Über dieses E-Book

Louisa Manu weiß aus Erfahrung, dass Leichen nie schön anzusehen sind – doch sie werden nicht hübscher, wenn jemand mit dem Auto drüberbrettert. Leider liegt ein ebensolcher Toter bei ihrer besten Freundin im Garten. Ariane springt kopfüber in die Mordermittlung und Lou bleibt nichts anderes übrig, als hinterherzuhechten. Dabei hat sie allerhand damit zu tun, die selbsterklärte Senioren-Partymaus Trudi im Zaum zu halten, die mit einer Menge Enthusiasmus Lous dreißigsten Geburtstag plant. Obwohl doch das Einzige, was Lou sich wünscht, ein Heiratsantrag von Rispo ist. Aber der ist vollauf mit dem Mordfall seiner Mutter beschäftigt und muss auf einmal aufpassen, nicht selbst unter die Räder zu kommen …

Impressum

Erstausgabe Juni 2021

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-748-9
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-853-0
Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-907-0

Covergestaltung: ARTC.ore Design
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © Ho Van Ty, © t_korop, © Mark Yuill, © jannoon028
Lektorat: Janina Klinck
Korrektorat: Katrin Gönnewig

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Kapitel 1

„Du fährst zu schnell, Josh.“

„Das passiert, wenn man schnell ankommen möchte, Lou.“

„Du fährst nie zu schnell!“, erinnerte ich ihn und sah beunruhigt auf den Zeiger des Tachometers, der langsam, aber sicher auf die siebzig zukroch – und wir befanden uns in der Kölner Innenstadt!

Josh hatte sich vor drei Wochen noch darüber beschwert, dass ich mit fünfzehn km/h durch eine Spielstraße gesaust war. Sobald ich so schnell rennen und ihm somit beweisen könne, dass es sich dabei um Schrittgeschwindigkeit handele, dürfe ich fünfzehn km/h fahren. Davor müsse ich mich wie jeder Normalsterbliche an die Verkehrsregeln halten.

Und jetzt plötzlich war er Herr Bleifuß, der bei Kirschgrün über die Ampel fuhr und seine Hupe so oft benutzte, wie sonst nur die vollen Kapazitäten seines Stimmvolumens?

Nein! Das war inakzeptabel und ein wenig beängstigend, wenn ich das bemerken durfte.

„Stell dich nicht so an, Lou“, gab Mo seinen Senf dazu, der es sich hinten auf der Rückbank gemütlich gemacht hatte. „Er ist kaum zwanzig drüber. Das ist nicht zu schnell. Das ist höflich gegenüber den Leuten hinter uns.“

Wütend drehte ich mich zu Joshs Bruder um. Reichte es nicht, dass er vor einer Viertelstunde Joshs Fast-Heiratsantrag kaputt gemacht hatte? Musste er jetzt auch noch falsche Verkehrswahrheiten verbreiten?

Mist zu erzählen, war normalerweise meine Aufgabe, und ich fühlte mich überhaupt nicht wohl mit dieser verkehrten Rollenaufteilung.

Gott, das hier war ein Desaster! Ich hatte keine hohen Anforderungen an diesen Abend gehabt. Alles, was ich mir gewünscht hatte, waren ein romantisches Candle-Light-Dinner und ein tränenreicher Heiratsantrag. Bekommen hatte ich ein halbes Glas Wein und Rispos Bruder, der wie wild an die Tür hämmerte und verkündete, er habe neue Informationen zum Mordfall ihrer Mutter!

Ich verstand ja, dass Josh unser Essen abgebrochen hatte und sofort ins Auto gesprungen war, um auf dem Präsidium den neuen Fährten nachzugehen, die Mo gefunden hatte. Die Sache war unglaublich wichtig für ihn. Seit dem Tod seiner Mutter vor mehr als fünfzehn Jahren suchte er vergeblich nach Hinweisen, die er bei seiner eigenen Fallrecherche möglicherweise übersehen hatte. Das änderte jedoch nichts daran, dass Mos Timing unfassbar schlecht gewesen war und ich ihm gerne mit einer schweren Taschenuhr gegen den Kopf geschlagen hätte.

Hätte er nicht fünf Minuten später schreien können, dass es einen zweiten Mord gegeben habe, der mit derselben Waffe begangen worden sei wie der an ihrer Mutter?

Das wäre sehr nett gewesen.

„Josh“, sagte ich freundlich und mit weicher Stimme. „Wenn du uns auf der Fahrt zum Präsidium umbringst, wirst du dich nie mit diesem Mordfall beschäftigen können, von dem Mo geredet hat. Würdest du also die Güte besitzen, deinen Fuß vom Gas zu nehmen – bevor ich ihn dir abhacke?“

Rispo seufzte schwer, doch tatsächlich wurde das Auto langsamer und an der nächsten Ampel hielt er sogar.

„Mo“, sagte er schroff. „Wo genau hast du die Infos über diesen zweiten Mord eigentlich her?“

„Ach, bin darüber gestolpert“, sagte sein Bruder vage und als ich mich stirnrunzelnd zu ihm umwandte, bemerkte ich, dass er konzentriert aus dem Fenster sah. Sein Gesichtsausdruck so unschuldig, wie eine in weiß gekleidete Nonne mit Baby auf dem Arm.

