Das Buch
Westbam war einer Ersten, der in den frühen Achtzigern nicht nur Platten aneinanderreihte, sondern mixte und damit die DJ-Kultur in Deutschland begründete. Als Punkrocker spielte er Bass bei den Genialen Dilettanten. Bei seinem ersten Gig als DJ hatte er keine eigenen Platten, aber bereits einen Manager. Er spielte ein bisschen Krieg mit DAF auf dem Pukkelpop-Festival und mixte drei Tapes für die erste Loveparade. Hier erzählt Westbam erstmals seine persönliche Geschichte, vom tiefsten Underground im Penny-Lane-Friseursalon bis hin zu Mark ’Ohs Schlager-Technohit Tears Don’t Lie, von frühen Vorort-Raves in England bis hin zu exzessiven Partys in Rotterdam, von der Zeit der kollektiven Glückssuche nach dem Mauerfall bis zu den Tagen, als alles Pop wurde.
Der Autor
Westbam aka Maximilian Lenz, geboren 1965 in Münster, ist einer der bekanntesten DJs der Welt. Als einer der ersten machte er das DJing berühmt, war Ideengeber und Veranstalter des größten House- und Techno-Events Mayday und der einzige DJ, der auf allen Loveparades aufgelegt hat. Seine Platten verkaufen sich millionenfach, seine Auftritte führen ihn um den ganzen Erdball. Er lebt in Berlin und ist Vater von zwei Kindern.
WESTBAM
DIE MACHT
DER NACHT
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
ISBN: 978-3-8437-1079-4
© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagfotografien: © Andrea Stappert
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
»Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen schleift es mit sich.«
Seneca
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Motto
PROLOG
ÜBUNGSRAUM
DISCO DEUTSCHLAND
THE HOUSE OF HOUSE
HOLD ME BACK
THE ROOF IS ON FIRE
MAYDAY
RAVING SOCIETY
SONIC EMPIRE
BLEIBEN UND ABFAHREN
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Die neunziger Jahre beginnen mit einer Abschiedsszene.
Ich wachte auf und wusste nicht, wo ich gerade war und was ich hinter mir hatte. Der Kater war fürchterlich. Ich tastete mit der rechten Hand am Lattenrost entlang. Ein komisches Geräusch war zu hören, außerdem roch es nach alten Schrottautos, einer Mischung aus porösen Gummireifen und hundertmal feucht und wieder trocken gewordenen Polsterbezügen. Ganz langsam wurde mir klar, dass ich in einem Campingwagen war und der letzte Abend der Macht der Nacht hinter mir lag.
Das Geräusch entpuppte sich als ein Rauschen, von dem ich nicht erkennen konnte, woher es kam. Ich stand auf, verließ den Wohnwagen und wankte Richtung Zirkuszelt. Dasselbe Zirkuszelt, aus dem ich getaumelt war, bevor ich kurz schlafen ging.
Das Rauschen identifizierte ich jetzt als einen immer wieder aufbrausenden Applaus. Ich trat in das Zelt ein, und da sah ich all diese Gestalten, mit denen ich die letzten Jahre verbracht hatte, im Halbkreis in der Mitte der Tanzfläche sitzen. Die Lichtstrahler waren vom Haustechniker genau auf sie gerichtet, ansonsten war es stockdunkel.
Hirschfeld, eine der Thekenkräfte, fast schon eine Thekenlegende, war aufgesprungen. Er verbeugte sich. Ich hatte keine Ahnung, warum. Die Menschen im Halbkreis jubelten ihm zu, und der Applaus erklang erneut. Was sollte das nur?
Es war wie der zehnte Vorhang einer völlig ekstatisch gefeierten Theaterinszenierung. Während Hirschfeld unter Bücklingen rückwärts die Bühne verließ, war Jürgen Müller vom Baguette-Stand aufgesprungen. Der Applaus brandete wieder auf, und erneut jubelte der Macht-der-Nacht-Staff. Jetzt erst bemerkte ich, dass der Applaus vom Band kam.
Dann sah ich Holle, den Hauselektriker, Judith, die Tochter des Chefs, meine Freundin die Schlangenfrau Mrs Rose und meinen Bruder Fabian. Neben Hirschfeld saßen Modelmock, sein Thekenpartner, und Thomas Kleutgen, der Chef vom Dienst und Freund von Judith. Ich entdeckte auch Bob Sharestani, den Cocktailmixer von der VIP-Bar im Raubtierkäfig. Auch Peter Rubin, der alte Hippie und Zauberer der psychedelischen Lichteffekte, war noch wach. Jeder trat einmal ins helle Licht, um sich seine 15 Sekunden Fame abzuholen. Mir dämmerte: Von denen war noch keiner schlafen gewesen. Ich fragte mich, wie lange dieses Encore schon ging. Die Applausaufnahme, die dieser Veranstaltung den Rhythmus gab und in einer Endlosschleife lief, stammte von Hans Otto Richter von der Künstlergruppe Stressjets.
Man feierte sich selbst und warf damit seine Schatten voraus auf die neunziger Jahre. Jeder war ein Star in dieser Feier-Urgemeinde und Prototyp dessen, was wir später die ravende Gesellschaft nennen würden, ein komplexes Sozialsystem, das sich feiert und vom Feiern lebt. Ein Party-Perpetuum-mobile.
Als Nächstes fiel mein Blick auf DJ Lupo. Er war mit Pflastern übersät und mit großflächigen braunen Jodflecken. Man konnte fast meinen, dass noch Schläuche aus ihm raushingen, so lädiert sah er aus. Zehn Stunden zuvor hatte er in irgendeinem Krankenhaus am Tropf gehangen.
