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TESS
GERRITSEN

Roter Engel

Roman

 

 

Deutsch von Klaus Kamberger

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Copyright
Widmung
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Danksagung

Mein Dank geht an
Emily Bestler, die einem Buch nur Gutes tut;
Ross Davis, M. D., Neurochirurg und Freund
der Renaissance;
Jack Young, der auch meine abseitigsten Fragen liebenswürdig
beantwortete;
Petty Kahn, für all ihre Unterstützung bei der Recherche;
Jane Berkey und Don Cleary, meinen Führern
in der Verlagslandschaft;
und vor allem an Meg Ruley, die mir immer die passende
Richtung wies – und mich dann begleitete.

1

So ein Skalpell ist wunderschön.

Das war Dr. Stanley Mackie zuvor nie aufgefallen. Doch als er jetzt, den Kopf gesenkt, unter den hellen OP-Lampen stand, gefiel es ihm, wie die scharfe Schneide das Licht funkelnd reflektierte. Ein kleines Kunstwerk, dieses halbmondförmige, rasiermesserscharfe Stück aus rostfreiem Stahl. So schön, daß er kaum wagte, es in die Hand zu nehmen, weil er fürchtete, am Ende seine magische Aura zu zerstören. Auf der Klinge spiegelte sich das Licht in seinem ganzen Spektrum, wie ein kleiner Regenbogen.

»Dr. Mackie? Stimmt etwas nicht?«

Er sah auf. Die OP-Schwester neben ihm runzelte die Stirn über ihrem Mundschutz. Er hatte bisher noch nie gemerkt, wie grün ihre Augen waren. Anscheinend sah er eine Menge Dinge zum erstenmal, oder er nahm sie erstmals zur Kenntnis. Ihre zarte, cremefarbene Haut. Die Ader, die über ihre Schläfe lief. Das kleine Muttermal direkt über ihrer Augenbraue.

War es wirklich ein Muttermal? Es bewegte sich, kroch wie ein mehrbeiniges Insekt auf ihren Augenwinkel zu…

»Stan?« Dr. Rudman, der Anästhesist, wandte sich an ihn. Seine Stimme fuhr in Mackies Gedanken. »Geht es Ihnen gut?«

Mackie schüttelte den Kopf. Das Insekt verschwand. Es war jetzt wieder ein Muttermal, ein kleiner dunkler Pigmentfleck auf der blassen Haut der Schwester. Er holte tief Luft, nahm das Skalpell vom Instrumententablett und sah auf die Frau vor ihm auf dem Operationstisch.

Die Overhead-Lampe war bereits auf das Abdomen der Patientin ausgerichtet. Die blauen Abdecktücher gaben ein Rechteck frei, das ihre Haut zeigte. Es war ein schöner, flacher Bauch mit den Konturen eines Bikinihöschens, die die beiden hochstehenden Hüftknochen miteinander verbanden – ein seltener Anblick in dieser Zeit der Schneegestöber und der winterblassen Gesichter. Was für eine Schande, daß er in diese jungfräuliche Bauchdecke einen Schnitt machen mußte. Bestimmt würde die Blinddarmnarbe in Hinkunft all die schönen karibischen Brauntöne verschandeln.

Er setzte die Spitze der Klinge auf die Haut, genau auf den Mac-Burney-Punkt zwischen dem Nabel und dem hervorstehenden rechten Hüftknochen. Annähernd der Punkt, an dem der Appendix sich befand. Das Skalpell war stichbereit an der Stelle, da hielt er plötzlich inne.

Seine Hand zitterte.

Er verstand es nicht. Das war ihm bisher noch nie passiert. Stanley Mackie hatte immer die ruhigsten Hände gehabt, die man sich denken konnte. Und nun mußte er sich furchtbar anstrengen, das Skalpell auch nur festzuhalten. Er schluckte und hob die Klinge ein wenig an. Ganz ruhig. Tief durchatmen. Das geht vorbei.

»Stan?«

Mackie sah auf. Jetzt runzelte Dr. Rudman die Stirn. Und auch die beiden Schwestern. Mackie las die Fragen in ihren Augen, die gleichen Fragen, die man sich seit Wochen über ihn zuflüsterte. Ist der alte Dr. Mackie noch auf der Höhe? Sollte man ihm mit seinen 74 Jahren noch erlauben zu operieren? Er ignorierte ihre Blicke. Er hatte sich bereits vor dem Ausschuß verteidigt, vor dem er seine Arbeit zu verantworten hatte. Er hatte die Umstände zu ihrer Zufriedenheit erklärt, die zum Tod seines letzten Patienten geführt hatten. Das Chirurgenhandwerk war schließlich keine Kunst ohne Risiko. Wenn zuviel Blut in die Bauchhöhle floß, dann passierte es nun einmal zu leicht, daß man nicht mehr die richtige Stelle fand und einen falschen Schnitt ansetzte.

