Über dieses Buch:
Indien, 1588: Als ihre Blicke sich das erste Mal begegnen, ist das Schicksal des Moghulreiches besiegelt ... Mehrunnisa, die Tochter eines Provinzadeligen, und Kronprinz Jahangir werden ihre schicksalhafte Begegnung auf dem Basar von Kabul nie vergessen – aber der Moghulkaiser verweigert der nicht standesgemäßen Verbindung seine Zustimmung. Gegen ihren Willen muss Mehrunnisa einen brutalen General des Herrschers heiraten. Unter den wachsamen Augen des Hofstaats versuchen die beiden Liebenden verzweifelt, trotzdem einen Weg zueinander zu finden, ohne dabei den Fallstricken der Palastpolitik zum Opfer zu fallen. Als die Situation bei Hofe sich zuspitzt und ein Bürgerkrieg auszubrechen droht, müssen Jahangir und Mehrunnisa sich entscheiden, wem sie wahre Treue schulden ...
Über die Autorin:
Indu Sundaresan ist eine indischstämmige Amerikanerin, die für ihre historischen Romane weltbekannt wurde. Nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre an der University of Delaware begann sie mit dem Schreiben. Ihr Werk wurde weltweit in 23 Sprachen übersetzt, heute lebt Indu Sundaresan mit ihrer Familie in Seattle.
Bei dotbooks veröffentlichte Indu Sundaresan bereits ihre historischen Romane »Die Kaiserin der Rosen« und »Die Tochter des Raja«.
***
eBook-Neuausgabe Juni 2021
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »The Twentieth Wife« bei Simon & Schuster, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Pfauenprinzessin« im Krüger Verlag.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2002 by Indu Sundaresan
First published by Pocket Book/Simon & Schuster, New York
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency
All Rights Reserved
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 Wolfgang Krüger Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Kzenon / ver0nicka / AlexAnton / Katika / Banana Republic Images / john bhullar
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)
ISBN 978-3-96655-628-6
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Pfauenprinzessin« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Indu Sundaresan
Die Pfauenprinzessin
Roman
Aus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol
dotbooks.
Heulend fuhr der Wind in die Zeltbahn am Eingang und riss sie an den Nähten beinahe entzwei. Ein Schwall eisiger Luft drängte herein, streckte arktische Finger in warme Nacken und verzehrte die spärlichen blauen Flämmchen des Feuers. Die Frau, die in einer Ecke auf der dünnen Baumwollmatte lag, schauderte. Schützend legte sie die Arme über den gewölbten Leib und stöhnte. »Ayah …«
Die Hebamme erhob sich gemächlich, wobei spröde Gelenke knackten, und humpelte zum Eingang. Sie befestigte die Zeltplane, trat an die Bettstatt, hob die Decke und lugte der Gebärenden zwischen die Beine. Die Frau zuckte zusammen, als schwielige, schmutzverkrustete Finger in sie hineinstießen.
Die Ayah wirkte zufrieden. »Jetzt dauert es nicht mehr lange.«
Das Feuer im Kohlenbecken in der Ecke flammte munter auf, als die Hebamme Luft in den glühenden Kameldung fächerte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lehnte sich die Frau zurück. Der Schweiß auf ihrer Stirn wurde kalt. Wenige Minuten später zog ihr die nächste Wehe ins Kreuz. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, denn sie wollte die Menschen draußen vor dem Zelt nicht beunruhigen. Auf den Gedanken, dass der heulende Sturm selbst den lautesten Schrei verschluckt hätte, kam sie nicht.
Draußen brach früh die Nacht über das Lager herein. Männer kauerten um ein blakendes, knackendes Feuer; der Wind pfiff ihnen um die Ohren, blies ihnen Sand in Augen und Kleidung und stach wie Nadeln auf ihren Gesichtern.
Am Rande der Wüste außerhalb von Kandahar standen ein paar verschlissene alte Zelte in einem engen Kreis. Kamele, Pferde und Schafe drängten sich rings um das Lager aneinander und suchten Wärme und Deckung vor dem Sturm.
Ghias Beg löste sich aus der Gruppe am Feuer, bahnte sich einen Weg durch die Tiere und stapfte zu dem Zelt, in dem seine Frau lag. Vor der flatternden schwarzen Zeltwand kauerten drei Kinder, kaum sichtbar im fliegenden Sand, die Arme umeinander gelegt, die Augen vor dem Sturm geschlossen. Ghias Beg berührte den ältesten Jungen an der Schulter. »Mohammed«, schrie er gegen den Lärm des Windes an. »Wie geht es deiner Mutter?«
Das Kind hob den Kopf und schaute mit Tränen in den Augen zum Vater auf. »Ich weiß nicht, Bapa.« Seine Stimme war leise und kaum zu hören; Ghias musste sich zu ihm hinabbeugen. Mohammed krallte sich mit der Hand an seine Schulter. »O Bapa, was soll nur aus uns werden?«
Ghias kniete nieder, zog Mohammed in die Arme und drückte ihm einen sanften Kuss auf den Haaransatz, wobei er mit dem Bart Sand aus Mohammeds Haaren schabte. Zum ersten Mal in der ganzen Zeit hatte der Junge Furcht gezeigt.
Über den Kopf seines Sohnes hinweg warf er seiner Tochter einen Blick zu. »Saliha, geh und sieh nach deiner Maji.«
Das kleine Mädchen erhob sich schweigend und schlüpfte ins Zelt.
Als sie eintrat, sah die Frau auf. Sie streckte eine Hand nach Saliha aus, die sofort an ihre Seite eilte.
»Bapa will wissen, wie es dir geht, Maji.«
Asmat Begam lächelte. »Ja, beta. Geh und sag Bapa, es dauert nicht mehr sehr lange. Sag ihm, er braucht sich keine Sorgen zu machen. Und du sei auch unbesorgt. Hörst du, beta?«
Saliha nickte und richtete sich auf, um zu gehen. Einem Impuls folgend, beugte sie sich noch einmal über ihre Mutter, nahm sie fest in den Arm und barg ihren Kopf an Asmats Schulter.
Die Hebamme schnalzte missbilligend mit der Zunge und kam aus ihrer Ecke. »Nein, nein, fass deine Mutter nicht an, kurz bevor das Kind zur Welt kommt, jetzt wird es ein Mädchen, weil du eins bist. Geh und nimm deinen bösen Blick mit.«
»Lass sie, Ayah«, protestierte Asmat schwach, als die Hebamme ihre Tochter nach draußen scheuchte, verstummte aber rasch, denn sie wollte nicht mit der Frau zanken.
Ghias hob eine Augenbraue, als er Saliha sah.
»Bald, Bapa.«
Er nickte und wandte sich ab. Nachdem er das Turbantuch über dem Gesicht festgesteckt hatte, kreuzte er die Arme über der Brust und entfernte sich vom Lager, in gebeugter Haltung gegen den heulenden Wind ankämpfend. Im Schutz eines großen Felsens ließ er sich schwerfällig zu Boden gleiten und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Warum hatte er es so weit kommen lassen?
