Das Buch
Keiner weiß mehr, wie es angefangen hat oder wo das Omega-Virus herkam. Aber seit seinem Ausbruch in Kalifornien ist die Welt nicht mehr dieselbe. Ab sofort kämpft jeder um sein nacktes Überleben. In San Francisco muss Pater Xavier Church mit ansehen, wie das Gesicht eines anderen Priesters vor seinen Augen von einer halb verwesten Nonne zerfleischt wird. In Berkeley sollte für die junge Skye Dennison mit dem ersten Semester eigentlich ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Doch noch während ihre Eltern sie in ihr Studentenwohnheim begleiten, werden sie von einer Horde Untoter angefallen. In Alameda sieht sich die Waffenexpertin Angie West zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer echten Herausforderung konfrontiert: Die hungrigen Zombies haben sie umzingelt, und jetzt können ihr nur noch ihre Treffsicherheit mit schweren Artilleriewaffen weiterhelfen. Pater Church, Skye und Angie – drei Schicksale unter Millionen, drei Menschen auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus der Hölle auf Erden …
Der Autor
John L. Campbell wurde in Chicago geboren und besuchte verschiedene Universitäten in North Carolina und New York. Seine Kurzgeschichten wurden bereits in zahlreichen Magazinen veröffentlicht, bevor er mit Omega Days seinen ersten Roman schrieb. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von New York.
www.twitter.com/HeyneFantasySF
JOHN L. CAMPBELL
OMEGA DAYS
Die letzten Tage
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Titel der Originalausgabe
OMEGA DAYS
Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe
Deutsche Erstausgabe 1/2016
Copyright © 2013, 2014 by John L. Campbell
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17508-5
V001
Für meine Jungs:
Harrison, Fletcher und Daniel
Und für Linda, wie immer
Schmutzige Sachen
1
San Francisco – The Tenderloin
Xavier Church saß auf einem ramponierten Secondhand-Sofa. Ein Fensterventilator pustete Abendluft in das winzige Wohnzimmer. Die Wohnung war klein, und das Mobiliar stammte aus Trödelläden, doch es war sauber. Von jeder Wand blickte Jesus herab, beim Abendmahl, im Garten Gethsemane und bei vielen anderen Gelegenheiten. Überall gab es Kruzifixe und Marienfiguren aus Keramik.
Er nahm einen Schluck Limonade und lauschte auf die Geräusche, die Mrs. Robles beim Herumwerkeln in der Küche machte. Ihm gegenüber stand auf einem Metalltisch ein stummer Fernseher aus den Achtzigern, der sein Spiegelbild in Grautönen anzeigte. Ein stattlicher Schwarzer Mitte vierzig mit kurz geschnittenem grauem Haar in einem schwarzen Anzug mit weißem Priesterkragen schaute ihn an. Der Kragen passte nicht recht zu seiner Boxerstatur und der hässlichen rosigen Narbe, die sein dunkelbraunes Gesicht spaltete. Sie ging von der linken Augenbraue aus, schlängelte sich an der Nase vorbei und über die Wange, dann bog sie zum Kinn ab. Sein gutes Aussehen war Vergangenheit. Damit war mit siebzehn Schluss gewesen, als LaRay Johns ihn vor einem 7-Eleven in Oakland in die Mangel genommen hatte.
Mrs. Robles kam ins Wohnzimmer. Mit beiden Händen hielt sie etwas, das in ein Geschirrhandtuch eingeschlagen war. Sie legte es behutsam vor dem Priester auf dem Couchtisch ab. Sie war zwar erst in den Dreißigern, wirkte aber zwanzig Jahre älter. Das harte Leben im Tenderloin-Viertel von San Francisco hatte sie ausgelaugt. Sie trug noch das Outfit der Reinigungsfirma, bei der sie beschäftigt war, einer ihrer drei Jobs.
»Das finde ich in seinem Zimmer, Padre«, sagte sie. Sie setzte sich auf eine Stuhlkante, verschränkte die Hände im Schoß und musterte ihn mit vom Weinen geröteten Augen.
Xavier lupfte das Geschirrtuch. Darunter kam ein schwarzer, kurzläufiger Revolver zum Vorschein. »Haben Sie ihn gefragt, woher er den hat?«
Mrs. Robles nickte. »Er mir nicht geantwortet. Beschimpft mich, sagt mir, soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Aber ich weiß, er das hat von den Jungs.«
Sie brauchte ihm nicht zu verraten, wen sie damit meinte. Das musste die 690K sein, die Latinogang, die das Viertel kontrollierte. 690 war die Hausnummer, wo ihr Gründungsmitglied – ein inzwischen seinerseits toter Gangster – angeblich den ersten Mord begangen hatte, in einem Apartmentgebäude, das seine Gefolgsleute in einen Schrein verwandelt hatten und in dem sich niemand zu wohnen traute. K stand für Killer. Sie waren ebenso skrupellos wie die MS-13 und träumten davon, es eines Tages an Größe und Bedeutung mit dieser berüchtigten Gang aufnehmen zu können. Jugendliche anzuwerben war ihre Spezialität, die wahllose Ermordung eines Unschuldigen ihr Initiationsritus. Xavier kannte sie gut.
»Ist er in letzter Zeit zur Schule gegangen?«
Mrs. Robles schüttelte den Kopf.
Xavier ließ das Tuch über die Pistole fallen. Seit Jahren leitete er das Jugendzentrum der Gemeinde und betreute die Familien der Innenstadt. In dieser Zeit hatte er eine Menge gelernt. Wenn eine Waffe ins Haus kam, war es meistens zu spät. Dieser Gedanke und der Pessimismus, der sich nach und nach in sein Leben eingeschlichen hatte, seine Wahrnehmung trübte und seinen Glauben an das Gute im Menschen aushöhlte, waren ihm zuwider. Er betete um Kraft, doch die Vorstellung, dass die Menschen freudig der Verdammnis entgegeneilten und sich gegenseitig leichtfertig ausnutzten und vernichteten, hatte in seinem Geist Wurzeln geschlagen. Seine eigene Schwäche und seine Unfähigkeit, sich gegen diese um sich greifende Haltung zu wehren, verachtete er am meisten.
Er lächelte Mrs. Robles gezwungen an. »Lassen Sie mich mit ihm reden.«
Sie erwiderte sein Lächeln, trat zu ihm, nahm seine Hände und drückte sie, dann ging sie hinaus. Xavier sah die Dankbarkeit in ihren Augen, den Glauben, dass er ihrem Sohn tatsächlich helfen könne, und kam sich vor wie ein Schwindler. Im Nebenzimmer wurde auf Spanisch geredet, die eine Stimme leise, die andere scharf und zornig. Dann kam ein vierzehnjähriger Junge in den Raum geschlurft, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen, geschubst von seiner Mutter. Er ließ sich dem Priester gegenüber in einen Sessel fallen, verschränkte die Arme und wich seinem Blick aus. Mrs. Robles stand in der Küchentür und glättete mit der Hand ihre Arbeitsschürze.
