KYLE
MILLS
DIE
SPUR
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Hans Schuld
Ohne dass die Reihenfolge etwas zu bedeuten hat, möchte ich mich bedanken: bei Elaine Mills für ihre zunehmend professionellere Betätigung als Lektorin und dass sie für mich den Markt im Auge behält; bei Darrell Mills, dass er mir mit seinem technischen Fachwissen hilft und im Voraus für seinen beständigen Einsatz bei der Vermarktung; bei meiner Frau Kim für ihr großes Verständnis und ihre Mühen, hauptsächlich aber dafür, dass sie die gelegentlichen Panikattacken ertragen hat, die vermutlich alle Schriftsteller bei ihrem zweiten Buch erfassen; bei Laura Liner, dass sie mir den Soundtrack lieferte; bei Robert Gottlieb und Matt Bialer von William Morris für ihre Begeisterung und ihren unermüdlichen Einsatz; und schließlich bei John Silbersack, Caitlin Blasdell und dem Rest der Truppe bei HarperCollins, die wirklich ganz Erstaunliches für mich geleistet haben.
Beim Schreiben dieses Romans hatte ich die schwierige, aber faszinierende Aufgabe, mir eine neue Religion auszudenken. Zu diesem Zweck bediente ich mich bei vielen verschiedenen Glaubensgemeinschaften und ergänzte alles mit einer kräftigen Portion meiner eigenen Phantasie sowie dem Geist von George Orwell.
Da alle Religionen gewisse Gemeinsamkeiten haben, könnte es sein, dass der eine oder andere Ähnlichkeiten mit den unterschiedlichsten heutigen Glaubensgemeinschaften entdeckt. Ich versichere allerdings, dass solche Ähnlichkeiten reiner Zufall und keineswegs beabsichtigt sind.
Tragischer Herzanfall im zarten Alter von fünfzehneinhalb, dachte Jennifer Davis. So würde es morgen in der Zeitung heißen.
Sie stellte sich in die Pedale, musste sich aber wieder setzen, als das Hinterrad ihres Mountainbikes die Bodenhaftung verlor. Über die Hälfte der letzten Steigung hatte sie zwar geschafft, doch langsam hatte sie das Gefühl, ihre Lungen seien mit heißem Teer gefüllt, und noch schlimmer war, dass das unverkennbare Knirschen von Reifen immer näher kam.
Jennifer blickte über die Schulter, ohne den prachtvollen Sonnenuntergang zu beachten, der selbst den Smog über Phoenix durchdrang, und schaute nur auf das Gesicht ihres Verfolgers.
Erfreulich, dass er in schlechter Form zu sein schien. Sein Mund stand weit offen, und trotz der trockenen Kälte in der Wüste strömte ihm der Schweiß buchstäblich die Nase hinunter.
Weniger erfreulich war, dass sie sich so fühlte, wie er aussah.
Der Anstieg wurde etwas flacher, und Jennifer stand wieder auf. Diesmal blieb der Reifen am Boden, und sie schaffte es mit letzter Kraft, ein wenig zu beschleunigen und die Führung zu halten.
Das Keuchen hinter ihr wurde lauter, was bedeutete, dass es ihrem Verfolger gelungen war, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Jennifer lenkte widerwillig etwas nach rechts, um ihm Platz zu machen, senkte dann den Kopf und trat entschlossen in die Pedale.
Ungefähr fünfundzwanzig Meter vor dem Gipfel war er nur noch wenige Zentimeter hinter ihr – und gab plötzlich auf! Sie hörte einen erstickten Fluch und das unverkennbare Klicken, als er in einen niedrigeren Gang schaltete.
Jennifer blieb in den Pedalen stehen für den Fall, dass es nur ein Trick war oder er sich noch mal fing, aber bei einem raschen Blick über die Schulter sah sie, dass er vom Rad gestiegen war und es langsam bergauf schob.
Endlich hatte sie den Gipfel erreicht. Sie stützte ihre Arme auf den Lenker und sauste vorsichtig den schmalen Weg hinab, den rechts und links eine kleine, aber begeisterte Zuschauermenge säumte.