Lupos Geschichte dieses Abends hatte bereits dreißig Stunden vorher und 300 Kilometer entfernt begonnen. Er war zunächst bei Freunden in Hannover gewesen. Man hatte gemeinsam am Küchentisch gesessen, viel gefeiert und geredet und mit allerlei legalen und illegalen Betäubungsmitteln experimentiert. Und als Lupo schon übel zugerichtet war, musste ihm klargeworden sein: Heute Abend findet der Abschied von der Macht der Nacht statt. Sofort machte er sich auf den Weg nach Düsseldorf. Doch schon im Treppenhaus wurde er müde. Auf den Treppenstufen sitzend, ist er eingeschlafen. Seine Freunde entdeckten ihn einige Zeit später, als sie die leeren Flaschen nach unten brachten. Sie versuchten, ihn zu wecken, was aber nicht gelang. Dann probierten sie, ihn in die Wohnung zurückzutragen, was auch nicht gelang. Daraufhin erschienen verschiedene Nachbarn, deren Weckversuche ebenso wenig von Erfolg gekrönt waren. Die Polizei wurde gerufen. Doch auch ihr gelang es nicht, Lupo zu wecken. Schließlich wurde er von der Hannoveraner Feuerwehr in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht, wo man ihn an den Tropf hängte. Irgendwann wachte er auf, entfernte reflexartig alle Schläuche, zog sich an und verließ das Krankenhaus. Jodverschmiert kaperte er ein Taxi und ließ sich nach Düsseldorf zum Hafen fahren. Am Eingang des Zeltes, in dem die Macht der Nacht ein letztes Mal stattfinden sollte, löste mein Bruder ihn für stolze 400 DM aus.
Der letzte Vorhang fiel, und wir standen noch immer an derselben Stelle im Zelt. Modelmock, mein Bruder und ein Freund von Jürgen Müller beschlossen, den Macht-der-Nacht-Abschied mit einer Bootstour auf dem Rhein zu krönen. Während ich mich noch fragte, woher sie auf einmal ein Schlauchboot hatten, waren sie schon dabei, es zu Wasser zu lassen. Sofort war auch die Wasserschutzpolizei in einem Motorboot zur Stelle. Zweifellos retteten die Wasserschutzpolizisten durch ihr promptes Eingreifen die Trunkenbolde. Das aber wussten diese Boys in dem Moment offensichtlich nicht zu schätzen. Aufgeregt und wild gestikulierend, standen sie am Rheinufer herum.
Es kam zu einer Planänderung: Unweit von Düsseldorf gab es einen kleinen höllischen Laden in Krefeld mit dem ganz und gar unpassenden Namen Aura. Es war einer der ersten im Rheinland, die man neuerdings auch in Deutschland »After Hours« nannte. Den Begriff hatte ich bis dahin nur in New York gehört für Schuppen wie das Save the Robots in der Lower East Side, Läden, deren Kundschaft zu fortgeschrittener Stunde einfach noch nicht nach Hause wollte oder konnte. Leute wie wir.
Schon saß man in mehreren Autos, und es ging Richtung Krefeld. Dabei kam mein Bruder, der in einem anderen Auto saß, in eine Verkehrskontrolle – was, wenn man eine Flasche Whisky und drei Ecstasys intus hat, meistens zum sofortigen Verlust des Führerscheins führt. Die Polizisten nahmen ihn auch gleich mit. Als er auf der Rückbank des Polizeiwagens saß, erinnerte sich Fabian allerdings daran, dass er ein kleines Päckchen Speed in seiner Hosentasche hatte, was er dann auch sogleich an Ort und Stelle unauffällig wegschnupfte. Auf der Wache musste er ein paar Reaktionstests über sich ergehen lassen: auf einer Linie laufen, Finger an die Nase halten, auf einem Bein hüpfen, das ganze Programm. Fabian stellte sich dabei dermaßen geschickt an, dass nichts zu beanstanden war. Er zog sogar eine so extrem lustige Show ab, dass die Beamten beschlossen, ihre Kollegen aus den anderen Abteilungen hinzuzuholen. Nicht um ihm Blut abzuzapfen oder ihn in die Ausnüchterungszelle zu verfrachten, sondern nur, um sie an der souveränen Show dieses Typen teilhaben zu lassen, der die ganze Amtsstube rockte und auf unerklärliche Weise von einem anderen Stern zu sein schien. Anscheinend hatten sie ihn ins Herz geschlossen, denn schließlich ließen sie ihn laufen.
Er tauchte mit einstündiger Verspätung im Aura auf – mit einer neuen Lach- und Sachgeschichte auf Lager.
Das Aura war mit dreißig Gästen eher mager gefüllt, neun davon waren von der Macht der Nacht. Und es lief ein schrecklicher Sound. Relax your body tönte der schlechte Rap über einem What time is Love-Loop von KLF. Auf dem Plattencover war ein schwarzer Mann, der, nur mit Jeans und Mütze bekleidet, einen aufblasbaren Globus hochhielt. Sollten doch alle auf dem gesamten Planeten ihren Body relaxen. Wir waren noch nicht so weit.
Mein Bruder und ich hatten plötzlich Lust bekommen, die Besten, Stärksten und Übriggebliebenen des Wochenendes noch einmal zu rocken. Der Resident-DJ war dankbar und zog sich gleich an die Bar zurück. Er setzte sich auf einen Hocker neben die Bardame. Von dort winkte er uns jetzt freundlich zu. Wir kramten durch seine Platten und fanden so gut wie nichts, was wir kannten, aber genug, um die Party noch ein bisschen weiter zu treiben. In solchen Momenten spielt man nicht das, was man sucht, sondern einfach das, was man findet. Wir rissen die Platten aus den Hüllen und schmissen sie auf die Plattenteller. Dann skippten wir mit dem Daumen an der Nadel quer über das Vinyl, hörten uns mit dem Kopfhörer durch die Tracks und fanden schließlich irgendwelche Stücke auf den B-Seiten, die zu dem passten, was aktuell lief, und schon wurde es eingemixt. Es ging weiter und weiter.
