© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Loiċ Denoual
Karten: Helmut W. Pesch
Kapitelvignette: Sven Binner
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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(in alphabetischer Reihenfolge)
Astyragis pan Tyras |
König von Altashar |
Anara |
ein Mädchen aus Skaradag |
Barnak Habib |
Schiffskapitän aus Phrygos |
Birk |
ein Krähenjunge |
Bray |
eine junge Diebin |
Bror |
Schenkwirt aus dem Bordland |
Dana Jennara |
Bordellbetreiberin aus Skaradag |
Darak |
Hofschreiber aus Altashar |
Elayan von Archos |
König des Inselreichs |
Faginor |
Vater der Krähen |
Gadates |
Wesir von Altashar |
Gunryk |
Hauptmann aus Achaya |
Gyol |
ein alter noryscher Grenzer |
Hilalayan |
Eunuch und Hofmarschall von Altashar |
Ildarim |
Heiler aus Medras |
Kai |
ein junger Dieb |
Kalid und Hakan Sayf |
Gardisten des Hauses Tyras |
Keral Gulfullur |
Magistrat von Skaradag |
Kira |
eine Dienerin |
Kubwa |
Pferdeknecht aus Ophira |
Lahad |
ein Schmuggler und Pirat |
Lorymar Thinkling |
ein Halbling |
Lianus Conor |
Kaufmann aus Skaradag |
Lida |
eine Köchin |
Nawyd pan Tyras |
Prinz von Altashar |
Nyasha pan Tyras |
seine Schwester, Prinzessin von Altashar |
Markós |
Vorsteher des Dorfes Corras |
Mikol |
ein junger Grenzer aus Norya |
Osric Jarnhant |
Stadtmarschall von Skaradag |
Rayan |
ein fahrender Sänger |
Salacar |
Exekutor von Morwa |
Seana |
ein Freudenmädchen aus Skaradag |
Skady |
eine junge Diebin |
Skedder Roth |
Anführer der Spinnenzunft |
Thorgon-Syn |
Großexekutor von Morwa |
Torgny |
Dieb aus Skaradag |
Tymon |
Sergeant des noryschen Grenzkorps |
Vegar |
Dorfvorsteher aus Bordland |
Xusra |
Hohepriester des Feuerkults |
Yaron |
Fürst von Archos, Vetter von König Elayan |
Yris |
ein Freudenmädchen aus Skaradag |
So wisset, dass in den Jahrzehnten nach der Großen Divergenz die Furcht regierte in Astray.
Das Alte Reich war zerbrochen und seine Erben hatten sich entzweit. Unsicherheit herrschte allenthalben, die Grenzen waren bedroht, und mit dem Feuerkult erhob sich eine neue Religion aus der Asche der alten Welt.
Die Menschen waren ruhelos. Von ihrer Furcht getrieben suchten sie sich festzuhalten an materiellem Gut und sahen nichts als sich selbst. Prediger zogen durch die Lande, Weissager und Propheten, die die Zukunft zu kennen glaubten. Einer jedoch war unter ihnen, der die Zukunft in den Legenden der Vergangenheit sah …
Für die einen waren sie Legenden.
Für die anderen ein Albtraum.
Für wieder andere nur dämliche Arschlöcher.
Doch weder die einen noch die anderen ahnten, dass sie noch immer unter uns weilten …
Dorf Corras, Burgos
Im 20. Jahr nach der Großen Divergenz
Fackeln erhellten den Dorfplatz, und das Auge des vollen Mondes blickte vom Himmel, so als wollte er selbst Zeuge der Verhandlung sein.
Der junge Mann, der in der Mitte des Platzes stand, hielt das Haupt gesenkt. Die strengen Blicke der Versammelten hatten ihn eingeschüchtert, die Last der Vorwürfe seine schlanke Gestalt gebeugt.
»Was also«, fragte der Mann, der ihm auf der Stirnseite des Platzes gegenübersaß, »hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Ikerón, Sohn des Markós?«
Der Beschuldigte sah auf.
Man hatte darauf verzichtet, ihm Fesseln anzulegen – er hätte ohnehin nicht entkommen können bei all den Schaulustigen, die dem Prozess beiwohnten. Wie ein Gefangener fühlte er sich trotzdem, verhaftet und angeklagt von seinen eigenen Leuten …
»Nicht viel«, erklärte er mit leiser Stimme. »Nur dass ich unserer Gemeinschaft niemals schaden wollte.«
»Das wissen wir«, gab der Mann auf dem hölzernen Thron zurück, dessen Augen wie Kohlen zu glühen schienen. »Und doch können wir nicht dulden, was du getan hast.«
»Was ich getan habe?« Der Junge straffte sich, und sah in die Runde. Der Fackelschein beleuchtete seine ebenmäßigen Züge, die pechschwarzes schulterlanges Haar umrahmte. »Ich will euch sagen, was ich getan habe«, rief er den anklagenden Gesichtern der Dorfbewohner entgegen. »Warum, glaubt ihr, war unser Dorf das einzige, das nicht Hunger litt, als vor drei Sommern die große Dürre wütete? Warum wussten unsere Ältesten im vergangenen Jahr, dass Sontras Steuereintreiber kommen würden? Und wieso überraschten uns die Plünderer, die unser Dorf überfallen und uns alle töten wollten, nicht im Schlaf, wie sie es geplant hatten?«
»Weil du uns gewarnt hast«, erkannte der Mann mit den Glutaugen ungerührt an und trat auf den Jungen zu. »Und dafür danken wir dir. Doch was du tust … was du bist, können wir nicht länger unter uns dulden.«
»So ist es«, rief eine Frau.
