Ann-Kathrin Bendixen
Bikergirl
Wie ich die Freiheit suchte und das Leben fand
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Originalausgabe
1. Auflage 2021
© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
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Redaktion: Dr. Sarah Rafajlović
Lektorat: Christiane Geldmacher
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: Julian Meyer
Illustrationen: ii-graphics/Shutterstock.com, Pyty/Shutterstock.com, LongQuattro/Shutterstock.com, Visual Generation/Shutterstock.com
Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-1931-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1659-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1660-5
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Prolog
Kapitel 1: Der Weg ist das Ziel
Kapitel 2: Neustart
Kapitel 3: Schockstarre
Kapitel 4: Ouzo rockt die Seele
Kapitel 5: Wenn aus Haaren Glatze wird
Kapitel 6: Der tödliche Unfall
Kapitel 7: Grashalme durch meine Finger
Kapitel 8: In meiner Hand ‘nen Cocktail, auf der Nase die Sonnenbrille
Kapitel 9: Sardinien
Kapitel 10: Unter Wasser
Kapitel 11: Scheiß Seeigel
Kapitel 12: Fahren wie die letzten Deppen
Kapitel 13: Lisas Lippen
Kapitel 14: Schnee in Spanien
Kapitel 15: Der Motor versagte
Kapitel 16: Maltes letzter Anruf
Kapitel 17: Meine Fans retteten mich
Kapitel 18: Teneriffa, der Affe kommt
Kapitel 19: Leere im Kopf
Kapitel 20: Überall Blut
Kapitel 21: Der Kubaner und meine Suzuki
Kapitel 22: Über den Wolken ist die Freiheit grenzenlos
Kapitel 23: Nebel des Grauens
Kapitel 24: Es geht weiter
Kapitel 25: Todesangst
Kapitel 26: Ich wollte sterben
Nachwort
Danksagung
›Fuck, ist die Aussicht fett!‹, dachte ich mir und schaute in die Ferne. Mit meinem Motorrad war ich auf einen Berg gefahren und sah hinab auf die Lichter einer Stadt. Es war stockdunkel, der Wind wehte und die Grillen zirpten. Ich streckte meine Arme in die Luft. Freiheit! Ich hatte Gänsehaut, meine Augen wurden glasig und meine Knie weich. Ich wischte mir eine Träne von der Wange, als eine Sternschnuppe durch den dunklen Himmel zischte. ›Ich wünsche mir …‹, dachte ich und überlegte …
BÄÄÄM! Ein unfassbarer Schmerz holte mich zurück in die Realität. »Bitte nicht!«, flehte ich, als ich checkte, dass ich nicht auf meinem Motorrad, sondern auf einem stinknormalen Holzstuhl in der Schule saß. Ich sah mich um. ›Der Klassenraum ist doch einfach nur schäbig‹, dachte ich und fasste mir an die Stirn. Fieber. Mich durchfuhr ein Kälteschauer. Der Schmerz wurde schlimmer. Ein Schmerz in meinem Kopf, den ich Tag für Tag mit mir herumtrug. Seit etlichen Wochen versank ich in meinen Träumen. Träume, die mir für einen Moment den Schmerz nahmen. Träume, die mir Hoffnung schenkten. Hoffnung auf eine Zeit ohne diesen Schmerz. Ich hob meinen Blick und sah dem Lehrer dabei zu, wie er irgendwelche absurden Formeln an die Tafel krickelte. ›So eine Scheiße werde ich nie wieder brauchen‹, dachte ich und blendete seinen Unterricht aus.
»Ann-Kathrin?«, fragte er natürlich genau in diesem Moment und schaute auf mich herab.
Seine Fragen zur Analytischen Geometrie konnte er sich sonst wohin schieben. Wieso verdammt noch mal nehmen Lehrer einen dran, ohne dass man sich gemeldet hat?
›Sehr witzig‹, dachte ich, als ich in sein belustigtes Gesicht sah.
Er wusste, dass ich keine Ahnung hatte. Angepisst schaute ich an die Tafel. Die Formeln tanzten, das Geschriebene blieb verschwommen. Nichts Neues. Mein Kopf dröhnte, meine Augen brannten. Schmerzen überkamen mich. Immer wieder. Ich hatte keine Kraft, mich länger anzustrengen und am Ende doch nichts zu erkennen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich und kassierte einen skeptischen Blick meines Lehrers. Doch er belastete mich nicht. Was mich belastete, war der Schmerz. Ein Schmerz, der blieb. Monatelang.
