JOACHIM FUCHSBERGER
ZIELGERADE
Gütersloher Verlagshaus
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Coverfoto: Niko Schmid-Burgk / photoselection, Hamburg
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-10891-5
www.gtvh.de
Inhalt
Die Eskaladierwand
Der Anfang vom Ende?
Beobachtungen am Rande
Meiner Regierung gewidmet
Onkel, donn mich eene Penning
Die Erde auf der Zielgeraden?
Denn erstens kommt es anders ...
Gibt es den lieben Gott?
Freunde
Mutproben
Eigener Herd
Über den Wolken
Wir sind das Volk!
Sag deinem Vater guten Tag!
Im Land des begrenzten Wohlgefühls
Schlag auf Schlag
Bilderhunger
Wutausbruch auf Französisch
Großaufnahme
Lügen zur rechten Zeit
Gerts Geschenk
Beruf und Berufung
War’s das?
Lichtblicke in der Show-Wüste
Futter für die Krokodile
Der Scheibenwischer
Gundels Vorahnungen
Dahoam is dahoam
Nun regiert mal schön
Messer und Schere, oder: Geh gerade!
Respekt
Alles nur Lug und Trug?
Hand in Hand
Die Eskaladierwand
Komisch. »Eskaladierwand.« Kein Mensch scheint dieses Wort zu kennen. Wo ich es in die Runde werfe, erstaunte Blicke, Schulterzucken, Kopfschütteln. Wissen Sie es? Na sehen Sie …
Eine Eskaladierwand ist ein übermannshohes Ungetüm aus Holz. Man zwingt Menschen zuweilen, diese Wand anzuspringen und an ihr hochzuklettern, um auf der anderen Seite mehr oder weniger sanft auf dem Boden zu landen. Mit den Füßen zuerst, womöglich, sonst vielleicht auch auf der Schnauze. Beim Barras zum Beispiel, bei Sport- und Leibesertüchtigungsveranstaltungen. Ehrlich, sind Sie über dieses Wort ohne Straucheln weggekommen? »Leibesertüchtigungsveranstaltungen.« Ein Wortungetüm, eine phonetische Eskaladierwand.
Und vor so einer stehe ich mit diesem Buch. Den Titel hab’ ich, das Grundthema auch, aber dann?
Fünfmal habe ich angefangen zu schreiben. Nach jeweils zwanzig mühsam errungenen Seiten sah ich ein, dass ich mich am Thema verhoben hatte. Immer wieder hab’ ich diese Eskaladierwand angesprungen, hing wie ein nasser Sack an ihr, keuchte und pfiff wie eine alte Dampfmaschine … und kam nicht drüber.
Jetzt versuch ich es noch mal. Zwei Freunde, unterschiedlichen Geschlechts, machten mir Mut.
»Gib nicht auf!«, sagte der eine.
»Mach weiter!«, sagte die andere.
Ich schilderte meine Schwierigkeiten, die durcheinanderwirbelnden Erinnerungen, Reflexionen, Assoziationen zum Verlauf meines Lebens in den Griff zu bekommen. Jetzt, auf der »Zielgeraden«.
»Wenn ich, wie so oft in den letzten Jahren, in stillen Nächten in Krankenhäusern liege, ist es, als ob meine Vergangenheit wie in einem Kaleidoskop an meinem geistigen Auge vorbeizieht. Die Bilder vermischen sich, gehen ineinander über, verschwimmen, werden plötzlich kristallklar, zerplatzen, weil sie an andere Erinnerungen stoßen.« Auf vier verschiedenen Intensivstationen kommen einem viele Bilder und viele Gedanken, auch dumme.
»Das gefällt uns sehr«, sagten die beiden Freunde unterschiedlichen Geschlechts, »die Idee mit dem Kaleidoskop.«
Sie sagten es getrennt und zu unterschiedlichen Zeiten, also dachte ich darüber nach. Das mit dem Kaleidoskop hat Vorteile. Ich muss mich an keine Chronologie halten, kann Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einfach mischen, ohne auf gelungene Übergänge aufpassen zu müssen. Das gefällt mir. Ihnen hoffentlich auch.
Also ran an die Eskaladierwand!
Der Anfang vom Ende?
»Du hast einen Schlaganfall«, sagte Max, Hausarzt und Freund, einsneunzig groß, mit einer Stimme wie die tiefste Orgelpfeife. Bei mir nenne ich ihn den »Yes Man«, weil er jeden Satz mit einem im Ton leicht ansteigenden »Jaaa« beendet.
Einigermaßen verzagt lag ich im Fernsehsessel. Gundel, meine Regierung, war nicht zu Hause. Max, eilig herbeigerufen, stand also wie ein Berg vor mir. Aus seiner Höhe donnerte er zu mir herunter:
»Ins Krankenhaus mit dir – so schnell wie möglich, jaaa! Ich regle das mit dem Transport, jaaa! Bleib, wie du bist, die Gundel kann dir ja später alles nachbringen, jaaa!!«
Ich dachte, mich trifft der Schlag. Er traf mich einigermaßen unvorbereitet auf der rechten Seite, und so lag ich nach knapp einer halben Stunde in der »Stroke Unit« des Klinikums Harlaching im Süden Münchens. In der vortrefflichen Schlaganfall-Abteilung belehrte man mich, was für ein ungeheueres Glück ich gehabt hätte!
Wie bitte? Ungeheueres Glück bei einem Schlaganfall? Eher dachte ich, ob mein letztes Buch »Altwerden ist nichts für Feiglinge« nicht vielleicht doch den falschen Titel hatte?! »Altwerden ist Scheiße« käme der Sache und meinem Gefühl eigentlich näher.
Der Schlaganfall erwies sich, dank Schicksal und starker Blutverdünnung, als »Schlägle«.
»Das hätte Sie bös erwischen können!«, meinte der behandelnde Arzt.
Bös? Mir war’s bös genug! Das rechte Bein war plötzlich so schwer, dass ich es nicht mehr vom Boden wegbrachte. Die rechte Hand zitterte derart, dass mir der Telefonhörer und alles andere, was ich zu greifen versuchte, entglitt. Die rechte Gesichtshälfte verzerrte sich zu einer Grimasse und entzog sich meiner Kontrolle. Damit hätte ich auch als Phantom der Oper auftreten können, oder als Glöckner von Notre-Dame.
Ich will nicht mit zu vielen Details langweilen. Nach dreiwöchiger Rehabilitation in einer Spezialklinik in Bad Tölz durfte ich endlich nach Hause. Ärzte und Pflegepersonal hatten mir geholfen, mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Mit dem körperlichen hapert es bis heute, trotzdem müssen Rollator oder Rollstuhl noch warten. Und der Himmel auch. Ihr Ärzte, ihr Schwestern, ihr Pfleger, ihr Therapeuten, ihr Köche in der Bad Tölzer Klinik, habt Dank!
Jetzt lerne ich wieder einigermaßen normal zu gehen, die rechte Hand ist immerhin so weit, dass ich den PC bedienen und schreiben kann. Aber bin ich im Kopf auch schon so weit?