Ihre Eltern kamen zu ihr gelaufen, als sie unter dem karierten Zielbanner hindurchfuhr. Jennifer schlang einen Arm um die Schultern ihres Vaters und glitt vom Rad. Völlig erschöpft sank sie zu Boden.
»Prima gemacht, Jen! Ich dachte schon, dieser Kerl würde dich beim Anstieg noch erwischen!« Sie schloss die Augen und hörte, wie ihr Vater das Rad aufhob und es von der Bahn schob.
»Schatz? Alles in Ordnung?«
Jennifer blinzelte in das rundliche Gesicht ihrer Mutter, die sich über sie beugte. »Bestens, Mom, alles klar. Was hab ich geschafft, Dad?«
»Vierter Platz, wie mir scheint. Ganz knapp an einem Preisgeld vorbei.«
Mit einem leisen Stöhnen stand Jennifer auf und drängte sich durch die Menge, schüttelte etliche Hände, wechselte ein paar Worte mit einigen Freunden und scherzte mit anderen Rennteilnehmern.
»Wir haben eine Überraschung für dich, Schatz«, sagte ihr Vater, als sie schließlich weiter zum Parkplatz gingen. Jennifer blieb misstrauisch stehen. Ihr Vater war nicht der Typ, der ohne besonderen Anlass etwas schenkte. Überraschungen verhießen gewöhnlich nichts Gutes. Ihr Blick fiel auf einen weißen Ford Explorer. Daneben standen drei Leute. Zwei davon winkten.
»O nein, Dad. Das ist nicht wahr!«
»Wieso? Die Taylors haben sich wirklich darauf gefreut, dich mal fahren zu sehen.«
»Ja, das stimmt, Schatz.« Ihre Mutter nickte lächelnd.
Die Taylors lebten schon, solange sich Jennifer erinnern konnte, zwei Häuser weiter, und solange sie sich erinnern konnte, versuchten die beiden Familien, sie mit Billy zu verkuppeln, dem Sohn der Taylors, einem ausgemachten Idioten, der nichts anderes als Football spielen im Kopf hatte, hinter Cheerleadern her zu sein und Budweiser zu kippen.
Mrs. Taylor eilte mit weit geöffneten Armen auf Jennifer zu, überlegte es sich allerdings noch einmal anders beim Anblick ihres verdreckten Trikots. Statt sie zu umarmen, rückte sie sich ihr ziemlich hochtoupiertes Haar zurecht und entschied sich für ein angedeutetes Küsschen auf die Wange aus sicherer Distanz. »Nein, war das beeindruckend, Jennifer. Wirklich sehr aufregend.« Sie wandte sich zu ihrem halb vertrottelten Sohn um. »Nicht wahr, Billy?« Er erwachte lange genug aus seiner stumpfsinnigen Starre, um ein schwaches Lächeln hervorzubringen.
Alle warteten schweigend, ob er tatsächlich sprechen würde, aber es kam nichts. »Wir haben uns gedacht, wir gehen irgendwohin zum Essen, ehe wir zurück nach Flagstaff fahren«, sagte ihr Vater. »Was meinst du dazu, Jen?«
»Machst du Witze? Schau mich mal an!« Jennifer nahm ihren Helm ab und breitete die Arme aus. Sie war von Kopf bis Fuß mit Dreck bespritzt. Aus einer Wunde am Knie, die von einem Sturz bei der ersten Abfahrt stammte, sickerte immer noch ein wenig Blut. Und die Krönung war, dass der Helm ihre Haare vollkommen platt gedrückt hatte.
Ihren Vater schien das allerdings nicht weiter zu stören. »Wir sagen einfach, du hast bei einem Mountainbike-Rennen mitgemacht. Sie werden es schon verstehen.«
Vermutlich meinte er damit den arroganten Oberkellner eines total hochgestochenen Restaurants, der sie anschauen würde wie eine Pennerin, um ihnen dann widerstrebend einen Tisch zuzuweisen, weil ihr Vater der größte Autohändler in Arizona war.
Seufzend ging Jennifer hinüber zum Cadillac ihrer Eltern, griff in das offene Fenster und zog einen kleinen Rucksack heraus, in dem Unterwäsche zum Wechseln, ein paar Shorts und ein Sweatshirt waren.