»Er ist eine Gefahr für uns alle«, pflichtete eine Stimme bei, die Ikerón als jene des Dorfschmieds zu erkennen glaubte, dem er vor zwei Wintern das Leben gerettet hatte, als er ihn vor einem Steinschlag warnte.
Die Erinnerung der Menschen reicht nicht sehr lange zurück, das wurde Ikerón in diesem Moment klar …
»Da hörst du es«, sagte der Mann mit den Glutaugen, der die eiserne Kette des Dorfvorstehers trug, Zeichen seiner Amtswürde und Symbol dafür, dass er dem Gesetz verpflichtet war. »Ich wünschte, die Dinge lägen anders, doch als Vorsteher von Corras bin ich für das Wohl aller und nicht nur eines Einzelnen verantwortlich. Und du, Ikerón, bist eine Gefahr für uns alle.«
»Aber ich wollte nicht …«
»Wie lange wird es dauern, bis die Exekutoren hiervon erfahren? Wie lange, bis sie uns ihre Schwarzen Reiter schicken, um die Dinge zu regeln? Und wir alle wissen, wie Schwarze Reiter die Dinge regeln.«
Der Angeklagte blickte sich um und konnte die Furcht sehen, die sich in den Mienen der Dorfbewohner spiegelte. Die Angst vor brennenden Häusern, grausam hingerichteten Männern und verschleppten Kindern.
»Dieses Risiko«, fuhr der Vorsteher fort, »kann ich nicht länger eingehen.«
»Dann will ich dir versprechen, es nicht mehr zu tun«, versprach der Jüngling. »Ich werde nicht mehr …«
»Wir wissen beide, dass du das nicht kannst«, beschied ihm der Ältere. Ein Hauch von Milde huschte über seine graubärtigen Züge. »So wenig, wie deine Mutter es konnte.«
»I-ist es das? Gibst du mir die Schuld an ihrem Tod?«
»Nein, Junge.« Der Dorfvorsteher schüttelte den Kopf. Jede Güte wich aus seinen Zügen. »Aber da ist etwas in dir, das du nicht beherrschen kannst. Etwas Dunkles, Verbotenes, das uns alle bedroht – und das muss enden.«
Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.
Erneut sah sich der Beklagte um. Obwohl er die meisten dieser Leute seit seiner Geburt kannte, kamen sie ihm in diesem Moment wie Fremde vor – wohl weil ihre Blicke die von Fremden waren. Längst hatten sie sich von ihm abgewandt, trotz allem, was er für sie getan hatte.
Das Urteil war bereits gefällt.
Verzweiflung packte ihn. »Vater«, wandte er sich an den Einzigen, der ihm noch helfen konnte. »Bitte tu das nicht!«
»Ich kann nicht anders, Sohn«, entgegnete Markós, Vorsteher des Dorfes Corras, dessen Gesicht nun wirkte, als wäre es aus Stein gemeißelt. »Du bist eine Gefahr für unser Dorf und unsere Gemeinschaft – und deshalb verbanne ich dich.«
»Nein«, ächzte der Junge.
»Auf Lebenszeit ist es dir untersagt zurückzukehren«, fuhr sein Vater mit tonloser Stimme fort. »Feuer und Wasser sind dir für alle Zeit hier versagt.«
Der Junge stand unbewegt.
Die undenkbaren Worte waren ausgesprochen. Und auch wenn er im Augenblick noch nicht ermessen konnte, was sie bedeuteten, so war ihm doch klar, dass von diesem Augenblick an nichts so sein würde, wie es gewesen war …
»Vater, was hast du nur getan?«, flüsterte er.
»Was ich tun musste«, entgegnete Markós – und indem er seinem Sohn ein letztes Mal zunickte, wandte er sich von ihm ab und kehrte ihm den breiten Rücken zu.
Die anderen Dorfbewohner taten es ihm gleich.
Einer nach dem anderen verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich um, Männer, Frauen und sogar die Kinder. All jene, die seine Gabe gerettet hatte – und die nun nichts mehr von ihm wissen wollten.
»Das … das könnt ihr nicht tun«, rief Ikerón, wissend, dass es kein Zurück mehr gab, dass weder der Dorfvorsteher noch die Ältesten ihren Entschluss jemals wieder zurücknehmen würden. Dennoch versuchte er es, flehte und schrie – auch dann noch, als grobe Hände ihn packten und davonschleppten.
»Vater! Vater!«, hörte er sich brüllen, bis ihm die Stimme versagte. Er erheischte einen letzten Blick auf die gedrungene, grauhaarige Gestalt, die von ihm abgewandt inmitten des Platzes stand, dann zerrten sie ihn durch das Dunkel der Gasse, die sich zwischen der Schmiede und dem Gemeinschaftshaus erstreckte, und hinaus auf den Acker.
»Lauf!«, schärften sie ihm ein. »Und komm niemals wieder!«
Dann stießen sie ihn von sich. Er strauchelte und stürzte, fiel auf die Stoppeln, die die Ernte auf den Feldern hinterlassen hatte. Er konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Er raffte sich auf, kam wankend wieder auf die Beine und wollte davonhumpeln – als ihn der erste Stein traf.
»Hast du nicht gehört? Du sollst verschwinden?«
Ikerón wusste nicht, ob es die Stimme von Xon war, die er hörte, von Ertós oder einem anderen der jungen Männer, mit denen zusammen er aufgewachsen war und die er bislang stets für seine Freunde gehalten hatte …
Ein zweiter Stein traf ihn zwischen den Schulterblättern, knapp unterhalb des Nackens. Den Hinterkopf mit den Händen schirmend, begann er zu laufen, sprang über Stoppeln und Ackerfurchen hinweg, fort von seinen einstigen Freunden, von seinem Vater und von allem, was er stets für seine Heimat gehalten hatte.