Dabei ist meine Krankheitsgeschichte fast genauso kompliziert wie die beschissenen Matheformeln. Denn diese scheußlichen Kopfschmerzen wurden ursprünglich mal durch eine winzig kleine Nagelbettentzündung ausgelöst. Mit 16 Jahren dachte ich, Fußball kann man mal machen. Aber kaum hatte ich angefangen zu spielen, entwickelten sich Entzündungen an meinen Zehen, die eiterten und bluteten. Mit dem Arztbesuch ließ ich mir leider zusätzlich noch mal ordentlich Zeit. So lange, bis mir kein Schuh mehr passte. Mein großer Zeh war kurz davor, sich komplett zu verabschieden. Es war so schlimm, dass ich kaum mehr erkennen konnte, ob der Zeh noch blau war oder schon schwarz angelaufen. Als ich mich endlich traute, einen Arzt aufzusuchen, dauerte es ganze zwei Jahre, bis mein Fuß wieder verheilt war. Antibiotika waren dabei laut jedem Doktor das Wundermittel und mein Immunsystem verabschiedete sich langsam. Mehr Tabletten zu schlucken, als ich Essen zu mir nahm, war halt doch nicht so gesundheitsfördernd wie erhofft. Ich musste viel ruhen und wurde oft krank. Während andere Menschen feiern gingen, saß ich in meinem Bett und starrte die Wände an. Den Fuß immer schön hoch halten, hieß es. Spannend, seeehr spannend. Ich fing an, mein Leben zu hassen. Als sich dann auch noch, durch die vielen Erkältungen, die ich mir einfing, meine Nasennebenhöhlen chronisch entzündeten, fühlte ich mich schon wie eine lebende Leiche. Meine Oma hatte weniger Probleme als ich … und die war 86! Nachdem ich durch die Infekte immer mehr unter Kopfschmerzen litt, lief ich wieder zum Arzt. Der Fehler meines Lebens. Diagnose Polypenentfernung. Ein absolut gängiges Leiden. Nix Schlimmes, aber die Entfernung sollte mich mal wieder kränker machen, als ich ohnehin schon war. Obwohl ich gefühlte tausend Mal betont hatte, dass ich die OP nicht wollte, schien sie dennoch unumgänglich. Ein Routineeingriff, hieß es. Doch nicht bei mir. Danach wurde es erst richtig schlimm.
Eines Morgens wachte ich dann mit so unerträglichen Kopfschmerzen auf, dass mich der Schwindel die Wände doppelt sehen ließ. Der Schmerz schlimmer denn je. Mir war kotzübel. Ich versuchte mich aufzurichten, doch um mich herum drehte sich alles. Ich suchte Halt an dem Kopfteil meines Bettes und merkte nur benommen, wie ich mich erbrach. Die Decke färbte sich dunkelrot. Blut. Ich kotzte Blut! Ich war zu schwach, um meine Angst zum Ausdruck zu bringen. Der Tinnitus setzte ein. In den nächsten Sekunden drehte sich das Zimmer einige Male um sich selbst, und ich fiel hilflos zurück ins Bett. Es folgte die Dunkelheit. Ich sah nichts, spürte nichts. Für einen klitzekleinen Moment fühlte ich mich befreit. Befreit von dem Schmerz. Als ich wieder zu mir fand, überfiel mich pure Angst. Ein Gefühl, als würde die Zeit stillstehen und mich zwingen, mich aus dieser Lage zu befreien. Ein Gefühl, das mich zittern ließ. Zittern um mein Leben. Ich quälte mich. Jede Bewegung wurde nahezu unmöglich. Doch der Wettlauf gegen die Zeit ließ mich handeln. Der Griff nach meinem Handy war so langsam, der Notruf so dringend und meine Stimme so leise. Flehend. Ich rollte mich aus meinem Bett und robbte ins Badezimmer. Mein Auge brannte. Es pochte. Der Schmerz so stark und mein rechtes Auge so schwach. Dunkelheit. Ich schrie. Die Tränen kullerten über meine Wangen, als ich mich gegen die kalten Fliesen lehnte. Ich schaute in den Spiegel. Panik! »Mein Auge …« Wieder verlor ich das Gleichgewicht und kippte auf den Steinboden.
