete, wie es arbeitet, Gehirnoperationen vornahm, hatte ich reichlich Gelegenheit, über genau diese Frage nachzudenken. Ich machte schließlich die Tatsache dafür verantwortlich, dass das Gehirn ein wirklich außergewöhnlicher Apparat ist – viel außergewöhnlicher, als wir es uns überhaupt vorstellen können.
Jetzt wird mir klar, dass die wahre Antwort auf diese Frage noch viel tiefgründiger ist. Aber ich musste eine vollkommene Metamorphose meines Lebens und meiner Weltsicht durchlaufen, um einen kurzen Blick auf diese Antwort werfen zu können. Dieses Buch handelt von den Ereignissen, die meine Meinung darüber änderten. Sie überzeugten mich davon, dass mir an jenem Tag gar nicht mein Gehirn, auch wenn es ein wunderbarer Mechanismus ist, das Leben gerettet hatte. Was in der Sekunde, in der sich Chucks Fallschirm zu öffnen begann, aktiv wurde, war ein anderer, viel tieferer Teil von mir. Ein Teil, der sich so schnell bewegen konnte, weil er nicht durch die Zeit eingeschränkt wurde, wie es Gehirn und Körper werden.
Es war derselbe Teil von mir, der in meiner Kindheit dieses Heimweh nach den Himmeln in mir ausgelöst hatte. Es ist nicht nur der klügste Teil von uns, sondern auch der tiefgründigste, doch die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens konnte ich nicht daran glauben.
Aber jetzt glaube ich daran, und auf den folgenden Seiten werde ich Ihnen erzählen, warum.
***
Ich bin Neurochirurg. Mein Studium an der University of North Carolina, Chapel Hill, habe ich 1976 mit Chemie als Hauptfach abgeschlossen. Meinen Doktortitel bekam ich 1980 an der Medizinischen Hochschule der Duke University. Während meines elfjährigen Medizinstudiums mit Facharztausbildung im Universitätsklinikum von Duke sowie im Massachusetts General Hospital und in Harvard spezialisierte ich mich auf Neuroendokrinologie, die sich mit der Verknüpfung von Nervensystem und endokrinem System befasst. Letzteres setzt sich aus einer Reihe von Drüsen zusammen, welche die Hormone ausschütten, die zur Steuerung der meisten Körperaktivitäten gebraucht werden. Zwei dieser elf Jahre verbrachte ich damit zu erforschen, wie Blutgefäße in einem bestimmten Bereich des Gehirns pathologisch reagieren, wenn Blut aus einem Aneurysma hineingepresst wird – ein Syndrom, das als zerebraler Vasospasmus1 bekannt ist.
Nachdem ich dank eines Forschungsstipendiums eine Ausbildung in zerebrovaskulärer Neurochirurgie in Newcastle upon Tyne in Großbritannien absolviert hatte, arbeitete ich fünfzehn Jahre lang als außerordentlicher Professor für Chirurgie mit Spezialgebiet Neurochirurgie an der Harvard Medical School. In jenen Jahren operierte ich zahllose Patienten, viele davon mit ernsten, lebensbedrohlichen Gehirnleiden.
Ein großer Teil meiner Forschungstätigkeit beinhaltete die Entwicklung zukunftsweisender technischer Verfahren wie der Radiochirurgie (SRS, Stereotactic Radiosurgery), einer Technik, die es Chirurgen ermöglicht, bestimmte Ziele in den Tiefen des Gehirns hochpräzise zu bestrahlen, ohne angrenzende Bereiche zu tangieren. Ich war auch an der Entwicklung neurochirurgischer Verfahren beteiligt, die sich der Magnetresonanztomografie bedienen und bei schwer zu behandelnden Gehirnleiden wie Tumoren und Gefäßerkrankungen eingesetzt werden. In jenen Jahren habe ich außerdem als Autor oder Koautor mehr als 150 Buchbeiträge und Artikel in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht und meine Forschungsergebnisse auf mehr als zweihundert Medizinkongressen in der ganzen Welt präsentiert.