Ich kannte den Ausdruck. Ich hatte ihn erfunden!

„Wie?“, fragte Josh sofort scharf – auch er war mit dem Ausdruck vertraut. „Wie bist du darüber gestolpert? Einzelheiten zu Waffe und Tathergang sind nicht öffentlich zugänglich. Bitte sag mir, dass du dir nicht irgendwo widerrechtlich Zutritt verschaffen hast.“

„Ach … öffentlich, nicht öffentlich. Rechtlich, widerrechtlich. Moralisch, unmoralisch. Login-Daten zur Polizeidatenbank auf der Straße finden oder sie aus deinem Büro stehlen.“ Mo machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wieso muss man heutzutage alles in Kategorien einteilen?“

„Du hast die Polizeidatenbank gehackt?“, fragte ich ungläubig. „Mo! Das ist ein Verbrechen. Dafür kannst du ins Gefängnis wandern.“

„Du sitzt da in einem sehr zerbrechlichen Glashaus, Lou, auf das du keine Granaten werfen solltest“, bemerkte Mo trocken.

Ach, bitte! Meine illegalen Machenschaften beschränkten sich auf Beamtenbeleidigung, kleine, freundschaftliche Einbrüche sowie zeitweilige Erpressung. Aber ich tat nie etwas wirklich Schlimmes!

„Du hast dich mit meinem Namen eingeloggt?“, wollte Josh mit kühler Stimme wissen.

Dein Name ist auch mein Name, ich habe da nicht so das Problem gesehen“, erklärte Mo zögerlich.

Rispos Kiefer knackte, doch dann nickte er steif und sagte: „Okay. Was soll’s.“

Ich machte große Augen und sah ihn mit offenem Mund von der Seite her an. Wenn ich ungefragt auf sein Handydisplay linste, glich das einem Tötungsdelikt, aber wenn Mo sein Passwort stahl und die Polizeidatenbank hackte, dann war das okay?

„Wie hieß das Opfer?“, hakte Josh weiter nach und entweder bekam er nicht mit, dass ich versuchte, ihn mit meinen ungläubigen Blicken zur Vernunft zu zwingen oder er ignorierte es.

„Konstantin Rubens. Er wurde zweimal in den Rücken geschossen, Josh! Ein paar Stunden später hat ihn ein Passant in einer dunklen Gasse gefunden. Seine Habseligkeiten befanden sich in einem Mülleimer nicht weit entfernt. Ansonsten ist der Tatort so sauber wie deine Küchenanrichte. Keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren, keine sonstigen Hinweise. Gar nichts. Die Polizei tappt im Dunkeln und hat noch immer niemanden festgenommen. Genauso wie bei Mama! Er wurde mit derselben Waffe auf dieselbe Art und Weise umgebracht. Das kann kein Zufall sein. Es muss sich um denselben Täter handeln.“

„Ein Serienkiller, der im Rhythmus von fünfzehn Jahren zuschlägt?“, meinte Josh zweifelnd.

„Keine Ahnung, kann doch sein, oder?“, fragte Mo ungeduldig. „Gab schon verrücktere Dinge. Diesen Ausdruck auf Lous Gesicht zum Beispiel.“

Josh warf mir einen hastigen Seitenblick zu und schnaubte prompt. „Schraub deine Augen zurück in den Kopf, ich will sie nicht in meinem Fußraum herumkullern haben, Lou. Was würde bloß deine Mutter sagen, wenn sie dich jetzt so sehen könnte?“, fragte er kopfschüttelnd.

Oh, ich konnte ihre Stimme praktisch hören: Du bist fast dreißig und hast immer noch keinen Heiratsantrag von dem Mann bekommen, den du liebst? Louisa Josephine Manu, dein Uterus ist schon lange nicht mehr faltenfrei, du hältst dich besser ran!

Sie war einfach eine hochsensible Frau.

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich wirklich um denselben Täter handelt, Josh?“, murmelte ich ernst. „Der Mörder eurer Mutter könnte seine Waffe weggeworfen oder verkauft haben. Es wäre sogar klüger von ihm gewesen, sie loszuwerden!“

„Lou, es gibt zu viele Parallelen“, widersprach Mo hitzig. „Der Ort, die Art und Weise …“

„Jemanden in einer dunklen, einsamen Gasse in den Rücken zu schießen, ist weder eine innovative noch einzigartige Weise, jemanden umzubringen, Moritz!“, unterbrach ich ihn scharf. „Der Rücken ist sogar ein äußerst geeigneter Ort, um ein paar Kugeln zu versenken – denn er bietet die größte Angriffsfläche. Und jemanden in einer belebten Einkaufsstraße zu erschießen, wäre doch auch dämlich, oder nicht? Das ist beides kein Argument dafür, dass es sich um denselben Täter handelt. Es beweist lediglich, dass es den Mördern an Einfallsreichtum mangelt.“

„Sie hat recht, Mo“, sagte Josh schroff und zog sein Handy aus der Mittelkonsole. „Nichtsdestotrotz …“ Im nächsten Moment drückte er auf seinem Display herum und hielt sich das Telefon ans Ohr.