Ich wachte auf. Eine Lampe blendete mich. Nur langsam erkannte ich die Umrisse meines Freundes. Malte. Der Mensch in meinem Leben, den ich mehr liebte als alles andere auf dieser Welt. Der immer da war. Immer. Seit wir uns vor drei Jahren bei einer Geburtstagsparty ineinander verliebt hatten. Er strich mir die Haare aus dem Gesicht und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Mein Bauch kribbelte. Ich löste meine Hände von den kalten Metallstangen des Krankenhausbettes und ließ sie in die warmen und schützenden Hände meines Freundes gleiten. Meine Mutter musste ihn informiert haben, nachdem sie mich hierhergebracht hatte. Im Gesicht spürte ich den Verband. Die Wunde der Not-OP. Und plötzlich erinnerte ich mich wieder, dass ich es gerade noch geschafft hatte, den Krankenwagen zu rufen. Mit Blaulicht hatte man mich ins nächste Krankenhaus gefahren und mir dann doch nicht geholfen … Nur eine allergische Reaktion vermuteten die Ärzte und entließen mich wieder. Den Krankenwagen bitte nur im Ernstfall rufen, hieß es. Hätte meine Mutter mich danach nicht aufgesammelt und sofort in ein anderes Krankenhaus gebracht …
Ich schloss meine Augen, blendete alle Fragen aus und begriff erst jetzt, dass ich noch lebte.
Monate waren vergangen, in denen ich mich so sehr gequält hatte und um eine Antwort gebettelt hatte. Monate ohne dieses Leid und ohne den ständigen Schmerz. Nur einen einzigen Tag wieder gesund sein. Was hätte ich dafür getan? Viel zu spät gab es Menschen, die mir halfen. Die mich annahmen und die Dringlichkeit erkannten. ›Wieso erst jetzt?‹, fragte ich mich, als man mir endlich Antworten gab. Mit starrem Blick betrachtete der Arzt, der mich gerade operiert hatte, erst mein MRT, dann das CT. Die ursprüngliche Entzündung hatte sich so sehr verschlimmert, dass sich um die alte OP-Narbe Sekret angesammelt hatte, das auf mein Auge drückte. Mukozele lautet das medizinische Zauberwort dafür, ein mit Schleim gefüllter Hohlraum. So etwas wie eine Zyste.
Zyste. ›Ein Wort‹, dachte ich. Nur ein verdammtes Wort, das so viel veränderte. Der ganze Grund für meine Schmerzen und meine wiederkehrende Bewusstlosigkeit. Der Grund, weshalb ich für beinahe eine Woche teilweise erblindet war. Die Ärzte hatten sie Wochen, nein, Monate einfach übersehen. Direkt hinter meinem Auge! Wie, verdammte Scheiße, war das möglich? WIE?
Der Arzt legte die Aufnahmen beiseite. Die Polypenentfernung wäre nicht notwendig gewesen, erklärte er mir schließlich. Die Zyste wäre leider in Folge des Eingriffs entstanden. Meine Gedanken überschlugen sich. Ob die OP denn nur aus wirtschaftlichen Gründen erfolgte? Wollte ich wissen. Ob sie mich mit meinen 18 Jahren nur dafür unters Skalpell gelegt hatten? Vermutlich, antwortete er und ließ diese Option offen. Doch ich litt verdammt noch mal unter den Folgen dieses schlampigen Eingriffs! Denn die Ärzte hatten außer meinen Polypen auch viel zu viel Knochenmasse entfernt. Der Zugang zu meinem Auge lag plötzlich einfach offen. Dadurch kann sich jede Entzündung blitzschnell auf mein Gehirn ausweiten. Ohne diese Not-OP wäre ich vermutlich gestorben. Ich begann, mich zurück in mein altes Leben zu kämpfen. Woche für Woche. Die Angst vor dem Tod schwand, doch was blieb, war meine Erinnerung an diese quälende Zeit im Krankenhaus, die mich verändert hatte. Erst ließ sie mich weinen und mich in Traurigkeit versinken. Dann ließ sie mich aufwachen und am Ende zu dem Menschen formen, der ich heute bin. Diese absolut überflüssige Polypenentfernung hatte mir die Möglichkeit genommen, über mich selbst zu bestimmen. Denn die Komplikationen, die daraufhin folgten, hatten mich abhängig gemacht von der Hilfe anderer. Ich habe diesen Eingriff mit meiner Gesundheit und mit meiner Lebenszeit bezahlt.
Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, wie wertvoll diese Zeit war. Zeit, um einfach nur zu da zu sein. Die ich nie genutzt hatte. Nie! Verdammt, ich war erst neunzehn. Jung, und doch waren es so viele Jahre, die ich verschwendet hatte. Ich war todunglücklich, passte mich dem System an und lebte einen langweiligen Alltag. Einen Alltag, der mich einzwängte und mir die Freiheit meiner Seele raubte. ›Verdammt noch mal, ich hab nur dieses eine LEBEN!‹, dachte ich und schwor mir, es zu nutzen. Ich wollte mir meine verlorene Zeit zurückholen. Leben, wie es mich glücklich macht. Dinge, Begegnungen, die mich erfüllen. Nur weil man jung ist, heißt das nicht, dass man alt wird. Scheiß auf Morgen, denk an heute, war ein Gedanke, den ich nun endlich zuließ.
Ich dachte zurück an die Schule. Nicht an den Klassenraum, die Lehrer oder meine verkorksten Klausuren. Ich dachte zurück an die Träume, in die ich verschwand, wenn der Schmerz mich im Unterricht einholte. Träume einer Reise. Meiner Reise. Das Gefühl meines letzten Traumes. Unbeschreiblich. Als ich in den Himmel blickte und mir ein Wunsch offenblieb. Pure Freiheit. Ich wünschte mir genau dieses eine Gefühl, das Gefühl der Grenzenlosigkeit. Und doch hatte ich nie daran gedacht, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich hielt es für relevant, ein Studium nach der Schule zu beginnen, und ließ meine Träume lieber Träume bleiben. Heute ist mir bewusst, wie falsch diese Einstellung war. Nichts macht einen reicher, als seine Träume zu leben. Die Schule hatte mir so viele Jahre geraubt, in denen ich mich gefesselt fühlte. Ein Studium kann warten.
Denn das Leben tut es vielleicht nicht …
Es war Ende Juli 2019 als die Ärzte mich für vollständig gesund erklärten. Meine Not-OP lag etwa ein halbes Jahr zurück. Trotzdem redeten sie wie wild auf mich ein. Jetzt zu reisen sei medizinisch nicht vertretbar, sagte man mir und hielt mich offenbar für komplett bescheuert. Die Operation sei zu frisch und mein Immunsystem noch zu schwach. Ich könnte jederzeit erneut erkranken und würde mich in unnötige Gefahr begeben. Meine Schmerzen im Kopf waren häufig noch stark, aber da es ohnehin hieß, sie sollten mich ein Leben lang begleiten, ließ mich das kalt. Jeder verdammte Ratschlag ging in das eine Ohr rein und aus dem anderen Ohr wieder raus. ›Wieder krank werden …‹, dachte ich. ›Grund genug, jetzt meinen Arsch vom Sofa zu befördern und die Welt zu entdecken! Wenn nicht jetzt, wann dann?‹, fragte ich mich und wollte die Denkweise der Ärzte nun einfach mal ignorieren. Nur einmal glücklich sein. Nur ein einziges Mal …
In meinen Gedanken ließ ich mich durch verschiedene Länder treiben und bestaunte die Landschaften. Ich heizte mit einem Motorrad um die Kurven und genoss grinsend den frischen Wind auf meiner Haut. Ich schien glücklich. So sehr wollte ich mir diesen Traum erfüllen. Den Traum vom Glücklichsein. Seit mir diese Idee im Krankenhausbett zum ersten Mal durch den Kopf ging. Ich bestand das Abitur. Doch mittlerweile war mir das eigentlich scheißegal. Was sagen Noten schon über dich aus? Bist du intelligent, nur weil du einen krassen Notendurchschnitt hast? Oder dumm, weil du nicht all deine Kraft in die Schule gesteckt hast? Verdammt noch mal … wacht denn niemand auf? Ich wollte mir den Stress nicht mehr geben. Ich brauchte eine Auszeit von all den funktionierenden Menschen um mich herum. Eine Auszeit vom Alltag. Ich hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie zerbrechlich das Leben war, und wollte weg. Ich musste weg. Meinen Traum leben und all die Scheiße hinter mir lassen. Ich auf dem Motorrad. Frei, auf unbestimmte Zeit.