Ghias’ Vater war Höfling des Schahs von Persien gewesen. Sowohl Ghias als auch sein älterer Bruder Mohammed hatten als Kinder eine gute Erziehung genossen. Sie waren von stetig anwachsendem Wohlstand umgeben und hatten eine glückliche Kindheit verlebt, während sie, bedingt durch die Aufgaben des Vaters, zuerst nach Khurasan, dann nach Yazd und schließlich nach Isfahan umgezogen waren, wo Mohammed Sharif im vergangenen Jahr, 1576, als Wesir von Isfahan starb. Wäre alles seinen normalen Gang gegangen, hätte Ghias sein sorgloses Leben als Adliger weitergeführt, hätte seine Schulden bei Schneidern und Weinhändlern alle zwei bis drei Monate mühelos getilgt und für die Ärmeren eine offene Hand gehabt. Doch es sollte nicht so sein.
Der alte Schah starb und Schah Ismail II. bestieg den Thron von Persien; das neue Regime war Ghias’ Familie nicht wohl gesinnt. Ebenso wenig wie die Schuldner, dachte Ghias und lief hinter den schützenden Händen rot an. Wie Pariahunde, die an einem Abfallhaufen schnüffeln, waren die Schuldner über den Haushalt seines Vaters hergefallen, hatten geübte Blicke über Möbel und Teppiche schweifen lassen. Auf Ghias’ Schreibtisch hatten sich Rechnungen gestapelt, die sowohl ihn als auch Asmat verwundert hatten. Die vakils – Beamte seines Vaters – hatten sich immer darum gekümmert. Doch die vakils waren verschwunden. Es war kein Geld da für die Schuldner, denn das Eigentum seines Vaters – Ghias’ Erbe – war nach dessen Tod an den Staat zurückgefallen.
Einer der Höflinge des Schahs, ein langjähriger Freund seines Vaters, setzte Ghias über sein Schicksal in Kenntnis: Tod oder Gefangenschaft im Schuldturm. Da wusste Ghias, dass er nicht länger als Ehrenmann in Persien leben konnte. Sein Kopf sank noch tiefer in die Hände, als er an ihre übereilte nächtliche Flucht dachte, ehe die Soldaten kamen, um ihn festzunehmen. Sie hatten Asmats Schmuck in ein Bündel gepackt, zusammen mit goldenen und silbernen Gefäßen und anderen Wertsachen, mit denen sie unterwegs handeln konnten.
Zu Anfang hatte Ghias keine Ahnung, wo er Zuflucht suchen sollte. Sie schlossen sich einer Karawane von Kaufleuten an, die nach Süden zogen, und unterwegs war immer wieder von Indien die Rede. Warum auch nicht, hatte Ghias gedacht. In Indien herrschte der Mogulkaiser Akbar, der als gerecht, freundlich und vor allem offen gegenüber gebildeten, gelehrsamen Männern galt. Vielleicht fände er eine Stellung bei Hofe und könnte so einen neuen Anfang machen.
Ghias hob den Kopf, denn der pfeifende Wind ließ einen Moment lang nach, und in der plötzlichen Stille war der schwache Schrei eines Neugeborenen zu hören. Sogleich wandte er sich nach Westen, Richtung Mekka, kniete auf dem harten Boden nieder und hob beide Hände. Allah, gib, dass das Kind gesund und die Mutter wohlauf ist, betete er still. Nach dem Gebet ließ er mutlos die Arme hängen. Noch ein Kind, jetzt, da er vom Pech verfolgt war. Er drehte sich zum Lager um, dessen schwarze Zelte im Sandsturm kaum zu erkennen waren. Er sollte zu Asmat gehen, zu seiner geliebten Frau, doch die Füße wollten ihm nicht gehorchen.
Ghias lehnte sich an den Felsen und schloss die Augen. Wer hätte gedacht, dass die Schwiegertochter des Wesirs von Isfahan in einer solchen Umgebung ihr viertes Kind zur Welt bringen würde? Oder dass dessen Sohn aus der Heimat fliehen müsste, ein Flüchtling vor dem Arm der Justiz? Schlimm genug, dass er seiner Familie Schande bereitet hatte, doch was danach während ihrer Reise geschah, war noch schlimmer gewesen.
Auf dem Weg nach Kandahar im Süden hatte die Karawane Daschte-Lut durchquert, die große Wüste Persiens. Die Ödnis war von eigenartiger Schönheit; meilenweit unfruchtbares Land, aus dem anscheinend wie aus dem Nichts großartige dunkelrosa Klippen aufstiegen. Doch auch diese Klippen waren trügerisch; sie hatten einer Gruppe Wüstenräuber als Versteck gedient, bis es für die vom Unglück verfolgte Karawane zu spät war.
Ghias schauderte und zog sich den rauen Wollumhang fester um die Schultern. Die Diebe waren unter schrillem Geschrei über sie hergefallen. Sie hatten fast nichts zurückgelassen; der Schmuck war verschwunden, ebenso die goldenen und silbernen Gefäße, und die Frauen waren an Ort und Stelle vergewaltigt worden. Asmat war nur deshalb davongekommen, weil sie hochschwanger war. Nach den Plünderungen löste sich die Karawane auf, da die Menschen auf der Suche nach einer Zuflucht in alle Richtungen flohen. Im Anschluss an das Gemetzel fand Ghias zwei alte Maultiere, auf denen sie abwechselnd nach Kandahar ritten. Unterwegs bettelten sie in den zahlreichen Karawansereien um Almosen.
Erschöpft und ungepflegt war die Familie nach Kandahar eingezogen, wo eine Gruppe afghanischer Nomaden ihnen Unterschlupf gewährte und gerade so viel Nahrung abgab, wie sie entbehren konnte. Doch Ghias hatte nur wenig Geld, selbst die Reise nach Indien schien unmöglich. Jetzt hatten sie auch noch ein weiteres Kind.
Nach ein paar Minuten erhob er sich und ging langsam auf das Zelt zu.
Asmat schaute von ihrem Bett auf. Ghias wurde das Herz schwer, als er die dunklen Ränder unter ihren Augen bemerkte. Sie lächelte ihm zu. Ihr Gesicht war unsagbar ausgemergelt, die Haut über den Wangenknochen war zum Zerreißen gespannt. Er streckte die Hand aus und strich ihr sanft das noch immer schweißverklebte Haar aus der Stirn. In Asmats Arm gebettet und in ein altes Tuch gewickelt lag ein kleines Kind.
»Unsere Tochter.« Asmat überreichte Ghias das Neugeborene.
Mit dem Kind auf den Armen überkam Ghias erneut Hilflosigkeit. Da lag es, gewaschen und gewickelt, ein winziges Kind, für dessen Überleben er zu sorgen hatte. Die Kleine war schön. Wohlgeformte Arme und Beine, dichtes, glänzendes schwarzes Haar und lange, gebogene schwarze Augenwimpern, die auf zarten Wangen ruhten.