Moment. Was passierte hier gerade?

„Es ist verboten, am Steuer zu telefonieren, Josh!“, rief ich schockiert.

Rispo schnaubte. „Du hast dir vor ein paar Wochen während des Fahrens die Nägel lackiert, Lou! Du schminkst dich beim Fahren, du putzt dir die Zähne, du löst Sudokus … du machst andauernd so einen Mist.“

„Zweimal die Woche ist nicht andauernd!“, erwiderte ich verärgert – und das mit den Nägeln war eine Ausnahme gewesen, meine Finger steckten zu oft im Dreck, als dass sich hübscher Lack auf ihnen lohnte. „Aber ja, ich weiß. Ich bin verantwortungslos und du der regelverliebte Spielverderber. So kennen und lieben die Leute uns. Aber wenn du jetzt anfängst, das Gesetz nicht allzu ernst zu nehmen, dann verlieren wir unsere bezaubernde Dynamik!“

„Das hier ist eine Ausnahmesituation“, sagte Josh ungeduldig und sprach im nächsten Moment ins Telefon: „Marvin, tun Sie mir einen Gefallen: Suchen Sie alle Informationen zusammen, die Sie bezüglich des Mordes an Konstantin Rubens finden können. Liegt zwei Monate zurück. Ich bin in zehn Minuten da und will das Material auf dem Schreibtisch in meinem Büro vorfinden … Nun, Ihre Mutter wird mit dem Essen warten müssen.“ Eine Sekunde später legte er auf und konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn. Sein aufmerksames, düster dreinblickendes, grüblerisches Ich.

Okay, das war wirklich halb so wild gewesen. Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen.

Josh hatte recht. Es war eine Ausnahmesituation. Ich sollte etwas mehr Verständnis aufbringen. Die Rispos drehten alle etwas am Rad, wenn es um den Tod ihrer Mutter ging. Was nachvollziehbar war. Natürlich wollte Josh sich die Akte zu Konstantin Rubens Mord genauer ansehen. Natürlich wollte er sichergehen, dass kein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen bestand.

Ich würde dasselbe tun, wenn es um meine Familie ginge.

Herrgott, ich hatte bereits dasselbe getan, obwohl ich den Toten nicht gekannt hatte und keine Polizistin war.

Die restlichen zehn Minuten, die wir im Auto verbrachten, schwieg ich also. Ließ Josh und Mo weiter Vermutungen darüber anstellen, weshalb die Waffe, mit der ihre Mutter umgebracht worden war, erst jetzt wieder zum Einsatz gekommen war. Ob es einen Zusammenhang zwischen Konstantin Rubens und Frau Rispo gab? Ob die beiden sich gekannt hatten?

Erst als wir auf dem fast leeren Parkplatz des künstlerisch wenig wertvollen Betonklotzes hielten, der sich Polizeipräsidium schimpfte, sprach ich wieder.

„Was genau haben wir jetzt vor? Wir rollen den Mord von diesem zweiten Opfer neu auf … und hoffen, dass wir mehr Glück als die Beamten haben, die den Fall bisher bearbeitet haben?“

Rispo zog die Augenbrauen zusammen und stellte den Motor ab „Wir …“, murmelte er und starrte durch die Windschutzscheibe zum hell erleuchteten Eingang des Präsidiums. „Interessantes Wort.“

Ich seufzte schwer. „Wir haben uns noch vor einer halben Stunde darüber unterhalten, dass es okay für dich ist, wenn ich mich weiterhin in Mordfälle einmische, solange ich dir Bescheid gebe.“

Rispo lachte trocken auf und löste seinen Gurt. „Erstens: Ich habe sicherlich nicht gesagt, dass es okay für mich ist. Das ist deine freie Übersetzung. Zweitens: Nicht dieser Fall, Lou.“

Er schnallte sich ab und stieg aus.

„Er meint damit nur dich, richtig?“, hakte Mo unsicher nach, bevor er seinem Bruder hastig folgte. „Ich darf mitmachen, nicht wahr?“

Mit zusammengepressten Lippen öffnete ich ebenfalls meine Tür. Zu meiner Überraschung stand Josh noch immer beim Wagen. Ich hatte fest damit gerechnet, dass er bereits zum Präsidium vorgeprescht war und uns einfach zurückließ.

Doch stattdessen verschränkte er die Arme und sah zögerlich zwischen mir und Mo hin und her. Schließlich murmelte er: „Geh schon mal rein, Mo. Ich komm gleich. Ich will noch kurz mit Lou reden.“

Sein Bruder hob die Augenbrauen und blickte flüchtig zu mir hinüber, nickte dann jedoch und folgte Joshs Anweisung.

Wow. Mo musste wirklich durch den Wind sein. Er hörte sonst nie auf das, was Josh ihm sagte. Womöglich hatte er einfach zu große Angst, dass Josh es sich anders überlegte und ihn mit geöffnetem Fenster im Auto sitzen ließ. Das Schicksal, das mir vermutlich blühte.

Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, doch Josh kam mir zuvor.

„Lou, es tut mir leid“, murmelte er kopfschüttelnd und rieb sich übers Gesicht. „Ich habe mir den Abend etwas anders vorgestellt.“

Unfreiwillig musste ich lächeln. „Ach so. Mo, der an unsere Tür hämmert, war also nicht dein geplantes Unterhaltungsprogramm für unser romantisches Dinner?“

„Nein, nicht wirklich. Wenn ich mir schon die Mühe mache, ein paar Kerzen anzuzünden, will ich meine Brüder normalerweise nicht dabeihaben“, bemerkte er und zog eine Grimasse.

„Gut zu wissen.“

Er seufzte und fuhr sich durch die Haare. „Ich weiß, die Lasagne wird kalt, der Wein warm, und unsere Unterhaltung haben wir auch nicht zu Ende geführt … aber können wir das Ganze einfach verschieben? Ich muss mir angucken, ob an Mos Vermutung was dran ist.“

Ich nickte. „Natürlich. Das verstehe ich. Ich warte nur ungeduldig auf den Teil deiner Rede, in dem du mir erklärst, dass ich jetzt nach Hause gehen muss.“

Er verzog das Gesicht. „Kann ich den Teil nicht überspringen, wenn du schon weißt, dass er kommt?“

„Ich will helfen, Josh!“

„Ich weiß und ich werde dich helfen lassen.“

„Du … was?“ Perplex öffnete ich den Mund.

„Ich werde dich helfen lassen“, wiederholte er. „Ich werde dich darüber auf dem Laufenden halten, was Mo und ich herausfinden. Dir sagen, ob die beiden Morde zusammenhängen. Dich mitnehmen, falls ich Zeugen befrage, bei denen ich glaube, dass sie ein … nun, freundliches Gesicht brauchen.“

Ich verengte die Augen. „Aber?“

„Aber heute Abend brauche ich Ruhe. Heute Abend möchte ich keine Fragen beantworten und mir keine Sorgen machen müssen. Ich weiß alles über den Fall meiner Mutter, Lou. Mo ebenso. Du hingegen hast keine Ahnung.“ Er holte tief Luft. „Lass mich heute einfach nur gucken, ob die beiden Morde miteinander zusammenhängen. Vielleicht ist das alles nur ein falscher Alarm und ich muss dich nicht in meine dreckige Familiengeschichte mit reinziehen. Wenn nicht …“ Er zögerte. „Nun, dann kannst du immer noch mit rotem Cape und einer Menge verrückter Ideen um die Ecke kommen.“

Sekundenlang sah ich ihn nur unverwandt an. Blickte in seine warmen, braunen Augen und wünschte mir, dass ich seine Vergangenheit mit einem Fingerschnippen ändern könnte. Dass ich ihm die Unruhe und Unsicherheit, die ich seit Mos Überfall auf uns in seiner Miene erkannte, einfach wegwischen könnte.

Aber bis auf die Fähigkeiten einen Teller Kekse verschwinden zu lassen und elegant über meine eigenen Füße zu stolpern, besaß ich leider keine Superkräfte.

„Okay“, wisperte ich schließlich und schluckte. „Ich verstehe.“ Und das tat ich. „Aber wenn ich dir irgendetwas Gutes tun kann, wie zum Beispiel bei Marvins Mutter anzurufen und ihn für seine Verspätung zu entschuldigen …“

Josh lächelte matt. „Dann melde ich mich.“

„Gut. Dann rufe ich mir ein Taxi.“

„Nicht nötig. Nimm mein Auto.“ Er drückte mir den schweren Schlüssel seines Audi A5 in die Hand. „Ich lass mich später von Marvin nach Hause bringen.“

Verblüfft öffnete ich den Mund. Rispo liebte seinen Wagen mehr als Liegestütze – und ich hatte eine erschreckende Erfolgsbilanz, wenn es darum ging, ihm Kratzer und Dellen zuzufügen. „Okay“, sagte ich dennoch perplex. „Gut. Ich versuch, ihn nicht im Graben zu versenken.“

Josh hob einen Mundwinkel, legte eine warme Hand in meinen Nacken und küsste mich sanft. „Ein ehrenwerter Vorsatz. Schlaf schön und iss die Lasagne.“

Ich nickte und ließ seine Hand los, bevor er mir ein letztes Mal zulächelte, sich umdrehte und über den dunklen Parkplatz schritt.

Unwohl trat ich von einem Bein auf das andere und sah ihm nach, bis er in den hellerleuchteten Empfangsbereich des Präsidiums trat, Mo am Arm packte und aus meinem Sichtfeld verschwand.

Ich presste eine Hand auf die Brust und ermahnte mein wild schlagendes Herz zur Ruhe. Doch es hörte nicht auf mich. Es flatterte gegen meine Rippen, als wolle es sich Freiraum verschaffen, um mehr Platz für weitere Sorgen zu haben.