Der Ausschuß hatte ihn, dies alles wohl wissend, von sämtlichen Vorwürfen freigesprochen.

Trotzdem waren dem medizinischen Stab des Krankenhauses Zweifel geblieben. Er sah es den Gesichtern der Schwestern und der gerunzelten Stirn Dr. Rudmans an. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Und plötzlich spürte er auch noch andere Blicke. Oberhalb von ihm schwebten Augäpfel zu Dutzenden in der Luft, und alle starrten ihn an.

Er blinzelte. Die schreckliche Vision war wieder vorbei.

Meine Brille, dachte er. Ich muß unbedingt meine Brille überprüfen lassen.

Ein Schweißtropfen rann ihm über die Wange. Er faßte den Griff des Skalpells fester. Das hier war nur eine schlichte Blinddarmoperation, eine Aufgabe, die man sogar einem Anfänger zumuten konnte. Natürlich konnte er so etwas auch noch mit zitternden Händen.

Er konzentrierte sich auf die Bauchdecke seiner Patientin, auf dieses flache, goldbraune Stück Haut. Jennifer Halsey, 36 Jahre alt. Sie kam aus einem anderen Bundesstaat und war heute morgen in ihrem Bostoner Motel mit Schmerzen im rechten unteren Quadranten aufgewacht. Die Schmerzen waren immer heftiger geworden, und so war sie durch dichtes Schneetreiben halbblind zur Notaufnahme des Wicklin Hospitals gefahren und dem diensthabenden Chirurgen unters Messer geraten: Dr. Mackie. Von den Gerüchten um seine nachlassenden Fähigkeiten und den falschen Anschuldigungen hinter seinem Rücken, die langsam sein Können und seine Erfahrung immer mehr in Frage stellten, wußte sie nichts. Sie war bloß eine Frau mit Schmerzen im Bauch, der der entzündete Blinddarm herausgenommen werden mußte.

Er drückte die Klinge auf Jennifers Haut. Seine Hand war wieder ruhig. Er konnte es. Natürlich konnte er es. Er setzte den Schnitt, glatt und sauber. Die OP-Schwester assistierte ihm, reichte ihm Tupfer, tupfte selbst Blut ab. Er schnitt tiefer durch das subkutane Fett, hielt immer wieder an und kauterisierte. Kein Problem. Alles lief perfekt. Er würde es schaffen, den Appendix entfernen, zumachen. Dann würde er am Nachmittag heimgehen. Nach einer kleinen Ruhepause würde er wieder einen klaren Kopf haben.

Er drang durch das schimmernde Bauchfell in die Bauchhöhle. »Zurückziehen«, sagte er.

Die OP-Schwester setzte die Haken an und zog die Wunde vorsichtig auf.

Mackie faßte hinein und spürte den Darm warm und glitschig zwischen seinen behandschuhten Fingern. Was für ein wunderbares Gefühl, seine Hände in der Wärme eines menschlichen Körpers zu bergen. Es war wie eine Rückkehr in den Mutterschoß. Er hob den Appendix heraus. Ein kurzer Blick auf das rotgeschwollene Gewebe sagte ihm, daß er korrekt diagnostiziert hatte. Dieser Blinddarm mußte entfernt werden. Er griff nach dem Skalpell.

Nur als er sich den erforderlichen Schnitt noch einmal genau anschaute, merkte er, daß etwas nicht stimmte.

In der Bauchhöhle war viel mehr Eingeweide, doppelt soviel, wie zu erwarten. Viel mehr, als die Frau brauchte. Das war nicht in Ordnung. Er griff nach einer kleinen Darmschlinge, spürte, wie sie ihm glatt und warm über die Hand glitt. Mit dem Skalpell trennte er das überschüssige Stück Darm ab und warf das tropfende Ende in den Instrumentenkorb. Na also, dachte er. Das sah doch schon viel ordentlicher aus.

Die OP-Schwester starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen über den Mundschutz an. »Was tun Sie denn da?« schrie sie.

»Zuviel Eingeweide«, antwortete er ruhig. »Das braucht sie nicht.« Er griff in die Bauchhöhle und packte eine neue Darmschlinge. Kein Bedarf für soviel überflüssiges Gedärm. Verlegte ihm nur den Blick auf die wesentlichen Dinge.

»Dr. Mackie, nein!«

Er säbelte weiter. Blut schoß im hohen Bogen aus dem abgetrennten Stück.