In den nächsten Jahren wurde dieser Irrsinn immer populärer. Unter dem Banner Techno gab es immer mehr Partys und After Hours, da sich immer größere Teile der Bevölkerung der Bewegung anschlossen. Mitte der neunziger Jahre wurde die ravende Gesellschaft ausgerufen. Doch zum damaligen Zeitpunkt hätte man noch nicht ahnen können, dass sich diese Art zu feiern in den nächsten fünf Jahren so verbreiten würde – und diese Abstürze die Speerspitze einer neuen Popkultur bildeten.
Lupo hatten wir auf dem Weg zwischen Düsseldorf und Krefeld wieder verloren. Er war wohl mit einer Frau in einer anderen Stadt gelandet. Wie er zu seinem Campingwagen zurückgefunden hat, in dem wir ihn abends in voller Montur laut schnarchend wiederfanden, ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Denn er konnte sich weder an den Namen der Stadt noch an den der Frau erinnern. In der dichtbesiedelten Gegend gibt es viele, die in Frage hätten kommen können. Sowohl Städte als auch Frauen. So wird es für immer eines der Rätsel dieses gelungenen Abends bleiben. Sicher war nur: Er war verliebt.
Wochen später bekam mein Bruder ein Schreiben der Polizei wegen besagter Verkehrskontrolle. Neben der Mitteilung über die Niederschlagung eines eventuellen Verfahrens schrieb sie ihm ein paar persönliche Worte: Er möge doch bitte »das Schreiben direkt nach dem Durchlesen aufessen«.
Die letzten Tage von Rock ’n’ Roll
Im Frühjahr 1980 fing ich an auszugehen. Da war ich gerade fünfzehn geworden und seit kurzem Punk. Ich hatte mir meine Hippie-Matte abgeschnitten und mit Vaseline einen Spiky-Hair-Look verpasst. Dazu trug ich an diesem Freitagabend eine rote Uniformjacke. Ich fühlte mich sehr punkmäßig, als ich so in einen Laden namens Odeon ging. Es war nicht das berühmte Hammersmith Odeon in London, sondern das weniger berühmte in Münster, Westfalen.
Der Laden bestand aus zwei großen Räumen mit einem Gang dazwischen. Im vorderen Raum befand sich eine Kneipe, an deren Theke gerade ein paar Althippies mit Schlapphüten in ihre Biere schauten. Im hinteren gab es mehrere Billardtische. Dorthin wollte ich. Der Gang war in grünes Neonlicht getaucht, was eine tolle moderne New-Wave-Stimmung machte, so wie von Kraftwerk besungen.
Gleich vorne links im Gang blinkte und rasselte ein Harlem-Globetrotters-Flipper. Dort blieb ich stehen. Von hinten aus dem großen Saal kam altmodischer Sound. Um den Flipper herum hingen ein paar britische Soldaten. Sie trugen Fred-Perry-Hemden, hatten ausrasierte Nacken, und an ihren Jeans hingen links und rechts Hosenträger herunter, die eigentlich gar nicht nötig waren, denn die Jeans saßen hauteng und waren so kurz, dass die weißen Tennissocken darunter hervorguckten. Wie alle Kinder der britischen Besatzungszone fand auch ich sie cool, irgendwie. Keiner beachtete mich. Ich fühlte mich gut damit. Ihr Spiel lief schlecht. Sie schubsten den Flipper, bis er tilte, dann traten sie dagegen und fluchten im Cockney-Dialekt, den ich natürlich auch toll fand und von der Interview-Platte der Sex Pistols Some Product kannte. »Fuckin’ell, mate«.
Ein zweiter Punk kam den Gang hinunter. Er war ein paar Jahre älter als ich, trug eine Lederjacke, Bundeswehrspringerstiefel, ein Hundehalsband und einen Badge von Crass. Seine Haare waren hellblond gefärbt. Er erinnerte mich an Billy Idol. Ich fand, dass er cool aussah. Cooler als ich. Er fand das auch, glaube ich. Etwas gönnerhaft nickte er mir zu. Wir kamen ins Gespräch. Der Typ hieß Bleckmann, stotterte ein bisschen und machte gerade eine Lehre als Schaufensterdekorateur in der Drogerie seines Vaters. Dafür bekam er 200 Mark im Monat.
Bleckmann erzählte mir, dass er sich jeden Freitag nach Feierabend von seinem Lehrgeld ein bis zwei Platten bei »Rund Und Eckig« kaufe. Das war der lokale Plattenladen und Treffpunkt für alle Musikinteressierten in Münster. Heute hatte er sich gerade die neue Single von Fad Gadget geholt.
»Hier g-g-g-guck mal, Ricky’s Hand.«
Das war gerade DIE Platte für mich, fast noch besser als Back to Nature. Ich liebte die Synthie-Melodie gleich am Anfang, die mächtigen Basssägezähne, die knackigen Beats, circa 160 pro Minute. Was für ein überirdischer Sound. Jeden Tag ravte ich dazu in meinem Zimmer.
Bleckmann war also anscheinend auch ein Fan von elektronischer New-Wave-Musik. Und er schien testen zu wollen, ob ich Ahnung von Musik hatte, denn er fragte mich, ob ich schon mal was von Cab Voltaire und Throbbing Gristle gehört hatte.