Sein Ziel war der Fluss, der sich glitzernd im Mondlicht abzeichnete. Das Gebiet von Corras endete dort, auf der anderen Seite würden sie ihn nicht mehr behelligen.
»Verschwinde! Los, lauf, du Missgeburt!«
Das war Xon.
Zwei weitere Steine schlugen neben ihm ein, und dann noch ein Dritter, der ihn in die Kniekehle traf. Er hörte ein hässliches Geräusch und spürte stechenden Schmerz, doch er rannte weiter, dem Fluss entgegen – und zu Trauer und Verzweiflung gesellte sich Todesangst.
Dieser namenlose Hass, der aus ihnen sprach – das war nicht nur die Furcht vor den Schwarzen Reitern. Die Bewohner von Corras und allen voran ihr Vorsteher, schickten ihn nicht nur ins Exil, weil sie die Rache der Exekutoren fürchteten – sondern weil sie selbst ihn für ein Monstrum hielten, für etwas, das es nicht geben durfte, ganz gleich, wie viel sie ihm auch verdanken mochten.
Die Erkenntnis traf ihn, als er den Fluss erreichte. Sie schickten ihn nicht fort, weil er eine Gefahr darstellte. Sondern weil ihnen vor ihm graute …
Er watete in die Fluten, wollte sich ein letztes Mal umwenden – als ihn der Stein am Kopf traf. Er war faustgroß und kantig und mit aller Kraft geworfen, und er erwischte ihn an der rechten Schläfe.
Ikerón kam es vor, als wollte sein Schädel zerspringen. Sein Bewusstsein flackerte wie eine Kerze im Wind, während er niederging und bäuchlings ins Wasser klatschte.
Und während die Strömung ihn erfasste und davontrug, verlosch es ganz, und es wurde dunkel.
Spuren
der Vergangenheit
Ein Dorf im nördlichen Bordland
siebzehn Winter später
Das Wirtshaus trug den Namen Zum Hungrigen Wolf.
Das hölzerne Schild, das über der Eingangstür angebracht war und ein Graufell mit aufgerissenem Rachen zeigte, wog sich knarrend im Wind, der an den steilen Klippen entlangblies und den Regen landeinwärts trieb. In endlosen Fäden stürzte die Flut aus dem dunklen Himmel, prasselte auf das schäbige Schindeldach und von dort in die Pfützen. Aus den Butzenfenstern des aus Stein gemauerten Hauses jedoch drang warmer Lichtschein, der einen Herd und Gastlichkeit versprach – und eine warme Mahlzeit.
Die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen, trat der Mann aus den grauen Schleiern, drückte die schmiedeeiserne Klinke und trat ein.
Der Regen und die Kälte blieben draußen zurück, vor ihm lag ein Schenkraum, dessen in der Mitte gelegene Feuerstelle für wohlige Wärme sorgte. Männer in abgetragener Arbeitskleidung duckten sich an den Tischen und Bänken, die den Herd säumten, und tranken Bier aus hölzernen Krügen. Von dem Neuankömmling nahm kaum jemand Notiz – bis auf den beleibten Mann mit der schmutigen Schürze und den glänzenden Backen, der beflissen grinsend näher trat.
»Tretet ein, ehrenwerter Herr«, verlangte er, wobei er mit den ebenso kurzen wie starken Armen gestikulierte. »Mein Gasthaus ist das beste im Ort. Womit kann ich Euch dienen? Mit einem Krug Bier? Oder seid Ihr hungrig?«
Der Wanderer nickte.
Er hatte den würzigen Geruch der Fischsuppe noch vor den Schwaden süßlichen Ophirs gerochen, die die warme Luft durchsetzten, und sein leerer Magen lechzte danach, endlich einmal wieder gefüllt zu werden.
Er schlug die Kapuze zurück und ignorierte den befremdeten Ausdruck im Gesicht des Wirts. Er war daran gewöhnt, es machte ihm längst nichts mehr aus.
»Ihr wollt von der Suppe, Meister?«, fragte der Wirt. Offenbar war er sich nicht mehr ganz sicher, einen ehrenwerten Herrn vor sich zu haben.
»Bitte.« Der Mann nickte. »Aber ich habe kein Geld bei mir.«
»Kein Geld?« Entsetzen trat auf die Züge des Wirts. »Wie wollt Ihr dann bezahlen?«
»Hiermit«, erklärte der Besucher und schlug den durchnässten Umhang zurück. Darunter kam ein lederner Beutel zum Vorschein, den er wie einen Schatz an sich presste. Er öffnete den Knebel und zog eine Leier hervor.
»Was soll ich damit?« Der Wirt schüttelte das bullige Haupt, seine Backen hatten längst zu glänzen aufgehört. »Das alte Ding ist keinen Schluck Bier wert!«
»Da irrt Ihr Euch«, versicherte der Fremde, »aber ich hatte auch nicht vor, es einzutauschen. Mein Name ist Rayan, und ich bin Sänger. Als Gegenleistung für eine warme Mahlzeit werde ich Euch und Euren Gästen etwas vorsingen und Euch unterhalten.«
Die Backen des Wirts plusterten sich, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Es war ihm anzusehen, dass er den Vorschlag wenig praktikabel fand und im Begriff war, den ungebetenen Gast vor die Tür zu setzen – als einer der Männer an den Tischen rief: »He, Bror! Das ist eine gute Idee! Setz uns zur Ausnahme mal was anderes vor als nur dein abgestandenes Bier!«
Einige der anderen Gäste stimmten gröhlend zu, und obwohl der Gedanke dem Wirt noch immer nicht recht zu behagen schien, gab er den Weg frei und winkte Rayan vollends in den Schenkraum. »Von mir aus«, knurrte er, »setz dich und spiel!«
»Aber was Ordentliches, hörst du?«, fügte der Schreihals von eben hinzu.