Seufzend schloss ich die Augen, sog Luft durch die Nase ein und stieß sie durch den Mund wieder aus. Rispo hatte recht. Ich wusste nicht viel über den Mord an seiner Mutter. Ich wäre heute Abend eher eine Ablenkung als eine Hilfe.

Er musste sich die Akte in Ruhe ansehen. Allein mit Mo. Ich verstand es. Halb so wild.

Dann gab es heute eben keinen Heiratsantrag für mich. Das war nicht schlimm. Es eilte nicht. Ich konnte warten.

Ich würde mich einfach in Geduld üben.

Kapitel 2

Vier Monate, vierzehn Tage und achtzehn Stunden später …

(Aber wer zählt schon mit?)

„So langsam verliere ich die Geduld“, sagte ich und schluckte fest. „Hör auf, mich so anzusehen, okay? Denkst du, mir fällt das hier leicht? Es tut ja schon weh, dich auch nur in Blickweite zu haben, also …“ Meine Stimme war mittlerweile nur noch ein heiseres Flüstern. „Du musst meine Entscheidung akzeptieren. Es ist egal, wie süß du bist … ich kann das nicht mehr. Immer wieder gebe ich dir neue Chancen und du enttäuschst mich jedes Mal aufs Neue. Du tust mir nicht gut. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber … ich bin über dich hinweg. Ich will dich nicht mehr wiedersehen.“

Meine Mutter seufzte lautstark. „Louisa, würdest du bitte aufhören, mit dem Nutellaglas zu reden?“

Blinzelnd sah ich auf. Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich mich nicht allein mit meiner Versuchung am Tisch befand. „Es macht mir seit einer halben Stunde unmoralische Avancen, Mama“, beschwerte ich mich. „Wer hat es überhaupt so provokant vor mir auf den Tisch gestellt? Das ist Folter.“

„Ich“, verkündete meine Nichte Isabell überschwänglich und hob die Hand. „Weil, ich darf es nicht essen, aber Nutella ist lecker.“

„Natürlich ist es das. Es schmeckt nach Palmöl und Zucker. Was will man mehr?“, bemerkte ich lächelnd.

Meine Nichte kniff konzentriert die Augen zusammen. „Was ist Palmöl?“, wollte sie wissen. „Ich geh zwar schon in die erste Klasse, aber das hatten wir noch nicht.“

„Palmöl ist Öl, das Urlaub gemacht hat“, erklärte ich überzeugt.

Womöglich hätte ich ihr die Wahrheit sagen sollen, sie würde früh genug lernen, dass Palmöl in Wirklichkeit ein Speisefett war, das die Verantwortung für die großflächige Abholzung von tropischem Regenwald trug und somit die Klimakrise begünstigte.

Doch dank einer schlaflosen Nacht, und meinem selbstauferlegten Zuckerverbot, besaß ich an diesem Tag schlichtweg keine Kraft, Isabells Weltansicht zu zerstören.

Müdigkeit und Verzicht taten mir einfach nicht gut. Aber was sollte ich machen? Da ich die selige Erinnerung an Weihnachten noch immer in zwei warmen Ringen um meinen Bauch trug, musste ich mich zusammenreißen.

„Das kann nicht richtig sein“, meinte Lara kopfschüttelnd. Sie ging bereits in die dritte Klasse und hatte ein paar Weisheitslöffel mehr intus als ihre jüngere Schwester. „Du erzählst Blödsinn, Lou!“

Der Vorwurf in ihrer Stimme erinnerte mich erschreckenderweise an meine Mutter, die mir gegenübersaß und zufrieden nickte. Ertappt zog ich die Schultern hoch.

Isabell und Lara waren mittlerweile sieben und neun Jahre alt. Das Alter, in dem man klug genug war, um das Nachbarsmädchen mit Hilfe eines matschigen Schneeballs um ihre Süßigkeiten zu erpressen – aber noch nicht subtil genug, um diesen Umstand vor seiner Mutter geheim zu halten.

Das war zumindest der Grund, hatte meine Schwägerin Steffi mir erklärt, warum die beiden heute auf Nutella verzichten mussten.

„Tut mir leid“, meinte ich zerknirscht und bedachte meine Nichten mit einem entschuldigenden Blick. „Ich darf nur auch kein Nutella essen und das macht mich sehr traurig. Euer Vater erklärt euch nach dem Frühstück, was Palmöl ist.“ Ich klopfte Jannis, die sieben Jahre ältere und sehr viel männlichere Version meiner selbst, gönnerhaft auf die Schulter.

„Klar“, sagte der lässig und winkte ab, bevor er sich zu mir hinüberbeugte und leise murmelte: „Weißt du, ich hab mich den ganzen letzten Monat gefragt, warum Mama in der Weihnachtszeit nie Kekse im Haus hatte … Jetzt weiß ich, wo sie alle hinverschwunden sind.“ Er grinste und pikste mir mit dem Zeigefinger in die Seite. „Dahin.“

Verärgert sah ich Jannis an und schubste seinen Finger weg. Große Brüder waren nur für zwei Dinge gut: Schmierige Ex-Freunde bedrohen und ihre kleinen Geschwister in Rage bringen.