»Hast du dir einen Namen für sie ausgedacht?«, fragte er seine Frau.
»Ja …«, antwortete Asmat und zögerte ein wenig. »Mehrunnisa.«
»Meh-ru-nnisa«, wiederholte Ghias langsam, »die Sonne unter den Frauen. Ein passender Name für dieses schöne Kind.« Er berührte die kleine Faust des Neugeborenen, die es im Schlaf unter dem Kinn zusammengerollt hatte. Dann reichte er Mehrunnisa wieder seiner Frau. Es war abzusehen, dass Asmat ihr Kind nicht selbst stillen konnte. Sie würde nur wenig Milch haben. Das hatten die langen Monate bewirkt, in denen sie dem Hungertod nahe waren. Woher sollten sie das Geld für eine Amme nehmen?
Ein Finger bohrte sich in seine Rippen. Die Hebamme hatte ihn angestoßen und streckte ihm die offene Handfläche entgegen.
»Tut mir Leid. Ich habe nichts, was ich dir geben könnte.«
Sie schaute missmutig drein und spuckte zähflüssigen brauen Tabaksaft auf den Boden. »Nichts«, murrte sie, als sie aus dem Zelt ging. »Auch ein Mädchen sollte wenigstens etwas wert sein.«
Ghias zog sich in eine Ecke zurück, rieb sich müde die Stirn und sah zu, wie ihre Kinder Mohammed Sharif, Abul Hasan und Saliha sich um ihre Mutter und das neugeborene Schwesterchen versammelten.
Sie konnten es sich nicht leisten, das Kind zu behalten. Sie mussten es weggeben.
Der Wind legte sich in der Nacht so plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Am klaren Himmel funkelten die Sterne wie Diamanten. Ghias stand am nächsten Morgen in aller Frühe auf, als es noch dunkel war. Er setzte sich vor sein Zelt. Ein Becher mit heißem chai, der mehr wässrige Milch als Teeblätter enthielt, wärmte ihm die Hände und den durchfrorenen Körper. Kurz darauf färbte sich der Himmel im Osten in prächtigen Rot-, Gold und Bernsteintönen. Nach dem Sturm hatte die Natur ein neues Farbgewand angelegt.
Er langte unter sein Schultertuch und zog die vier kostbaren Münzen hervor, die in seinem Kummerbund steckten. Die Morgensonne verwandelte die Goldmünzen in flüssiges Feuer, das sich auf seiner schmutzigen Hand entzündete. Das war alles, was ihnen an irdischen Gütern geblieben war. Die Diebe hatten die Münzen übersehen, die Asmat in ihrer choli versteckt hatte, und Ghias war entschlossen, mit diesem Geld die Weiterreise nach Indien zu bezahlen. Darüber hinaus würde das Gold aber nicht ausreichen, um zu überleben.
Ghias drehte sich um und warf einen Blick auf die türkisfarbenen Kuppeln und Minarette, die sich in der Ferne deutlich vor dem roten Morgenhimmel abhoben. Vielleicht fände er in Kandahar Arbeit. Ghias hatte in seinen dreiundzwanzig Lebensjahren noch keinen einzigen Tag gearbeitet. Doch Asmat brauchte Lammfleisch und Milch, um wieder zu Kräften zu kommen, die Kinder benötigten mehr Kleider, da der Winter kurz bevorstand, und das Neugeborene … Ghias wollte nicht an sie denken, sie in Gedanken nicht einmal beim Namen nennen. Was hatte es für einen Sinn, wenn sich doch ein anderer um sie kümmern würde? Er erhob sich, als die Sonne sich vom Horizont löste, am Himmel aufstieg und mit ihren goldenen Strahlen das Lager übergoss. Er hatte die Zähne zusammengebissen, und aus seinen Augen leuchtete der harte Glanz neuer Entschlossenheit.
Es war Nachmittag, als Ghias mit gebeugten Schultern vor einer Bäckerei in der schmalen Straße des örtlichen Basars stand. Die Falten seiner qaba schleiften über die gepflasterte Straße. Die Menschen liefen umher, rempelten ihn an, riefen ihren Freunden etwas zu und ließen lauthals Bekannte grüßen.
Ghias hob den Kopf und schaute mit leerem Blick in die Ferne. Zunächst hatte er sich um eine Stellung als Lehrer für die Kinder der wohlhabenden Adligen in der Stadt beworben. Doch beim Anblick seiner zerlumpten Kleider und seines schmutzigen Gesichts hatte man ihm die Tür gewiesen. Dann suchte er sich als Arbeiter zu verdingen, doch seine kultivierte Aussprache und seine Redeweise verrieten den Adligen in ihm.
Plötzlich stieg Ghias der köstliche Duft nach frischem nan in die Nase. Sein Magen knurrte eindringlich und erinnerte ihn daran, dass er nach dem Becher chai am Morgen nichts gegessen hatte. Er drehte sich um und sah zu, wie der Bäcker festen weißen Teig mit den Händen breit klopfte, mit einer Holzschaufel aufnahm und dann sorgfältig durch ein Loch im Boden an die Wände des glühend heißen Ofens in der Erde schlug. Eine Viertelstunde danach schälte der Bäcker das frisch gebackene Brot mit einer Eisenzange von den Ofenwänden. Er legte das helle, rostgoldene Brot auf einen Stapel neben dem Eingang.
Der Brotduft war eine Qual. Ghias zog eine Goldmünze hervor und sah sie an. Ehe er sich eines Besseren besinnen konnte, hatte er zehn Stück nan gekauft und mit dem Wechselgeld in einem Laden nebenan ein paar Spieße mit frisch gegrilltem Lammkebab, auf dem eine Marinade aus Limonen und Knoblauch glänzte.
Er steckte den wertvollen Schatz unter seine qaba und bahnte sich einen Weg durch den Basar. Das heiße nan wärmte seine Brust, bei den Düften lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Asmat und die Kinder würden für ein paar Tage zu essen haben, es war kalt, das Fleisch würde sich halten, und vielleicht würde sich ihr Schicksal wenden …
»He, Bauer! Pass doch auf!«
Ghias spürte einen Stoß, und die Pakete mit Fleisch und Brot fielen zu Boden. Eilig bückte er sich und breitete die Arme aus, ehe die Menschenmenge über das Essen trampelte.
»Verzeiht, Sahib«, sagte er über die Schulter.
Hinter ihm herrschte Schweigen. Ghias, der eifrig seine Essenspakete aufsammeln wollte, bemerkte zunächst nicht, dass der Kaufmann stehen geblieben war und ihn betrachtete. Er wandte sich zu dem Mann um und schaute in freundliche Augen in einem sonnenverbrannten, runzligen Gesicht. »Verzeiht«, wiederholte Ghias, »ich hoffe, ich habe Euch nicht verletzt.«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte der Kaufmann und musterte Ghias. »Wer seid Ihr?«
»Ghias Beg, Sohn des Wesirs von Isfahan«, antwortete Ghias. Als er dann die Überraschung auf dem Gesicht des Mannes sah, zeigte er wehmütig auf seine zerrissene qaba und die schmutzige Pumphose. »Die waren einmal glänzend und rein. Aber jetzt…«
»Was ist geschehen, Sahib?« Respekt klang aus den Worten des Kaufmanns.