»Ja, was Schmissiges«, meinte ein anderer.
»Oder was von schönen Weibern«, schlug wieder ein anderer vor, was lautstarke Zustimmung nach sich zog.
»Ihr wollt was von Frauen hören?«, fragte Rayan. Er legte den Umhang ab und setzte sich kurzerhand ans Ende eines Tisches. Dabei ließ er seine von der Kälte noch klammen Finger über die Saiten der Leier gleiten, sodass einige Töne erklangen. »Nichts leichter als das. Ich bin weit herumgekommen, meine Freunde, das könnt Ihr mir glauben. Und ich habe Frauen gesehen von solcher Schönheit, wie Ihr es Euch in Euren kühnsten Träumen nicht ausmalen könnt!«
Die Blicke sämtlicher Gäste – es waren ausschließlich Kerle – hatten sich auf ihn gerichtet. Ihre von flachsblondem Haar umrahmten Mienen waren vom Bier gerötet, die Augen glasig. Die meisten waren vermutlich Fischer und verdienten ihren Lebensunterhalt damit, in den stürmischen Gewässern zwischen Nordhorn und Kap auf Fang auszufahren; aber auch einige Bauern waren wohl dabei, die mit ihrer Hände Arbeit dem kargen, sturmgepeitschten Land etwas abzuringen suchten. Es war ein hartes Leben, voller Mühsal und Entbehrungen – kein Wunder, dass sich diese Männer ein wenig Zerstreuung wünschten.
»Sing endlich!«, rief einer ungeduldig.
Noch einmal schlug Rayan die Leier an und spielte die ersten Töne einer noryschen Volksweise. Dann begann er zu singen:
Zu alter Zeit im Bordenland,
an rauen Meeres Klippen,
da lebte eine Maid gar fein
mit roten Rosenlippen.
»Aaah«, ging es erfreut durch die Reihen. Rayan hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, seine Lieder auf das jeweilige Publikum zuzuschneidern. Das Dichten fiel ihm leicht, er brauchte sich nur vorzustellen, wovon er singen wollte, dann kamen ihm die Reime spontan in den Sinn. Zur Freude seiner Zuhörer, die ihm gebannt an den Lippen hingen …
Wer diese Lippen küssen wollt,
der musste nicht lang bitten,
tat er es doch, so zeigte sie
ihm auch noch ihre …
Zu dieser schönen Maid dort kam
ein Ritter namens Keyl,
der hatte lang kein Weib gehabt,
drum war er auch so …
Er sah das schöne Mägdelein
und ließ gleich danach schicken
und sprach: »Die solche Lippen hat,
die möcht ich gerne …«
Er überließ es den Gästen des Lokals, jeweils das letzte Wort der Strophe hinzuzufügen, was diese auch lautstark und mit großem Vergnügen taten, wobei sie mit den Bierkrügen den Takt des Liedes auf den Tischen trommelten. Das Feuer schien plötzlich noch ein wenig wärmer, sein Schein noch heller und sein Flackern noch ein wenig lustiger zu sein, und selbst Bror, der Schenkwirt, blickte nicht mehr ganz so sauertöpfisch drein wie zuvor, zumal einige der Gäste nun nochmals Bier bestellten. Er kam mit einem dampfenden Teller Fischsuppe, den er vor Rayan auf den Tisch setzte, dazu ein Stück Brot.
»Iss«, forderte er ihn auf. »Und dann spiel weiter. Ich habe keine Ahnung, wieso, aber dein Geplärr scheint den Leuten zu gefallen.«
Rayan nickte bereitwillig, griff nach dem hölzernen Löffel und aß. Die Fischsuppe schmeckte tranig und war versalzen, aber sie war heiß und füllte seinen Magen. Gierig löffelte er sie in sich hinein und genoss das wärmende Gefühl, das von seinem Bauch ausging. Dann griff er wieder zur Leier.
»Was wollt Ihr hören?«, fragte er in die Runde. »Noch mehr von schönen Frauen?«
»Seejungfrauen«, rief einer der Männer. »Sing etwas von Meerweibern, die einen arglosen Seemann verführen!« Die anderen bekundeten gröhlend ihre Zustimmung.
»Na schön«, meinte Rayan und schlug erneut die Saiten an. »Wie Ihr wollt. Dann hört gut zu …« Und erneut bemühte er eine alte Weise und begann dazu zu singen:
Durch sturmgepeitschte Meereswellen
fährt ein Schiff gen Skaradag.
Der Ausguck auf dem höchsten Mast
hält stets Wacht bei Nacht und Tag.
Bald stürzt das Schiff ganz tief hinab,
verschluckt vom Wellenschlund
und droht zu sinken, Maus und Mann,
zum dunklen Meeresgrund.
Doch der Posten auf dem Mast
hält aus, behält das Land im Blick
und schaut inmittst von Sturm und Wellen
plötzlich unfassbares Glück.
Denn dort in trüber grauer See,
wo Wellen sich auftürmen,
sieht eine Maid er einsam schwimmen,
als gäbe es kein Stürmen.
»Heda!«, ruft er und winkt ihr zu,
die Maid hebt ihr Gesicht.
Sie sieht ihn an, und unser Held
traut seinen Augen nicht.
Denn niemals haben seine Augen
solche Lieblichkeit gesehn
und ihm dabei vor Lust und Wonne
seine Sinne schon vergehn.
Er verlässt seine Wacht,
vergisst Pflicht, Sturm und Leid,
denn die Schöne aus der See
trägt weder Stoff noch Kleid.