»Hey, Chico«, sprach Xavier ihn mit seinem Spitznamen an. »Ich hab dich eine ganze Weile nicht mehr im Zentrum gesehen. Hast du keine Lust mehr aufs Boxen?«
Ein Achselzucken.
»Du solltest Samstagabend kommen. Der Kampf kommt im Bezahlfernsehen, und wir bestellen Pizza und hängen ab.« Keine Antwort. »Deine Freunde vermissen dich.«
»Das sind nicht meine Freunde«, sagte Chico. »Nur ein Haufen Loser.«
»Dann hast du wohl neue Freunde, wie?«
Chico verschränkte die Arme noch fester, sah den Priester aber immer noch nicht an.
»Hast du die von denen?« Xavier zeigte auf das Tuch, unter dem sich die Waffe abzeichnete. »Willst du drüber reden?«
Der Junge sah auf den Tisch. »Eigentlich nicht.«
Xavier musterte den Jungen, einen mageren Halbwüchsigen, der dringend einen Haarschnitt nötig hatte und sich alle Mühe gab, sich einen Schnäuzer wachsen zu lassen. Er trug eine weite Jeans und ein langärmliges kariertes Flanellhemd, das bis zum Hals und zu den Handgelenken zugeknöpft war. Manche Dinge änderten sich nie. Der Priester bemerkte, dass der linke Ärmel am Ellbogen dunkelrot gefärbt war. »Was ist mit deinem Arm passiert?«
Ein weiteres Achselzucken.
»Krempel mal den Ärmel hoch, Chico.«
Der Junge zögerte, dann knöpfte er die Manschette auf, schob das Hemd über den Ellbogen hoch und zuckte zusammen. Sein Ellbogen war mit einem blutgetränkten Verband umwickelt. Seine Mutter schnappte nach Luft und bekreuzigte sich.
»Was ist passiert?«, fragte Xavier.
»Ich war auf dem Heimweg von der Schule.« Chico sah seine Mutter an und schürzte die Lippen. »Ich war in der Schule, das war nicht gelogen. Ich hab ’ne Abkürzung genommen, da ist ein Obdachloser über mich hergefallen. Das Arsch… der Typ hat mich gebissen.«
Xavier bemerkte, dass der Junge schwitzte. »Fahr mit mir zur Notaufnahme, Chico. Wir lassen das untersuchen, für alle Fälle …«
Die Wohnungstür sprang krachend auf. Holzsplitter flogen durch die Luft. Die Tür prallte gegen die Wand und zerschmetterte den Glasrahmen mit dem Jesus, der die Kinder segnete. Zwei Männer stürmten herein, beide nicht viel älter als Chico. Der Größere hatte einen kahlrasierten Schädel, der andere war eher untersetzt und hatte sich das Haar glatt zurückgekämmt. Beide hatten sich »690K« in kleinen schwarzen Lettern in den linken Augenwinkel tätowieren lassen, und beide hielten eine schwarze Automatikpistole auf Armeslänge vor sich, den Lauf zur Seite gerichtet.
Mrs. Robles schrie auf und näherte sich ihrem Sohn, doch der junge Mann mit dem zurückgekämmten Haar schlug sie mit der Pistole ins Gesicht und schleuderte sie zu Boden. Xavier sprang vom Sofa hoch, doch der Gangster zielte mit der Automatik auf ihn und rief: »Sitzenbleiben!«
Chico Robles fluchte und warf sich ihnen entgegen, doch der Kahle versetzte ihm einen Faustschlag gegen die Schläfe. Chico ging in die Knie. Der Kahle trat von hinten an den gestürzten Jungen heran, griff ihm ins Haar und riss seinen Kopf zurück. »Du kleiner Pisser!«, zischte er.
Chico schrie, als der Kahle an seinem Haar zerrte.
»Du solltest dich mit Chato treffen«, sagte er und deutete mit dem Kinn zu dem Mann mit dem zurückgekämmten Haar. »Ihm zeigen, wie du jemanden einmachst. Dass du Eier hast. Das war vor zwei Tagen.«
»Ich wollt’s machen, ehrlich!«, rief Chico.
»Ja, klar.« Ein weiteres Rucken am Kopf, ein weiterer Aufschrei. »Du hast es verschissen, wie eine bekackte Pussy.«
»Mach ihn alle, Perro!«, rief Chato, die Pistole auf den Priester gerichtet.
Perro drückte Chico die Waffe an den Hinterkopf. »Ich dulde keine Pussys in meinem Stall.«
Xavier hob die Hände. »Warte. Wart einen Moment, Perro, überleg es dir.«
Der Gangster musterte ihn und hob eine Braue. »Du Pisser, niemand hat dir erlaubt, mich beim Namen zu nennen.«
»Genau«, sagte Chato, trat einen Schritt näher und fuchtelte mit der Pistole herum.
»Er ist noch ein Junge, Mann«, sagte Xavier mit Blick auf Chatos Waffe. Die Mündung wirkte so groß, als könnte ein Zug daraus hervorkommen. »Ihr habt klar gemacht, dass er nicht für euch taugt. Wie wär’s, wenn ihr’s dabei belassen würdet?«
»Halten Sie den Mund, Padre«, knurrte Perro. Er schüttelte Chicos Kopf und neigte sich zum Ohr des Jungen vor. »Nach dir mach ich den Priester alle, und dann deine Mama. Aber vorher ficken wir sie noch.«
»Zeig’s ihm, Perro!«, rief Chato. »Mach ihn alle!«
Perro spannte den Hahn der Automatik. »Gute Nacht, Pussy.«
Eine allzu vertraute Wut kochte in dem Priester hoch, und Xavier tat nichts, um sie zu dämpfen. Seine Hand schoss vor, und er riss den Revolver unter dem Geschirrtuch hervor. Er legte ihn an und drückte zweimal ab. Chato wurde gegen die Wand geschleudert. Perro blickte überrascht hoch, schwenkte die Automatik zum Priester herum und feuerte, als Xavier den Revolver auf ihn richtete. Perros Waffe knallte ohrenbetäubend laut. Das weiße Mündungsfeuer blendete den Priester, während eine Kugel an seinem Ohr vorbeipfiff. Er betätigte den Abzug des Revolvers einmal, zweimal, dreimal, viermal, bis es klickte. Perro feuerte noch immer, und etwas Heißes streifte Xaviers Wange. Dann kippte der kahlköpfige Gangster nach hinten, stolperte über den Fernseher und ging inmitten von berstendem Glas und Plastik zu Boden.