Kurz: Ich hatte mich ganz der Wissenschaft verschrieben. Es war meine Berufung, Menschen mit den Mitteln der modernen Medizin zu helfen, sie zu heilen und mehr darüber zu erfahren, wie der menschliche Körper und das Gehirn arbeiten. Ich pries mich unermesslich glücklich, diese Berufung gefunden zu haben. Und was noch wichtiger war: Ich hatte eine schöne Frau und zwei wunderbare Kinder, und obwohl ich auf vielerlei Weise mit meiner Arbeit verheiratet war, kam meine Familie, die ich für den anderen großen Segen in meinem Leben hielt, nicht zu kurz. In mehrfacher Hinsicht war ich ein sehr glücklicher Mann, und das wusste ich auch.
Doch am 10. November 2008 – ich war damals 54 Jahre alt – schien mein Glück zu Ende zu gehen. Ich bekam eine seltene Krankheit und fiel sieben Tage lang ins Koma. In dieser Zeit war mein gesamter Neokortex – die Hirnrinde, also jener Teil des Gehirns, der uns zu Menschen macht – stillgelegt. Außer Betrieb. Im Prinzip nicht mehr vor handen.
Wenn Ihr Gehirn nicht mehr da ist, sind auch Sie nicht mehr da. Als Neurochirurg habe ich im Laufe der Jahre viele Geschichten von Menschen gehört, die Seltsames erlebt haben, in der Regel nach einem Herzstillstand; Geschichten von Reisen durch geheimnisvolle, wunderbare Landschaften, von Gesprächen mit verstorbenen Verwandten – sogar von Begegnungen mit Gott selbst.
Wunderbare Sachen, keine Frage. Aber meiner Meinung nach war all das reine Fantasie. Was rief die jenseitigen Erfahrungen hervor, von denen solche Leute so oft berichteten? Ich behauptete nicht, es zu wissen, aber was ich wusste, war, dass sie auf dem basieren, was sich im Gehirn abspielt. Und das gilt für das gesamte Bewusstsein. Wenn man kein funktionierendes Gehirn hat, kann man nicht bewusst sein.
Das liegt daran, dass das Gehirn die Maschine ist, die das Bewusstsein überhaupt erst erzeugt. Wenn diese Maschine ihre Funktion einstellt, kommt auch das Bewusstsein zum Erliegen. So ungemein kompliziert und mysteriös die tatsächliche Mechanik der im Gehirn ablaufenden Prozesse auch sein mag, im Prinzip ist es einfach: Wenn man den Stecker zieht, geht der Fernseher aus. Die Vorstellung ist zu Ende, wie sehr sie Ihnen auch gefallen haben mag.
So oder ähnlich hätte ich es Ihnen erklärt, bevor mein eigenes Gehirn abstürzte.
Während ich im Koma lag, arbeitete mein Gehirn nicht etwa unzureichend, es arbeitete überhaupt nicht. Mittlerweile glaube ich, dies könnte ein Grund für die Tiefe und Intensität des Nahtoderlebnisses gewesen sein, das ich hatte, während ich im Koma lag. Viele der Nahtoderlebnisse, von denen berichtet wird, passieren, während das Herz des Betreffenden für eine Weile stillsteht. In diesen Fällen ist der Neokortex zeitweise inaktiviert, nimmt aber in der Regel nicht zu viel Schaden, wenn der Durchfluss von sauerstoffreichem Blut durch Herz-Lungen-Reanimation oder Reaktivierung der Herzfunktion innerhalb von etwa vier Minuten wiederhergestellt wird. Aber in meinem Fall war der Neokortex vollständig ausgeschaltet. Ich machte Bekanntschaft mit der Realität einer Bewusstseinswelt, die völlig frei von den Beschränkungen meines physischen Gehirns existierte.
Ich erlebte regelrecht einen ganzen Ansturm von Nahtoderlebnissen. Als praktizierender Neurochirurg, der jahrzehntelang geforscht und praktisch im Operationssaal gearbeitet hat, bin ich in einer überdurchschnittlich guten Position, um nicht nur die Realität zu beurteilen, sondern auch die Tragweite dessen, was mir passiert ist.