»Bin gleich wieder zurück«, sagte sie und eilte zu einem weißen Bus, auf dem in roten Buchstaben SERVICE stand.
»Funktioniert’s?«, fragte sie den jungen Mann, der vor dem Bus in einem Liegestuhl saß. Er legte das hoffnungslos verbogene Rad zur Seite, das er gedankenvoll betrachtet hatte, und griff nach dem Schlauch, der neben ihm lag.
»Klar, Jen. Willst du dein Bike abspritzen?«
»Meine Eltern wollen mit mir zum Essen gehen.«
Er musterte sie kritisch und angelte sich ein Bier aus seiner Kühltasche. »Ist aber bestimmt ganz schön kalt.«
Sie warf ihren Rucksack durch das Fenster des Busses und nickte entschlossen. »Mach’s trotzdem.«
»Okay, jetzt bin ich fertig.« Jennifer trug ihre sauberen Kleider und rubbelte sich den Kopf mit einem ziemlich fleckigen Handtuch trocken, das ihr Freund mit dem Bus ihr geliehen hatte. Sie beugte sich vor und schüttelte ihr unnatürlich blondes Haar aus. »Na, Billy, auch ein bisschen Fettschmiere für deine Frisur?«
Ihre Frage hatte den gewünschten Effekt: Billy starrte sie entsetzt an.
»Also, ich fand, es war ein sehr netter Abend.«
Jennifer verdrehte die Augen.
»Pass auf die Straße auf, Schatz«, warnte ihre Mutter. »Sonst zieht man dir am Ende noch Punkte bei deiner Führerscheinprüfung ab.«
Jennifer griff zum Radio und schaltete es aus. »Mom, Billy und ich kennen uns unser ganzes Leben lang. Er ist ein Idiot. Und er hält mich für einen Idioten. Mein Geschichtslehrer sagt, dass die meisten Menschen, die mit einem gemeinsamen Feind zu tun haben – in diesem Fall unsere werten Eltern –, wenigstens ein winziges bisschen Freundschaft entwickeln. Du hast sicher bemerkt, dass das bei uns nicht so ist.«
Ihre Mutter senkte den Kopf. »Sie sind so eine nette Familie. Ich begreife gar nicht, warum du dermaßen störrisch bist …«
Jennifer wandte sich zu ihrem Vater um, der hinten saß. »Jetzt hilf mir doch mal, Dad.«
Er gab jedoch keine Antwort, sondern studierte eifrig die Straßenkarte auf seinem Schoß, obwohl sie nur noch eine halbe Meile von zu Hause entfernt waren.
Folgsam schaute Jennifer wieder auf die Straße, als ihre Mutter erneut über ihre Fahrweise meckerte. »Versuch mir mal zu folgen, Mom. Billy mag Mädchen vom Typ Cheerleader – mit langen roten Nägeln, die in genau der richtigen Höhe quietschen können, wenn er ein Touchdown schafft. Außerdem habe ich einen Freund. Und der ist nicht gehirnamputiert.«
Jennifer setzte den Blinker und bog in die gewundene Auffahrt ein. Zügig fuhr sie bis zum Haus und flüchtete aus dem Auto, ehe ihre Mutter wieder von vorn anfangen konnte.
Sie hob ihr Rad vom Wagendach und versuchte, weder auf die Kälte noch auf ihre Mutter zu achten, die schmollend im Haus verschwand. Na, das würde eine tolle Stimmung heute Abend werden.
Seufzend schob sie das Rad in die offene Garage und lehnte es gegen die Wand. »Soll ich den Wagen reinfahren, Mom?«, brüllte sie durch die Tür, die in die Küche führte.
Keine Antwort. Also wieder mal das alte Spiel, mir Schuldgefühle zu machen, dachte sie, und sprang die kleine Treppe hinauf. Im Haus brannte immer noch kein Licht. »Haben wir wieder einen Kurzschluss? Dad? Soll ich mal im Sicherungskasten nachgucken?«
»Lauf, Jennifer!«
Sie erstarrte bei dem erstickten Ruf ihres Vaters, und ihr Herz begann so laut zu pochen, dass es ihr in der Stille fast in den Ohren dröhnte.