Dann Stille, bis auf den Herzschlag in seinen Ohren. Xavier stand auf den Beinen, ohne dass er sich erinnern konnte, sich aufgerichtet zu haben, und der beißende Gestank von Kordit und der durchdringende Geruch von Blut brannten ihm in der Nase. Er hatte den Arm ausgestreckt und blinzelte; der heiße Revolver in seiner rechten Hand fühlte sich auf einmal sehr schwer an. Er ließ ihn fallen und blickte seine Hand an, während ihm etwas Warmes über Wange und Hals rann.
Chico kroch schreiend zu seiner Mutter, nahm sie in die Arme, streichelte ihr das Haar und versuchte, sie wachzurütteln. In der Türöffnung tauchten die verängstigten Gesichter der Nachbarn auf. Sie plapperten auf Spanisch, in der Ferne heulten Sirenen.
Father Xavier Church gaben die Beine nach, und er plumpste aufs Sofa. Er konnte nicht aufhören, seine Hand anzustarren.
Rote und blaue Lichter blitzten auf der Straße vor dem Wohnblock. Polizei- und Krankenwagen parkten Seite an Seite. Polizisten verwarnten die Schaulustigen. Der Krankenwagen mit Mrs. Robles und ihrem Sohn, der sich geweigert hatte, von ihrer Seite zu weichen, war bereits abgefahren. Bei der Eingangstreppe stand ein alter weißhaariger Mann, den Reißverschluss der Windjacke bis zum Priesterkragen geschlossen, neben zwei Polizisten, einem schwarzen Sergeant und einem hispanischen Lieutenant, die ihm soeben geschildert hatten, was geschehen war.
Der alte Mann war Monsignore Wellsley, der geistliche Vorsteher von Xaviers Gemeinde. Er blickte zu Xavier hinüber, der hinten in einer Ambulanz saß, während ihm ein Sanitäter das Gesicht verband, auf dem ein Streifschuss eine rote Furche hinterlassen hatte. »Und die Männer, auf die er geschossen hat?«, fragte er.
Der Sergeant deutete mit dem Daumen zum Wohngebäude. »Beide tot«, sagte er. »Den einen hat er in die Brust und am Hals getroffen. Der größere hat eine Kugel in die Stirn abgekriegt. Die anderen Schüsse sind danebengegangen.«
Der Lieutenant blickte den Sergeant an. »Danke für den Überblick, Tommy. Hochwürden, die beiden waren bekannte Bandenmitglieder, und wie es aussieht, wollten sie den Jungen hinrichten. Ihr Priester ist ihnen zuvorgekommen.«
Der Monsignore blickte Father Church an, der still dasaß und ins Leere sah. »Wie geht es jetzt weiter?«
Die Polizisten wechselten einen Blick. »Das ist ein ziemlich seltsamer Fall, Monsignore«, sagte der Lieutenant. »Es sieht nach Selbstverteidigung oder Verteidigung eines anderen aus. Aber ein Priester als Schütze ist neu für mich.«
»Wird man ihn anklagen?«
Der Lieutenant zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung, wie die DA damit umgehen wird, Hochwürden, aber ich möchte ihn heute wirklich nicht einbuchten. Im Moment kommen die wildesten Anrufe rein, und wir sind ziemlich beschäftigt. Ich würde ihn gern in Ihre Obhut übergeben, wenn das für Sie in Ordnung geht.«
Der Sergeant an seiner Seite nickte.
»Ich sehe keine Fluchtgefahr«, meinte der Lieutenant. »Wenn die Kirche heute Nacht die Verantwortung für ihn übernimmt und dafür sorgt, dass er morgen seine Aussage macht, sehe ich keinen Grund, weshalb er nicht mit Ihnen gehen sollte.«
Wellsley schüttelte beiden die Hand. »Danke, Lieutenant. Wir stehen jederzeit zu Ihrer Verfügung.«
Die Cops nickten und gingen eilig weg, um sich um andere Fälle zu kümmern. Der Monsignore ging zum Krankenwagen. Xavier schaute hoch und schüttelte den Kopf. Wellsley dankte dem Sanitäter, der meinte, die Verletzung sei nicht schwer und man solle sie mit Tylenol behandeln. Wellsley legte den Arm um den Priester und geleitete ihn zwischen den Ambulanzen hindurch.
»Lassen Sie uns nach Hause gehen, Xavier.«
Monsignore Wellsley hatte irgendwo Valium gefunden und befahl Xavier, eine Tablette zu nehmen und sich dann im Pfarrhaus schlafen zu legen. Xavier hatte wirre Träume von verwinkelten Fluren, auf denen geschossen und geschrien wurde, und mehrmals wachte er im Laufe der Nacht benommen und orientierungslos auf und meinte, draußen vor dem Fenster Hubschrauber und Schreie zu hören. Gleich darauf schlief er wieder ein.
Am Morgen erwachte er mit Kopfschmerzen. Gedämpftes Tageslicht sickerte durch die Vorhänge und tönte das kleine, schlicht eingerichtete Zimmer blassgelb. Die Erinnerungen an den Vorabend stürzten auf ihn ein, und er versuchte augenblicklich zu beten, so wie er es seit Ende zwanzig jeden Morgen tat, um Antworten zu finden und zu verstehen, was geschehen war. Um Vergebung zu bitten, wagte er nicht.
Er schaffte es nicht. Die Worte klangen falsch, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Gott sich von ihm abgewandt hatte. Und so saß Xavier über eine Stunde lang auf der Bettkante. Vor seinen schmerzenden Augen liefen immer wieder die Szenen aus der Wohnung ab. Er hörte die Schüsse, roch das Blut, sah die Spritzer auf der Tapete und die Blutlache, die in den billigen Teppich einsickerte. Er spürte, dass er von einer Klippe gesprungen war und ihm die Umkehr verwehrt war.
Damit ging die Erkenntnis einher, dass er kein Priester mehr war. Er erwartete, eine große Leere zu spüren, deren Raum bislang Glaube und Gelübde eingenommen hatten, doch dem war nicht so. Das war noch erschreckender, denn es deutete darauf hin, dass er schon vor langer Zeit vom Glauben abgefallen war, und er fragte sich, ob er überhaupt jemals gläubig gewesen war.
Xavier zog Jeans und Turnschuhe an, dann streifte er das schwarze Sweatshirt mit dem verblassten Aufdruck St. Joseph’s Boxing über. Den meisten Männern wäre es zu weit gewesen, doch bei Xavier vermochte es das V der breiten Schultern, des Rückens und der muskulösen Brust nicht zu verbergen. Er trat auf den Flur und ging ins Bad. Aus dem Spiegel schauten ihn blutunterlaufene Augen und ein Gesicht an, das über Nacht stark gealtert schien. Drei Tylenol später ging er nach unten.