Ich befand mich beim sonntäglichen Brunch meiner Eltern und so sehr ich es sonst auch genoss, von meiner Mutter bekocht, von meinen Nichten durchgekitzelt und von meinem großen Bruder beleidigt zu werden – heute war ich so müde, dass mir nicht einmal mehr eine kluge Erwiderung auf Jannis’ Bemerkung einfiel. Dabei war meine Schlagfertigkeit die einzige Waffe, die ich besaß.

Doch ich hatte den ganzen gestrigen Tag damit verbracht, im Laden Sträuße für eine Hochzeit zu binden, die ich heute Morgen in aller Frühe noch vor dem Brunch ausgeliefert hatte. Leider hatte das bedeutet, dass ich das Haus verlassen hatte, als Rispo noch tief geschlafen hatte. Man sollte meinen, dass es einfach sei, sich zu sehen, wenn man zusammenwohnte – aber in letzter Zeit verpassten wir uns ständig.

„Wo ist eigentlich Emily?“, wollte ich wissen, um von mir abzulenken, und sah stirnrunzelnd zur Tür. Ich hoffte fast, dass meine Schwester sich dahinter versteckte, ich brauchte sie heute als Puffer.

„Wo ist Joshua?“, stellte meine Mutter die Gegenfrage.

Wie automatisch sank mein Blick auf das Handy in meinem Schoß.

Joshs Nachricht, die vor einer halben Stunde eingetrudelt war, blinkte noch immer auf dem Display auf.

Sorry, schaff es nicht. Bin mit Mo unterwegs.

Bin mit Mo unterwegs, konnte nur eines bedeuten – sie recherchierten im Fall Konstantin Rubens beziehungsweise im Fall ihrer Mutter.

„Der ist arbeiten“, sagte ich und winkte ab. „Aber ich soll euch lieb grüßen. Emily also …?“

„Deine Schwester hat abgesagt. Aber das ist jetzt nicht wichtig.“ Mama räusperte sich. „Ich wollte über etwas anderes reden: Lou, du hast nächsten Samstag Geburtstag.“

„Schon wieder?“, sagte ich gespielt überrascht. „Ich hatte doch erst letztes Jahr Geburtstag.“

Pikiert schürzte meine Mutter die Lippen. „Weißt du, immer wenn du so sarkastisch bist, bildet sich eine Falte zwischen deinen Augenbrauen – und irgendwann wird diese Falte bleiben und dich daran erinnern, dass Sarkasmus unhöflich ist und ich recht hatte“, sagte sie ungerührt und spießte sich selbstzufrieden noch ein Stück Mortadella auf die Gabel.

Widerwillig rieb ich mit dem Zeigefinger über besagte Stelle, bevor ich gähnte. „Entschuldige. Ich habe nicht lang genug geschlafen. Ja, du hast recht. Ich habe Samstag Geburtstag. Freut mich, dass du dich daran erinnerst.“

„Wie sollte sie das vergessen?“, brummte mein Vater. „Dein Dickkopf hatte die Größe einer jungen Wassermelone. Deine Mutter hat geschrien wie am Spieß.“

Ich nickte wehleidig. „Vielen Dank für dieses lebendige Bild und meine darauffolgenden Albträume, Papa.“

„Ich wollte wissen, was du planst“, fuhr meine Mutter ungerührt fort. „Schließlich wirst du dreißig.“

Ja, auch das hatte ich nicht vergessen. Die große Drei schwebte seit Monaten wie eine schwarze Regenwolke unheilvoll über meinem Kopf. Früher hatte ich immer gedacht, dass mir dieser besondere Geburtstag nichts ausmachen würde. Aber früher war ich ja auch naiv und dumm und zweiundzwanzig gewesen!

„Dreißig zu werden, ist keine so große Sache“, sagte ich vage. „Es ist nur eine Zahl.“

„Eine große Zahl“, erinnerte sie mich.

„Ach, was“, meinte ich kopfschüttelnd. „Es gibt eine Menge Zahlen, die größer sind! Einunddreißig zum Beispiel.“

„Da hat sie recht“, bestätigte Lara ernst. „Wir rechnen in der Schule schon bis tausend. So alt kann Lou also noch gar nicht sein.“

Eben. Wenn ich tausend Jahre alt würde – dann musste ich mir Gedanken machen.

Ungeduldig schnalzte meine Mutter mit der Zunge. „Der Dreißigste ist ein wichtiger Geburtstag. Es ist das Alter, in dem man anfangen sollte, sich ernsthaft Gedanken über seine Zukunft zu machen. Hochzeit, Familienplanung …“ Bedeutungsschwer hob sie die Augenbrauen. Als wäre ihr Wink mit dem enormen, kanugroßen Zaunpfahl noch nicht auffällig genug.

„Heutzutage sieht das niemand mehr so eng“, meinte ich. „Dreißig ist das neue zwanzig.“

„Jannis war schon verheiratet und Vater, als er dreißig wurde“, bemerkte sie beiläufig.