Klar kannte ich die. Ich hörte ja wie alle John Peel. Der BBC-Moderator war Anfang der achtziger Jahre das, was heute das Internet ist: die universelle Informationsquelle. Er war der wichtigste DJ und der Einzige, den man mit Namen kannte. Seine Sendung lief einmal in der Woche auf dem britischen Soldatensender BFBS. Er legte vor allem New Wave und Punkrock auf, aber auch Ska, Reggae, Dub und viele elektronische Sachen. Er spielte alles, was er für würdig erachtete, um mit dem Gütesiegel »John Peel’s Music« versehen zu werden. Neuerdings liefen bei ihm sogar Tracks aus Deutschland. Wenn ein Lied von einer deutschen Gruppe bei ihm kam, bedeutete dies den Ritterschlag. Am Samstag gingen die Kinder der britischen Besatzungszone in ihren local record store und fragten nach den Tracks, die sie in Peels Radioshow gehört hatten. »Neue deutsche Welle« hatte der Journalist Alfred Hilsberg aus Hamburg diese neuen deutschen Gruppen getauft. Und das traf es ganz gut.
Ob er denn neulich beim DAF-Konzert war, fragte ich Bleckmann. »Hab dich dort nicht gesehen.« Eigentlich hätte er mir doch auffallen müssen, weil es außer uns beiden keine Punks in Münster gab.
»M-m-m-achst du Witze? Natürlich war ich da! Die Kleinen und die Bösen ist meine Lieblingsplatte! Ich stand die ganze Zeit hinten, um alles besser mitzukriegen. Bei den Stiff Little Fingers, neulich im Jovel, war ich ganz vorne, aber DAF, das war ein Erlebnis! D-d-d-das war ein Genuss. Warst du etwa vorne im Getümmel, bei den Bierspuckern? Für Pogo war mir das echt zu schade.«
Bleckmann schüttelte den Kopf und schaute mitleidig lächelnd auf mich herab. Leider war er auch noch knapp einen Kopf größer als ich.
Wir standen immer noch beim Harlem-Globetrotters-Flipper herum, als Bleckmann eine Idee hatte: Er wollte den dicken Addi dazu bringen, Ricky’s Hand im Odeon aufzulegen.
Nur ein einziges Mal.
»Willst du mitkommen?«, fragte er mich.
Natürlich, da wollte ich auf jeden Fall dabei sein. Es fühlte sich an wie eine Mission, nein, mehr noch, wie ein revolutionärer Akt.
Addis Reich war der große hintere Raum mit den Billardtischen. Hier war er der König, und als solcher hatte er entschieden, dass der Soundtrack des Jahres 1980 in Münster eine endlose Bluessession sein sollte. Wie bestimmt auch schon in den Jahren 1979, 1978, 1977 und so weiter. In der Nähe von großen Körpern, wie es der von Addi definitiv war, bewegt sich die Zeit sehr, sehr langsam. Er sah aus wie ein dickes Walross mit Friedrich-Nietzsche-Schnauzbart, trug schwarzes Hemd und Lederjeans und war Mitte dreißig, für mich damals schon unglaublich alt. Den Müslis mit ihren knielangen Norwegerpullis, die in seinem Orbit kreisten, fiel Addis reaktionäre Musikpolitik nicht weiter negativ auf. Wahrscheinlich gefiel sie ihnen sogar. Lethargisch kreideten sie ihre Queues ein, schlurften zu den schleppenden Rhythmen um die Tische herum, beugten sich in Zeitlupe vor und schossen die Bälle über die Bande, während im Hintergrund irgendein endloses belangloses Gitarrensolo eines endlosen belanglosen Live-Mitschnitts vor sich hin plärrte.
Es war 1980, vom Soundtrack her hätte sich die Szene auch 1963 abspielen können.
Aber …
Do not despair! Die Zukunft war im Anmarsch. Jetzt kamen wir.
Als wir uns der Theke näherten, warf Addi grinsend sein Geschirrtuch über die Schulter, sagte: »Na, ihr Punker?«, und machte gleich ein paar Sprüche über das, was er für Punk hielt.
Das passierte mir ständig in den letzten Wochen. Vorträge über Punk, was Punk ist und was Punk will. Alle möglichen Leute erzählten mir ungefragt, dass Johnny Rotten von den Sex Pistols nicht singen und sein Bandkollege Sid Vicious nicht Bass spielen könne. Oder dass Punks Hundefutter essen würden. Jeder hatte eine Gruselpunkstory auf Lager.
Wie hatte Johnny es uns gelehrt?
Never mind the bollocks!
Addi wollte wissen, ob wir Punker uns wirklich ranzige Wurstscheiben aufs Gesicht legten, um Pickel zu bekommen. Er hätte da so etwas gehört. Dann legte er Ricky’s Hand wirklich auf. Langgezogene Delays und stark verhallte Synthie-Drum-Sounds einer völlig dekonstruierten Version waberten durchs Odeon, der frische Wind einer neuen Zeit. Leider die falsche Seite. Auf der B-Seite war Hand Shake, ein sehr experimenteller Dub-Mix drauf.
Wir wollten aber eigentlich trotzdem noch gerne die A-Seite hören. Deshalb bettelten wir Addi an, auch die noch laufen zu lassen.
»Nee, Jungs, lasst mal gut sein, das reicht erst mal«, meinte er, stopfte die Single in ihr knallgelbes Cover zurück und gab sie uns über die Theke.
Irgendwie hatte er sogar recht, das reichte erst mal.
Mein neuer Punker-Freund Bleckmann und ich verließen das Odeon an diesem Abend mit einem Gefühl des Triumphs. Die Revolution hatte gesiegt. Fad Gadget im Odeon.
Ja!
The future was ours.