Anmutig schimmert astargleich
ihr Körper wohlgestalt,
der Held, er sieht im Meeresrausch …
»Was?«, rief der Wirt herüber, auf dessen fliehender Stirn sich Schweißperlen gebildet hatten. Ob sie von der Hitze des Feuers rührten oder von den Bildern, die das Lied des Sängers in seinem Kopf heraufbeschworen hatte, war nicht festzustellen. »Was hat er gesehen?«
Erst jetzt bemerkte Rayan, dass er verstummt war.
Sein Leierspiel hatte ausgesetzt, die Worte waren ihm nicht über die Lippen gekommen – denn das Bild, das er vor Augen gehabt hatte, jener Eindruck flüchtiger Schönheit inmitten von Sturm und Gefahr, war plötzlich einer anderen Erscheinung gewichen, die sich mit Macht in den Vordergrund drängte.
Und die sehr viel dunkler war …
»Wei-ter! Wei-ter! Wei-ter!«, skandierten die Zuhörer und starrten ihn aus großen, glänzenden Augen an – und Rayan fuhr fort, dem inneren Drang gehorchend, den er verspürte:
der Held, er sieht im Meeresrausch
… nur Blut, Tod und Gewalt.
Durch graue Regenschleier schleicht
das Grauen in der Nacht.
Schon ist es da, so seht euch vor
und nehmt euch ja in Acht!
Von blutgen Äxten sinkt getroffen
der brave Seemann nieder.
Die Seinen warten brav zu Haus,
doch er kehrt nicht wieder.
Die Mörder jedoch haben schon
ein neues Opfer ausgemacht,
sehen helle Feuer leuchten
in dunkler, rauer Klippennacht.
Nichts ist vor ihrem Zorne sicher,
nicht Mann, nicht Frau, nicht Kind.
Sie bringen Tod und wollen Blut,
auf Beute aus sie sind.
Axt und Schwert und blanke Klinge
und der Sehn’ gefiedert Tod
bringen hundertfach Verderben,
Boden färbt sich blutig rot.
Und wenn der neue Tag anbricht,
die Nacht den Mantel hebt,
dort, wo Dorf und Häuser waren
nur ein einzger Mensch noch lebt.
Rayan verstummte, und als der letzte Saitenschlag verklang, war es im Schenkraum totenstill geworden. Nur noch das Knacken des Feuers war zu hören und das Prasseln des Regens auf dem alten Schindeldach.
Die Gäste starrten den Sänger erschrocken an.
Nach Bier war keinem mehr zumute, einige standen auf und wandten sich zum Gehen.
»Was soll das?«, fragte Bror der Schenkwirt, jetzt wieder so verdrießlich wie zuvor. »Du vergraulst mir die Gäste, du elender Krähensänger! Wenn du hier schon herumgröhlen musst, dann sing wenigstens etwas Fröhliches, hörst du?«
Die anderen Gäste stimmten zu, jedoch verhalten. Es war, als hätte sich ein dunkler Schatten über den Schenkraum gebreitet, selbst das Feuer schien nicht mehr ganz so hell zu brennen wie noch vorhin.
Rayan brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen und sich von den Bildern zu lösen.
»Verzeiht«, sagte er dann, »das war nicht meine Absicht.«
»Dann sing etwas anderes!«, ereiferte sich der Wirt.
»Das … das kann ich nicht«, entgegnete der Sänger, auf das Instrument in seinen Händen starrend. »Ich muss gehen.«
»Nachdem du gerade mal zwei Lieder gesungen hast? Ist das der Dank dafür, dass ich dich durchgefuttert habe?«
»Es tut mir leid«, versicherte Rayan – und noch ehe der Schenkwirt oder einer seiner Gäste etwas entgegnen konnte, hatte er sich bereits seinen durchnässten Umhang wieder übergeworfen und war an der Tür. »Alles tut mir leid«, versicherte er – dann zog er sich die Kapuze über und trat wieder hinaus in die dunkle Nacht und in den strömenden Regen.
Palast von Altashar
Zur selben Zeit
Ein gellender Schrei weckte Lorymar Thinkling aus dem Schlaf. Sein Herz hämmerte laut in seiner Brust. Sein Nachtgewand klebte schweißdurchtränkt an seiner kleinwüchsigenen Gestalt, und er zitterte am ganzen Körper.
Derselbe Traum.
Schon wieder.
Lorymar hasste es, diesen Traum zu haben, doch noch mehr hasste er das Erwachen danach. Wenn ihm die Bilder des Albdrucks noch gegenwärtig waren und die Erinnerung an Dinge, die er längst vergessen wähnte, wie eine verdorbene Speise in ihm hochkrochen und ihm Übelkeit verursachten.
Stöhnend warf er sich auf seiner Schlafstatt herum, in der er fast zur Gänze versank, auf seidene Kissen gebettet und von einem Himmel aus Brokat beschirmt, auf dessen dunkelblauem Firmament im einfallenden Mondlicht winzige Sterne funkelten. Die laue Brise, die zum offenen Fenster hereinwehte und den süßen Duft von Weihrauch und Jasminblüten auf ihren Schwingen trug, machte Lorymar klar, wo er sich befand.
Nicht in der Heimat, und auch nicht dort, wo der düstere Traum ihn wähnte. Sondern an jenem Ort, von dem es hieß, er wäre der Nabel der neuen Welt. Jedenfalls, wenn man den Hofchronisten Glauben schenkte, die das niederschrieben, was König Astyragis zu lesen wünschte.
Gequält schlug Lorymar ein Auge auf.
Der neue Tag hatte noch nicht begonnen. Eine dunkle Nacht voller echter Sterne breitete sich noch über der Stadt aus, deren Türme und Kuppeln, Gassen und Gärten sich nach allen Richtungen erstreckten, bis sie im Osten an die Dünen der Wüste stießen und im Westen an die Gestade der See. Altashar die Alte wurde sie genannt, die Ehrwürdige, Erhabene …
»Scheiße«, knurrte Lorymar halblaut.