Zögernd ging sie die letzte Stufe hinauf und schlich bis zur Waschmaschine. Von dort aus konnte sie in die Küche schauen. »Dad?«
Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen nach dem Licht der grellen Glühbirne in der Garage an das Halbdunkel in der Küche gewöhnt hatten, wo nur der Mond, der durch das Fenster über dem Waschbecken schien, für etwas Helligkeit sorgte.
Ein Mann in einem dunklen Anzug zerrte gerade ihre Mutter hinüber zum Wohnzimmer. Er hatte eine Hand auf ihren Mund gepresst und drückte ihr mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu.
Jennifer widerstand dem Drang, zu ihr zu laufen und diese Hand von ihrem Gesicht zu reißen. Stattdessen wich sie zurück und wäre fast die Stufen hinuntergefallen. Als sie sich hastig an der Wand abstützte, entdeckte sie ihren Vater. Ein ebenfalls dunkel gekleideter Mann drückte ihn gegen die Küchentheke. Sein kräftiger Unterarm schnürte ihm die Kehle zu, und eine Waffe an seinem Kopf hatte ihren Vater zum Schweigen gebracht.
Loslaufen und Hilfe holen war das Einzige, was sie tun konnte, schoss es ihr durch den Kopf.
Also wirbelte sie herum und sprang mit einem Satz die Stufen in die Garage hinunter. Im Auto steckte immer noch der Schlüssel.
Die Hand, die hinter der Werkbank hervorkam, bemerkte sie erst, als diese sie am Sweatshirt packte; sie spürte nur, wie der Stoff sich plötzlich über ihrer Brust spannte und die Füße unter ihr wegrutschten. Ehe sie zu Boden fiel, schlang sich ein kräftiger Arm um ihre Taille, und kurz darauf drückte ihr jemand Mund und Nase zu.
Sie schlug wild um sich, als ihr die Luft abgeschnitten wurde. Der Angreifer hatte offenbar nicht mit so viel Gegenwehr gerechnet und geriet ins Stolpern. Jennifer griff nach seinem Arm und bekam etwas zu packen, das sich wie ein dickes Armband aus Metall anfühlte.
Doch es war hoffnungslos. Panik und Luftmangel machten sie benommen, und sie spürte, wie sie schwächer wurde, während sie dagegen ankämpfte, die Besinnung zu verlieren. Der Mann hatte rasch sein Gleichgewicht wieder gefunden und hob sie hoch, so dass sie keinerlei Halt mehr hatte.
Sie versuchte noch, sich am Türrahmen festzuklammern, als sie ins Haus getragen wurde, doch ihre verschwitzten Finger glitten kraftlos daran ab.
»Warte!«
Jennifer hörte die Frauenstimme, hatte aber keine Ahnung, woher sie gekommen war. Sie spürte, wie ihre Füße wieder den Boden berührten. Der Mann hielt sie zwar immer noch fest um die Taille gepackt und drückte ihr weiter den Mund zu, doch sie bekam wenigstens wieder Luft durch die Nase. Sie holte tief Atem und merkte, dass ihre Benommenheit etwas nachließ.
Eine Frau kam aus der dunklen Ecke hinter dem Kühlschrank auf sie zu und gab dem Mann einen Wink, seine Umklammerung noch ein wenig mehr zu lockern.
Sie war ungefähr zehn Zentimeter kleiner als Jennifer mit ihren einsfünfundsiebzig und hatte kurz geschnittenes Haar mit einem Seitenscheitel wie ein Junge. Ihre Haut musste sehr hell sein, da sie im Licht des Mondes direkt fahl leuchtete.
Die Frau blieb einen Schritt vor ihr stehen und hob die Hand. »Du musst ganz still und ganz ruhig sein«, sagte die Frau und strich Jennifer übers Haar.
Jennifer stieß einen Schrei aus, der durch die Hand auf ihrem Mund gedämpft wurde. Sie versuchte, in den Augen der Frau irgendwas zu finden, das ihr verriet, was hier geschah, aber sie wirkten nur unergründlich schwarz.