Wir liefen aufgedreht durch das menschenleere Nordviertel. Nicht nur wegen Ricky’s Hand, sondern auch, weil wir jetzt zu zweit waren. Wir waren jetzt eine Szene. Es war vielleicht dreiundzwanzig Uhr, als wir an einer Brandmauer vorbeikamen und Bleckmann plötzlich eine Farbdose aus seiner Plastiktüte holte. Er sprühte etwas an die Wand.
»Pogogeil in die Achtziger« stand da jetzt – und das blieb dort auch für die nächsten zehn Jahre stehen.
Wir verabredeten uns für das kommende Wochenende und rannten auseinander.
»Music was my first love«?
Nö. Eigentlich nicht. Ich war kein musikalischer Frühzünder. Akustische Gitarren und alles, was damit zusammenhing, mochte ich schon im Kindergarten nicht. Singen fand ich stressig. Kollektives Singen war noch schlimmer. Es gab sehr viele Dinge, die mich mehr antörnten: Nägel einschlagen, Plastiktüten verbrennen, aus dem Kindergarten ausbrechen, Brausepulver in Pfützen schütten, die Quecksilberkügelchen aus dem kaputten Fieberthermometer einsammeln oder Matchboxautos im Schraubstock zerquetschen. Um nur einige zu nennen.
Als vierjähriger Hippie saß ich gemeinsam mit meinem Bruder auf einem Baum im Garten des ersten antiautoritären Kinderladens von Münster. Wir hatten lange Haare, beide silberne Viskosehosen an und schauten stolz auf die kleine alte Isetta, die wir mit vereinten Kräften mit den anderen Kids im Tümpel versenkt hatten, um sie ab jetzt als Insel zu benutzen.
Damals mochte ich eigentlich nur Marschmusik.
Marschmusik was my first love! Ich hatte sogar eine Platte mit deutschen Militärmärschen, gespielt von einem Militärorchester. Meine Patentante Christel hatte sie mir mitgebracht. Meine Eltern waren davon bestimmt leicht genervt. Es war nicht gerade der antimilitaristische Soundtrack der antiautoritären Erziehung. Aber, egal, mir brachte die Marschmusik das erste Erlebnis von Freiheit und Abenteuer.
Ich hatte den Radetzky-Marsch auf den Plattenteller im Wohnzimmer gelegt oder, besser gesagt, bugsiert, denn der Plattenspieler stand weit oben im Regal. Man musste nur auf einen magischen Knopf drücken, und das Schauspiel begann. Alles ging automatisch. Der Plattenteller fing an, sich zu drehen, der Tonarm ging hoch und dann Richtung Platte, stoppte abrupt, um sich langsam in die Einlaufrille zu senken. Ein Brutzelgeräusch, ein Knistern wie Speck in der Pfanne, ein Trommelwirbel, eine jubilierende Schalmei … täterätä, der Spaß konnte beginnen.
Ich marschierte im Radetzky-Rhythmus unter einem Lampenmond aus Papier im Wohnzimmer zwischen zwei Korbstuhl-Wachtürmen auf und ab. Von dem Beat und der Macht der Posaunen und Trompeten fühlte ich mich so energetisiert, dass ich ins Kinderzimmer weiterzog, einen kleinen schwarzen Koffer packte, zu meiner Mutter in die Küche ging und sagte: »Es ist jetzt so weit, ich gehe auf Wanderschaft.«
Meine Mutter machte das Mittagessen. Es gab Leber mit Zwiebeln und Instant-Kartoffelbrei, den sie gerade anrührte, während sie geistesabwesend aus dem Fenster schaute. Sie sagte nur: »Ja, ja, mach mal«, was mich etwas erschreckte, denn ich hatte mir vorgestellt, sie würde sehr traurig sein, so wie die Mutter in Junge, komm bald wieder oder in Hänschen klein.
Ich tippelte los, und schon stand ich auf dem Canisiusweg. Es war meine erste musikalische Reise ins Ungewisse, den Radetzky-Beat im Kopf, die Basspauke im Herzen. Die Sonne brannte auf die frisch geteerte Straße. Zum Geruch von heißem Teer und abgebeizten Jägerzäunen kam Rosen- und Geranienduft aus den Vorgärten und vermischte sich mit dem von Pfannkuchen, Koteletts und gekochtem Kohl – der ultimate smell of the suburbs.
Meine Reise ging bis zur Carl-von-Ossietzky-Straße, nur ein paar hundert Meter Luftlinie von zu Hause. Meine Mutter stand plötzlich schimpfend neben mir und brachte mich zurück durch die Gassen, die alle nach Widerstandskämpfern benannt waren. Als ich die drei kleinen Betonspatzen in der Grünanlage sah, wusste ich, dass wir wieder in heimischen Gefilden waren. Meine Mutter schimpfte immer noch, und die Betonspatzen stehen da heute noch, aber ganz verwittert.
Zur fünften Jahreszeit wurde es in Münster kalt und regnerisch, und der Karnevalsumzug fand statt. Die Spielmannszüge zogen durch die Straßen. Mein Faible für Marschmusik dürften genau sie geweckt haben. Am besten gefielen mir damals die Typen, die der Kapelle voranmarschierten und dem feierlichen Täterätä den Takt vorgaben. Ich wünschte mir sehr, auch so einer zu werden, und der Witz liegt nahe, dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist.