Nun, da er vollends erwacht war, würde es eine kleine Ewigkeit dauern, bis er wieder einschlief. Mit einem resignierenden Seufzen setzte er sich in seiner Schlafstatt auf, was aufgrund der Kissenberge, die ihn umgaben, mit einigem Aufwand verbunden war, und ließ die kurzen Beine herabbaumeln. Im Halbdunkel, das in der Schlafkammer herrschte, tastete er nach dem kleinen Beistelltisch, auf dem die noch halb gefüllte Karaffe stand. Mit geübtem Griff langte er nach dem Becher und goss sich ein.
Wein als Schlaftrunk.
Zum Trost in der Nacht.
Zum Erwachen am Morgen.
Zur Löschung des Dursts am Tage sowie zu einem satten Dutzend weiterer Gelegenheiten, die Lorymar unmöglich alle aufzählen konnte. Vielleicht würde er sich irgendwann hinsetzen und eine genaue Liste verfassen, der peinlichen Akribie entsprechend, mit der die Dinge am Hof von Altashar festgehalten wurden. Doch sehr viel wichtiger, als alle Gelegenheiten auswendig zu kennen, war es, im rechten Augenblick eine gut gefüllte Karaffe zur Hand zu haben. Und was das betraf, hatte Lorymar Thinkling es im Lauf seines Lebens zu erstaunlichem Geschick gebracht.
Er trank in großen, routinierten Schlucken.
Der Wein war zu warm und weder mit dem zu vergleichen, was auf den sonnigen Hängen Sarassas gedieh, noch mit jenem edlen Trunk, den man im fernen Hobheim kultivierte. Aber das Zeug erfüllte seinen Zweck, zumindest so lange, bis man wieder nüchtern wurde.
Um sicherzugehen, dass dies nicht geschah, füllte Lorymar den Becher gleich noch einmal und trank erneut bis auf den Grund. Dann wollte er sich wieder auf sein Lager sinken lassen, um sich dem Schlaf tapfer ein zweites Mal zu stellen – als jemand an die Tür seines Gemachs klopfte.
»Ja?«, fragte er. »Wer ist da?«
Gedämpftes Gelächter drang von der anderen Seite. Er hatte sich mal wieder seiner Muttersprache bedient – ein Versehen, das ihm selbst nach all den Jahren noch manchmal unterlief, vor allem, wenn er in Gedanken war oder in großer Aufregung. Für die Ostragi war das jedes Mal ein Grund zur Heiterkeit, denn in ihren Ohren klang die Sprache seiner alten Heimat dumpf und bäuerisch.
»Ist alles in Ordnung?«, drang es dumpf durch die verschlossene Tür.
»Natürlich«, knurrte Lorymar laut, nun im ostragischen Dialekt von Altashar, den er fließend beherrschte – in siebenunddreißig Jahren hatte er schließlich genug Zeit zum Üben gehabt. »Was sollte auch nicht in Ordnung sein?«
»Ihr habt geschrien, Herr«, kam es zurück.
»Ich habe …?«
Lorymar stutzte. Jetzt erst entsann er sich an den Schrei, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Offenbar hatte dieser Schrei nicht zu seinem Traum gehört, sondern war ganz und gar echt gewesen – und sein eigener.
»Es ist nichts«, versicherte er schnell.
»Seid … Ihr sicher, Herr?«
»Natürlich bin ich sicher!«
»Aber der Schrei …«
»Ist dies mein Gemach oder nicht?«, begehrte Lorymar auf. »Und ist es mir gestattet, in meinem Gemach zu lassen und zu tun, was mir beliebt, oder nicht?«
»Natürlich, Herr.«
»Also schert euch gefälligst fort, habt ihr verstanden?«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, griff er nach der Karaffe aus Messing und warf sie, sodass sie gegen die verschlossene Tür krachte und auf den Boden schepperte. Daraufhin waren von jenseits des dicken Zedernholzes leiser werdende Schritte zu hören und das Klirren von Kettenhemden. Die Wachen entfernten sich.
Mit einem Stoßseufzer ließ sich Lorymar wieder auf sein Lager nieder. Sein Herz schlug jetzt noch schneller als zuvor, so sehr hatte er sich aufgeregt – nicht der aufdringlichen Wachen wegen, die im Grunde ja nur ihre Pflicht taten, sondern weil er im Schlaf geschrien hatte. Denn inzwischen glaubte er sich zu erinnern, was er gerufen hatte. Es war nicht nur einfach ein Schrei gewesen oder ein unartikulierter Laut, sondern ein Name, den er laut gerufen hatte – und er war froh, dass die Palastwachen ihn wohl nicht verstanden hatten.
Lorymar schluckte hart.
Er würde sich vorsehen müssen für den Fall, dass die Träume sich noch verstärkten. Bislang hatte es ausgereicht, sich mit Wein zu betäuben, aber was, wenn Freund Rebstock ihm diese Gunst nicht länger erwies? Würde er dann zu noch einschneidenderen Maßnahmen greifen müssen? Womöglich die Macht des Ophirs bemühen? Und wenn auch das nicht mehr genügte? Was dann?
Während er wieder in den Kissen versank, bedauerte er mit der Karaffe auch den letzten Rest Wein an die Tür seines Gemachs geschleudert zu haben, von wo er nun herabrann und leise zu Boden tröpfelte. Lorymar zählte jeden einzelnen Tropfen mit, bis endlich fern im Osten der Morgen heraufdämmerte und ein neuer Tag begann.
Ein neuer Tag im Leben von Lorymar Ghurab Thinkling – dem Zwerg des Königs von Altashar.