Diese Tragweite ist so gewaltig, dass es sich nicht beschreiben lässt. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass der Tod des Körpers und des Gehirns nicht das Ende des Bewusstseins ist – dass die menschliche Erfahrung über das Grab hinausgeht. Und was noch wichtiger ist: Es dauert unter dem Blick eines Gottes fort, der jeden von uns liebt, der sich um uns alle kümmert und darum, wohin das Universum selbst und alle Wesen in ihm letztendlich gehen.
Der Ort, an den ich ging, war real. Real in einer Weise, die das Leben, das wir hier und jetzt führen, im Vergleich dazu wie einen Traum erscheinen lässt. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass ich das Leben, das ich jetzt führe, nicht zu schätzen weiß. In der Tat schätze ich es mehr als je zuvor. Ich schätze es, weil ich jetzt alles in seinem wahren Zusammenhang sehe.
Dieses Leben ist nicht sinnlos. Doch das können wir von hier aus nicht erkennen – zumindest meistens nicht. Was mir passierte, während ich im Koma lag, ist zweifellos die wichtigste Geschichte, die ich jemals erzählen werde. Aber es ist schwierig, diese Geschichte zu erzählen, weil sie dem üblichen Verständnis so fremd ist. Ich kann sie nicht einfach hinausposaunen. Gleichzeitig basieren meine Schlüsse auf einer medizinischen Analyse meiner Erfahrung und auf meiner Vertrautheit mit den neuesten Ansichten der Hirnforschung und der Bewusstseinsforschung. Nachdem ich die Wahrheit hinter meiner Reise erkannt hatte, wusste ich, dass ich darüber sprechen musste . Und das auf die richtige Weise zu machen ist zur wichtigsten Aufgabe meines Lebens geworden.
Das soll nicht heißen, dass ich meine medizinische Arbeit und mein Leben als Neurochirurg aufgegeben hätte. Aber nun, wo ich das Privileg hatte zu verstehen, dass unser Leben nicht mit dem Tod des Körpers oder des Gehirns endet, sehe ich es als meine Pflicht, als meine Berufung an, Menschen von dem zu erzählen, was ich jenseits des Körpers und jenseits dieser Erde gesehen habe. Es geht mir ganz besonders darum, meine Geschichte jenen Menschen zu erzählen, die früher vielleicht schon ähnliche Geschichten wie meine gehört haben und sie auch glauben wollten, es aber nicht ganz konnten. Diesen Menschen – vor allen anderen – widme ich dieses Buch und die Botschaft, die es enthält. Was ich Ihnen zu erzählen habe, ist mindestens so wichtig wie alles, was irgendjemand sonst Ihnen erzählen wird – und es ist wahr.
1eine krampfhafte Verengung von Gehirnarterien, Anm. d. Verlags
1
Der Schmerz
Lynchburg, Virginia, 10. November 2008
Ich schlug die Augen auf. In der Dunkelheit unseres Schlafzimmers konzentrierte ich mich auf die rotglühende Anzeige des Weckers: 4:30 Uhr – eine Stunde, bevor ich normalerweise aufstand, um mich auf die siebzigminütige Fahrt von unserem Haus in Lynchburg, Virginia, zu meinem Arbeitsplatz an der Focused Ultrasound Surgery Foundation in Charlottesville zu machen. Holley, meine Frau, schlief noch immer fest neben mir.
Nachdem ich fast zwanzig Jahre lang im Großraum Boston als Wissenschaftler in der Neurochirurgie gearbeitet hatte, war ich 2006 mit Holley und unserer Familie ins Hochland von Virginia gezogen. Holley und ich hatten uns im Oktober 1977 kennengelernt – zwei Jahre nachdem wir beide das College beendet hatten. Holley arbeitete auf einen Master in bildender Kunst hin, und ich war an der Medizinischen Hochschule. Sie hatte sich ein paar Mal mit Vic verabredet, meinem Zimmergenossen vom College. Eines Tages brachte er sie mit und stellte sie mir vor – vermutlich, um mit ihr anzugeben. Als sie wieder gingen, sagte ich Holley, sie könne jederzeit wiederkommen, und fügte hinzu, sie brauche sich nicht verpflichtet zu fühlen, Vic mitzubringen.