An einem Rosenmontag stand ich mit meinem Bruder Fabian, meiner Schwester Seraphina und meinem Vater am Straßenrand, vollbeladen mit der sinnlosen Beute eines kalten Tages. Unsere Tüten waren voll mit billigen Fruchtbonbons, und die Ockerfarbe meines Frankensteingesichts spannte unangenehm, als einer der Tanzmusikgeneräle seinen Stab sehr hoch warf. Er drehte sich mehrmals in der Luft, und als er wieder herunterfiel, konnte der General ihn nicht mehr auffangen. Er rutschte ihm aus der Hand, hüpfte auf den Boden, überschlug sich, nahm dabei noch mehr Fahrt auf und traf schließlich ein kleines, als Fee verkleidetes Mädchen am Kopf, das direkt neben mir stand. Sie blutete stark. Der Kapellmeister kam sofort angerannt, riss den Stab an sich und guckte das Mädchen vorwurfsvoll an. Der Zierstab war blutverschmiert, und es klebte blondes Haar daran … and the beat goes on … uftata, uftata.
Der Tag war für mich gelaufen, und die Magie der Musikgeneräle mit einem Mal verflogen.
Ob das einer dieser Nazis war, von denen mir meine Eltern erzählt hatten?
Die Plattensammlung meines Vaters bestand aus einem eklektischen Mix aus Hannes Wader, Arbeiterliedern, Krautrock, den Rolling Stones und der Matthäus-Passion. Franz Josef Degenhardts Hit Spiel nicht mit den Schmuddelkindern war mir sofort vertraut. Es ging dort um mich und meine matschige Kindergartencrew – so kam es mir jedenfalls vor.
Auf meiner Lieblingsplatte der Sammlung jedoch war gar keine Musik, sondern ein Hörspiel. Ich folgte den Anweisungen des Erzählers, schloss die Augen und ließ die Sounds auf mich wirken: ein Schuss rechts, ein Schrei links, Schritte von rechts nach links, in der Ferne wird eine Tür zugeschlagen. Diese Geräuschcollage machte mich mit einem damals noch neuen Soundeffekt bekannt: Stereo. Ich war begeistert. Genauso wie von dem Synthesizer, den Norbert, unsere Nanny, gebaut hatte, und der nur ein Geräusch machen konnte, das eines klackernden Tischtennisballs.
Eine ganz seltsame Kindheitserinnerung habe ich an die Tränenlieder aus der Küche. Moritaten aus der Hausfrauenwelt, die mein Vater mit völlig rätselhafter Freude hörte. Mir machten die Lieder Angst. Sie erinnerten mich an die übertriebenen Gefühlsausbrüche meiner Tante aus der Eifel. Und das war genau das, was mein Vater wahrscheinlich toll fand. Meine zweite Assoziation war Aktenzeichen XY, vor allem die Tatwaffen, die dort gezeigt wurden. Meistens Kochmesser, die im Wald gefunden wurden. Die Tränenlieder endeten immer so, dass die Heldinnen ins Wasser gingen, erstochen wurden oder aber die Liebhaber nie mehr zurückkehrten.
Irgendwann kam eine Platte in die Sammlung mit neuer brasilianischer Popmusik, Girl from Ipanema. Von der Stimmung her passte sie gut zu unserer Einrichtung, den Stühlen mit dem hellen Segeltuchbezug und dem Mond aus Papier und auch zum Lebensgefühl meiner Eltern in den späten Sechzigern. Die seltsamen Latino-Tonleitern und die feenhaft weich intonierten Stimmen lösten bei mir ein undurchschaubares Gefühl aus, das sich irgendwo zwischen Sehnsucht, Futurismus, Nahtoderfahrung und Angst, zwischen den Reisen des Odysseus und dem Raumschiff Enterprise bewegte. Ich wusste nicht genau, ob das was Gutes war.
Ganz anders wirkte Paint it black von den Rolling Stones auf mich. Es entfaltete eine spukartige Power, ich wollte alles schwarz anmalen, obwohl ich kein Wort Englisch verstand. So düster der Song auch war, er wirkte stimmungsaufhellend auf mich. Genau umgekehrt war es später bei Do the Hustle von Van McCoy in den Siebzigern. Eigentlich ein klassischer munterer Disco-Hit, der nichts anderes will, als Leute zum Tanzen zu animieren. Aber da ist etwas in der Zusammensetzung der Klänge und der Melodieführung, was eine Einsicht in die Unentrinnbarkeit von Tod und Vernichtung in mir hervorrief. Als ich den Song das erste Mal im Radio hörte, saß ich im Wagen meiner Tante auf der Rückbank und hatte große Probleme, meine Gefühle zu verstecken.
Von den Liedern, die mein Vater hörte, konnte ich mit den Arbeiterliedern noch am ehesten etwas anfangen. Sie klangen hymnisch und entschlossen. »Vorwärts und nie vergessen« – man spürte sofort die Energie und auch die eigene Kraft.
Mir gefiel die Internationale so gut, dass ich sie in der ersten Klasse gleich vorsingen wollte. Alle Kinder sollten ein Lied vortragen. Das Mädchen vor mir sang: »Löwenzahn, Löwenzahn, zünde deine Lichtlein an!« Ich war schon auf dem Weg nach vorne zur Tafel, da sagte mir mein Instinkt, dass die Internationale jetzt und hier wohl doch nicht so gut hinpasste. Ich stotterte verlegen herum, dann trollte ich mich auf meine Bank ganz hinten.
Das Gefühl, wann Lieder passen und wann nicht, war also schon da. Ich spürte, wie erleichtert die Lehrerin darüber war, dass ich das Lied nicht gesungen hatte.
1972, ein Jahr nach meiner Einschulung, zog meine Familie in ein Stadthaus nach Münster Downtown um. Von da an wurde alles noch viel hippiemäßiger. Die Haare und der Bart meines Vaters wurden länger, die Batikhemden von mir und meinen Geschwistern psychedelischer, die Musik lauter. Unser Haus in der Staufenstraße war nicht direkt eine Kommune, aber die Leute, die dort ein und aus gingen, wurden immer zahlreicher und die Aktionen der Erwachsenen rätselhafter.