Nördliches Bordland
Nur wenig später
Von einer hohen Klippe aus beobachtete Rayan das Geschehen – aus sicherer Entfernung und doch nah genug, um alles zu erkennen, zumal der Regen nachgelassen hatte und die Schleier weniger dicht waren.
Es war nicht zu verhindern gewesen, sagte er sich. Und doch schmerzte es ihn wie eine Messerklinge, die sich tief in sein Fleisch gebohrt hatte – das Wissen, Hilfe verweigert und geschwiegen zu haben, als er hätte reden sollen.
Doch was hätte es genützt?
Nichts.
Lodernde Flammenschweife nach sich ziehend, stiegen die Pfeile in den dunklen Himmel, erreichten den höchsten Punkt ihrer Flugbahn und senkten sich dann wieder, fielen dem Boden entgegen und bohrten sich in die Dächer der Häuser. Ihre Schäfte waren mit pechgetränkten Lappen umwickelt, sodass die Schindeln trotz des Regens sofort Feuer fingen. Hell brannten die Flammen in der Nacht, und als wäre dies das Signal, wälzten sich aus den umgebenden Hügeln dunkle Gestalten auf das Dorf zu, in deren Händen blanke Äxte und Schwerter schimmerten und von deren Helmen Hörner und Geweihe ragten.
Das Gebrüll, das die Nordmänner anstimmten, als sie über das Dorf herfielen, die Türen einschlugen und in die Häuser eindrangen, war so laut, dass es bis zu Rayan herüberdrang, und es hatte kaum etwas Menschliches an sich. So weit war es mit den Menschen gekommen in dieser bis ins Mark gespaltenen, zerrissenen Welt.
Erschüttert beobachtete er, wie die Dorfbewohner aus ihren Häusern getrieben wurden, wie die grausamen Barbaren die Männer erschlugen und über die Frauen herfielen, den hungrigen Wölfen gleich, die das Schild über dem Wirtshaus beschwor. Er konnte sehen, wie die Männer, mit denen er eben noch am Feuer gesessen hatte, die über seine Lieder und Zoten gelacht hatten, ins Freie gezerrt und abgeschlachtet wurden, wie man ihre Köpfe auf Spieße steckte, die man in den morastigen Boden rammte. Grauen packte ihn, und er wandte sich ab im Wissen, dass er all dies bereits einmal gesehen hatte.
Vor wenigen Augenblicken.
Er war nicht mehr in der Lage, Trauer oder Mitgefühl zu empfinden, denn wenn er etwas gelernt hatte, dann dass sich manche Dinge nicht verhindern ließen, ganz gleich, wie sehr man es versuchte. Und so war dort, wo Bestürzung und Mitleid, Reue und Skrupel hätten sein sollen, nur entsetzliche Leere. Eine Leere in seinem Herzen und seinen Gedanken, in allem, was er war – und die ihn langsam aufzufressen drohte.
»Sänger!«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm.
Er fuhr herum – nur um sich einer Gruppe von Männern gegenüberzusehen, die lederne Röcke trugen und Tüchern vor den Gesichtern, die nur zwei schmale Sehschlitze frei ließen.
Der Griff zu dem Dolch an seinem Gürtel war ein sinnloser Reflex – er konnte es unmöglich mit allen gleichzeitig aufnehmen. Und noch während ihm diese Erkenntnis dämmerte, traf ihn etwas hart und schwer am Kopf, und er brach zusammen.
Hospital von Altashar
Am nächsten Morgen
»Und diese Träume kehren immer wieder?«
»Nein.« Lorymar schüttelte den Kopf, der ihm wie an jedem Morgen heftig brummte – zu viel Wein und zu wenig Schlaf … »Das heißt, eigentlich ja.«
»Was nun?«
Ildarim stemmte die ebenso langen wie dürren Arme in die Hüften und sah ihn aus seinen faltigen Zügen an. Lorymar hielt dem Blick des Alten stand, musste dazu allerdings den Kopf in den Nacken legen, was nur noch mehr wehtat.
»Manchmal kehren die Träume wieder«, gestand er widerstrebend ein, »und manchmal auch nicht. Was gilt es Euch, Heiler? Ich habe Euch nicht aufgesucht, damit Ihr mich mit Fragen löchert, sondern damit Ihr mich von diesem elenden Kopfschmerz und dieser Schlaflosigkeit befreit.«
»Das Erste ist leicht«, meinte der Gelehrte in unverhohlener Belustigung. »Sprecht dem Wein weniger zu, und Ihr werdet sehen, wie sich der Schmerz von ganz allein legt.«
»Ein billiger Rat«, knurrte Lorymar – wobei natürlich nicht von der Hand zu weisen war, dass der Heiler recht hatte. Aber eigentlich war das Schädelweh ja auch nicht der Grund dafür, warum Lorymar seine Abneigung gegen alle Ärzte und Quacksalber überwunden und sich zu einem Besuch im Hospital der Stadt überwunden hatte. Er hatte es wohl nur gesagt, um eine falsche Fährte zu legen und von seinem eigentlichen Problem abzulenken. Doch der alte Ildarim hatte nicht von ungefähr seinen Namen, der übersetzt »der Allwissende« bedeutete.