Ghias betrachtete die Hände des Mannes, die von Arbeit zeugten, den Dolch, der in seinem Kummerbund steckte, seine abgetragenen, schweren Lederstiefel. »Wir waren unterwegs nach Kandahar, als man uns alle Habseligkeiten raubte«, erwiderte er. Vor Hunger konnte er kaum sprechen.
»Ihr seid fernab der Heimat.«
Ghias nickte. »Eine lange Geschichte. Eine Wendung des Schicksals, deshalb musste ich fliehen. Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe?«
»Malik Masud«, sagte der Kaufmann. »Erzählt mir Eure Geschichte, Sahib. Ich habe Zeit. Wollen wir uns in den chai-Laden setzen?«
Ghias schaute über die Straße auf den Laden, in dem ein Kessel mit kochender Milch und Gewürzen dampfte. »Ihr seid freundlich, Mirza Masud, doch ich kann Eure Gastfreundschaft nicht annehmen. Meine Familie wartet auf mich.«
Masud legte Ghias einen Arm um die Schultern und schob ihn auf den Laden zu. »Habt ein Nachsehen mit mir, Sahib. Bitte, tut mir den Gefallen, ich möchte Eure Geschichte hören.«
Noch immer zögernd, ließ Ghias sich zu dem Laden führen. Dort nahm er Schulter an Schulter mit den anderen Gästen Platz, legte sein kostbares Paket mit Lammkebab und nan sorgsam auf seinen Schoß und erzählte Masud alles, was geschehen war, auch über Mehrunnisas Geburt.
»Allah hat Euch gesegnet, Sahib«, sagte Masud und stellte seinen leeren Becher ab.
»Ja«, erwiderte Ghias. Tatsächlich war er gesegnet, auch wenn er gerade in einer schwierigen Lage steckte. Asmat, die Kinder, sie waren in der Tat ein Segen. Auch das Neugeborene …
Ghias erhob sich von der Bank. »Ich muss jetzt gehen. Die Kinder haben sicher Hunger. Habt Dank für den chai.«
Im Weggehen hörte er Masud sagen: »Ich bin unterwegs nach Indien. Würdet Ihr meine Karawane begleiten, Mirza Beg? Ich kann Euch nicht viel bieten, nur ein Zelt und ein Kamel, das Euer Hab und Gut trägt. Aber wir sind gut bewacht, und ich kann Euch versichern, dass Ihr auf der Reise in Sicherheit sein werdet.«
Ghias kam sofort zurück und setzte sich. Auf seinem Gesicht spiegelte sich die Überraschung, die er empfand. »Warum?«
Masud tat die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich werde dem Mogulkaiser Akbar in Fatehpur Sikri meine Aufwartung machen. Wenn Ihr mir bis dorthin folgt, kann ich Euch vielleicht bei Hofe vorstellen.«
Ghias starrte ihn an, konnte er doch kaum glauben, was er da gerade vernommen hatte. Nach so vielen Schwierigkeiten, nach all den Entbehrungen und der drohenden Verzweiflung, kam hier ein Geschenk Allahs. Aber er konnte dieses Angebot nicht einfach annehmen. Er hatte als Gegenleistung nichts zu bieten. Als Sohn eines Adligen, selbst ein Adliger, durfte er sich nie für die Freundlichkeit eines anderen in dessen Schuld begeben. Warum tat Masud das für ihn?
»Ich …«, stammelte er, »ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann nicht…«
Masud beugte sich über den verwitterten Holztisch des Ladens zu ihm hinüber. »Sagt ja, Sahib. Vielleicht könnt Ihr mir helfen, wenn es mir in Zukunft einmal schlecht geht.«
»Das werde ich, Mirza Masud, ohne zu zögern, selbst wenn Ihr das hier nicht für mich getan hättet. Aber es ist zu viel. Ich bin Euch für den Vorschlag zu Dank verpflichtet, doch ich kann ihn nicht annehmen.«
Masud strahlte. »Mirza Beg, das ist für mich nicht viel. Bitte, sagt zu. Ihr schenkt mir das Vergnügen Eurer Gesellschaft während der Reise. Es ist einsam, seit meine Söhne nicht mehr mit mir reisen.«
»Natürlich bin ich einverstanden«, erwiderte Ghias und schmunzelte über die Beharrlichkeit des Kaufmanns. »Alles, was ich als Dank anbieten kann, reicht nicht aus.«
Masud beschrieb Ghias, wie die Karawane zu finden war, und die beiden Männer trennten sich auf dem Basar. In den folgenden Stunden, während Asmat und die Kinder ihre armselige Habe zusammenpackten, saß Ghias draußen vor dem Zelt und dachte an die Begegnung mit Masud. Früher, vor langer Zeit, hatte Ghias’ Vater ihm einmal erzählt, dass ein Adliger ebenso großzügig Hilfe annimmt, wie er sie gewährt. Eingedenk der Worte seines Vaters – das einzige Vermächtnis, das er noch besaß – war Ghias bereit, Masuds Hilfe anzunehmen und sich später erkenntlich zu zeigen.
Sie verabschiedeten sich von den Nomaden, die ihnen Unterschlupf gewährt hatten. In einem Anfall von Leichtsinn schenkte Ghias den freundlichen, aber armen Nomaden großzügig seine letzten drei Goldmünzen. Sie hatten seine Familie bei sich aufgenommen, als kein anderer dazu bereit war, ihnen fühlte er sich zuerst verpflichtet, Masud würde er ein Leben lang dankbar sein. Er hatte das Geld aufgehoben, um damit die Reise nach Indien zu bezahlen, jetzt war es nicht mehr nötig. Sie machten sich auf den Weg zu Masuds Lager. Dort versorgte man sie mit einem guten Zelt und Mahlzeiten aus der Gemeinschaftsküche, bis es Asmat wieder gut genug ginge, dass sie in der Lage wäre, für die Familie zu kochen.
Die Karawane, insgesamt fast einen Kilometer lang und einer sich windenden Schlange gleich, brach nach Kabul auf. Im Laufe der folgenden Wochen kam Asmat allmählich zu Kräften, ihre Wangen nahmen Farbe an, und ihr langes Haar glänzte wieder. Die älteren Kinder waren gut genährt und zogen mal fröhlich neben der Karawane her, mal kletterten sie auf die Kamele, um sich auszuruhen. Doch nicht alles war gut. Ghias hatte noch immer kein Geld, um eine Amme zu bezahlen, und obwohl Mehrunnisa ein wenig Ziegenmilch trank, wurde sie von Tag zu Tag hinfälliger. Schlagartig fielen ihm die drei Goldmünzen ein; sie wären jetzt nützlich gewesen. Andererseits hatten die Nomaden trotz ihrer Armut seiner Familie geholfen … nein, die Entscheidung war die richtige gewesen. Als Asmat sich nach dem Geld erkundigte, hatte Ghias ihr mit fester Stimme genau das geantwortet, ohne einen Blick auf seine Tochter zu werfen.