Ich verdrehte die Augen. „Jannis hat aber auch schon mit neun gewusst, wo die Babys herkommen, und mit elf das erste Mal Bier getrunken. Er ist offensichtlich frühreif.“

„Ach, Mama, lass sie in Ruhe“, sprang mir mein Bruder überraschenderweise zur Hilfe. „Lou ist noch so jung! Warum sollte sie schon heiraten wollen? Sie hat noch genug Zeit, sich einen Ehering auf den Finger zwängen zu lassen.“

Steffi räusperte sich vernehmlich und warf ihrem Ehemann ein verkniffenes Lächeln zu.
„Ähm, ich meine … heiraten ist toll“, ruderte er hastig zurück und lief rot an. „Die Ehe ist das größte Glück auf Erden.“

Steffi verdrehte die Augen und meine Mutter ignorierte sie beide.

„Feierst du jetzt, oder nicht?“, wollte sie schneidend wissen. „Ich würde diesen besonderen Tag nämlich gerne mit dir verbringen und wenn du nichts vorhast, plane ich selbst etwas für dich.“

„Das ist nicht nötig“, sagte ich seufzend. „Ich feiere, und ich habe Trudi schon versprochen, dass sie die Partyplanung übernehmen darf.“

Meine dreiundsiebzigjährige ehemalige Angestellte, jetzt nur noch Freundin, Komplizin und Teilzeitverrückte, hatte angemerkt, dass ich von Natur aus eine Spaßbremse sei, mir Partyplanung also kaum liegen könne. Daher wolle sie diese Aufgabe übernehmen, damit ich meinen Geburtstag nicht allein mit einer Torte in meinem Bett verbrachte.
Ehrlich gesagt hatte sich der Tortenplan fantastisch angehört, doch ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ihre Begeisterung zu dämpfen. Also hatte ich nur genickt und ihr das Versprechen abgenommen, nichts allzu Verrücktes zu planen.

Leider war das Spektrum von Verrückt, wenn es um Trudi ging, sehr weit gefächert. Zurückhaltung oder Vernunft waren keine von Trudis Stärken. Glitzer, Chaos und Brandgefahr allerdings schon.

„Du planst also wirklich eine Party? Aber wir haben noch keine Einladung erhalten“, bemerkte meine Mutter perplex.

„Klar habt ihr das. Ich hab sie per Mail verschickt.“

„Per Mail?“ Sie spuckte das Wort aus, als hätte ich versucht, ihr einen Computer in den Rachen zu stopfen.

Es war offensichtlich, dass ich in ihren Augen genauso gut Hundehaufen aus Plastik als Einladung hätte verschicken können.

„Jap“, bestätigte ich. „Ist umweltfreundlich und kostenlos.“

„Aber geschmacklos!“

„Das nächste Mal schicke ich einen glitzernden Männerchor vorbei, der dir die Einladung singend und mit einer Menge Verbeugungen vorträgt“, versprach ich lächelnd.

Mama stieß einen langgezogenen Seufzer aus, den ich das letzte Mal zu Ohren bekommen hatte, als ich mit zehn verkündet hatte, ich wolle das Krümelmonster heiraten.

Die Aussicht auf einen lebenslangen Keksvorrat hatte sie offenbar nicht davon überzeugen können, dass eine blaue Stoffpuppe ein geeigneter Ehemann für mich sei. Ich hingegen dachte noch heute, dass ich es schlechter hätte treffen können.

„Na gut, in Ordnung“, sagte sie und nickte. „Frank wird das Postfach überprüfen müssen und ich … nun, ich denke, dann rufe ich Trudi einfach mal an und frage, ob ich mich an der Partyplanung beteiligen darf.“

Meine Augenbrauen fuhren in die Höhe. „Was? Du willst mit … du und Trudi … zusammen?“

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Meine Mutter und Trudi zusammen in einen Topf zu werfen, war wie die heilige Maria auf ein Date mit der etwas in die Jahre gekommenen Harley Quinn zu schicken!

„Ja. Ist das ein Problem?“ Sie hob fragend die Augenbrauen.

Mist. Was für eine gemeine Fangfrage. „Nein. Natürlich nicht“, sagte ich hastig. „Sie freut sich bestimmt.“

„Wunderbar, dann ist das abgemacht.“ Meine Mutter lächelte zufrieden, dann langte sie über den Tisch und zog das Nutella aus meiner Reichweite. „Damit es dich nicht länger in Versuchung führt“, sagte sie knapp, stand auf und brachte es in die Küche.

Sehnsüchtig sah ich ihr nach, sah dann jedoch mit schwerem Herzen ein, dass es besser so war. Meine Selbstbeherrschung war so bröselig wie ein Keks in Händen des Krümelmonsters.

Ich straffte meine Schultern und warf einen weiteren Blick auf das Handy in meinem Schoß. Es sah so aus, als wäre Rispo die nächsten Stunden über beschäftigt.

Was fing ich also mit diesem Tag an?

Leider machte ich den Fehler, diese Frage laut auszusprechen, als meine Mutter zum Tisch zurückkehrte.