Im Pfarrhaus war es still. Anscheinend war er allein. Nicht einmal die Sekretärin befand sich auf ihrem üblichen Posten nahe der Eingangstür. Auf dem Esstisch lag eine Nachricht des Monsignores, der ihn bat, im Haus zu bleiben und so lange, bis er den Bischof und die Erzdiözese konsultiert hatte, nicht ins Internet oder ans Telefon zu gehen.
Das Hubschraubergeräusch veranlasste ihn, an die Decke zu blicken. Es erinnerte ihn an seine Träume. Er ging in die Küche, wo Father Frye am Waschbecken stand und aus dem Fenster sah. Es duftete nach Kaffee, und er schenkte sich eine Tasse ein. Frye, ein Mann in den Achtzigern, wandte den Blick nicht vom Fenster ab.
»Wo sind sie alle hin?«, fragte Xavier, gab ein Tütchen Süßstoff in den Kaffee und rührte um.
Der alte Mann schwenkte die Hand. »Irgendein Notfall. Sind gestern Abend weg.« Frye war so gut wie im Ruhestand und zu alt, um noch viel nach draußen zu gehen.
»Was für ein Notfall?«
Eine Sirene heulte in der Ferne, und der alte Mann zuckte mit den Achseln. »Weiß ich nicht. Hab die Fernbedienung für den Fernseher nicht gefunden und bin zu alt, um mit dem Scheißding klarzukommen.«
Xavier lächelte in seinen Kaffee hinein und schaltete den kleinen Flachfernseher ein, der in der Ecke der Küche an der Wand montiert war. Die Lautstärke war heruntergedreht. Ein Reporter sagte etwas in die Kamera und deutete auf einen Panzer im Hintergrund. Dann feuerte der Panzer lautlos, und der Reporter duckte sich, während die Kamera nach rechts ruckte. Einen Block entfernt strömte eine Menschenmenge auf die verqualmte Straße, die von brennenden Autos erhellt wurde. Xavier trat zu dem Alten an die Spüle. »Was beobachten Sie da?«
»Schwester Emily«, sagte Frye. »Glaub ich jedenfalls. Ich sehe nicht mehr so gut.«
Ein kleiner, von einer Mauer umgebener Garten trennte das Pfarrhaus vom Kloster der Barmherzigen Schwestern. Auf dem Rasen vor einem Blumenbeet stand eine kleine, gebeugte Frau im blassblauen Ordensgewand. Sie trug Gartenhandschuhe und wandte ihnen den Rücken zu. Neben ihr stand ein Korb, aus dem Schnittrosen herausschauten. Die Nonne ließ die Arme schlaff herabhängen und schwankte leicht vor und zurück.
Father Frye blinzelte. »Ich weiß nicht, ob sie betet oder tagträumt, aber so geht es schon eine ganze Weile. Herrgott, hoffentlich hatte sie keinen Schlaganfall.«
Xavier musterte die alte Nonne. Sie wirkte irgendwie seltsam. »Vielleicht …«
Es knallte ohrenbetäubend laut, und beide Männer fuhren zusammen, während hinter dem Kloster eine schwarze Qualmwolke emporstieg. Schwester Emily ruckte mit dem Kopf.
Beide Männer liefen zur Küchentür, hielten aber inne, als ihr Blick auf den stummgeschalteten Fernseher fiel. Eine zitternde Kamera zeigte eine Straße von San Francisco voller verkeilter Polizeiwagen und Militärfahrzeuge. Im Hintergrund brannte ein Straßenbahnwagen. Eine Menschenmenge bewegte sich auf eine kleine Gruppe von Cops und Nationalgardisten zu, die auf sie feuerten. Nur ein paar Personen brachen getroffen zusammen, die übrigen drängten weiter vor. Die Cops und die Soldaten zogen sich zurück, und am linken Rand des Bildschirms wurde ein einzelner Officer angegriffen. Er ging zu Boden, und die Angreifer fielen mit Händen und Zähnen über ihn her.
Xavier starrte ungläubig auf den Fernseher, und so entging ihm, dass Father Frye aus der Hintertür ins Freie trat. »Schwester Emily?«, rief der Mann. »Kommen Sie rein, meine Liebe.«
Der Priester riss den Blick vom Fernseher los und ging ebenfalls nach draußen. Father Frye näherte sich über den Rasen der Nonne. Schwester Emily drehte sich um, als sie ihn hörte, und Xavier sah, dass die Vorderseite ihres Gewands blutgetränkt war. Die eine Wange war fast abgerissen und baumelte an einem Hautlappen. »Allmächtiger«, flüsterte er.
»Schwester!« Frye lief auf sie zu, und sie griff nach ihm, als er sie erreichte. Sie knurrte, packte ihn bei den Armen und schlug die Zähne in sein Gesicht. Der alte Mann brüllte, als die Nonne ihn zu Boden riss und ihn erneut biss, diesmal in den Hals. Sie zerrte an seinen Armen, während er sich zu wehren versuchte.
Xavier rannte hinüber, packte Schwester Emily bei der Hüfte und zerrte sie weg. Ein Stück von Father Fryes Hals löste sich von ihren Zähnen, und sie fauchte und versuchte, sich in seiner Umklammerung herumzudrehen. Die alte Frau war in seinem kräftigen Griff nahezu gewichtslos, und er schleuderte sie von sich. Als sie aufprallte und über den Rasen rollte, brachen spröde Knochen. Der alte Mann lag auf dem Rücken, betastete seinen Hals und gurgelte, während sein Blut in die Morgenluft spritzte. Xavier ging zu ihm und kniete nieder, doch der Blutfluss versiegte bereits, und der Mann versteifte sich und starrte mit leerem Blick in den Himmel.
Hinter ihm ertönte ein Knurren. Xavier drehte sich um und sah, wie Schwester Emily sich aufrappelte und ihm entgegenstolperte. Eine Rippe schaute aus der Seite hervor, der Kopf hing schief an ihrem gebrochenen Hals. Ihre Augen waren getrübt, und sie kaute an einem Stück Haut, an dem noch ein Rest Schnurrbart zu erkennen war.
Als das Holztor hinter ihm schlug, drehte er sich um. Weitere Nonnen traten aus einem überwölbten Klosterportal auf den Hof, insgesamt ein halbes Dutzend, alle blutverschmiert und mit grauenhaften Verletzungen. Der einen fehlte ein Arm, einer anderen die Hälfte des Gesichts. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er sprang weg und entging mit knapper Not Schwester Emilys Zähnen. Die hinzugekommenen Nonnen stöhnten auf und näherten sich ihm.