Als wir unser erstes richtiges Date hatten, fuhren wir zu einer Party nach Charlotte, North Carolina, zweieinhalb Stunden mit dem Auto hin und genauso lang wieder zurück. Holley hatte eine Kehlkopfentzündung. Ich musste also 99 Prozent zu dem beisteuern, was auf dieser Fahrt gesprochen wurde. Es war einfach.
Wir heirateten im Juni 1980 in der Bischofskirche zum Heiligen Thomas in Windsor, North Carolina, und zogen kurz darauf in die Royal Oaks Apartments in Durham, wo ich als Chirurg am Duke arbeitete. Unsere Wohnung war jedoch alles andere als königlich, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dort irgendwelche Eichen gesehen zu haben. Wir hatten sehr wenig Geld, aber wir waren beide so beschäftigt und so glücklich miteinander, dass es uns nichts ausmachte.
Eine unserer ersten Urlaubsreisen war eine Campingfahrt im Frühjahr an die Strände von North Carolina. Der Frühling ist die Stechmückensaison in Carolina, und unser Zelt bot nicht viel Schutz vor ihnen. Trotzdem hatten wir viel Spaß. Als ich eines Nachmittags vor Ocracoke in der Brandung schwamm, entwickelte ich eine Methode, die blauschaligen Krebse zu fangen, die um meine Füße huschten. Wir nahmen eine ganze Ladung mit ins Pony Island Motel, wo ein paar Freunde von uns untergebracht waren, und brieten die Krebse dort auf dem Grill. Es waren genug für alle. Trotz unserer Sparmaßnahmen dauerte es jedoch nicht lange, bis wir nur noch beunruhigend wenig Bargeld hatten. Wir wohnten bei unseren besten Freunden Bill und Patty Wilson und beschlossen aus einer Laune heraus, sie zu einer Bingo-Nacht zu begleiten. Bill ging seit zehn Jahren den ganzen Sommer lang jeden Donnerstag Bingo spielen und hatte noch nie gewonnen. Für Holley war es das erste Mal. Nennen Sie es Anfängerglück oder göttliches Eingreifen, jedenfalls gewann sie zweihundert Dollar, die sich für uns wie fünftausend Dollar anfühlten. Mit dem Geld konnten wir unsere Reise verlängern und sie erheblich entspannter genießen.
1980 machte ich meinen M. D., während Holley ihren Master machte und ihre Laufbahn als Künstlerin und Lehrerin begann. 1981 führte ich meine erste eigene Gehirnoperation am Duke durch. Unsere ältester Sohn, Eben IV., wurde 1987 im Princess Mary Maternity Hospital in Newcastle upon Tyne, Nordengland, geboren, als ich mich als Stipendiat auf der dortigen Station für zerebrovaskuläre Erkrankungen aufhielt, und unser jüngerer Sohn, Bond, wurde 1998 im Brigham & Women’s Hospital in Boston geboren.
Ich arbeitete fünfzehn Jahre lang an der Harvard Medical School und im Brigham & Women’s Hospital. Ich liebte meine Arbeit, und unserer Familie gefielen jene Jahre im Großraum Boston. Aber im Jahr 2005 fanden Holley und ich, es sei an der Zeit, in den Süden zurückzukehren. Wir wollten näher bei unseren Familien sein, und ich sah den Umzug als Chance, etwas selbstständiger zu werden, als ich es in Harvard gewesen war. Im Frühjahr 2006 fingen wir also in Lynchburg im Hochland von Virginia noch einmal ganz von vorn an. Es dauerte nicht lange, bis wir uns wieder an das entspanntere Leben gewöhnt hatten, das wir beide noch aus der Zeit kannten, als wir im Süden aufgewachsen waren.
Einen Moment lang lag ich nur da und versuchte herauszufinden, was mich aufgeweckt hatte. Der vorangegangene Tag, ein Sonntag, war sonnig, klar und ein wenig frisch gewesen – ein für Virginia klassisches Wetter im Spätherbst. Holley, Bond (damals zehn Jahre alt) und ich waren bei Nachbarn zum Grillen gewesen. Am Abend hatten wir mit unserem Sohn Eben IV. (damals zwanzig) telefoniert. Er studierte im ersten Semester an der University of Delaware. Der einzige Wermutstropfen an diesem Tag war der kleine Atemwegsinfekt gewesen, den Holley, Bond und ich schon seit einer Woche mit uns herumschleppten. Kurz bevor ich zu Bett gegangen war, hatte mein Rücken angefangen wehzutun. Also hatte ich schnell ein Bad genommen, was die Schmerzen zunächst vertrieben hatte. Ich fragte mich, ob ich so früh aufgewacht war, weil der Virus immer noch irgendwo in meinem Körper lauerte.
