E R K A L T E T

 

(EIN RILEY PAIGE KRIMI – BAND #8)

 

 

 

B L A K E   P I E R C E

 

Blake Pierce

 

Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller RILEY PAIGE Krimi Serie, die bisher acht Bücher umfasst. Blake Pierce ist außerdem die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie, bestehend aus bisher fünf Büchern; von der AVERY BLACK Krimi Serie, bestehend aus bisher vier Büchern; und der neuen KERI LOCKE Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!

 

Copyright © 2017 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild GongTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

 

RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

 

MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

 

AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TÖTEN (Band #1)

GRUND ZU FLÜCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)

GRUND ZU FÜRCHTEN (Band #4)

 

KERI LOCKE KRIMI SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON LASTER (Band #3)

 

Inhalt

 

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIẞIG

KAPITEL EINUNDDREIẞIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIẞIG

KAPITEL DREIUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERUNDDREIẞIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIẞIG

KAPITEL SECHSUNDDREIẞIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIẞIG

KAPITEL ACHTUNDDREIẞIG

KAPITEL NEUNUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

 

PROLOG

 

Der Mann trat in die Patom Lounge und wurde sofort von dichtem Zigarettenqualm umgeben. Das Licht war gedämpft, ein alter Heavy-Metal-Song plärrte aus den Lautsprechern und er konnte schon jetzt fühlen, wie er ungeduldig wurde.

Es war zu heiß, zu überfüllt. Er zuckte zusammen, als neben ihm kurzer Jubel ausbrach; er drehte sich um und sah, wie fünf betrunkene Männer Darts spielten. Neben ihnen war ein lebhaftes Billardspiel im Gange. Je schneller er hier herauskam, desto besser.

Er sah sich im Raum um und nach wenigen Sekunden leuchteten seine Augen beim Anblick einer Frau an der Bar auf.

Sie hatte ein niedliches Gesicht und einen jungenhaften Haarschnitt. Sie war ein klein wenig zu gut angezogen, für eine Absteige wie diese.

Die passt, dachte der Mann.

Er ging zur Bar, setzte sich auf den Stuhl neben sie und lächelte sie an.

"Wie heißt du?", fragte er.

Er bemerkte, dass er seine eigene Stimme nicht über den Lärm der Kneipe hören konnte.

Sie sah ihn an, lächelte zurück, zeigte auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf.

Er wiederholte seine Frage lauter und bewegte dabei seine Lippen übertrieben genau.

Sie lehnte sich näher zu ihm. Fast schreiend sagte sie, "Tilda. Wie heißt du?"

"Michael", sagte er, nicht sehr laut.

Es war natürlich nicht sein richtiger Name, aber das machte vermutlich nichts aus. Er bezweifelte, dass sie ihn hören konnte. Es schien sie nicht zu kümmern.

Er sah auf ihren Drink, der fast leer war. Vermutlich eine Margarita. Er zeigte auf ihr Glas und fragte sehr laut, "Willst du noch eine?"

Immer noch lächelnd schüttelte die Frau namens Tilda ihren Kopf.

Aber sie lehnte ihn nicht ab. Dessen war er sich sicher. War es an der Zeit für einen dreisteren Zug?

Er griff nach einer Cocktail Serviette und nahm einen Stift aus seiner Brusttasche.

Er schrieb auf die Serviette:

 

Willst du woanders hingehen?

 

Sie sah auf die Nachricht. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie zögerte einen Augenblick, aber er spürte, dass sie auf der Suche nach einem Abenteuer war. Und jetzt freute sie sich, eines gefunden zu haben.

Schließlich, zu seiner Erleichterung, nickte sie.

Bevor sie gingen, schnappte er sich ein Streichholzbriefchen mit dem Namen der Kneipe.

Er würde es später brauchen.

Er half ihr in ihren Mantel und sie gingen nach draußen. Die kühle Frühlingsluft und plötzliche Stille waren nach dem Lärm und der Hitze erfrischend.

"Wow", sagte sie, während sie neben ihm herging. "Ich bin da drinne fast taub geworden."

"Ich nehme an, du kommst nicht oft hierher", sagte er.

"Nein", sagte sie.

Sie führte es nicht weiter aus, aber er war sich sicher, dass sie das erste Mal in der Patom Lounge gewesen war.