Einen Monat nach Mehrunnisas Geburt, auf dem Weg von Kabul nach Osten, schlug die Karawane ihr Lager im Süden des Hindukusch auf. Der Tag ging zur Neige, der Himmel überzog sich mit Ockertönen. Die Farben des Landes wirkten gedämpft: der weiße Schnee stumpf, Felsen und Gestein schmierig blauschwarz, das absterbende Gras schmutzig braun. Langsam kroch die Kälte des Winters durch die Schichten aus Wolle und unter Baumwollumhänge. Jenseits des Lagers blinkten die Lichter eines Dorfes, das am Berghang klebte. Es war die letzte Ortschaft, durch die sie für die nächsten paar Wochen kommen würden. Noch weiter entfernt stieg der Weg in die Berge zum Khaiberpass hin an.
Ghias half Asmat, Zweige und trockene Aste für ein Feuer zu sammeln. Dann setzte er sich neben sie und sah zu, wie sie einen welken Kohlkopf und Karotten schälte, die sie zusammen mit einer Lammhaxe zu kurma verarbeitete. Ihre Hände waren in der Kälte rau geworden, die Knöchel standen weiß hervor. Mehrunnisa lag eingewickelt in ihrem Zelt. Mohammed, Abul und Saliha spielten mit den anderen Kindern in der Dämmerung. Von seinem Sitzplatz aus hörte Ghias ihre entzückten Schreie, als sie sich mit Schneebällen bewarfen.
»Sie werden kalt und nass«, sagte Asmat und schaute von ihrer Arbeit auf. Sie stellte einen gusseisernen Tiegel auf den provisorischen Herd: drei flache Steine, im Dreieck aufgestellt, die das Holzfeuer in der Mitte schützten.
»Lass sie ruhig«, sagte Ghias leise und beobachtete sie. Asmat schüttete ein wenig Öl aus einem irdenen Krug in den Tiegel, wartete, bis es heiß war, und fügte Kardamomschoten, ein paar Knoblauchzehen und ein Lorbeerblatt hinzu. Als Nächstes kamen die Lammfleischstücke, die sie kräftig anbriet und mit einem Holzlöffel umrührte.
»Wann hast du kochen gelernt?«, fragte Ghias.
Asmat lächelte und steckte sich eine lockige Strähne hinter das Ohr. Mit hochrotem, von der Hitze des Feuers glühendem Gesicht achtete sie genau auf das Fleisch. »Das habe ich nie gelernt, Ghias, und das weißt du auch. Ich habe meine Mahlzeiten immer vorgesetzt bekommen. Sie tauchten wie aus dem Nichts auf, als hätte man sie hergezaubert. Aber die Frau im Zelt nebenan hat mir dieses kurma beigebracht.« Sie wandte ihm ihr besorgtes Gesicht zu. »Bist du es leid? Ich kann noch ein anderes Rezept lernen.«
Ghias schüttelte den Kopf. »Nein, leid bin ich es nicht. Obwohl wir es seit einem Monat jeden Abend essen«, fügte er mit verschmitztem Lächeln hinzu.
»Zweiundzwanzig Tage«, sagte Asmat. Sie gab das Gemüse zum Fleisch und goss Wasser in den Tiegel. Hinzu kamen ein paar Prisen Steinsalz aus einem Leinensack, eine Spur Knoblauchpulver, gemahlener Chili und Kardamom, dann deckte Asmat den Tiegel zu und lehnte sich zurück. Sie schaute zu Ghias auf. »Wenigstens lasse ich das kurma nicht mehr anbrennen.«
»Asmat, wir müssen etwas besprechen.«
Sie wandte sich von ihm ab und zog einen Kupfertopf hervor. Asmat tauchte die Hand in einen anderen Sack, gab fünf Hand voll Weizenmehl daraus in den Topf und begann, das Mehl mit Wasser und Öl zu einem Teig für chapatis zu kneten. »Ich muss mich um das Essen kümmern, Ghias.«
»Asmat…«, sagte er sanft, doch sie sah ihn nicht an. Ihr Rücken war steif, die Bewegungen ruckartig.
Mehrunnisa begann zu schreien. Asmat und Ghias drehten sich gleichzeitig zum Zelt um und warteten. Wieder schrie die Kleine, schwach und kraftlos. Dann wurde sie still, als hätte es sie zu viel Mühe gekostet. Asmat beugte sich wieder über den Teig und begann ihn wie besessen zu bearbeiten. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, sodass es den Blicken ihres Mannes entzogen war. Zuerst tropfte eine Träne in den Teig, dann die nächste. Asmat knetete sie hinein. Ghias stand auf und trat zu ihr. Er nahm sie in die Arme, und sie verkroch sich darin. So saßen sie eine Weile, Asmat lehnte sich an Ghias, die Hände noch im Mehl.
»Asmat«, sagte Ghias leise, »wir können es uns nicht leisten, Mehrunnisa zu behalten.«
»Ghias, bitte.« Asmat hob ihr Gesicht und schaute ihn an. »Ich will versuchen, sie zu stillen. Oder sie gewöhnt sich an die Ziegenmilch, oder wir suchen eine Amme für sie. Die Frauen haben gestern von einer Bäuerin gesprochen, die gerade ein Kind bekommen hat. Wir könnten sie fragen.«
Ghias senkte den Blick. »Womit sollen wir sie bezahlen? Ich kann Malik nicht um Geld bitten.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Er hat uns schon so viel gegeben. Nein«, das Herz tat ihm weh, als er weitersprach, »es ist besser für uns, sie am Straßenrand auszusetzen, damit sie jemand findet, jemand, der genug Mittel hat, für sie zu sorgen. Wir können es nicht mehr.«
»Du hättest das Geld behalten sollen …« Asmat entwand sich seiner Umarmung und begann zu schluchzen. Doch Ghias hatte Recht, er hatte immer Recht. Die Nomaden brauchten das Geld. Aber nun war es Asmat nicht mehr möglich, für das Kind zu sorgen, und die Tränen hörten nicht auf.