Ich kramte meinen Laptop hervor. ›Ich hab nicht überlebt, um gleich nach dem Studium in der Arbeitswelt zu vergammeln‹, dachte ich. Und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, in einer Zwickmühle zu stecken. Mit Arbeit hat man Geld, aber keine Zeit. Ohne Arbeit hat man Zeit, aber kein Geld. ›Kack-Systemfehler‹, dachte ich und fragte mich, wie weit ich ohne die großen Scheine wohl kommen würde. Ich bereitete mich auf meine Reise vor. Zumindest halbwegs. Die Route war mir egal, trotzdem schaute ich mir die Weltkarte an und fing an zu spekulieren. Als ich feststellte, wie viel davon unmöglich schien, klappte ich den Laptop wieder zu und machte es mir zum Ziel, das Unmögliche möglich zu machen. Geld ist am Ende auch nur Papier. Wird schon, dachte ich mir, wird schon. Meine Familie und mein Freund mussten mich für total bescheuert halten. Ich hatte keinen Plan und war mit meinen wirren Vorstellungen völlig alleine. Und doch ließen sie mich machen. In der Hoffnung, mich wieder lachen zu sehen. Die Reise war eine Chance, mir die guten Seiten dieser Welt zu zeigen. Ich musste so viel nachholen. Gute zwei Jahre hatte mir die Zyste geraubt. Zwei Jahre, in denen ich meine Jugend verpasst hatte. Zwei Jahre, in denen ich mich verloren hatte und all meine Träume hinten anstellte. Ich wollte nicht mehr zusehen, wie das Leben an mir vorbeizog.
Ohne viel Geld, ganz allein mit dem Motorrad durch die Länder cruisen. Ich hatte keine Vorstellung, wann es mich zurücktreiben würde, für mich sollte der Weg das Ziel sein. Wie aufregend würde es sein, nicht zu wissen, was am nächsten Tag auf mich zukommen würde? Nicht zu wissen, welche Menschen und Orte auf mich warten würden? Was schief oder besonders gut laufen würde? Das Ungewisse zog mich an. Schon bei dem Gedanken an Abenteuer bekam ich Bauchkribbeln und einen schnelleren Herzschlag. Ich wusste nicht mal, was ich machen sollte, wenn mein Motorrad mal versagen sollte. Schrauben konnte ich nicht. Wenn was kaputt geht, dachte ich mir, werde ich schon lernen, wie man die Dinge repariert. Ich war schon immer naiv. Doch diese Naivität ließ mich atmen, sie ließ mich leben. Denn ohne sie hätte ich immer nur nach Sicherheit gestrebt und nicht in mich und andere Menschen vertraut. Ich hätte diese Reise nie angetreten.
Vor meiner Abfahrt arbeitete ich wochenlang. Ich saß an einer Supermarktkasse und ackerte zusätzlich auf einem Bauernhof, um meinem Traum von der Reise näher zu kommen. Noch hatte ich Tage, an denen die Schmerzen zurückkehrten, aber schwächer und unbeständiger als zuvor. Ich hackte Holz. So lange und hart, bis meine Glieder es nicht mehr zuließen. Meine Hände waren wund, meine Nerven lagen blank. Trotzdem machte ich weiter und weiter. Bei jedem Schlag mit der Axt wusste ich, wofür ich kämpfte. Jeder Euro war ein weiterer Euro für den Traum vom eigenen Motorrad. Ein Motorrad, das mich über viele Grenzen dieser Welt führen sollte. Nach zwei Monaten Stress war ich am Ende. Mir liefen die Tränen ohne triftigen Grund über die Wangen. Ich fühlte mich leer und kaputt. Ich hatte mich dazu gezwungen, Tag für Tag weiterzumachen. ›Bis hierhin und keinen Schritt weiter!‹, dachte ich völlig fertig und schmiss meinen Job. Von meinen Schultern fiel eine riesige Last.