Mit einem letzten Blick zum toten Frye lief Xavier zur Küchentür, schlug sie hinter sich zu und verriegelte den Knauf. Im nächsten Moment hatten die Nonnen die Tür erreicht, trommelten mit Fäusten und blutigen Händen dagegen, verschmierten ihr Blut auf dem Glas und fixierten ihn fauchend.
Xavier Church hatte schon Tote gesehen, in Krankenhäusern, nach Wohnungsbränden, Schüssen aus dem fahrenden Auto heraus und in der kleinen Wohnung einer armen Hispana und ihres Sohns. Er kannte den Tod, und obwohl es unmöglich war, sah er ihn nun auf der anderen Seite der Küchentür. Dieser irreale Moment wurde zum Wahnsinn gesteigert, als Father Frye hinter den Nonnen auftauchte. In der klaffenden Halswunde sah man den zerrissenen Kehlkopf, seine Augen waren getrübt. Frye stöhnte wie die anderen und drängte sich gegen die Tür.
Xavier wich in die Küche zurück, konnte den Blick aber nicht von den Menschen hinter der Glasscheibe abwenden – falls sie überhaupt noch Menschen waren. Der Fernseher zeigte Aufnahmen vom Roten Platz in Moskau. Aufgereihte Soldaten feuerten in eine Menschenmenge, die unerbittlich vorwärtsdrängte. Im Hintergrund brannte der Kreml.
Xavier Church wandte sich ab und lief in den vorderen Raum, wo der Schreibtisch der Sekretärin stand. Hinter ihm klirrte Glas, gefolgt von zornigem Fauchen. Er blickte zu den Haken, an denen normalerweise die Schlüssel der Dienstfahrzeuge hingen. Die Schlüssel waren alle verschwunden. Während hinten im Haus Holz barst, rannte Xavier auf die Straße, hinaus in eine Welt, die aus den Fugen geraten war.
2
Universität von Kalifornien, Berkeley
Es war der 13. August. In drei Tagen sollte das Herbstsemester beginnen. Der Morgenhimmel war strahlend blau, und trotz der frühen Stunde herrschte auf dem Campus der UC Berkeley bereits rege Betriebsamkeit, vor allem in den vielen Wohngebäuden, in denen sich fünfunddreißigtausend Studenten auf das neue Semester vorbereiteten. Vor Cunningham Hall, einem von Berkeleys neueren und höheren Wohnheimen, strömten Eltern und Studenten über Gehsteige und den Rasen, schleppten Kisten und Kartons, kleine Kühlschränke, Laptops und Koffer, wimmelten zwischen Parkplatz und Gebäude hin und her wie Arbeiterameisen. Familien ruhten sich unter den ausladenden Bäumen aus, aufgeregte Jugendliche schnatterten, und besorgte Eltern zogen ein tapferes Gesicht.
Skye Dennison war achtzehn, hübsch und konnte es kaum erwarten, dass ihre Eltern und ihre Schwester nach Reno, Nevada zurückfuhren. Das lag nicht etwa daran, dass ihr das Geplapper ihrer Mom, die ständigen Ermahnungen und Ratschläge ihres Dads und die endlosen Fragen der dreizehnjährigen Crystal auf die Nerven gegangen wären. Sie liebte sie alle, doch sie wollte endlich ihr eigenes Leben leben. Sie war jetzt erwachsen.
»Aber du kommst doch Weihnachten nach Hause, oder?« Crystal ging neben ihr, zog einen Rollkoffer hinter sich her und kaute, wie immer, wenn sie verunsichert war, auf der Unterlippe. Sie trug ein blau-gelbes T-Shirt mit Oski dem Bär, das Maskottchen Berkeleys, ein Geschenk ihrer großen Schwester.
»Aber natürlich«, sagte Skye. Sie war mit Shorts und einem Trägerhemd bekleidet, dessen tiefer Ausschnitt das Missfallen ihres Vaters erregte. Das lange blonde Haar hatte sie sich zum Pferdeschwanz gebunden und unter die Baseballkappe gesteckt. »Sei nicht dumm.« Sie schleppte einen Einkaufsbeutel mit dem Logo von Rubbermaid, gefüllt mit Schreibutensilien. Hinter ihnen beschwerte Dad sich vermutlich gerade brummelnd über »den ganzen Mist«, den sie für das Wohnheim benötigte, und bedauerte zum tausendsten Mal, dass er keine Sackkarre dabeihatte. Mom verdrehte wohl die Augen und sagte ihm, er solle es leicht nehmen.
»Wirst du dich nicht einsam fühlen?«
Skye wusste, dass Crystal damit sagen wollte, sie werde sich einsam fühlen, jetzt, da ihre Schwester als Freshman aufs College ging. Sie stupste das Mädchen mit dem Ellbogen an. »Du wirst mir fehlen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Aber wir werden skypen, und ehe du dichs versiehst, komme ich nach Hause. Du wirst kaum merken, dass ich weg bin, und in der Zwischenzeit brauchst du dich wenigstens nicht zu beklagen, dass ich das Badezimmer belege.«
Crystal zuckte mit den Achseln.
»Außerdem hast du genug zu tun. Auf die Highschool zu kommen, ist eine große Sache.«
Ihre Schwester zuckte abermals mit den Schultern, doch diesmal lächelte sie.
Sie stellten das Gepäck nicht weit vom Eingang von Cunningham Hall ab und fläzten sich ins Gras, um auf ihre Eltern zu warten. Beide holten ihr iPhone hervor. Skye schrieb eine SMS an ihre beste Freundin Kate, die sich in Rutgers verknallt hatte. Nach einer Weile bemerkte sie, dass ihre Schwester die Stirn gerunzelt hatte. »Was gibt’s, Rotznase?«
»Nenn mich nicht Rotznase.« Sie wandte den Blick nicht vom Display ab. »In San Francisco ist irgendwas passiert.«
»Was denn?«
»Weiß ich noch nicht. Feuer oder Unruhen oder sowas in der Art.«
Skye blickte in die Richtung, wo jenseits der Bucht die Stadt lag, konnte sie wegen der Campusgebäude aber nicht sehen. Federwölkchen trieben über den Himmel, und es war schwer zu glauben, dass an einem solchen Tag etwas Schlimmes geschehen könnte.
»Das ist eine große Stadt«, sagte sie. »Da passiert ständig was.« Kate erkundigte sich per SMS, ob die Jungs in Kalifornien so süß wären wie die in New Jersey. Ihr Daumen tanzte über die virtuelle Tastatur. Total. Noch süßer. Im nächsten Moment tauchten ihre Eltern auf, und ihr Vater setzte ächzend eine Truhe ab.
