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© 2021 Pačić, Harun
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-9288-9
0.
PLATON – geehrte Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende – hat mit der APOLOGIE DES SOKRATES am Erkennen und Verkennen der Rechtsidee veranschaulicht, dass und wie Politik und Ethik einander in der Wirklichkeit der Vernunft berühren; und sie ist nicht leblos, nicht abstrakt, nicht unpersönlich – darum wird uns das, was wir erschauen, nicht unberührt gelassen haben.
Vernünftigkeit war für Sokrates eine Herzensangelegenheit; schließen wir seine Philosophie ins Herz, so öffnen wir uns der Vernunft.
1.
Wir sprechen also über die Apologie, die Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht: über Erkenntniskritik, die Platon vor trägt, indem er Rechtskritik nach trägt.
Von Sokrates wissen wir wenig, weil er uns keine Schriften hinterlassen hat, jedoch gibt es verlässlich Zeugnisse über ihn; auch und insb. von Platon, einem seiner Schüler.
Was die Apologie betrifft, so ist sie zwar auch von Xenophon überliefert, aber dieser war damals nicht am Schauplatz, nicht an der Seite von Sokrates. Platon war zwar zugegen, aber wir dürfen auch seine Darstellung nicht als getreuen Bericht lesen, denn das ist sie nicht.
In Platons Werken ist Sokrates der Hauptakteur – es handelt sich um Dialoge, die das wiedergeben, was Platon gedacht hat, aber in einer Art und Weise, wie Sokrates gedacht hat: wie er es gesagt hätte, wenn er Platons Meinung gewesen wäre.
Von Sokrates ist nur eine Methode bekannt, nicht der Inhalt; keine Lehre, sondern eine Methoden lehre.
Die Apologie ist kein Dialog, sie ist weitgehend ein Monolog; ein Plädoyer – besser gesagt. Was sie zur Sprache bringt, das fügt sich nicht restlos in das platonische Lehrgebäude – darin schimmert die historische Persönlichkeit des Sokrates durch.
Wer über Sokrates spricht, kommt nicht umhin, auch Platon anzusprechen.
Alfred North Whitehead – der, der mit Bertrand Russell die „Principia Mathematica“ geschrieben hat, hielt in „Prozess und Realität“ fest, die philosophische Tradition Europas sei wie eine Aneinanderreihung von Fußnoten zu Platon.
Wie jemand Platon interpretiert, lässt erkennen, wie er oder sie denkt; wir werden sohin mit unserer Interpretation, die wir notgedrungen anstellen müssen, um uns zwischen den Worten Platons der Philosophie des Sokrates zu nähern, etwas darüber erfahren, wie wir denken – und wie wir denken, wie sich unser Denken als solches denken lässt.
2.
Nun denn. Der Schauplatz, den ich zuvor erwähnt habe, ist das antike Athen, eine Polis, ein Stadtstaat. Wir sind im Jahr 399 vor der Zeitendwende. Sokrates ist 70 Jahre alt und steht zum ersten Mal vor Gericht.
Meletos, Anytos und Lykon haben eine Sammelklage gegen Sokrates eingebracht – sie fungierten als Staatsanwaltschaft und beschuldigten ihn des Ungerichts der Asebie, das heißt des Kapitalverbrechens der Abkehr von der Religion, Gottlosigkeit, Abtrünnigkeit, zudem verbunden mit dem Vorwurf, die Jugend zu verderben.
Das zuständige Gericht war die Heliaia, ein Volksgericht, das aus 6000 Mitgliedern bestand, wovon 500 oder 501 hierüber zu befinden hatten. Es fand ein öffentlicher Prozess statt – Sie können sich das vielleicht im Freien, mit vielen Zuschauern vorstellen. Zuerst ging es um die Schuldfrage, wobei Sokrates mit 280 Stimmen für schuldig befunden wurde, danach um die Strafe, wobei sich 80 jener Geschworenen, die soeben von der Unschuld des Angeklagten überzeugt waren, dem Antrag der Ankläger auf seine Hinrichtung angeschlossen haben.
Sie merken schon, dass es sich hier wohl kaum um ein faires Verfahren gehandelt haben wird.
3.
Die eingebrachte Anklageschrift besagt, Sokrates verhalte sich atheistisch. Das war jedoch nicht das, was damit gemeint war.
Es geht hier nicht darum, was er glaubte oder nicht glaubte, denn vor Gericht kann nur das beurteilt werden, was jemand tut und sagt – das Recht hat es mit dem Verhalten zu tun; der Glaube ist nicht justiziabel.
Wenn sich ein Bürger oder eine Bürgerin wohl verhält, dann spielt die Moralität seines bzw. ihres Verhaltens rechtlich keine Rolle. Sie sehen an der Formulierung der Anklageschrift, dass es um ein Verhalten ging, das der Staatsreligion widerstreitet.
Aber was sollte das denn; was hat es damit auf sich?
Ging es den Anklägern darum, ob er an den Kulthandlungen teilnimmt – das waren öffentliche Anlässe; und es gibt keinen Hinweis darauf, dass Sokrates den Prozessionen ferngeblieben wäre. Ging es vielleicht doch darum, was er glaubte oder nicht glaubte? Wäre das der Fall, so stünde nicht sein Verhalten zur Beurteilung, sondern seine Weltanschauung – aber eine solche lässt sich nicht erzwingen, ist also kein Gegenstand staatlicher Rechtsetzung und Durchsetzung. Rechtliche Anordnungen sind von ermächtigten Menschen für eine Bevölkerung festgesetzt, doch ist es die Gesellschaft, die sie bekräftigt oder entkräftet.
Was man ihm zu glauben hätte vorwerfen können, wodurch er nach Auffassung der Ankläger die Jugend hätte vom rechten Weg abbringen können, das waren altbekannte und öffentlich zugängliche Ansichten. Sokrates wies darauf hin, dass man am Markt preisgünstig Schriften des Anaxagoras erwerben könne. Von dessen Lehre sagt man, sie habe den „Rückzug der Götter“ eingeleitet.
Jahrzehnte zuvor ist er bereits wegen Asebie verbannt, des Landes verwiesen worden. Auch Protagoras wurde verbannt – jener, der über die Götter sagte, er könne gar nicht wissen, ob es diese gibt oder wie sie beschaffen seien. Eine naturalistische Sichtweise hatte sich etabliert; und warum sollte, warum wollte man jetzt noch Sokrates dafür belangen?