"Ich auch nicht", sagte er. "Was für eine Absteige."

"Das kannst du laut sagen."

"Was für eine Absteige", sagte er lauter.

Beide lachten.

"Das da drüben ist mein Wagen", sagte er und streckte seinen Arm aus. "Wo möchtest du hingehen?"

Sie zögerte wieder.

Dann, mit einem schelmischen Funkeln in den Augen sagte sie, "Überrasch' mich."

Jetzt wusste er, dass er recht gehabt hatte. Sie war wirklich auf der Suche nach einem Abenteuer.

Nun, das war er auch.

Er öffnete die Beifahrertür seines Wagens und sie kletterte hinein. Er setzte sich hinter das Steuer und fuhr los.

"Wo fahren wir hin?", fragte sie.

Mit einem Lächeln und einem Zwinkern erwiderte er, "Du hast doch gesagt, ich soll dich überraschen."

Sie lachte. Ihr Lachen klang nervös, aber erfreut.

"Ich nehme an, du lebst hier in Greybull", sagte er.

"Geboren und aufgewachsen", nickte sie. "Ich glaube nicht, dass ich dich hier schon einmal gesehen habe. Wohnst du in der Gegend?"

"Nicht weit weg", sagte er.

Sie lachte wieder.

"Was bringt dich in diese langweilige kleine Stadt?"

"Arbeit."

Sie sah ihn neugierig an. Aber sie bestand nicht auf eine weitere Ausführung. Offenbar war sie nicht zu sehr daran interessiert, ihn besser kennenzulernen. Das passte ihm gut.

Er fuhr auf den Parkplatz des schäbigen kleinen Motels Maberly Inn. Er hielt vor Raum 34.

"Ich habe das Zimmer bereits gebucht", sagte er.

Sie sagte nichts.

Dann, nach einer kurzen Stille, fragte er, "Ist das okay für dich?"

Sie nickte ein wenig nervös.

Dann gingen sie zusammen in das Motelzimmer. Sie sah sich um. Der Raum hatte einen muffigen, unangenehmen Geruch und die Wände waren mit hässlichen Bildern geschmückt.

Sie ging zum Bett und presste ihre Hand auf die Matratze, um ihre Festigkeit zu prüfen.

Gefiel ihr das Zimmer nicht?

Er war sich nicht sicher.

Die Geste machte ihn wütend – fuchsteufelswütend.

Er wusste nicht, warum, aber etwas in ihm riss.

Normalerweise würde er nicht zuschlagen, bis er sie nackt auf dem Bett hatte. Aber er konnte sich nicht zurückhalten.

Als sie sich umdrehte, um zum Badezimmer zu gehen, versperrte er ihr den Weg.

Ihre Augen weiteten sich alarmiert.

Bevor sie weiter reagieren konnte, stieß er sie rückwärts auf das Bett.

Sie wehrte sich, aber er war deutlich stärker als sie.

Sie versuchte zu schreien, aber bevor sie es tun konnte, schnappte er sich ein Kissen und presste es ihr auf das Gesicht.

Bald, so wusste er, würde alles vorbei sein.

 

KAPITEL EINS

 

Die Lichter in dem Vorlesungsraum gingen plötzlich wieder an und stachen Agentin Lucy Vargas in den Augen.

Die Studenten um sie herum fingen an, leise zu murmeln. Lucys Verstand war während der Übung hoch konzentriert gewesen – sie hatten sich einen Mord aus der Perspektive des Mörders vorstellen sollen – und es war schwer, wieder in die Gegenwart zurückzukehren.

"Okay, lassen Sie uns darüber reden, was Sie gesehen haben", sagte die Dozentin.

Die Dozentin war niemand anderes, als Lucys Mentorin, Spezialagentin Riley Paige.

Lucy war nicht wirklich Teil der Klasse, die für die FBI Akademie Kadetten angesetzt war. Sie saß nur heute dabei, wie sie es von Zeit zu Zeit tat. Sie war noch sehr neu im BAU und für sie war Riley Paige eine nie versiegende Quelle der Inspiration und Bildung. Sie nutzte jede Gelegenheit, um von ihr zu lernen – und mit ihr zu arbeiten.