»Fast geschafft«, meinte Mom, setzte sich neben ihren Töchtern auf den Rasen und ließ sich mit übertriebenem Stöhnen auf den Rücken fallen. »Ihr Mädels müsst mich die Treppe hochtragen.« Alle lachten.
Dad schwang die Arme zurück wie ein Läufer-Ass beim Aufwärmen und atmete schnaufend mehrmals tief durch. »Okay, noch zwei Taschen«, sagte er. »Wollt ihr schon mal anfangen, die Sachen nach oben zu tragen? Ich bin gleich wieder da.«
»Sobald wir mit unserem Schläfchen fertig sind«, erwiderte Mom, womit sie ihre Mädels erneut zum Lachen brachte.
»Hat sich was mit Schläfchen.« Dad schüttelte die Faust und zwinkerte Skye zu. »Bin in einer Minute zurück.« Er ging zum Parkplatz.
Skye sah ihm nach, dann blickte sie ihre Mutter an, die mit Chrystal plauderte, und auf einmal hatte sie es gar nicht mehr so eilig, sich von ihnen zu verabschieden. Sie schob das iPhone in die Hüfttasche, beäugte den Haufen Zeug auf dem Rasen und überlegte, was sie als Erstes hochschleppen sollte. Sie blickte ihre Mom an, dann sah sie an ihr vorbei. Dad hatte den Parkplatz fast erreicht, als ein Mann in einem Krankenhemd zwischen zwei Autos hervorgetaumelt kam. Dad blieb stehen und streckte die Hand aus. Falls er etwas sagte, konnte sie es auf diese Entfernung nicht hören.
Der Mann im Krankenhemd torkelte auf ihren Dad zu, packte ihn beim Arm und biss ihn in die Schulter.
»Dad!«, rief Skye und sprang auf, während ihre Mutter und ihre Schwester erschrocken den Kopf wandten. Zu ihrer Rechten begannen Leute zu schreien. Auf dem Parkplatz warf der Krankenhauspatient ihren Dad zu Boden.
Skye rannte hinüber, ohne auf die Rufe ihrer Mutter zu hören. Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war oder welche Probleme er hatte, doch er tat ihrem Dad weh, und dafür wollte sie ihn in den Arsch treten. Dad bearbeitete den Verrückten mit den Fäusten, doch der hatte sein Gesicht an seinem Hals vergraben, und Skye sah, wie ihr Dad auf einmal die Fäuste öffnete und mit zitternden Fingern ins Leere griff.
»Daddy!« Skye hatte ihn erreicht und trat dem Wahnsinnigen mit aller Kraft in die Rippen. Er reagierte nicht einmal. Überall war Blut, und ein Bein ihres Vaters stand in einem merkwürdigen Winkel ab und zuckte auf übelkeitserregende Weise. Der Verrückte knurrte und zerrte mit den Zähnen am Hals ihres Vaters.
Sie trat ihn erneut, dann boxte sie ihn auf den Rücken. »Verschwinde! Hau ab! Hau ab!«
Hinter ihr schrie Crystal. Sie fuhr herum. Ihre kleine Schwester hatte die Hände auf die Ohren gelegt und brüllte, während zwei Personen ihre Mom zu Boden zerrten. Skye rannte zurück, als von rechts ein lärmendes Fahrzeug heranraste. Sie blieb stehen und sprang zurück, als der Wagen der Campuspolizei mit brüllendem Motor und gellender Sirene vorbeibretterte. Grassoden flogen durch die Luft. Der Wagen bremste scharf, die Reifen zogen Furchen durch den Rasen, und ein dickbäuchiger Cop mit gezogener Waffe sprang aus der Fahrertür.
»Helfen Sie ihnen!«, Skye zeigte auf ihre Mom und ihre Schwester. Der Cop aber lief zum Eingang von Cunningham Hall, wo sich Dutzende Studenten und Eltern drängten und sich bei dem Versuch, ins Gebäude zu gelangen, gegenseitig niedertrampelten. Hinter dem Mob warfen mehrere blutüberströmte Verletzte Nachzügler zu Boden.
Skye lief um das Heck des Streifenwagens herum, dann kam sie stolpernd zum Stehen, als ihr klar wurde, dass die Leute, die sich auf ihre Mutter geworfen hatten, an ihr fraßen. Ein Schrei kam aus ihrem Mund. Das Geballere der Pistole veranlasste sie weiterzugehen, und sie packte Crystal beim Arm.
»Lauf!«, schrie Skye.
Ohne die Antwort abzuwarten, zerrte sie ihre Schwester mit sich und rannte über den baumbestandenen Rasen, vorbei an einer Gruppe zähnefletschender Gestalten, die den wie ein Kind heulenden Cop zu Boden zerrten. Alle rannten umher und schrien.
Die, die nicht rannten, waren die Schlimmsten. Gebeugt und steif, das Fleisch in Fetzen, den Kopf verdreht, näherten sie sich stetig den Gruppen kauernder Menschen, Studenten, die in Eingängen hockten, und Eltern, die zwischen abgestellten Autos gefangen waren. Einige versuchten flehend, mit den Angreifern zu verhandeln, und Skye hörte das grauenhafte Geräusch, mit dem das Fleisch zerriss und Menschen zu Boden stürzten.
Skye lief, Crystals Arm fest umklammert, an aufgetürmten Koffern und Plastiktüten vorbei, wich den am Boden liegenden Menschen und den Dingern aus, die auf ihnen hockten und sie zerfetzten. Sie schlug die ausgestreckten Hände eines taumelnden Mannes in Hausmeisteruniform beiseite, zerrte Crystal an einer blutüberströmten Frau vorbei, die einen Halbwüchsigen gegen einen Baum gedrückt hatte und ihn zerfleischte. Der Junge brüllte. »Nein, Mom, nein!« Skye hatte keine Ahnung, was hier vorging. Sie wusste nur, dass sie nicht stehen bleiben durfte.
Ein Lautsprecher plärrte etwas, das sie nicht verstand, und links von ihr gellten Sirenen. Sie lief zwischen zwei Gebäuden hindurch und gelangte zu einer Rasenfläche, hinter der ein Parkplatz und weitere Gebäude lagen. Skye war bisher nur einmal auf dem Campus gewesen und kannte sich nicht besonders gut aus. Sie wandte sich nach links, zu den Sirenen. Aus allen Richtungen drang Geschrei heran, Menschen liefen hin und her, manchmal den schlurfenden Gestalten direkt in die Arme und vor die Zähne. Auf dem Parkplatz war eine Frau mit einem greinenden Säugling zwischen zwei Autos eingezwängt, während sich ihr von beiden Seiten blutige Gestalten näherten. Skye hätte beinahe angehalten, um ihr zu helfen, doch dann zerbrach zu ihrer Linken Glas.