Ghias erhob sich, ließ seine Frau am Feuer zurück und trat ins Zelt. Er hatte lange darüber nachgedacht. Asmat konnte das Kind nicht stillen, denn ihr Milchfluss war versiegt, und jeder Schrei brach ihr das Herz, denn ihr Kind schrie nach Milch, und sie hatte keine mehr. Sie tauchten ein sauberes Tuch in Zuckerwasser und ließen Mehrunnisa daran saugen, doch das reichte nicht aus. Sie hatte beunruhigend rasch an Gewicht verloren und war jetzt viel kleiner als zu ihrer Geburt. Ghias war zutiefst beschämt, dass er nicht für seine Familie sorgen konnte, dass er es so weit hatte kommen lassen. Seine Entscheidung schmerzte ihn, doch nach seinem Dafürhalten musste es getan werden. Er konnte nicht zusehen, wie Mehrunnisa von Tag zu Tag schwächer wurde. Wenn er sie als Findelkind zurückließe, würde jemand anderes sie großziehen und sich um sie kümmern. Ghias wusste, dass es solche Fälle gab, in denen Menschen Kinder am Wegesrand aufgelesen und sie an Kindes statt in ihr Haus geholt hatten. Er nahm das Kind auf den Arm und griff nach einer Laterne. Mehrunnisa war wieder in den Schlaf gesunken, einen unruhigen, hungrigen Schlaf. Als er aus dem Zelt trat, sagte er zu Asmat: »Ich mache es lieber jetzt, solange sie schläft.«
Asmat rannen Tränen über die Wangen, und sie schaute ihm stumm nach, als er sich vom Lager entfernte. Am Rande der Ortschaft wickelte er das schlafende Kind in seinen Umhang und legte es am wichtigsten Zufahrtsweg unter einen Baum. Dann drehte er den Docht der Laterne hoch und stellte sie neben das Bündel. Bestimmt würde bald jemand das Kind entdecken, denn es war noch nicht dunkel, und auf der Straße waren noch viele Reisende unterwegs. Mit einem Gebet auf den Lippen drehte sich Ghias zur Ortschaft um, die sich den steilen Berghang hinaufzog. Ein scharfer Windstoß wehte den Rauch von Holzfeuern aus den Schornsteinen des Ortes herüber. Vielleicht jemand aus dem Dorf, bitte, Allah, jemand mit einem guten Herzen. Er schaute noch einmal auf sie hinab. Sie war so klein, so schmächtig; ihr Atem drückte den Stoff des Umhangs kaum ein.
Ghias wandte sich zum Gehen. In diesem Augenblick erklang ein leises Wimmern aus dem Bündel am Straßenrand. Er ging wieder zurück und streichelte mit einem Finger über die Wange des Kindes.
»Schlaf, meine Kostbare«, murmelte er auf Persisch. Die Kleine seufzte, besänftigt durch den Klang seiner Stimme und seine Berührung, und schlief wieder ein.
Mit einem letzten Blick auf Mehrunnisa ging Ghias rasch davon. Einmal nur, an einer Biegung, drehte er sich zu ihr um. Er zitterte jetzt in der Kälte. Das Licht der Laterne flackerte in der zunehmenden Dunkelheit; hoch ragte der Baum darüber auf, knorrige, winterkahle Äste ausstreckend. Mehrunnisa, in ein Bündel gewickelt, konnte er kaum noch erkennen.
Während die Dunkelheit herabsank, nahmen die Berge in Erwartung der Nacht violette Farbschattierungen an. Das Weiß des Schnees leuchtete kurz auf und wurde dann stumpf. Stille legte sich in sanften Falten über das Lager. Müdigkeit dämpfte die Stimmen, Holzstücke und Asche stoben in einem Funkenregen von den Lagerfeuern auf. Der Wind aus dem Norden nahm zu und pfiff durch die kahlen Bäume. Ein Musketenschuss hallte durch die Berge und klang in leisen Echos aus. Gerade als der letzte Laut verstummt war, erfüllte ein schrilles Jammern die Luft.
Die Gruppe der heimkehrenden Jäger blieb überrascht stehen, und Malik Masud bat mit erhobener Hand um Ruhe. Sie waren in der Nähe des Lagers, und im ersten Moment vernahmen sie nur das Knacken der Lagerfeuer. Dann hörten sie es wieder.
Masud wandte sich an einen seiner Männer. »Sieh nach, was es ist.«
Der Diener trat mit den Hacken in die Flanken des Pferdes und ritt auf die Schreie zu. Kurz darauf kam er zurück und hielt Mehrunnisa auf den Armen. »Ich habe ein kleines Kind gefunden, Sahib.«
Masud sah auf das brüllende Kind hinab. Es wirkte irgendwie vertraut. Und dann war er sich sicher, denn der Umhang, in den sie gewickelt war, gehörte Ghias Beg; er hatte ihn dem jungen Mann geschenkt.
Er runzelte die Stirn. Wie konnte Ghias ein so schönes Kind aussetzen? Während die Jäger ins Lager zurückkehrten, versank er ins Grübeln. Er dachte an seine erste Begegnung mit Ghias. Über den jungen Mann hatte er sich rasch ein Urteil gebildet, so wie er es ein Leben lang mit allen Männern gemacht hatte, und er hatte wie üblich richtig gelegen. Hinter der zerlumpten Kleidung und dem verschmutzten Gesicht erkannte Masud Intelligenz und Bildung. Zwei Eigenschaften, die der Mogulkaiser Akbar schätzte, das wusste er. Ghias hatte auch etwas Liebenswertes an sich, dachte Masud. Im vergangenen Monat hatten die beiden Männer fast jeden Abend ein paar Stunden miteinander verbracht; für Masud war es, als wäre sein ältester Sohn, der sich jetzt in Khurasan niedergelassen hatte, wieder bei ihm. Als die Jäger ins Lager kamen, stieg Masud vom Pferd und befahl einem Diener, Ghias zu ihm zu bringen.
Kurz darauf betrat Ghias Masuds Zelt.
»Setzt Euch, mein Freund«, bat Masud und fuhr fort: »Ich habe das Glück gehabt, ein ausgesetztes Kind hier in der Nähe zu finden. Sagt, hat Eure Gemahlin nicht gerade ein Kind zur Welt gebracht?«
»Ja, Masud.«
»Würdet Ihr sie dann bitten, dieses Kind für mich zu stillen?« Masud zeigte Mehrunnisa. Ghias schaute völlig überrascht auf seine Tochter, dann auf Masud. Der ältere Mann lächelte.
»Sie ist jetzt wie eine Tochter für mich«, sagte Masud, als er einen reich bestickten Beutel hervorzog und ihm ein paar Goldmünzen entnahm. »Bitte, nimm dies für ihren Unterhalt.«
»Aber …«, begann Ghias und streckte die Arme nach Mehrunnisa aus. Bei seiner Berührung wandte sie ihm den Blick zu.
Masud wischte seine Einwände mit einer Handbewegung weg. »Ich bestehe darauf. Ich kann Eure Familie nicht mit einem zusätzlichen Kind belasten, ohne dafür zu sorgen.«
Ghias beugte den Kopf. Nun stand er in einer weiteren Schuld, die er unmöglich abzutragen vermochte.
Asmat saß im Zelt, als Ghias mit Mehrunnisa hereinkam. Sie starrte auf das Bündel in seinen Armen, erkannte, dass es ihre Tochter war, und streckte instinktiv die Arme nach ihr aus. »Du hast sie zurückgebracht?«
»Es war Malik.«
Asmat drückte Mehrunnisa an sich. »Allah will, dass wir dieses Kind behalten, Ghias. Wir sind wirklich gesegnet.« Liebevoll lächelte sie auf das gurgelnde Kind hinab. »Aber wie …«
Schweigend zog Ghias die Goldmünzen hervor. Sie leuchteten matt im Laternenschein. »Allah will, dass wir dieses Kind behalten, Asmat«, sagte Ghias leise.