Riley hatte den Studenten die Details eines Mordfalles gegeben, der seit etwa fünfundzwanzig Jahren ungelöst war. Drei junge Frauen waren in Virginia getötet worden. Der Mörder hatte den Spitznamen "Streichholzbrief-Killer" bekommen, da er bei jedem seiner Opfer ein Streichholzbriefchen hinterließ. Sie kamen von Bars in der Gegend von Richmond. Er hatte außerdem Servietten mit dem aufgedruckten Namen der Motels hinterlassen, in denen die Frauen getötet worden waren. Trotzdem hatten die Ermittler keine Spuren gefunden, die zur Lösung des Falls hätten führen können.

Riley hatte die Studenten angehalten, ihre Fantasie zu nutzen, um den Mord gedanklich nachzustellen.

"Lassen Sie ihrer Fantasie freien Lauf", hatte sie vor Beginn der Übung gesagt. "Visualisieren Sie die Details. Machen Sie sich keine Sorgen, dass Sie alles richtig machen. Aber versuchen Sie das große Ganze zu sehen – die Atmosphäre, die Stimmung, die Szenerie."

Dann hatte sie für zehn Minuten das Licht ausgeschaltet.

Jetzt, wo es wieder hell war, ging Riley durch den Vorlesungsraum.

Sie sagte, "Zuerst, erzählen Sie mir von der Patom Lounge. Wie sah es dort aus?"

Eine Hand schoss in die Höhe. Riley nickte dem Studenten zu.

"Es war nicht wirklich elegant, aber versuchte besser auszusehen, als es war", sagte er. "Schwach beleuchtete Nischen entlang der Wände. Überall ein weicher Überzug – vielleicht Wildleder."

Lucy runzelte die Stirn. Sie hatte sich die Bar ganz anders vorgestellt.

Riley lächelte leicht. Sie sagte dem Student nicht, ob er richtig lag oder nicht.

"Was noch?", fragte sie.

"Leise Musik hat gespielt", sagte ein anderer Student. "Vielleicht Jazz."

Aber Lucy erinnerte sich, dass sie sich Rock der 70er und 80er Jahre vorgestellt hatte.

Lag sie bei allem falsch?

Riley fragte, "Was ist mit dem Maberly Inn? Wie sah es dort aus?"

Eine Studentin hob die Hand und Riley wählte sie aus.

"Einfach und nett, wie die meisten Motels", sagte die junge Frau. "Und ziemlich alt. Aus der Zeit vor den kommerziellen Motelketten."

Ein anderer Student meldete sich.

"Klingt für mich passend."

Auch andere Studenten nickten und murmelten zustimmend.

Wieder war Lucy verdutzt, wie anders sie sich den Ort vorgestellt hatte.

Riley lächelte leicht.

"Wie viele von Ihnen teilen diese generellen Eindrücke – sowohl von der Bar, als auch von dem Motel?"

Die meisten der Studenten hoben die Hand.

Lucy fing an sich unbehaglich zu fühlen.

"Versuchen Sie das große Ganze zu sehen", hatte Riley ihnen gesagt.

Hatte Lucy die Übung vermasselt?

Hatte jeder andere in der Klasse es bildlich vor Augen gesehen, nur sie nicht?

Dann zeigte Riley einige Bilder auf der Leinwand an der Wand.

Zuerst kam eine Gruppe von Bildern aus der Patom Lounge – eine Nachtansicht von außen mit einem glühenden Neonschild in einem der Fenster und verschiede Innenansichten.

"Das ist die Bar", sagte Riley. "Oder zumindest sah sie so zur Zeit des Mordes aus. Ich bin nicht sicher, wie sie jetzt aussieht – oder ob es sie überhaupt noch gibt."

Lucy war erleichtert. Sie sah der Bar in ihrer Vorstellung sehr ähnlich – eine heruntergekommene Kneipe mit billig verkleideten Wänden und Kunstlederpolstern. Es gab ein paar Billardtische und Dartscheiben, so wie sie es angenommen hatte. Und selbst auf den Bildern konnte man den dichten Zigarettenrauch erkennen.

Die Studenten sahen sich überrascht an.

"Jetzt lassen Sie uns einen Blick auf das Maberly Inn werfen", sagte Riley.