Ich machte mich auf die Suche nach einer günstigen Maschine. Mir war egal, wie das Bike aussah, wie alt es war oder wie viele Kilometer es bereits auf dem Buckel hatte. ›Hauptsache, der Ranz fährt‹, dachte ich mir und ergatterte schließlich eine Suzuki Bandit gsf 600. Realtalk, dieses Bike hatte kaum eine einzige Stelle, die nicht vom Rost befallen war. Nachdem die Reifen gewechselt, die Bremsen erneuert und der TÜV gerade noch so abgenommen worden war, sollte die Reise für mich starten.
Bei diesem Motorrad blieb mir nichts anderes übrig, als eine zusätzliche Versicherung für den Abschleppdienst abzuschließen. ›Klingt irgendwie deprimierend‹, dachte ich und wusste schon jetzt, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis der rostige Metallhaufen stehen bleiben würde … Ohne ABS und ohne die Maschine je wirklich gefahren zu haben, brach ich auf.
Schon wenige Wochen später sollte ich herausfinden, wie es ist, ohne Geld zu überleben und das Motorrad kilometerweit zu schieben. Als könnte das Abenteuer keine zwei Minuten mehr warten, stopfte ich meine Stoffkoffer mit allem voll, was mir in dem Moment so als einigermaßen wichtig erschien. Darunter Zelt, Hängematte und Isomatte. Ein bisschen Werkzeug, ein paar Klamotten und meinen Schlafsack. Wertsachen, Messer und Zahnbürste. Zu guter Letzt einen rostigen Kocher. Steinalt und unbenutzt. Das musste reichen. Freunde drückten mir einen kleinen Plüschaffen in die Hand. »Pass auf dich auf!«, sagten sie und ließen mich gehen. Ohne große Furcht, weil wahrscheinlich alle sahen, wie sich mein trauriges Gesicht die letzten Tage vor der Abfahrt in ein breites Grinsen verwandelte. Ich betrachtete den Affen. Riesige, erwartungsvolle Glubschaugen. Sanft streichelte ich über den flauschigen Stoff und fühlte mich geborgen. Ich wusste, dass wir den Weg zu zweit gehen würden, der Affe und ich. Mit Kabelbinder schnürte ich ihn an meinen Lenker, lächelte und wusste, dass ich bereit war. Bereit für ein Abenteuer. Mein Abenteuer.
Es war Anfang August. Die Sonne schien, mein Motorrad war geputzt und das Ticket für einen Autozug Richtung Süden gebucht. Spontan. Ich versprach mir Sonne, geile Kurven und eine unvergessliche Zeit. Außerdem war das Ticket einigermaßen bezahlbar und ein guter Start ins nirgendwo. Mein Tank war gefüllt, meine Vorfreude groß. Mir blieben knapp 400 Euro für eine Reise auf unbestimmte Zeit. Warte … ich hab doch schon erwähnt, dass ich naiv bin, oder?
Ich verabschiedete mich von meiner Familie; von Mama, Papa und meinem Bruder. Menschen, die mich aus Liebe gehen ließen. Tief im Innern machten sich wahrscheinlich alle unvorstellbar große Sorgen und doch hielt mich niemand auf. Sie waren die, die mich so lange Zeit hatten leiden sehen. Mein Lachen war für sie Grund genug, mich gehen zu lassen. Ich drückte sie, als wäre es das letzte Mal, und gab meiner Mutter einen Kuss auf die Stirn. Zurück blieb Malte. Wenige Meter stand er vor mir, seine Augen mit Tränen gefüllt. Mir wurde schwindelig; wie konnte ich einen Menschen zurücklassen, der all die schwere Zeit an meiner Seite gewesen war? Der mir die Hand gehalten hatte, wenn ich weinte, die Haare aus dem Gesicht gestrichen und mich voller Liebe geküsst hatte? Mit zitternden Händen nahm ich sein Gesicht, schaute ihm in die Augen und gab ihm einen letzten Kuss auf den Mund. Sanft küsste er mir meine Tränen von der Wange, zog mich an sich heran und flüsterte mir ins Ohr, dass er mich liebe. Dann löste er seine Hand von meiner und ließ mich gehen. Er wusste, dass ich es brauchte, diese Zeit. Eine Reise allein. Nur das Motorrad und ich. Selbstfindung und Abenteuer. In seinen Augen konnte ich den Abschied sehen. Wir wussten es beide und doch sprach es niemand von uns aus. Ich ließ das Wertvollste in meinem Leben hinter mir, um meinen eigenen Weg zu gehen, mich zu finden.