Sie riss ihre Schwester zurück, und im nächsten Moment krachte vor ihnen ein Mensch auf den Gehsteig. Knochen knackten. Der junge Mann hob den zermatschten, an der Seite abgeflachten Kopf, fletschte die abgebrochenen Zähne und fauchte sie an. Mit den Armen zog er seinen zerschmetterten Körper über den Boden.
Crystal schrie, und Skye zerrte sie weiter über den Rasen. In einem offenen Eingang des gegenüberliegenden Gebäudes stand eine Frau in einem dunkelblau-goldfarbenen Trainingsanzug. Sie schaute nach rechts und links, dann winkte sie den beiden Mädchen zu. »Kommt schon! Beeilt euch!«
Sie liefen hinüber, und gleich darauf befanden sie sich in einem ebenerdigen Büro. Die Frau schloss die Tür, versperrte sie und schaute durchs kleine Fenster nach draußen. Im Raum gab es mehrere Schreibtische und einen langen Tisch mit Stühlen. An den Wänden hingen Weißwandtafeln und Anschlagbretter. Eine offene Tür führte auf den Flur.
»Danke«, keuchte Skye, doch die Frau an der Tür antwortete nicht, sondern murmelte bloß vor sich hin.
Crystal brach in Tränen aus und bebte am ganzen Leib. »Mommy.«
Skye zog sie an sich und begann ebenfalls zu weinen. Im Geiste sah sie ihre Mutter, die verschlungen wurde, das zuckende Bein ihres Vaters und alle möglichen anderen Grausamkeiten. Zitternd und schluchzend hielten sie einander umarmt. Auf dem Flur stöhnte jemand.
Die Frau im Trainingsanzug murmelte: »M-m-muss die P-p-polizei … Muss die …« Sie wich nicht von dem kleinen Fenster, schlang die Arme um den Oberkörper und drückte die Nase ans Glas, schaute nach links und nach rechts und wieder zurück. Skye bemerkte, dass ihre Hose an der Innenseite des Oberschenkels zerrissen war und die Frau in einer Blutlache stand. Sie und Crystal waren hindurchgelaufen; auf dem Fliesenboden zeichneten sich verwischte rote Fußspuren ab.
»Hey«, sagte Skye leise, »Sie sind verletzt. Sie sollten sich setzen.«
Crystal zerrte an ihrer Schwester. »Was ist eigentlich los? Wird Mommy wieder gesund?«
Skye zog sie an sich, drückte das Gesicht ihrer Schwester an ihre Schulter. Auf dem Flur wurde wieder gestöhnt, gefolgt von einem metallischen Geräusch, das Skye kannte. Es hörte sich an, als sei jemand gegen einen an der Wand angebrachten Feuerlöscher gestoßen. Das passierte auf der Highschool ständig, meistens dann, wenn die Schüler rannten oder Unsinn machten. Dann war ein Flüstern zu hören, doch es war ein feuchtes Flüstern.
»Ich m-m-muss …« Die Frau im Trainingsanzug beachtete weder die beiden Mädchen noch die sich ausbreitende Blutlache. Skye legte den Arm um Crystal, ging mit ihr zur Flurtür und spähte hindurch.
In drei Metern Entfernung torkelte ein Mädchen in Skyes Alter, bekleidet mit Jeans und einem Pullover mit dem Logo der San Francisco Giants, steifbeinig in ihre Richtung. Der eine Fuß war nach innen verdreht, der Kopf lag auf ihrer linken Schulter an. Mit der einen Hand kratzte sie an der Wand. Ihre eine Gesichtshälfte war eine einzige rote Wunde, ein Auge hing aus der Höhle, und ihr Bauch war aufgerissen. Gedärm quoll heraus und schleifte hinter ihr her, was das wispernde Geräusch zur Folge hatte.
Als das Mädchen sie sah, fletschte sie knurrend die Zähne und wurde schneller.
Crystal schrie auf, und Sky zerrte sie in den Raum zurück und verriegelte die Tür. In die obere Hälfte war ein mit Maschendraht verstärktes Fenster eingelassen, und darin tauchte das Mädchen auf. Sie drückte das entstellte Gesicht ans Glas und beschmierte es mit Blut. Mit einer Hand schlug sie gegen die Tür, ihr Mund ging auf und zu.
Sie wichen zurück. »Es kann nicht sein, dass sie immer noch am Leben ist«, sagte Crystal.
»Ich weiß«, sagte Skye. Sie kam sich vor wie in einem Film; das konnte einfach nicht real sein. Das tote Mädchen auf dem Flur schlug rhythmisch gegen die Tür.
Die Frau im Trainingsanzug gab ein »Oh!« von sich und sackte gegen den Eingang. In dieser Haltung verharrte sie einen Moment, dann fiel sie seitlich in die Blutlache. Sie war blass, und ihre Augenlider flatterten. »Oh«, machte sie wieder und sah an ihnen vorbei. Dann regte sie sich nicht mehr.
»Hallo?«, rief jemand auf dem Flur. »Kann mir jemand helfen?« Es war eine Mädchenstimme. Der Kopf der Toten ruckte herum, dann entfernte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Im nächsten Moment war ein Schrei zu hören, ein schrilles Heulen, das unvermittelt abbrach. Skye kniff die Augen zusammen und hielt ihre Schwester fest, wünschte sich zurück in ihr Zimmer, in das sichere kleine Haus in Reno, wo Mom und Dad in der Küche scherzten. Sie wünschte sich alles zurück, wünschte sich, dies wäre ein Albtraum, aus dem sie schreiend erwachen würde, um sich mit nervösem Lachen im Bett aufzusetzen.
Als sie die Augen aufschlug, schaute Crystal sie so hoffnungsvoll an, dass sie sich besann und den Hörer eines Telefons auf einem der Schreibtische abnahm. Alle verfügbaren Leitungen waren belegt. Daraufhin zog sie das Handy aus der Tasche und wählte die 911. Eine automatische Ansage informierte sie, dass alle Telefonisten im Gespräch seien und sie warten und nicht auflegen solle.
Während Skye erneut wählte, ging Crystal zur Flurtür und schaute durch die verschmierte Glasscheibe. »Ich sehe sie nicht mehr«, sagte sie.
»Das heißt nicht, dass sie nicht noch in der Nähe ist«, entgegnete Skye warnend. Die gleiche Ansage ertönte. »Mach die Tür nicht auf.«
»Ich bin doch nicht blöd.« Crystal schaute nach links und nach rechts.