Ich veränderte meine Lage im Bett ein wenig. Da schoss eine Welle des Schmerzes meine Wirbelsäule entlang, sehr viel intensiver als am Abend zuvor. Ganz klar, der Grippevirus war weiter am Wirken, doch da war noch etwas. Je wacher ich wurde, desto schlimmer wurde der Schmerz. Weil ich nicht mehr einschlafen konnte und noch eine ganze Stunde hatte, bevor mein Arbeitstag begann, beschloss ich, erneut ein heißes Bad zu nehmen. Ich setzte mich im Bett auf, schwang die Füße auf den Boden und stand auf.
Augenblicklich nahm der Schmerz zu und erreichte eine neue Stufe – ein dumpfes, hartes Pochen, welches das untere Ende meiner Wirbelsäule durchdrang. Ich ließ Holley schlafen und tapste sachte den Gang hinunter zum Badezimmer im ersten Stock.
Ich drehte das Wasser auf und machte es mir in der Überzeugung, dass mir das warme Wasser sofort guttun würde, schon in der Badewanne bequem. Falsch. Spätestens als die Wanne halb voll war, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Die Schmerzen wurden nicht nur schlimmer, sondern so intensiv, dass ich fürchtete, Holley rufen zu müssen, damit sie mir aus der Wanne half.
Während ich noch darüber nachdachte, wie lächerlich die Situation war, langte ich nach oben und bekam ein Handtuch zu fassen, das direkt über mir hing. Ich zog das Tuch an den Rand des Trockengestells, um zu verhindern, dass dieses aus der Wand gerissen wurde. Dann zog ich mich sachte hoch.
Ein weiterer Schmerzschub durchzuckte meinen Rücken so heftig, dass ich nach Luft schnappen musste. Das war definitiv nicht die Grippe. Doch was konnte es sonst sein? Nachdem ich mich aus der glitschigen Wanne und in meinen roten Frottee-Bademantel gekämpft hatte, ging ich langsam zu unserem Schlafzimmer zurück und ließ mich aufs Bett fallen. Mein Körper war nass von kaltem Schweiß.
Holley bewegte sich und drehte sich zu mir. »Was ist los? Wie spät ist es?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Mein Rücken. Ich habe furchtbare Schmerzen.«
Holley begann, meinen Rücken zu massieren. Zu meiner Überraschung bewirkte dies, dass ich mich ein wenig besser fühlte. Ärzte können in der Regel nicht besonders gut damit umgehen, selbst krank zu sein. Ich bin da keine Ausnahme. Einen Moment lang war ich fest davon überzeugt, dass der Schmerz – und was auch immer ihn verursacht hatte – jetzt endlich verschwinden würde. Aber um 6.30 Uhr, als ich eigentlich das Haus verlassen und mich auf den Weg zur Arbeit machen wollte, litt ich immer noch Höllenqualen und war praktisch wie gelähmt.
Um 7.30 Uhr kam Bond in unser Schlafzimmer und wollte wissen, warum ich immer noch zu Hause war. »Was ist los?«
»Dein Vater fühlt sich nicht wohl, Süßer«, sagte Holley.
Ich lag auf dem Bett, den Kopf auf ein Kissen gelagert. Bond kam zu mir, streckte die Hand aus und fing an, sanft meine Schläfen zu massieren.
Seine Berührung schickte etwas durch meinen Kopf, das sich wie ein Blitzschlag anfühlte; der schlimmste Schmerz, den ich jemals empfunden hatte. Ich schrie laut auf. Von meiner Reaktion überrascht, sprang Bond einen Schritt zurück.