Am nächsten Tag erklärte sich eine Frau, die mit der Karawane reiste, dazu bereit, das Kind zusammen mit ihrem eigenen zu stillen. Die Karawane überquerte den Khaiberpass unversehrt und zog weiter nach Lahore. Von dort aus führte Malik Masud seine Karawane nach Fatehpur Sikri, wo Akbar Hof hielt. Fast sechs Monate nach dem Tag, an dem Mehrunnisa geboren wurde, traf die Karawane im Jahre 1578 in der Residenz von Fatehpur Sikri ein.
Ein paar Wochen danach, als Malik anlässlich des täglichen darbar dem Herrscher Akbar seine Aufwartung machen wollte, nahm er Ghias mit. Während die anderen Kinder auf der Straße spielten, wartete Asmat bei Malik in einem Innenhof auf ihren Mann. Sie hielt die sechs Monate alte Mehrunnisa in den Armen. Mehrunnisa brabbelte ins ernste Gesicht ihrer Mutter und gab sich die größte Mühe, sie zu einem Lächeln zu bewegen. Asmat, tief in Gedanken versunken, merkte es nicht. Sie fragte sich, ob sie am Ende ihrer langen, ermüdenden Reise angekommen waren. Ob sie Wurzeln schlagen und in diesem fremden Land überleben könnten. Ob Indien jetzt ihre Heimat wäre.
»Als meine Mutter kurz vor der Entbindung stand, schickte er (Akbar) sie ins Haus des Scheichs, auf dass ich dort geboren werde. Nach meiner Geburt gaben sie mir den Namen Sultan Salim, doch mein Vater nannte … mich nie Mohammed Salim oder Sultan Salim, sondern immer nur Shaiku Baba.«
A. Rogers und H. Beveridge, Übers. & Hg., Memoirs ofjahangir
Zu dieser Tageszeit waren die Straßen für gewöhnlich verlassen, doch heute schob sich eine dicht gedrängte Menschenmenge über den Moti-Basar. Geschickt manövrierten sich die Menschen an einer friedfertigen Kuh vorbei, die mitten auf der schmalen Straße ruhte und mit rhythmisch mahlenden Kiefern ihre morgendliche Mahlzeit aus Gras und Heu verdaute.
Ladenbesitzer priesen lauthals ihre Waren an. Sie saßen bequem vor ihren voll gestopften, würfelförmigen Läden, die direkt am Rand der mit Ziegelsteinen gepflasterten Straße standen. Ein paar Frauen, verschleiert hinter dünnem Musselin, beugten sich über das Geländer der geschnitzten Holzbalkone über den Läden. Ein Mann, der einen gezähmten Affen an der Leine führte, schaute zu ihnen auf, als sie ihm zuriefen: »Lass ihn tanzen!« Er verbeugte sich und stellte seine Spieldose auf den Boden. Sobald die Musik einsetzte, begann der Affe zu hüpfen. Er trug ein blaues Wams und einen mit Troddeln versehenen Fes auf dem Kopf. Nach der Vorführung klatschten die Frauen und warfen dem Mann silberne Münzen zu. Als er diese von der Straße aufgelesen hatte, verbeugte er sich noch einmal tief, gemeinsam mit dem Affen, und ging mit dem Tier davon. An der Straßenecke spielten Musikanten auf ihren Flöten und Trommeln; Menschen unterhielten sich ausgelassen mit Freunden und mussten brüllen, um sich in dem allgemeinen Lärm verständlich zu machen; Verkäufer boten limonengrüne Brause in gekühlten Messingkelchen an; Frauen feilschten laut und gut gelaunt.
Zwischen den beiden Häuserfronten und den Läden, die davor dicht an dicht die Hauptstraße des Basars säumten, ragten in der Ferne die Festungsmauern von Lahore in den Himmel. Sie trennten den Herrscherpalast und die Gärten von der Stadt.
Die Stadt feierte. Prinz Salim, Akbars ältester Sohn und rechtmäßiger Erbe, sollte in drei Tagen, am 13. Februar 1385, verheiratet werden. Salim war der Erste der drei königlichen Prinzen, der heiratete, und wenn die unzeitgemäße Hitze, der Staub und der Lärm auch unerträglich waren, die Menschen von Lahore ließen sich nicht davon abhalten, an diesem Tag zum Basar zu gehen.
In einem der inneren Höfe von Ghias Begs Haus herrschte Schweigen, unterbrochen nur von den fernen Klängen der Flöten auf dem Basar. Die Luft war still und vom Duft der Rosen und des Jasmins erfüllt. In einer Ecke sprudelte ein Springbrunnen und verspritzte Wassertropfen, die zischend auf dem heißen Steinpfad verdampften. Mitten im Hof breitete ein riesiger Pipalbaum seine mit dreieckigen Blättern dicht belaubten Äste aus.
Im kühlen Schatten des Pipalbaumes saßen fünf Kinder im Schneidersitz auf Jutematten, die Köpfe eifrig über ihre Tafeln gebeugt. Die Kreide in ihren Händen quietschte beim Schreiben über den glatten schwarzen Schiefer. Doch immer wieder hob ein Kind den Kopf, um der Musik in der Ferne zu lauschen. Nur ein Mädchen saß still da und schrieb den Text aus einem persischen Buch ab, das aufgeschlagen vor ihm lag.
Mehrunnisa verfolgte mit äußerst konzentrierter Miene die Bögen und Linien, wobei ihre Zungenspitze zwischen den Zahnreihen hervorlugte. Sie war fest entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen.
Neben ihr saßen ihre Brüder Mohammed und Abul sowie ihre Schwestern, Saliha und Khadija.
Eine Glocke läutete, und ihr Klang hallte im stillen Innenhof wider.
Sogleich sprangen die beiden Jungen auf und liefen ins Haus; kurz darauf folgten ihnen Saliha und Khadija. Nur Mehrunnisa blieb noch, vertieft in ihre Arbeit. Der mulla der Moschee, ihr Lehrer, klappte sein Buch zu, faltete die Hände im Schoß und betrachtete das Kind.
Asmat trat in den Hof und lächelte. Das war sicher ein gutes Zeichen. Nach so vielen Jahren voller Klagen und Wutanfälle und der Frage »Warum muss ich lernen?« und »Ich langweile mich, maji« hatte Mehrunnisa sich am Ende offenbar doch mit ihren Lektionen ausgesöhnt. Früher war sie stets die Erste gewesen, die losrannte, sobald die Glocke zur Mittagszeit läutete.
»Mehrunnisa, Zeit für das Mittagessen, beta«, rief Asmat.