Die Schwester packte seine Hände in dem dünnen Handschuh. Er schüttelte sie wütend ab. Was für eine Unverfrorenheit, daß eine schlichte Schwester es wagte, die Prozedur zu unterbrechen.

»Ich will eine andere OP-Schwester«, verlangte er gebieterisch. »Absaugen. Das Blut muß umgehend abgesaugt werden.«

»Haltet ihn auf! Helft mir, ihn aufzuhalten…«

Mit seiner freien Hand griff Mackie nach dem Saugrohr und schob es in die Bauchhöhle. Blut gurgelte durch die Röhre und rann ins Reservoir.

Eine Hand packte seinen Kittel und zog ihn vom Operationstisch weg. Es war Dr. Rudman. Mackie versuchte, auch ihn abzuschütteln. Aber Rudman ließ nicht los.

»Legen Sie das Skalpell hin, Stan.«

»Sie muß ausgeräumt werden. Viel zuviel Gedärme.«

»Legen Sie es hin!«

Mackie riß sich los und baute sich vor Rudman auf. Daß er das Skalpell noch in der Hand hielt, war ihm gar nicht mehr bewußt. Die Klinge schlitzte den Hals des anderen auf.

Rudman schrie auf und drückte die Hand gegen seinen Hals.

Mackie trat einen Schritt zurück und starrte auf das Blut, das zwischen Rudmans Fingern hervorquoll. »Nicht meine Schuld«, sagte er. »Das ist nicht meine Schuld!«

Eine Schwester kreischte in die Sprechanlage: »Schickt den Sicherheitsdienst! Er dreht uns hier durch. Wir brauchen augenblicklich den Sicherheitsdienst!«

Mackie stolperte durch rutschige Blutpfützen weiter nach hinten. Rudmans Blut. Jennifer Halseys Blut. Ein See, der sich immer weiter ausbreitete. Er drehte sich um und war mit einem Satz aus dem Raum.

Sie rannten ihm nach. Er floh in blinder Panik durch den Gang und irrte durch das Labyrinth von Fluren und Korridoren. Wo war er? Warum kam ihm nichts mehr bekannt vor? Dann sah er geradeaus vor sich ein Fenster und dahinter den wirbelnden Schnee. Schnee. Das kalte weiße Element da draußen würde ihn reinigen, seine Hände von all dem Blut säubern.

Von hinten näherten sich Schritte. Jemand rief: »Halt!«

Mit drei schnellen Sätzen stand Mackie vor dem hellen Rechteck.

Glas zersplitterte in tausend Stücke. Die kalte Luft pfiff um sein Gesicht, und alles war weiß. Ein schönes, kristallenes Weiß. Und er stürzte.

2

Draußen war es glühend heiß. Doch der Fahrer hatte die Klimaanlage voll aufgedreht, und Molly Picker saß fröstelnd auf dem Rücksitz des Wagens. Die kalte Luft blies in Kniehöhe aus den Lüftungsschlitzen und fuhr ihr messerscharf unter den Minirock. Sie beugte sich vor und klopfte gegen das Plexiglas der Trennscheibe.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie. »Hey, Mister. Könnten Sie wohl die Klimaanlage herunterdrehen? Mister?« Sie klopfte noch einmal.

Der Fahrer schien sie nicht zu hören. Vielleicht ignorierte er sie auch. Außer seinem blonden Hinterkopf sah sie nichts von ihm.

Bibbernd schlang sie die nackten Arme um die Brust und rutschte zur Seite, weg vom Luftstrom. Am Fenster glitten die Straßen von Boston vorbei. Sie nahm die Gegend gar nicht richtig wahr, aber sie wußte, daß sie in südlicher Richtung fuhren. Das hatte jedenfalls auf dem letzten Straßenschild gestanden: Washington Street, South. Jetzt fiel ihr Blick auf Häuser wie Kästen und vergitterte Fenster. Davor saßen Männer mit verschwitzten Gesichtern auf den Veranden. Noch nicht einmal Juni, und die Temperaturen gingen schon auf die dreißig Grad zu. Molly mußte sich nur die Leute auf der Straße ansehen, dann wußte sie schon, wie heiß es war. Ihre herunterhängenden Schultern, ihre zeitlupenhaften Bewegungen auf den Gehsteigen. Molly sah sich gerne Leute an. Meistens die Frauen, denn die fand sie viel interessanter. Sie musterte ihre Kleider und fragte sich, warum einige in der Sommerhitze Schwarz trugen, warum die Fetten unter ihnen mit ihren dicken Hinterteilen ausgerechnet bunte Stretchhosen anhatten und warum heutzutage niemand einen Hut trug. Sie beobachtete, wie die Hübschen sich bewegten, wie ihre Hüften dabei leicht schwangen und ihre Füße perfekt auf hohen Hacken balancierten. Über was für Geheimnisse verfügten hübsche Frauen, die ihr selbst nicht vertraut waren? Was hatten ihre Mamas ihnen beigebracht, was Molly nicht gelernt hatte? Sie sah sich lange und genau ihre Gesichter an und hoffte auf tiefere Einblicke, was es denn eigentlich war, das eine Frau schön erscheinen ließ und die andere nicht. Was für eine besondere Ausstrahlung sie hatten, die sie, Molly Picker, nicht besaß.