»Alles in Ordnung«, sagte Holley zu Bond, wobei sie ganz klar das Gegenteil dachte. »Das kommt nicht von dir. Papa hat ganz schlimme Kopfschmerzen.« Dann hörte ich sie mehr zu sich selbst als zu mir sagen: »Ich sollte wohl besser einen Krankenwagen rufen.«
Wenn es etwas gibt, was Ärzte noch mehr hassen, als krank zu sein, dann ist es das, als Patient in der Notaufnahme zu liegen. Ich stellte mir vor, wie sich das Haus mit Rettungssanitätern füllte, die Flut von Routinefragen, die Fahrt zum Krankenhaus, den Papierkram … Und irgendwann, dachte ich, würde ich mich besser fühlen und bereuen, überhaupt einen Krankenwagen gerufen zu haben.
»Nein, es ist okay«, sagte ich. »Im Moment fühlt es sich zwar schlimm an, aber es wird gleich besser werden. Du solltest vielleicht Bond helfen, damit er rechtzeitig zur Schule kommt.«
»Eben, ich glaube wirklich …«
»Mir geht’s gleich wieder gut«, unterbrach ich sie, das Gesicht noch immer im Kissen vergraben und wie gelähmt vor Schmerz. »Ich meine es ernst, ruf bitte nicht den Krankenwagen. So schlecht geht es mir nicht. Es sind nur Muskelkrämpfe in der Lendengegend und Kopfschmerzen.«
Widerstrebend nahm Holley Bond mit nach unten und machte ihm Frühstück, bevor sie ihn die Straße hinauf zum Haus eines Freundes schickte, von wo aus die beiden zur Schule gefahren wurden. Als Bond zur Haustür ging, kam mir der Gedanke, dass ich ihn am Nachmittag vielleicht gar nicht mehr sehen würde, falls dies etwas Ernstes sein und ich doch im Krankenhaus landen sollte. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und krächzte: »Viel Spaß in der Schule, Bond.«
Als Holley wieder nach oben kam, um nach mir zu sehen, wurde ich gerade ohnmächtig. Sie dachte, ich sei eingenickt. Da sie mich ein wenig ausruhen lassen wollte, ging sie gleich wieder nach unten, wo sie einige meiner Kollegen anrief, um ihre Meinung darüber zu hören, was hier möglicherweise vor sich ging.
Zwei Stunden später hatte sie das Gefühl, mich lange genug schlafen gelassen zu haben, und kam wieder, um nach mir zu sehen. Als sie die Tür zu unserem Schlafzimmer aufstieß, sah sie mich genauso im Bett liegen wie zuvor. Doch als sie näher hinschaute, bemerkte sie, dass mein Körper nicht mehr so entspannt war wie vorher, sondern steif wie ein Brett. Sie schaltete das Licht an und sah, dass ich heftig zuckte. Mein Unterkiefer stand unnatürlich weit nach vorn, und meine Augen rollten nach innen.
»Eben, sag etwas!«, schrie Holley. Als ich nicht antwortete, wählte sie neun-eins-eins. Die Rettungssanitäter waren in weniger als zehn Minuten da. Sie luden mich schnell in den Krankenwagen und fuhren mich in die Notaufnahme des Allgemeinen Krankenhauses von Lynchburg.
Wäre ich bei Bewusstsein gewesen, hätte ich Holley genau erklären können, was ich durchmachte, als ich in jenen schrecklichen Momenten, in denen sie auf den Krankenwagen wartete, auf dem Bett lag: einen ausgeprägten Grand-mal-Anfall 2 , zweifellos hervorgerufen durch irgendeinen extrem schweren Schockzustand in meinem Gehirn. Aber natürlich war ich nicht in der Lage, irgendwelche Erklärungen abzugeben.
In den nächsten sieben Tagen war ich für Holley und den Rest meiner Familie nur noch als Körper präsent. Ich erinnere mich an nichts, was sich in jener Woche in dieser Welt abspielte. Daher mussten diese Teile der sich abspielenden Geschichte von anderen beigesteuert werden, denn ich war bewusstlos. Mein Verstand, mein Geist – wie immer Sie den wesentlichen, menschlichen Teil von mir auch nennen mögen – hatte sich verabschiedet.
2generalisierter epileptischer Krampfanfall, bei dem beide Gehirnhälften betroffen sind, Anm. d. Verlags