Die Frau trat einen kleinen Schritt nach rechts, damit das Mondlicht ihr Gesicht traf. »Schau mich an, Jennifer. Du wirst ruhig sein, nicht wahr?«
Ihre leise Stimme klang sanft, doch ihre Augen waren kalt und grausam. Jennifer wollte schreien, als der Mann seine Hand von ihrem Mund nahm, doch war sie wie gebannt von diesem starren Blick.
»So ist es gut.« Die Frau streichelte ihr über die Wange und den Arm. »Komm mit.« Sie fasste ihr Handgelenk. »Ich will, dass du dir etwas ansiehst.«
Sie zog Jennifer in Richtung Wohnzimmer. Jennifer wollte sich losreißen, weglaufen und Hilfe holen, aber sie hatte viel zu viel Angst. Nicht vor dem Mann, der sie überfallen hatte, oder den beiden anderen, die ihre Eltern überwältigt hatten, sondern vor dieser kleinen, bleichen Frau, deren Augen ihr verrieten, dass sie zu allem fähig war.
Widerwillig ließ sie sich zu dem kleinen Zweisitzer in einer Ecke des Wohnzimmers führen, wo dank der beiden zusätzlichen Dachfenster das Licht besser war.
Jennifer setzte sich auf das Sofa, auf dem sie so viele Abende vor dem Fernseher verbracht, Hausaufgaben gemacht, telefoniert hatte, und schaute starr zu ihren Eltern und den Männern, die sie am anderen Ende des Raums mit vorgehaltener Waffe bedrohten. Die Frau ließ sie los, ging zu ihnen hinüber und begann leise mit ihren Eltern zu reden. Jennifer beugte sich vor, um vielleicht etwas aufzuschnappen, aber eine Hand packte ihre Schulter und zog sie grob zurück.
Die Zeit schien stillzustehen. Wegen des Halbdunkels war es schwierig, ihre Gesichter zu erkennen, doch an der Körperhaltung sah sie, wie die Anspannung langsam von ihren Eltern wich. Ihr Vater war der Erste, der sich von der Wand löste, dann ging ihre Mutter auf die kleine Frau zu, schlang ihre Arme um sie und begann, erstickt zu schluchzen. Es klang, als weine sie halb aus Schmerz und halb aus Freude. Genau so hatte sie schon einmal geweint – als ein enger Freund der Familie nach einem langen qualvollen Kampf gegen Knochenkrebs gestorben war.
Jennifer entspannte sich ein wenig. Die kalte Grausamkeit, die sie in den Augen der Frau gesehen hatte, war bestimmt nur eine Täuschung in dem diffusen Licht gewesen. Ihre Eltern kannten sie offenbar. Wer weiß, vielleicht kannten sie sich seit Jahren. Vielleicht hatte auch die Frau Angst. Vielleicht war sie hier, weil sie ihre Hilfe brauchte.
Als der Mann, der neben ihrem Vater stand, ihm seine Waffe reichte, stieß Jennifer einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Mörder und Vergewaltiger hatten ganz sicher nicht die Angewohnheit, ihre Opfer zu bewaffnen. Vielleicht waren sie und ihre Familie in irgendeiner Gefahr, und diese Leute waren hier, um sie zu beschützen?
Ihr Vater strich sich mit dem Hemdsärmel über die Augen, ehe er die Waffe nahm. Jennifer sah, wie er sie voller Unbehagen in der Hand hielt. Dann richtete er sie plötzlich auf den Hinterkopf ihrer Mutter und drückte ab.
Für einen Moment hatte sie das Gefühl, in einem dunklen Kino zu sitzen und einen Film anzuschauen. Ein Ruck ging durch den Körper ihrer Mutter, ehe sie zu Boden stürzte und eine dunkle schimmernde Flüssigkeit die Wand bespritzte.
Jennifer wollte aufspringen und vom Sofa flüchten, aber der Mann hinter ihr riss sie zurück. Der Raum begann sich um sie zu drehen, ihr Magen verkrampfte sich, und ihr wurde übel.
»Daddy!«, schrie sie und versuchte sich loszureißen, als ihr Vater sich die Waffe unters Kinn drückte.