Mit schwerem Herzen fuhr ich mein Motorrad in den wartenden Autozug am Bahnhof und betrat schluchzend die Stufen zu meinem Abteil. Ich zog die Vorhänge beiseite, um ein letztes Mal in das Gesicht meines Freundes zu blicken. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Während eine weitere Träne über meine Wange kullerte, realisierte ich, dass ich gerade den Mann alleine zurückließ, der alles für mich getan hätte. Mit dem ich mir alles hätte vorstellen können, mit dem ich immer reden konnte. Egal, wie schlecht es mir ergangen war, er hatte mir ein zuversichtliches Lächeln geschenkt. Und jetzt war ich hier und gab ihm nicht einmal die Möglichkeit, mich zu begleiten. Dennoch wusste ich, dass es das Richtige war. Wir kannten nur noch die Zeit zu zweit. Wir gaben uns nicht den Raum, den wir beide brauchten, um herauszufinden, wer wir waren. Wir kannten uns gemeinsam, doch nicht mehr uns selbst. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und behielt das Lächeln bei. Träume warten nicht. Meine nicht, seine nicht. Und wer weiß schon, ob die Liebe zweier Menschen durch Distanz und Zeit bestimmt wird? Ich riss mich zusammen, lächelte ihm zu und ließ die Vorhänge wieder fallen. Auf mich wartete ein Abenteuer. Das Ungewisse. Das, wovon ich so lange geträumt hatte. Freiheit!
Und ehe ich mich versah, raste der Zug auch schon über eine Brücke. Der starke Wind drückte gegen die Waggons und ließ die Bahn ratternd die Brücke überqueren. Ich beobachtete, wie die Sonne langsam über Hamburg unterging. Die Lichter der Stadt rauschten an mir vorbei, bis auch die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwanden und die Nacht hereinbrach. Der Himmel war klar und ich betrachtete die Sterne. Das erste Mal seit langer Zeit genoss ich den Augenblick. Mit den Gedanken weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit. Nein, endlich lebte ich im Moment. Auch wenn er kurz war, war er für mich bedeutend. Ein Moment der Freiheit. Frei in meinen Gedanken, frei in meinen Gefühlen und vor allem frei von Schmerz.
»Der erste Schritt, das Unmögliche möglich zu machen«, murmelte ich vor mich hin und dachte an die mahnenden Worte der Ärzte zurück. Hier begann der Neustart. Mein Neustart. Lächelnd schaute ich in die Ferne. Wo mich die Reise wohl hinführen wird? Die ersten Gäste fingen an, sich bettfertig zu machen und sich in ihr Abteil einzuschließen. Ich löste meinen Blick vom Sternenhimmel und fing an, munter durch die Gänge zu spazieren. Mit meinen gestreiften Wollsocken, meinem viel zu langen Pulli und einem Schokoriegel in der Hand fühlte ich mich wieder wie ein Kind. Ich lief an einem Spiegel vorbei. Mein Mund war schokoverschmiert und meine Augen noch immer glasig. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich fühlte mich nicht nur wie ein Kind, ich benahm mich auch wie eins.
Die ganze Nacht blieb ich wach und lauschte gespannt den Geräuschen der Umgebung. Ich hatte Bauchschmerzen, ob vom Schokoriegel oder von der Aufregung, wusste ich nicht. Wenn ich den Zug irgendwann verlasse, würde ich nicht wissen, in welche Richtung ich als Nächstes fahren würde. Ich hatte die Wahl. Die Wahl zwischen zahlreichen Ländern dieser Welt. Es war egal, wohin ich gehen würde, und genau das fühlte sich so unfassbar gut an. Der Zug wurde langsamer. Wir hatten Lörrach erreicht. Mit schwerem Gepäck stieg ich die Stufen des Zuges herab. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und stand schon kurze Zeit später auf dem Bahnsteig. Ich blendete die Menschen um mich herum aus, stellte die Motorradtaschen links und rechts von mir ab und ließ die Sonne auf mein Gesicht scheinen. Ich atmete tief ein und aus.
Die Reise hatte begonnen.