Der Wagen hielt an einer roten Ampel. Vorn an der Ecke stand eine Frau auf hohen Plateausohlen, die Hüfte weit vorgeschoben. Eine Nutte, genau wie Molly, aber älter –vielleicht achtzehn, mit glänzend schwarzem Haar, das ihr dicht auf die bronzefarbenen Schultern fiel. Schwarze Haare hätte sie auch gerne, dachte Molly sehnsüchtig. Das machte etwas her. Es war keine Sowohl-als-auch-Farbe wie bei Mollys schlaffen Strähnen, die weder blond noch braun waren und nach überhaupt nichts aussahen. Die Fenster ihres Wagens waren dunkel getönt, und das schwarzhaarige Mädchen konnte nicht sehen, wie Molly sie anstarrte. Doch sie schien es zu spüren, denn langsam drehte sie sich auf ihren Absätzen um und schaute zu ihr.

So hübsch war sie gar nicht.

Molly lehnte sich zurück und war komischerweise enttäuscht.

Der Wagen bog nach links ab und fuhr in südöstlicher Richtung weiter. Sie waren inzwischen weit weg von Mollys Heimatbezirk und auf dem Weg in eine ihr zugleich unbekannte und furchteinflößende Gegend. Die Hitze hatte die Leute aus ihren Wohnungen vor die Tür getrieben. Sie saßen jetzt in ihren schattigen Eingängen und fächelten sich Kühle zu. Ihre Blicke folgten dem vorbeifahrenden Wagen. Sie wußten, daß er nicht in ihre Gegend gehörte. So, wie Molly wußte, daß sie nicht hierhergehörte. Wohin schickte Romy sie denn nur?

Er hatte ihr keine Adresse genannt. Normalerweise bekam sie eine hingekritzelte Hausnummer in die Hand, und sie mußte dann selbst zusehen, wie sie ein Taxi organisierte. Doch diesmal hatte ein Wagen vor der Tür auf sie gewartet. Und auch noch ein sauberer. Ohne die einschlägigen Flecken auf dem Rücksitz und ohne zusammengeknüllte, stinkende Papiertaschentücher im Aschenbecher. Alles sauber und ordentlich. In so einem sauberen Wagen hatte sie noch nie gesessen.

Der Fahrer bog nach links in eine schmale Straße. Hier saß niemand draußen auf dem Gehsteig, aber sie wußte, man beobachtete sie. Sie konnte es spüren. Sie wühlte in ihrer Handtasche, fischte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Sie hatte gerade zwei Züge gemacht, da meldete sich plötzlich eine geisterhafte Stimme und sagte: »Machen Sie sie bitte aus.«

Molly sah sich überrascht um. »Wie bitte?«

»Ich habe gesagt, machen Sie sie aus. Das Rauchen im Wagen ist verboten.«

Sie wurde rot und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Dann entdeckte sie den kleinen Lautsprecher in der Trennscheibe.

»Hallo? Können Sie mich hören?« fragte sie.

Keine Antwort.

»Falls ja, könnten Sie dann wohl die Klimaanlage abschalten? Ich friere hier hinten. Hallo, Mister? Fahrer?«

Der kalte Luftstrom brach ab.

»Vielen Dank«, sagte sie. Und mit unterdrückter Stimme: »Arschloch.«

Dann fand sie den Schalter für die Fensterscheibe und ließ das Fenster einen Spalt herunterfahren. Der Geruch des Sommers in der Stadt wehte herein, heiß und schweflig. Die Hitze machte ihr nichts aus. Das war wie zu Hause. Wie in all den feuchten und schweißtreibenden Sommern ihrer Kindheit in Beaufort. Verdammt, sie brauchte jetzt eine Zigarette. Aber sie hatte keine Lust, über die kleine scheppernde Anlage mit ihm zu streiten.