Beim Klang der Stimme ihrer Mutter hob Mehrunnisa den Kopf. Azurblaue Augen schauten zu Asmat auf, und Grübchen bildeten sich, als Mehrunnisa lächelte und dabei ebenmäßige weiße Zähne zeigte mit einer Lücke vorn, wo ein zweiter Zahn noch wachsen musste. Sie erhob sich von der Matte, verneigte sich vor dem mulla und ging mit leicht schwingenden Röcken auf ihre Mutter zu.
Mehrunnisa betrachtete ihre Mutter. Maji war immer so ordentlich, hatte die Haare mit duftendem Kokosöl geglättet, sodass sie glänzten, und im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst.
»Hat dir der Unterricht heute Spaß gemacht, beta?«, fragte Asmat, als Mehrunnisa zu ihr kam und sanft ihren Arm berührte.
Mehrunnisa rümpfte die Nase. »Der mulla bringt mir nichts bei, was ich nicht schon weiß. Er selbst scheint nichts zu wissen.« Als Asmat die Stirn runzelte, fragte sie rasch: »Maji, wann gehen wir zum Königspalast?«
»Ich vermute, dein Bapa und ich müssen nächste Woche an den Hochzeitsfeierlichkeiten teilnehmen. Wir haben eine Einladung erhalten, Bapa wird am Hofe bei den Männern sein, ich bin in die zenana des Großmoguls gerufen worden.«
Sie traten ins Haus. Mehrunnisa ging langsamer, um sich den Schritten der Mutter anzupassen. Mit acht Jahren reichte sie Asmat bereits bis zu den Schultern und wurde rasch größer. Mit ihren bloßen Füßen glitten sie geräuschlos über sie die kalten Steine der Veranda.
»Wie sieht der Prinz aus, Maji?«, fragte Mehrunnisa und versuchte, nicht allzu neugierig zu klingen.
Asmat überlegte einen Augenblick lang. »Er sieht gut aus, bezaubernd.« Mit verhaltenem Lachen fügte sie hinzu: »Und vielleicht ein wenig launisch.«
»Werde ich ihn zu sehen bekommen?«
Asmat hob die Augenbrauen. »Woher dein plötzliches Interesse an Prinz Salim?«
»Nur so«, beeilte sich Mehrunnisa zu erwidern. »Eine Hochzeit bei Hofe – und wir nehmen daran teil. Wen heiratet er?«
»Du nimmst an den Feierlichkeiten nur teil, wenn du deine Aufgaben fertig hast. Ich werde mit dem mulla über deine Fortschritte sprechen.« Asmat lächelte ihre Tochter an. »Vielleicht will Khadija auch mitkommen?« Khadija und Manija waren zur Welt gekommen, als sie schon in Indien waren; Manija war noch zu klein für den Unterricht und noch nicht alt genug, um auszugehen.
»Vielleicht«, versetzte Mehrunnisa mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dabei rutschten ihre grünen Glasarmringe mit hellem Klirren über das Handgelenk bis an den Ellbogen. »Aber Khadija hat keine Ahnung von Anstand und Etikette bei Hofe.«
Asmat warf lachend den Kopf in den Nacken. »Aber du?«
»Gewiss.« Mehrunnisa nickte eifrig. Khadija war ein kleines Kind; sie konnte im Unterricht morgens keine zwanzig Minuten still sitzen. Alles lenkte sie ab, die Vögel in den Bäumen, die Eichhörnchen, die nach Nüssen kletterten, die Sonnenstrahlen, die durch die Pipalblätter drangen. Doch das brachte sie vom Thema ab. »Wen heiratet Prinz Salim, Maji?« fragte sie noch einmal.
»Prinzessin Man Bai, Tochter des Raja Bhagwan Das von Amber.«
»Heiraten Prinzen immer nur Prinzessinnen?«
»Nicht unbedingt, aber die meisten Ehen von Monarchen sind politisch bedingt. In diesem Fall möchte unser Mogul Akbar die Freundschaft mit dem Raja festigen, und Bhagwan Das seinerseits ist auch um engere Bindungen an das Reich bestrebt. Schließlich ist er jetzt ein Vasall des Herrschers.«
»Wie es wohl ist, einen Prinzen zu heiraten«, sagte Mehrunnisa mit träumerisch verklärtem Blick, »und Prinzessin zu sein …«
»Oder eine Padsha Begam, beta. Prinz Salim ist der rechtmäßige Thronerbe, wie du weißt, und seine Gemahlin, oder seine Gemahlinnen, werden alle Herrscherinnen sein.« Asmat belächelte die schwärmerische Miene ihrer Tochter. »Doch genug über die königliche Hochzeit.« Ihr Ausdruck wurde noch weicher, als sie Mehrunnisa über die Haare strich. »In ein paar Jahren wirst du uns verlassen und ins Haus deines Mannes ziehen. Dann werden wir über deine Hochzeit reden.«
Mehrunnisa warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu. Herrscherin von Indien! Wenn Bapa nach Hause kam, erzählte er, was er tagsüber erlebt hatte, kleine Geschichten über die Entscheidungen Akbars, über die Frauen in der zenana, die, hinter einem Wandschirm verborgen, beobachteten, was bei Hofe vor sich ging, schweigend zuweilen, doch dann ließ sich auch hin und wieder eine wohltönende Stimme mit einem Scherz oder einem Kommentar vernehmen. Der Mogulkaiser hörte immer auf sie, wandte stets den Kopf zu dem Wandschirm, um zu hören, was sie zu sagen hatten. Was für ein Segen, dem Harem des Herrschers anzugehören, bei Hofe zu sein. Wie gern wäre sie doch als Prinzessin zur Welt gekommen, dann würde sie einen Prinzen heiraten, vielleicht sogar Salim. Doch dann wären Asmat und Ghias nicht ihre Eltern. Bei dem Gedanken stockte ihr das Herz. Sie ließ ihre Hand in die der Mutter gleiten. Gemeinsam gingen sie zum Speisesaal.
Noch auf dem Weg dorthin zog Mehrunnisa an Asmats Arm und wiederholte: »Kann ich mit dir zu der Hochzeit gehen, Maji? Bitte!«
»Wir wollen sehen, was dein Bapa dazu zu sagen hat.«
Als sie den Raum betraten, schaute Abul auf, klopfte auf den Diwan neben sich und forderte Mehrunnisa auf: »Komm, setz dich hierher.«
Mehrunnisa schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und setzte sich. Abul hatte versprochen, an diesem Nachmittag mit ihr gilli-danda unter dem Pipalbaum zu spielen. Er konnte es viel besser als sie; er traf den gilli sechs- bis siebenmal, ehe er zu Boden fiel. Aber er war ja auch ein Junge und als sie einmal versucht hatte, ihm beizubringen, einen Knopf anzunähen, hatte er sich alle Finger mit der Nadel blutig gestochen. Wenigstens traf sie den gilli viermal hintereinander. Sie faltete die Hände und wartete, bis Bapa das Zeichen gab, dass die Mahlzeit beginnen konnte.
Die Diener hatten rote Satintücher auf den persischen Teppichen ausgebreitet. Jetzt kamen sie nacheinander herein und trugen dampfenden, mit Safran gewürzten pulauchai