Skye schüttelte das iPhone. Sie kannte keinen Menschen in Kalifornien, es gab niemanden, dem sie eine SMS hätte schreiben können. Sie überlegte, Mom oder Dad anzurufen, in der Hoffnung, dass … Sie tat es nicht, denn wenn sie die munteren aufgezeichneten Stimmen der Mailbox gehört hätte, wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen.
»Wird uns jemand hier rausholen?«, fragte Crystal. Sie hatte aufgehört zu weinen, jedenfalls vorübergehend, und darüber war Skye froh. Wenn Crystal weinte, würden auch ihr die Tränen kommen, und sie könnte nicht mehr klar denken. Sie waren von Tod umgeben, und das Töten ging weiter. Wenn sie aufhörte zu denken, würden sie beide enden wie die Frau im Trainingsanzug oder gar wie das Mädchen auf dem Flur.
»Wir müssen eine Zeit lang auf uns selber aufpassen, Rotznase. Wir müssen clever und leise sein, und wenn wir irgendwohin gehen, nehmen wir die Beine in die Hand. Verstanden?«
»Verstanden. Nenn mich nicht Rotznase.«
Skye lächelte sie an, dann widmete sie sich wieder ihrem iPhone und suchte nach einem Telefonbuch. Es gab ein halbes Dutzend Polizeistationen in der Gegend, und alle hatten eine andere Nummer als 911. Sie setzte sich auf die Tischkante und tippte auf dem Display herum.
In der Ferne heulte eine Sirene, und es knallten Schüsse wie Feuerwerkskörper. Das Geschrei ertönte nur noch sporadisch, und Skye wollte sich lieber nicht vorstellen, was das bedeuten mochte. Ein paar Minuten später hämmerte das tote Mädchen wieder gegen die Flurtür, auf ihrem Gesicht glänzte frisches Blut. Crystal hatte ihre anfängliche Angst bereits verloren – mit blutrünstigen Filmen und Videospielen aufgewachsen, war das Grauen für sie bereits alltäglich geworden – und beobachtete neugierig die abgehackten Bewegungen des Mädchens.
Skye fand die Nummer der Campuspolizei. Belegt. Sie rief bei der Highway Patrol, dem Büro des Sheriffs, der Polizeistation von Berkeley an, doch überall waren nur Variationen von »Bitte bleiben Sie dran« zu hören. Draußen wurde gehupt.
»Ich glaube, wir …«
Als Skye den Kopf hob, bemerkte sie, dass die Frau im Trainingsanzug mit glasigem Blick hinter ihrer Schwester stand. Ehe sie etwas sagen konnte, grub die Frau ihre Zähne in den Hals der Dreizehnjährigen. Crystal schrie auf, und die Frau packte sie und zerkratzte ihr mit den Fingernägeln die Wangen.
Skye stürzte zu ihr, rief den Namen ihrer Schwester, versetzte der Frau einen Faustschlag ins Gesicht und brach ihr die Nase. Die Frau fauchte, ließ vom Hals ab und biss Crystal in den Hinterkopf. Skye riss ihre Hände von ihrer Schwester weg und wich mit Crystal zur Wand zurück. Die Frau folgte ihr und stieß gegen den langen Tisch in der Mitte.
Crystal schrie, krümmte sich am Boden und hielt sich den Kopf und den Hals. Blut strömte zwischen ihren Fingern hervor; offenbar war die Schlagader verletzt. Skye stand über ihr und sah dem sich nähernden Wesen entgegen. Dann fiel ihr Blick auf einen Stifthalter, aus dem der schwarze Griff einer Schere ragte. Sie riss die Schere heraus und reckte sie der Frau entgegen.
Die Tote kam näher. Ihre Augen glitzerten, und Skye warf sich knurrend vor und stach zu. Die Spitze der Schere bohrte sich der Frau bis zum Griff ins Auge. Die Tote versteifte sich und brach zusammen, wobei Skye die Schere entglitt. Die Frau regte sich nicht mehr.
»Skye?« Crystal war blass geworden, ihre Stimme ganz leise, sie zitterte nicht mehr. Das T-Shirt mit Oski dem Bären war blutdurchtränkt, ihr Haar feucht und verklebt, die Augenlider hingen herab. Skye kniete neben ihr nieder und nahm sie in die Arme.
»Ist schon okay, Rotznase. Alles wird gut.« Tränen brannten ihr in den Augen.
Crystal lächelte sie an. »Nenn mich nicht Rotznase.« Dann starb sie.
Skye schrie immer wieder ihren Namen und wiegte schluchzend ihren erschlafften Körper. So verharrten sie eine Weile, und eine Schwester hielt den abkühlenden Leichnam der anderen Schwester in den Armen, während das tote Mädchen auf dem Flur gegen die Tür schlug.
Dann regte sich Crystal.
»Rotznase?« Skye wich zurück und musterte das erschlaffte, kreidebleiche Gesicht ihrer Schwester. Die trüben Augen folgten ihrer Bewegung, ein krächzender Laut kam aus Crystals Kehle. Dann warf sie sich nach vorn, schnappte mit den Zähnen zu und verfehlte nur knapp Skyes Hals.
Skye schrie auf und stieß sie weg, krabbelte rückwärts wie eine Krabbe, während ihre kleine Schwester ihr hinterherkroch. Die braunen Augen, die eben noch eine Heldin in ihr gesehen hatten, waren dunkel und böse geworden. An die Stelle von Wärme war raubtierhafte Gier getreten. Skye stieß gegen die Frau im Trainingsanzug und richtete sich mit einem gedehnten Klagelaut auf.
Crystal heulte zornig auf, als Skye den Riegel der Außentür zurückzog und die Tür aufriss. Dann rannte sie los. Dutzende entstellte Gestalten torkelten zwischen den Bäumen umher und kamen aus den Wohnheimen hervor, und sie wandten sich ihr mit einem anschwellenden, kollektiven Stöhnen zu. Skye lief noch schneller.
Vor ihr lag ein Parkplatz, und hinter der ersten Reihe abgestellter Wagen stand ein tarnfarbenes Fahrzeug, ein Humvee mit einer langen Antenne. Neben einem großen Maschinengewehr schaute ein Mann aus dem Inneren hervor. In der Nähe waren noch mehr Soldaten.
»Hilfe!« Sie lief auf das Fahrzeug zu. »Helfen Sie mir!«
Ein Soldat, ein junger Mann, bewaffnet mit einem Gewehr mit Zielfernrohr, fuhr herum und sah, dass sie ihm entgegengelaufen kam.
»Helfen Sie mir!«
Der Mann riss das Gewehr von der Schulter, zielte auf Skye und feuerte.