Der Wagen fuhr langsamer, hielt an. Aus dem Lautsprecher kam die Stimme: »Wir sind da. Sie können jetzt aussteigen.«

»Was? Hier?«

»Das Haus da vorne rechts.«

Molly äugte hinaus. Ein dreistöckiges Haus aus braunem Sandstein. Die Fenster im Erdgeschoß waren mit Brettern vernagelt. Auf dem Gehsteig verstreut lagen Glasscherben. »Sie machen wohl Scherze«, sagte sie.

»Die Eingangstür ist offen. Gehen Sie hoch in den zweiten Stock. Dann ist es die letzte Tür rechts. Sie brauchen nicht zu klopfen. Gehen Sie einfach hinein.«

»Von so was wie dem hier hat Romy nicht gesprochen.«

»Romy sagt, Sie machen mit.«

»Ja, also…«

»Das gehört nur zum Vorspiel, Molly.«

»Was für’n Vorspiel?«

»Denen des Kunden. Sie wissen ja, wie das ist.«

Molly seufzte tief und starrte noch einmal zu dem Haus hinüber. Die Kunden und ihre Phantasien. Und was hatte dieser Kerl für einen beschissenen Wunschtraum? Es zwischen Kakteen und Kakerlaken mit ihr zu treiben? Ein bißchen Gefahr, ein bißchen im Dreck wühlen, damit es etwas aufregender wurde? Warum paßten die Phantasien ihrer Kunden nie zu ihren eigenen? Ein sauberes Hotelzimmer, ein kleiner Whirlpool. Richard Gere und Pretty Woman beim Sektschlürfen.

»Er wartet.«

»Ja, ich geh’ schon, ich geh’ schon.« Molly schob die Tür auf und stellte die Füße auf den Bordstein. »Und Sie warten auf mich, ja?«

»Genau hier.«

Sie sah zum Haus und atmete tief durch. Dann stieg sie die Stufen hoch und ging hinein.

Drinnen sah es so schlimm aus, wie sie von außen geahnt hatte. Schmierereien an den Wänden, überall Zeitungsfetzen auf dem Boden. Rostende Sprungfedern. Eine einzige Müllhalde.

Sie stieg die Treppen hinauf. Es war unheimlich still im ganzen Haus, und das Klappern ihrer Schuhe hallte im Treppenhaus wider. Als sie im ersten Stock war, waren ihre Handflächen feucht. So etwas machte alles andere als einen guten Eindruck. Überhaupt keinen guten.

Sie blieb am Treppenabsatz stehen und sah hinauf zum nächsten Stockwerk. In was, zum Teufel, hast du mich da hineingebracht, Romy? Was ist das überhaupt für ein Kunde?

Sie wischte die feuchten Hände an der Bluse ab, holte noch einmal tief Luft und nahm die nächsten Stufen. Im dritten Stock blieb sie am Ende des Flurs vor der letzten Tür rechts stehen. Aus dem Zimmer drang ein Summen – eine Klimaanlage? Sie öffnete die Tür.

Ein Schwall kühler Luft schlug ihr entgegen. Sie ging hinein und stellte angenehm überrascht fest, daß sie in einem Zimmer mit seinerzeit einmal ganz weiß gestrichenen Wänden stand. Mitten im Raum stand so etwas wie ein Untersuchungstisch, wie sie ihn aus der Arztpraxis kannte. Er war mit braunem Vinyl bezogen. Von der Decke hing eine Lampe von gewaltigen Ausmaßen. Weitere Möbel gab es nicht, nicht einmal einen Stuhl.

»Hallo, Molly.«

Sie wirbelte herum und suchte den Mann, der gerade ihren Namen genannt hatte. Doch niemand sonst war im Zimmer. »Wo sind Sie?« wollte sie wissen.

»Keine Angst. Ich bin nur ein bißchen scheu. Ich möchte dich erst einmal ansehen.«

Mollys Blick fiel auf einen Spiegel an der weiter von ihr entfernten Wand. »Sie sind dahinter, nicht? Ist das so eine verspiegelte Scheibe?«

»Sehr gut erkannt.«

»Was soll ich tun?«

»Mit mir reden.«

»Das ist alles?«

»Es kommt dann noch mehr.«

Klar. Immer kam noch mehr. Sie ging fast beiläufig zum Spiegel. Er hatte gesagt, er sei scheu. Das gab ihr ein besseres Gefühl. Damit behielt sie die Sache in der Hand. Sie stand da, eine Hand in der Hüfte. »Okay. Wenn Sie sich mit mir unterhalten wollen, Mister, es ist Ihr Geld.«

»Wie alt bist du, Molly?«

»Sechzehn.«

»Kommt deine Periode regelmäßig?«

»Was?«

»Deine Menstruation.«

Sie mußte lachen. »Nicht zu fassen.«

»Antworte auf meine Frage.«

»Ja, eher regelmäßig.«

»Und deine letzte Periode hattest du vor zwei Wochen?«

»Woher wissen Sie denn das?« trumpfte sie auf. Doch dann schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Ach. Von Romy.« Romy wußte natürlich Bescheid. Er wußte es immer, wenn bei einem seiner Mädchen die Tante zu Besuch war.