Ihre Stimme schien ihn aus seiner Trance zu wecken, und er zögerte für einen Moment. »Ich weiß, das ist hart, Schatz. Aber du gehörst nicht zu uns. Du hast nie zu uns gehört.«
Erneut krachte ein Schuss, und das Fenster hinter ihrem Vater zersplitterte von oben bis unten in einem Muster wie ein Spinnennetz, während er zusammensackte.
Schnell wandte Jennifer den Blick ab, um dieses Bild nicht mehr sehen zu müssen, und spürte, wie sie alle Kraft verlor. Sie sank nach vorn und wusste einen Moment lang nicht einmal mehr, wie man atmete. Ihr Gehirn schien sich einzig und allein darauf zu konzentrieren, das zu begreifen, was gerade geschehen war.
Ihre Eltern waren beide Einzelkinder gewesen, und ihre Großeltern waren seit Jahren tot. Vor einem Sekundenbruchteil hatte sie noch zu einer glücklichen Familie gehört, und nun war sie vollkommen allein. Es musste ein Traum sein, ein Albtraum. Ja, bestimmt war es bloß ein Traum.
Sie hörte nicht, dass die Frau näher kam, und bemerkte kaum, als sie vor ihr niederkniete. Jennifer sah kurz das Aufblitzen der Spritze in ihrer Hand und spürte, wie sie mit dem Gesicht in die Kissen gedrückt wurde. Eine Hand glitt unter ihren Bauch, knöpfte ihre Shorts auf und zog sie zusammen mit dem Slip herunter. Es folgte ein scharfer Einstich, und eine unnatürliche Hitze überflutete sie. Dann wurde alles dunkel.
»Putten ist kein Golf«, erklärte Mark Beamon und beförderte mit einem behutsamen Stoß endlich seinen Ball über die letzten sieben Zentimeter ins Loch. »Ich schätze, das müssten – na ja, sieben gewesen sein?«
»Acht«, verbesserte der Mann mit der Scorekarte. »Wenn Sie nicht so hart schlagen würden, bräuchten Sie Ihre Ergebnisse nicht mit dubiosen Rechenkünsten zu verbessern.«
Beamon zog seine rotgrün karierten Hosen hoch und holte den Ball aus dem Loch. »Ich glaube, Sie wissen einfach die genialen Feinheiten meines Spiels nicht zu schätzen, Dave.«
»Und ob, Mark. Diese Genialität ist der Grund, dass ich im Clubhaus für keinen Drink mehr zahlen musste, seit Sie nach Arizona gezogen sind.« Er nickte einem großen, stämmig gebauten Mann zu, der am Rand des Grüns stand. »Sie sind dran, Jake.«
Mark Beamon schob den Putter in seine Tasche und ließ sich auf den Fahrersitz des Carts fallen, um Jacob Layman, seinem neuen Boss, beim Putten zuzuschauen. Es war ein ganz einfacher Schlag, und Beamon versuchte, ihn mit Gedankenkraft zu unterstützen, aber der Ball ging um gute acht Zentimeter daran vorbei.
Wieder ein brillanter Plan zum Teufel gegangen, dachte er und sah, dass eine ärgerliche Röte Laymans Wangen färbte.
Layman stammte offenbar aus einer der »guten« Familien Virginias – was immer das bedeutete. Er hatte die richtigen Schulen besucht und eine erfolgreiche, wenn auch nicht außergewöhnliche Karriere beim FBI gemacht.
Aufgrund dieser Tatsache und obwohl er nicht gerade wahnsinnig unterhaltsam war, hatte er es zu respektablem Ansehen in der besseren Gesellschaft von Arizona gebracht. Ständig ließ er scheinbar beiläufig einfließen, wen er alles kannte, und sorgte auf diese Weise dafür, dass niemand seine Stellung vergaß.
Mark Beamon dagegen war ein übergewichtiges und schlecht gekleidetes Produkt des staatlichen texanischen Schulsystems. Liebste Freizeitbeschäftigung: auf Partys zu viel essen und noch mehr trinken und dann die Gäste beleidigen.