Einer von ihnen hatte eine Tarnhose an und einen Patronengürtel um, genau wie Che Guevara. Man hatte das Gefühl, er hätte sofort an Ort und Stelle in den Häuserkampf eintreten können. Wir Kinder fanden das toll, fragten uns nur, warum wir kein Kriegsspielzeug haben durften. Man wusste bei vielen Gästen nicht genau, wo sie eigentlich herkamen und was sie bei uns wollten. Waren sie Freunde? Studenten meines Vaters? Leute, die beim Renovieren halfen? Gastdozenten? Paramilitärische Befreiungstruppen? Außerirdische auf der Durchreise? Es war aber auch egal, sie waren einfach da. Selten waren wir weniger als zehn Leute zum Abendessen, die alle von meiner armen Mutter bekocht werden mussten.
Nach dem Essen führten die Erwachsenen, vor allem die des männlichen Geschlechts, komplizierte Diskussionen rund um Kunst und Politik, in denen ständig ein gewisser Adorno zitiert und »quasi« gesagt wurde. Ich sah einer düsteren Zukunft entgegen, in der auch ich mich nur noch auf Lateinisch unterhalten müsste. Später wurde dann Rotwein getrunken, viel geraucht, wahrscheinlich auch Joints, und im Wohnzimmer auch getanzt. Das alles kam mir seltsam vor, aber irgendwie auch lustig.
Manchmal gab es Partys. Dann wurden die LPs herausgeholt, und alle blieben sehr lange auf. Je länger es ging, desto länger wurde am nächsten Morgen geschlafen. Wir Kinder nutzten dies, ganz im Sinne der antiautoritären Erziehung, für teilweise zweifelhafte Aktionen. Beispielsweise warfen wir uns die Haustiere im Garten gegenseitig zu. Am nächsten Tag lagen die Kaninchen zu unserem Entsetzen tot im Käfig.
Eines Tages stürmte William in unser Haus und rief: »Ich habe euch etwas mitgebracht!« Sofort rannte er weiter zum Plattenspieler, legte die neue Platte auf, drehte den Regler hoch, und dann lief Mungo Jerrys In the Summertime. Die Musik war so laut, dass sie in den Ohren weh tat. William tanzte durchs Wohnzimmer wie ein D-Zug. Meine Mutter kam hinzu und war begeistert von diesem neuen Lied. Und weil sie schüchtern ist und selten Begeisterung für etwas zeigt, dachte ich, dass Summertime wirklich was ganz Großes sein musste. So etwas wie der Beginn einer neuen Ära. Ab jetzt würde es abgehen. Ich ließ mich von der Euphorie anstecken, fühlte, was meine Mutter fühlte, und war jetzt auch glücklich. Obwohl mir das Lied eigentlich gar nicht besonders gefiel.
William Röttger war der Assistent meines Vaters an der Pädagogischen Hochschule, am Lehrstuhl für Kunsterziehung. Er war sehr oft bei uns, ein Freund der Familie. Ich hatte ihn zum ersten Mal auf einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg gesehen. Uns Kinder hatte man damit gelockt, dass wir dort gemeinsam so laut schreien würden, dass uns die Amerikaner über das Meer rüber noch am anderen Ende der Welt hören würden. William war von den vielen schrägen Typen auf der Demo der Auffälligste. Niemand trug höhere Plateauschuhe, längere Haare oder weitere Schlaghosen, und niemand klimperte mehr mit seinem indischen Silberschmuck an den Handgelenken. Er hielt ein Megaphon in der einen und ein mehrseitiges Pamphlet in der anderen Hand. Während er seine Reden hielt, lief er gegen den Strom durch die Leute. Niemand hörte wirklich zu, was ihn nicht im Geringsten zu stören schien.
William war immer in Aktion, Erwachsene in den Siebzigern waren echte Tausendsassas. Am laufenden Band sah man ihn mit einem Schweißgerät in der Hand, auf rollenden Brettern unter kaputten Autos verschwinden oder im eingesauten Blaumann bei irgendeinem Bauprojekt Wasserrohre verlegen. Dann wieder schrieb er bis spät in die Nacht an der Schreibmaschine seine Magisterarbeit. Er engagierte sich bei der Drogenberatungsstelle Münster und im AStA. Er sympathisierte später mit der RAF und war immer kurz davor, selbst eine »Knarre in die Hand zu nehmen«, um die Dinge zu beschleunigen, fand es dann aber doch sinnlos. Ich sah ihn Plakate entwerfen gegen Atomkraft. »Gorleben ist Holocaust« stand in altdeutscher Schrift auf dem einen, darunter war ein kurz vor dem Strahlentod stehendes Opfer, das wie ein abgemagerter KZ-Häftling aussah.
Eine Zeitlang bekleidete William die Mittelstürmerposition beim TuS in Lippborg, aus dem Dorf, aus dem er kam. Zwar absolvierte er ein Probetraining bei den Profis von Preußen Münster, doch wurde es ihm zu langweilig, ständig Training zu haben und die Befehle des Coachs zu befolgen. Deshalb spielte er lieber weiter in seiner Mannschaft, wo alle auf sein Kommando hörten. Die Knie hatte er sich durch die Überlastung schon völlig zerstört. William kannte auch mit dem eigenen Körper keine Gnade. Nach einem zähen Spiel wollte er den letzten Elfmeter wegen eines Fouls gegen ihn noch unbedingt schnell selbst schießen. Er lief an, ein Schmerzensschrei gellte über den Aschenplatz, und der Ball kullerte in Zeitlupe in die Arme des Torwarts. William lag am Boden, Geräusche von sich gebend wie ein kollabierender Stern. Die Fußballkarriere war endgültig beendet. Zack, zack, abgehakt. Schnell was anderes machen.