»Bist du gesund, Molly?«

Sie starrte in den Spiegel. »Sehe ich etwa nicht so aus?«

»Keine Blutkrankheit? Hepatitis? HIV?«

»Ich bin sauber. Bei mir fangen Sie sich nichts ein, wenn das Ihre Sorge ist.«

»Syphilis? Tripper?«

»Hören Sie«, schnappte sie zurück. »Wollen Sie mich nun flachlegen oder nicht?«

Ein Moment Stille. Dann wieder die Stimme, ganz sanft: »Zieh dich aus.«

Das gefiel ihr schon besser. Das war es, was sie erwartet hatte.

Sie trat näher an den Spiegel, so nah, daß ihr Atem sich auf der Scheibe niederschlug. Er wollte bestimmt alle Einzelheiten sehen. Das wollten sie immer. Sie fing an, die Bluse aufzuknöpfen. Ganz langsam. Sie gab eine Vorstellung. Dabei dachte sie an nichts, ließ sich in einen Raum fallen, in dem keine Männer mehr existierten. Sie bewegte die Hüften wie zum Takt einer Musik. Die Bluse glitt von ihren Schultern und fiel auf den Boden. Ihre Brüste waren jetzt nackt, und die Brustwarzen versteiften sich in der kühlen Luft. Sie schloß die Augen. Irgendwie machte sie es alles besser. Bring es hinter dich, dachte sie. Mach es ihm und dann wieder raus ins Freie.

Sie öffnete den Reißverschluß an ihrem Rock und stieg heraus. Dann zog sie das Höschen aus. Alles geschah mit geschlossenen Augen. Romy hatte zu ihr gesagt, sie habe einen schönen Körper. Wenn sie den nur richtig einsetze, werde kein Mensch merken, wie gewöhnlich ihr Gesicht sei. Also gebrauchte sie jetzt ihren Körper und tanzte zu einem Rhythmus, den nur sie allein hörte.

»Schön«, sagte der Mann. »Du kannst aufhören zu tanzen.«

Sie öffnete die Augen und starrte verblüfft in den Spiegel. Dort sah sie sich selber. Strähnige hellbraune Haare. Kleine, aber spitze Brüste. Hüften, so schmal wie bei einem Jungen. Als sie mit geschlossenen Augen getanzt hatte, hatte sie eine Rolle gespielt. Nun stand sie vor ihrem eigenen Spiegelbild. Ihrem wahren Selbst. Unwillkürlich kreuzte sie die Arme vor ihrer nackten Brust.

»Auf den Tisch«, sagte er.

»Bitte?«

»Den Untersuchungstisch. Leg dich hin.«

»Ja, sicher. Wenn es das ist, was Sie antörnt.«

»Das ist es, was mich antörnt.«

Jedem das Seine. Sie kletterte auf den Tisch. Der Vinylbezug war kalt unter ihren nackten Pobacken. Sie legte sich hin und wartete, daß etwas passierte.

Eine Tür ging auf, und sie hörte Schritte. Sie sah genau hin, als der Mann an das Fußende der Liege trat und sich über sie beugte. Er war ganz in Grün gekleidet. Von seinem Gesicht sah sie nur die Augen, stahlblau und kalt. Sie sahen sie über einen Mundschutz hinweg an.

Erschreckt setzte sie sich auf.

»Hinlegen«, befahl er.

»Was, zum Teufel, haben Sie vor?«

»Ich sagte hinlegen.«

»Mann, ich haue ab von hier, wenn…«

Er packte sie am Arm. Erst da merkte sie, daß er Handschuhe trug. »Hör mal, ich will dir nicht weh tun«, sagte er mit sanfterer Stimme. In freundlicherem Ton. »Verstehst du denn nicht? Das hier ist meine Phantasie.«

»Sie meinen, den Doktor zu spielen?«

»Ja.«

»Und ich bin Ihre Patientin?«

»Ja. Macht dir das angst?«

Sie saß da und überlegte. Dachte an all die anderen Phantasien, für die sie ihren Kunden zur Verfügung gestanden hatte. Diese hier schien ihr vergleichsweise eher harmlos.