 

Es war längst dunkel, als ich zehn Stunden später mein Elternhaus verließ.

„Wenn dir langweilig ist, kannst du mir ebenso gut dabei helfen, auszumisten!“, hatte meine Mutter verkündet und mich nach dem Frühstück sofort in den Kerker … ähm, Keller geführt.

Der Keller meiner Mutter hatte etwas Magisches an sich. Wenn man sich nur genug oder aber auch gar keine Mühe gab, konnte man hier alles zum Verschwinden bringen.

Als Kind hatte ich das schamlos ausgenutzt, um all die zerbrochenen Dinge, die einem zu aggressiven Flummi oder meinem Versuch, fliegen zu lernen, zum Opfer gefallen waren, zu verstecken.

Mamas Neujahrsvorsatz war es leider, all das, was dort unten verschollen war, dieses Jahr zu bergen, wegzuwerfen, zu verkaufen oder mir anzudrehen.

Was der Grund dafür war, dass ich nun mit einem zerbeultem Eierkocher, einem alten Springseil, meiner Barbie-Taschenlampe und einer Tüte voller Drei-Fragezeichen-Kassetten, die ich der Mülltonne nicht zum Fraß hatte vorwerfen können, durch den Vorgarten meiner Mutter schritt.

Der kalte Januarwind schlug mir beißend ins Gesicht und ließ mich frösteln, sodass ich den Jackenkragen aufschlug und den Kopf zwischen die Schultern zog, während ich den Bürgersteig entlang zu meinem Passat lief.

Als Kind hatte ich den Winter immer für die magischste aller Jahreszeiten gehalten. Nicht nur deswegen, weil er im Dezember so viele Süßigkeiten und Geschenke versprach.

Nein, all die Weihnachtsfilme, die ich gesehen hatte, waren mir zu Kopf gestiegen. Die weichen Schneedecken, die weitläufige Wiesen in einen weißen Mantel hüllten. Jauchzende Kinder, die Schlitten fuhren. Heißer Kakao am Kamin.

Das hatte meiner Vorstellung vom Winter entsprochen.

Das Problem war: In Köln gab es nicht allzu viele weitläufige Wiesen. Schlittenfahren konnte man nur mit seinem Auto auf den vereisten Straßen und die meisten Kamine waren vor etlichen Jahren zugeschüttet worden.

Winter in Köln war nicht magisch. Er war kalt und eklig.

Wenn es hier schneite, dann fiel dicker, grauer Matsch vom Himmel, der einen in Kragen und Schuhe lief – und sobald die erste Flocke eine Straßenbahnschiene berührte, warf das Nahverkehrssystem das ölverschmierte Handtuch und verkündete, dass weder Bus noch Bahn bei diesem Sauwetter fahren konnten.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Karneval nur erfunden worden war, um die schrecklichen Wintermonate mit Hilfe einer Menge Alkohol zu vergessen.

Meine Füße waren zwei Eisklötze und ich bibberte bereits, als ich mein Auto erreichte, umständlich mit der eierkocherhaltenden Hand die Tür öffnete und das nutzlose Zeug, das Rispo vermutlich aufregen würde, auf den Beifahrersitz fallen ließ.

Ich schüttelte mich und rieb die Hände aneinander, als mein Handy klingelte. Mit tauben Fingern zog ich es aus der Manteltasche und eilte um die Motorhaube herum.

„Hey“, meldete ich mich und hielt das Telefon an mein Ohr.

„Hallo? Lou?“, zischte eine hohe Stimme.

Besorgt runzelte ich die Stirn. Sie klang alarmiert und ängstlich. „Ariane?“, fragte ich vorsichtig. „Bist du das?“

„Ja“, wisperte meine beste Freundin.

„Alles in Ordnung?“

„Nein“, kam die direkte Antwort. „Lou, es tut mir leid, dass ich dich so überfalle, aber … ich glaub, da ist jemand in meinem Garten.“

Mein Magen zog sich zusammen. „Was?“

„Jemand schleicht in meinem Garten umher!“, flüsterte sie hastig. „Ich weiß, es ist dunkel, aber … ich habe gesehen, wie sich etwas bewegt hat und dann war da ein lauter Aufprall, als wäre jemand über die Hecke gesprungen. Ich glaub, jemand will bei mir einbrechen.“

Ein dicker Kloß formte sich in meinem Hals und hastig öffnete ich die Fahrertür und schwang mich hinter das Steuer. „Hast du die Polizei gerufen?“

„Nein, ich … ich will mich nicht zum Deppen machen, falls ich mir das Ganze nur eingebildet habe.“

Als Person, die sich schon etliche Male vor der Polizei zum Deppen gemacht hatte, verstand ich diesen Gedankengang.

„Ach, wahrscheinlich ist es nichts“, fuhr sie fort, doch ihre Stimme zitterte. „Wahrscheinlich haben mir die Schatten der Bäume oder der Wind nur einen Streich gespielt, aber …“

„Schließ deine Türen und beweg dich nicht vom Fleck, Ari“, unterbrach ich sie. „Ich bin auf dem Weg.“