Aber Beamon hatte im Lauf der Zeit einige der kompliziertesten Fälle des FBI gelöst, die enorme Beachtung gefunden hatten. Sein Gesicht war im Fernsehen gewesen, in Zeitschriften und allen möglichen Lokalzeitungen. Mit solchen Erfolgen machte man sich mächtige Freunde.
Trotz des beinahe schon von ihm gepflegten Mangels an Umgangsformen und der Tatsache, dass er erst vor einem Monat nach Arizona gezogen war, hatte er sich bereits mit einigen der einflussreichsten Persönlichkeiten angefreundet und war plötzlich das, was seine Sekretärin einen »Partygast der Kategorie A« nannte.
Anfänglich hatte er seinen neuen Status mit Humor akzeptiert. Warum auch nicht? Klar, die Leute waren manchmal Blender oder tödlich langweilig, aber das Essen war gut, und die Getränke gab’s umsonst. Er hatte allerdings angefangen, die Sache anders zu sehen, als er eine deutliche Abkühlung in Laymans Haltung ihm gegenüber bemerkt hatte.
Zuerst hatte er geglaubt, sein neuer Boss habe herausgefunden, dass einige seiner Leute ihn übergingen und direkt zu Beamon kamen, um sich in komplizierten Fällen Rat zu holen – wozu er sie keineswegs ermutigte, im Gegenteil. Aber dann wurde ihm klar, dass es gar keine berufliche Eifersucht war. Jake hatte einfach das Gefühl, dass Beamon seinen naturgegebenen sozialen Status übertreten hatte.
Und deshalb waren sie nun hier.
Vor ein paar Jahren hätte er die ganze Sache schulterzuckend ignoriert und schließlich für seine Weigerung, sich an die Spielregeln zu halten, die Quittung bekommen. Aber inzwischen war er der neue, verbesserte Mark Beamon. Er hatte seinen Zigarettenkonsum um die Hälfte reduziert, hatte mit Sport angefangen, war tapfer und leidlich erfolgreich von Bourbon auf Bier umgestiegen und fest entschlossen, sich keine weiteren Gehirnerschütterungen mehr zu holen, indem er mit dem Kopf gegen die politische Backsteinwand des FBI rannte.
Zu der heutigen Golfpartie gehörten der Bürgermeister von Flagstaff und der Star eines Krimis, den Fox gerade in Tuscon drehte. Keiner war besonders begeistert gewesen über Beamons Drängen, seinen neuen Boss einzuladen, um die Viererrunde zu komplettieren.
Und nun lieferte Layman das vermutlich schlechteste Spiel seines Lebens.
Beamon wandte sich um und warf seine leere Bierdose in die Kühltasche, zog eine neue heraus und öffnete sie. »Machen Sie es beim nächsten wieder gut, Jake«, sagte er, als Layman seinen Putter in die Tasche stieß und sich auf den Sitz neben ihn sinken ließ.
Irgendwie sah es nicht so aus, als ob er seine Worte als Friedensangebot verstand – wie sie gemeint gewesen waren. Beamon trat aufs Gaspedal und sauste den Weg hinunter. Der kalte Wind drang durch sein Golfhemd, und er bemühte sich, nicht daran zu denken, dass der Mann neben ihm wahrscheinlich gerade überlegte, wie er auf irgendeine Art und Weise das Wort »Arschloch« in seiner nächsten Beurteilung unterbringen konnte.
Am nächsten Loch nahm Beamon seinen Driver und ging zum Tee, während Layman schmollend im Cart sitzen blieb. Als ihre Partner näher kamen, ertönte das unverkennbar Zirpen eines Piepsers. Layman schaute auf seinen Gürtel und der Bürgermeister auf seine Tasche, aber Beamon hielt seinen bereits triumphierend hoch. »Meiner.«
Er ließ den Driver fallen, ging zurück zum Cart und kramte in der Tasche nach seinem Handy. Mit ein wenig Glück hatten Terroristen ein Stadion voller Collegestudenten gestürmt und alle als Geiseln genommen. Andernfalls würde er sich wahrscheinlich in den Fuß schießen müssen, damit er um die letzten sechs Löcher herumkam.