»In Ordnung«, seufzte sie und legte sich wieder hin.

Aus dem Tisch wurde jetzt ein gynäkologischer Stuhl. Der Mann zog seitlich zwei Beinstützen heraus. »Komm, Molly«, sagte er. »Du weißt doch bestimmt, was du jetzt mit deinen Beinen zu machen hast.«

»Muß ich?«

»Du weißt, ich bin der Doktor.«

Sie starrte in sein maskiertes Gesicht und fragte sich, was sich wohl hinter dem rechteckigen Schutz über Mund und Nase verbarg. Zweifellos ein ganz gewöhnlicher Mann. Sie waren alle so gewöhnlich. Es waren ihre Phantasien, die sie abstießen. Die ihr angst machten.

Zögernd hob sie die Beine und legte sie in die Halterung.

Er klappte das untere Ende des Untersuchungstischs über ein Scharnier nach unten. Sie lag jetzt mit weit gespreizten Schenkeln, und ihr Po hing praktisch über der Kante des Tischs. Sie bot sich Männern immer dar. Doch in dieser Lage fühlte sie sich schrecklich verwundbar. Dieses helle Licht, das ihr zwischen die Beine leuchtete. Ihre totale Nacktheit auf dem gynäkologischen Stuhl. Und der Mann, dessen Blick mit klinischem Gleichmut auf ihre intimsten Körperteile gerichtet war.

Er band einen Kunstfaserriemen um ihr Fußgelenk.

»Hey«, sagte sie. »Ich mag nicht angebunden werden.«

»Aber ich mag es«, murmelte er und band ihr den anderen Riemen um. »Mir gefallen meine Mädchen so.«

Sie zuckte zusammen, als seine behandschuhten Finger in sie eindrangen. Er beugte sich über sie, und vor Konzentration wurden seine Augen schmaler, während seine Finger tiefer drangen. Sie schloß die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken als an das, was da zwischen ihren Beinen passierte. Aber was sie spürte, machte es ihr schwer, alles einfach zu ignorieren. Wie ein Nagetier, das sich tief in sie vergrub. Eine Hand hielt er auf ihren Bauch gepreßt, und die Finger der anderen bewegten sich in ihr. Irgendwie verletzte sie das mehr als jeder ordinäre Fick, und sie wünschte sich, es wäre aus und vorbei. Törnt dich das an, du Widerling? dachte sie. Steht er dir? Wann geht es weiter?

Er zog die Hand zurück. Erleichtert atmete sie auf. Sie öffnete die Augen. Er sah sie gar nicht mehr an. Sein Blick fixierte statt dessen etwas außerhalb ihres Sichtbereichs. Er nickte.

Erst da merkte sie, daß noch jemand im Zimmer war.

Jemand preßte ihr eine Gummimaske auf Mund und Nase. Sie wollte sich wegdrehen, aber ihr Kopf wurde gewaltsam niedergedrückt. Sie griff mit den Händen zum Gesicht und zerrte wütend an der Narkosemaske. Sofort wurden ihre Hände weggerissen und an den Gelenken festgebunden. Ein beißender Gasgeruch stieg ihr in die Nase und kratzte im Hals. Sie mußte krampfhaft husten, bäumte sich auf, aber sie wurde die Maske nicht los. Sie mußte wieder einatmen. Ihre Glieder verloren alles Gefühl. Das Licht schien schwächer zu werden. Aus dem hellen Weiß wurde ein mattes Grau.

Dann Schwarz.

Sie hörte eine Stimme. »Nimm jetzt das Blut ab.«

Doch sie verstand nicht mehr, was das bedeutete. Überhaupt nicht.

 

»Mann, o Mann, was für eine Sauerei.«

Das war Romys Stimme – soviel begriff sie. Ansonsten begriff sie nichts. Wußte nicht, wo sie war. Wo sie gewesen war.

Warum ihr der Kopf weh tat und die Kehle sich so trocken anfühlte.

»Na, komm, Molly Wolly. Mach die Augen auf.«

Sie stöhnte. Selbst dies genügte schon, daß ihr der Kopf dröhnte.

»Mach deine verdammten Augen auf, Molly. Du verstinkst das ganze Zimmer.«

Sie rollte sich auf den Rücken. Das Licht schimmerte blutrot durch ihre Augenlider. Mit Mühe bekam sie sie auf und sah in Romys Gesicht.