Früh merkte ich, William fand mich irgendwie gut und hielt mich für ein Talent, das man fördern müsste. Ich war damals mit vier, fünf Jahren wahrscheinlich einer der Ehrgeizigsten in der Gruppe der bis Sechsjährigen. Schon seit meinem ersten öffentlichen Auftritt träumte ich davon, eines Tages mit irgendetwas Bedeutsamen aus der Kulisse hervorzutreten und alle zu überraschen. Bei meinem ersten Radioauftritt sollte ich für die Hintergrundbeschallung einer WDR-Sendung über Kinderläden mit dem Hammer gegen eine Wand hauen. Ich hatte schon überlegt, ob das jetzt der Durchbruch wäre. Aber dem war nicht so.
Musik hatte für meine Eltern – für meinen Vater noch mehr als für meine Mutter – etwas mit Aufstand zu tun. Alles hatte damals etwas mit Aufstand zu tun. Es ging immer gegen die Spießer, so weit hatte ich das verstanden. Die Spießer waren böse Menschen und früher wahrscheinlich mal Nazis gewesen. Nun standen sie in ihren ledernen Knickerbockerhosen vor dem Supermarkt herum, an der Leine ihre Rüden, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnten. Genau wie ihre Herrchen mochten auch die keine ungewaschenen langhaarigen Kinder.
Mein Vater hatte verschiedene Kunstobjekte in seinem Zimmer stehen, Readymades oder Objets trouvés. Eins davon war eine silberlackierte Metallliege aus alten Klinikbeständen, die zu schmal zum Liegen und zu hoch zum Sitzen war. Sie stand immer nur mitten im Zimmer herum. Meine Mutter hatte gehört, dass in der Nachbarschaft das Gerücht herumging, bei Professor Lenz im Wohnzimmer stünde ein Gynäkologenstuhl, der bei spookigen Hippie-Séancen und Teufelsbeschwörungen mit Gruppensex zum Einsatz käme. Das war natürlich kranke Spießerphantasie. Mein Vater amüsierte sich darüber, dass man ihn offensichtlich für einen Guru hielt, für den Charles Manson der Staufenstraße. Meine Mutter hatte genug von den Leuten, und so zogen wir 1976 aufs Land.
Unser neues Zuhause war ein Kotten im Münsterland, ein kleines Bauernhaus mit einem Hektar Land, das zu einem Wohnhaus umgebaut wurde. Dort lebten wir mit dem einen oder anderen Gast: William war da und Johnny, ein mit ihm befreundeter Künstler aus Glasgow; die Amerikanerin Penny, die aus sunny California ins verregnete Westfalenland gezogen war; und ein Landarbeiter namens Jupp bewohnte ein kleines Nest vorne im Eingangsbereich. Das größte Zimmer hatte mein Vater, es lag im ehemaligen Kuhstall. Mein Bruder Fabian und ich zogen zusammen in eine der sogenannten Upkammern auf der Nordseite des Gehöfts. Sie lagen durch den halb oberirdischen Keller etwas höher als die übrigen Räume. Durch das kleine Fenster beobachteten wir Jupp, der stundenlang auf einen Spaten gestützt sanft im Wind schaukelte.
Das Leben dort wurde ruhiger und ländlicher, was den Plänen, die ich als Elfjähriger hatte, zuwiderlief. Die einzige Musik, die mein Bruder und ich hörten, kam von nebenan, wo meine Schwester Seraphina wohnte.
Meine Schwester war der DJ in unserem Haus. Wenn sie von der Schule kam, machte sie immer Simon & Garfunkel und die Beatles an. Nach dem großen Erfolgsfilm Saturday Night Fever wurde auch sie von der Discowelle erfasst und hörte von nun an die Bee Gees. Sie war bei Ultravox, dem ersten New-Wave-Konzert von Münster, und hörte die Platte Rappers Delight schon, als noch niemand in Deutschland wusste, was »Rap« überhaupt bedeutete. Als sie und ihre beste Freundin Friderike in Achim verliebt waren, einen muskulösen Ruderer aus ihrer Klasse, hörte meine Schwester aus Herzschmerz nur noch Oh Mandy von Barry Manilow. Bis sie dann zwei Jahre später mit ihm zusammenkam.
Der Ruderer wurde mit der Zeit immer muskulöser. Irgendwann stieg er um und wurde Bodybuilder. Das war noch ziemlich avantgardistisch. Bei uns in der Küche standen stets Dosen mit diesem Eiweißpulver herum. Tagsüber pumpte er im Fitnessstudio, und vor dem Schlafengehen trank er zehn rohe Eier. Dabei ließ er die Schalen im Eierkarton in der Küche liegen, was meine Mutter nervte. Aber es hat sich gelohnt. Ein paar Jahre später, 1989, war ich mit Fabian in New York, um Platten zu kaufen. Am Flughafen suchte ich nach etwas zum Lesen für den Rückflug. Ich überflog die Titelseiten der Magazine und schaute plötzlich in das inzwischen noch breiter gewordene Gesicht von Achim. Er war auf dem Cover einer Ami-Pumper-Postille gelandet als frischgekürter »Mister Universum«.
1978 fuhr ich mit meiner Mutter nach Enschede, wo sie Gewürze und irgendwelche Sachen kaufen wollte. Zwischen zwei dieser typisch kleinen holländischen Minihäuschen sah ich völlig unerwartet den ersten Punk meines Lebens. Es war wie eine Erscheinung. Er hatte schwarze Haare wie Sid Vicious, trug eine Anzugjacke und eine schwarze Satinhose. Ich war wie vom Schlag getroffen und wollte von da an selbst ein Punk werden.