»Es wundert mich«, meinte er kopfschüttelnd, wobei er sich den langen grauen Kinnbart zupfte. »Etwas passt hier nicht zusammen. Wein ist gewöhnlich nicht das Getränk, auf das sich böse Träume einstellen. Ich habe hin und wieder sogar schon geringe Dosen als Schlaftrunk empfohlen.«
»Dann bin ich wohl eine Ausnahme«, grunzte Lorymar missmutig. Es war erniedrigend, um Hilfe zu betteln. Im Nachhinein hätte er sich für seine Entscheidung, das Hospital aufzusuchen, am liebsten geohrfeigt. »Am besten, ich werde wieder gehen«, meinte er deshalb, »und …«
»Nicht so eilig«, hielt der Heiler ihn zurück. »Ihr habt diese Hallen aufgesucht, weil Euch ein Leid bedrückt, und in den Schriften Herkabs heißt es, dass niemand abgewiesen werden soll, der unserer Hilfe bedarf.«
»Ihr habt mich nicht abgewiesen«, brachte Lorymar in Erinnerung, während er bereits Richtung Ausgang watschelte. »Ich bin freiwillig gegangen.«
»Ich habe Euch aber noch nicht entlassen«, beharrte der Allwissende, und die Art und Weise, wie er seine Worte betonte und Autorität in seine Stimme legte, behagte Lorymar gar nicht. Man konnte sich nicht dagegen wehren.
»Diese Träume«, kam Ildarim wieder auf den Kern der Sache, energischer diesmal, »kehren also wieder.«
»Nun … ja.«
»Warum geht es dabei?«
Lorymar wich dem forschenden Blick des Heilers aus. Verdammt, was sollte die Fragerei? Was wurde der alte Schwachkopf plötzlich so neugierig? »Warum ist das wichtig?«, wollte er wissen.
»Weil es mir der Schlüssel zu Eurem Problem zu sein scheint. Herkab schreibt, dass die Ursachen einer Krankheit oftmals nicht im Körper einer Kreatur zu suchen sind, sondern in ihrer Seele.«
»Ist mir egal, was Herkab schreibt«, schnaubte Lorymar verdrossen. »Ich bin nicht krank, ich schlafe nur nicht besonders gut, das ist alles.«
»Seit fünf Monden«, brachte Ildarim in Erinnerung, was Lorymar ihm zu Beginn leichtsinnigerweise erzählt hatte. Das Gedächtnis des Greises schien noch bestens zu funktionieren.
»Seit einer Weile«, drückte Lorymar es freundlicher aus. »Also gebt mir irgendetwas aus Eurer Kräutertruhe, damit ich wieder zu meinem verdienten Schlaf komme, und lasst es dabei bewenden.«
»Das würde ich gerne, aber so einfach ist das nicht. Die Lehre Herkabs kennt Hunderte unterschiedlicher Arzneien. Dabei ist wohl zu erwägen, welche in welchem Fall zur Anwendung gelangt – und für diese Entscheidung stellt die Untersuchung des Patienten die wichtigste Grundlage dar. Herkab betont überdies, dass sich diese Untersuchung nicht nur auf die körperliche, sondern auch auf die Gemütsverfassung des Hilfesuchenden beziehen muss.«
»Da seid ganz unbesorgt, um die ist es tadellos bestellt«, beteuerte Lorymar schnell.
»Und da seid Ihr Euch sicher?« Der Blick des Heilers fokussierte sich erneut, wurde ernst und prüfend. »Bisweilen sind es Begebenheiten aus unserer Vergangenheit, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen und deren Geister uns bis in die Gegenwart verfolgen.«
»Ich glaube nicht an Geister«, stellte Lorymar klar. »Und da ist auch sonst nichts, das mich verfolgen würde, ich bin mit meiner Vergangenheit im Reinen. Also gebt mir jetzt entweder etwas aus Eurer Giftküche oder lasst es bleiben, aber hört auf, mir Ratschläge zu erteilen, derer ich nicht bedarf!«
»Verzeiht«, gab Ildarim mit mildem Lächeln zurück. »Mir war nicht bewusst, dass Euch die Sache so nahegeht. Aber ich habe nicht an der Universität von Medras unter den größten Heilern des Reiches studiert, um mich von einem Zwerg verunglimpfen zu lassen«, konterte der Alte. »Ihr seid gekommen, weil Ihr meine Hilfe wolltet. Nicht umgekehrt.«
»Das ist wahr«, kam Lorymar nicht umhin zuzugeben. Er war jetzt vollends davon überzeugt, dass es töricht gewesen war, den Heiler aufzusuchen. Was konnten diese Quacksalber anderes als gescheit daherreden? Nichts, rein gar nichts … »Ein Fehler, der nicht wieder vorkommen wird«, fügte er schmollend hinzu, machte auf dem Absatz kehrt und verließ nun endgültig das Behandlungszimmer.
»Nehmt das nicht auf die leichte Schulter!«, rief Ildarim ihm hinterher. »Der Mensch braucht Schlaf, um zu innerer Ruhe zu finden. Möglicherweise könnten Euch auch Bäder wohl bekommen! Ein Dampfbad mit Kräutern vielleicht …«
Lorymar drehte sich nicht mehr um. Schnaubend trat er in die Empfangshalle des Hospitals, deren hohe, fassartig gewölbte Decke von Säulen getragen wurde und in deren Mitte ein Brunnen sprudelte. Auf den steinernen Bänken zwischen den Säulen saßen Leute mit allerhand Gebrechen und warteten darauf, zum großen Ildarim vorgelassen zu werden. Lorymar sah sie mit Verachtung. Sollten diese armen Kreaturen doch den Scharlatan aufsuchen – er würde ganz sicher nicht mehr an diesen Ort zurückkehren, niemals wieder.
Die Blicke, die man ihm zuwarf, versuchte er zu ignorieren. So lange weilte er nun schon in Altashar, und doch schienen die Ostragi sich nicht an seinen Anblick gewöhnen zu können. Oder vielleicht, dachte er wutschnaubend, gab es auch immer noch ein paar zurückgebliebene Idioten, die Lorymar Ghurab Thinkling, den Zwerg des Königs, nicht kannten.
ghurab