Er starrte sie angewidert aus seinen dunklen Augen an. Sein schwarzes Haar klebte am Kopf und glänzte von Pomade. Es reflektierte das Licht wie ein Helm. Auch Sophie war da und grinste höhnisch, die Arme über ihrem Ballonbusen verschränkt. Sophie und Romy so nah beieinander stehen zu sehen, ganz wie ein altes Liebespaar, machte Molly noch kränker. Vielleicht waren sie ja noch zusammen. Diese Sophie mit ihrem Pferdegesicht hing ständig in seiner Nähe herum und versuchte, Molly auszustechen. Und jetzt stand sie sogar in Mollys Zimmer, war einfach hereingekommen, obwohl sie gar kein Recht dazu hatte.

Aufgebracht versuchte Molly, sich zu setzen, aber dann sah sie nichts mehr und fiel zurück auf ihr Bett. »Mir ist schlecht«, sagte sie.

»Schlecht ist dir gewesen«, sagte Romy. »Und jetzt mach dich mal sauber. Sophie hilft dir.«

»Sie soll mich nicht anrühren. Raus mit ihr.«

Sophie schnaufte. »In deiner vollgekotzten Bude hält mich nichts, Miss Ohne-Titten«, sagte sie und marschierte hinaus.

Molly stöhnte. »Ich weiß gar nicht, was passiert ist, Romy.«

»Nichts ist passiert. Du bist nach Hause gekommen und hast dich ins Bett gelegt. Und dein Kissen vollgekotzt.«

Wieder ruderte sie, um hochzukommen. Er half ihr nicht, faßte sie nicht einmal an. Sie roch ganz fürchterlich. Er war schon auf dem Weg zur Tür und wollte sie ihr verdrecktes Laken allein abziehen lassen.

»Romy«, sagte sie.

»Ja?«

»Wie bin ich hierhergekommen?«

Er lachte. »Meine Güte, dich hat es aber wirklich erwischt, nicht?« Dann war er aus dem Zimmer.

Sie saß eine Zeitlang auf der Bettkante und versuchte, sich an die letzten Stunden zu erinnern. Bemühte sich, ihre restliche Benommenheit abzuschütteln.

Es hatte da einen Kunden gegeben – daran zumindest erinnerte sie sich. Einen Mann ganz in Grün. Einen Raum mit einem riesigen Spiegel. Und da war ein Tisch gewesen.

Doch an den Sex konnte sie sich nicht erinnern. Vielleicht hatte sie den verdrängt. Vielleicht war es eine so abstoßende Erfahrung gewesen, daß sie es weggeschoben hatte, genau wie sie so viele Dinge aus ihrer Kindheit erfolgreich verdrängt hatte. Nur hin und wieder ließ sie einen kleinen Erinnerungsfetzen aus der Kindheit auftauchen. Meistens waren es die schönen Dinge. Ein paar schöne Erinnerungen an die Zeit, als sie in Beaufort aufwuchs, hatte sie schon, und sie konnte sie willkürlich wieder heraufbeschwören. Oder genauso unterdrücken.

Doch an das, was an diesem Nachmittag vorgefallen war, konnte sie sich kaum erinnern.

Mein Gott, wie sie stank. Sie sah hinunter auf ihre Bluse. Voll von Erbrochenem. Die Knöpfe waren falsch zugeknöpft, und an einer verschobenen Stelle schaute die nackte Haut heraus.

Sie zog sich aus, schob den Minirock hinunter, knöpfte die Bluse auf und warf beides in einem Haufen auf den Fußboden. Dann stolperte sie ins Badezimmer und drehte die Dusche auf.

Kalt. Sie wollte es kalt haben.

Unter dem Wasserstrahl wurde der Kopf langsam klarer. Dabei flackerte ein anderes Stück Erinnerung auf. Der Mann in Grün, wie er über ihr stand. Auf sie herabsah. Und die Riemen an Hand- und Fußgelenken.

Sie sah sich ihre Hände an und entdeckte die Druckstellen, die wie die runden Abdrücke von Handschellen aussahen. Er hatte sie festgebunden – nicht besonders ungewöhnlich. Männer und ihre hirnrissigen Spiele.

Dann blieb ihr Blick an einem anderen Bluterguß hängen, in ihrer linken Armbeuge. Er war so schwach, daß sie die kleine blaue Stelle fast übersehen hätte. Mitten in dem runden Fleck war ein winziger Einstich zu sehen.

Hatte sie eine Nadel gespürt? Sie konnte sich, sosehr sie sich auch anstrengte, an nichts dergleichen erinnern. Nur an den Mann mit der Maske.

Und an den Tisch.

Das kalte Wasser tropfte ihr auf die Schultern. Molly schüttelte sich, schaute auf den Nadelstich und fragte sich, was sie wohl sonst noch vergessen hatte.