Mehr Fotos erschienen. Das Motel sah genauso schäbig aus, wie Lucy es in Gedanken gesehen hatte – nicht sehr alt, aber definitiv heruntergekommen.

Riley lachte leise.

"Scheint, als würde hier etwas nicht ganz übereinstimmen", sagte sie.

Die Klasse lachte in nervöser Zustimmung.

"Warum haben Sie sich die Szene so vorgestellt, wie Sie sie beschrieben haben?", fragte Riley.

Sie rief eine junge Frau auf, die ihre Hand gehoben hatte.

"Nun, Sie haben uns gesagt, dass der Mörder sich seinem Opfer in einer Bar genähert hat", sagte sie. "Das klingt für mich nach 'Singles Bar.' Ein wenig kitschig, aber zumindest mit dem Versuch elegant auszusehen. Ich hatte nicht den Eindruck einer Arbeiterklasse-Absteige."

Ein anderer Student sagte, "Genau das gleiche beim Motel. Würde ein Mörder sie nicht zu einem Motel bringen, das netter aussieht, wenn auch nur, um sie hereinzulegen?"

Lucy fing an, breit zu lächeln.

Jetzt verstehe ich, dachte sie.

Riley bemerkte ihr Lächeln und erwiderte es.

Sie sagte, "Agentin Vargas, was haben so viele von uns falsch gemacht?"

Lucy sagte, "Wir haben vergessen, das Alter des Opfers in Betracht zu ziehen. Tilda Steen war gerade zwanzig Jahre alt. Frauen die zu Single Bars gehen sind in der Regel älter, Mitte dreißig oder darüber, oft geschieden. Deshalb haben wir uns die Bar anders vorgestellt."

Riley nickte zustimmend.

"Und weiter", sagte sie.

Lucy dachte einen Moment nach.

"Sie haben gesagt, dass sie aus einer Mittelklasse Familie in einer gewöhnlichen kleinen Stadt kam. Von dem Bild ausgehend, das Sie uns gezeigt haben, war sie attraktiv und ich bezweifle, dass sie Schwierigkeiten hatte, ein Date zu finden. Also warum hat sie sich in einer Absteige wie der Patom Lounge abschleppen lassen? Meine Vermutung ist, ihr war langweilig. Sie ist absichtlich an einen Ort gegangen, der möglicherweise ein wenig gefährlich ist."

Und sie hat mehr Gefahr gefunden, als sie ahnen konnte, dachte Lucy.

Aber das sagte sie nicht laut.

"Was können wir von dem lernen, was gerade passiert ist?" wandte Riley sich an die Klasse.

Ein Student hob die Hand und sagte, "Wenn man gedanklich ein Verbrechen rekonstruiert, sollte jede verfügbare Information überdacht werden. Man darf nichts auslassen."

Riley sah zufrieden aus.

"Das ist richtig", sagte sie. "Wir müssen eine lebhafte Fantasie haben, um in der Lage zu sein, uns in den Verstand eines Mörders zu versetzen. Aber das ist eine schwierige Angelegenheit. Übersieht man nur ein kleines Detail, geht man in eine falsche Richtung. Das kann der Unterschied sein zwischen einem Fall, der gelöst wird und einem, der ungelöst bleibt."

Riley hielt inne und fügte dann hinzu, "Und dieser Fall wurde nie gelöst. Ob er das jemals wird … nun, das ist zweifelhaft. Nach fünfundzwanzig Jahren sind alle Spuren kalt. Ein Mann hat drei junge Frauen getötet – und es ist sehr wahrscheinlich, dass er dort draußen noch herumläuft."

Riley ließ ihre Worte einen Augenblick sinken.

"Das ist alles für heute", sagte sie dann. "Sie wissen, was Sie für die nächste Stunde lesen sollen."

Die Studenten verließen den Vorlesungsraum. Lucy entschied sich noch einen Moment zu bleiben und mit ihrer Mentorin zu reden.

Riley lächelte sie an und sagte, "Das war gute Arbeit gerade."

"Danke", sagte Lucy.

Sie freute sich. Jedes noch so kleine Kompliment von Riley bedeutete ihr viel.

Dann sagte Riley, "Aber jetzt will ich noch etwas Fortgeschritteneres ausprobieren. Schließ die Augen."

Lucy tat es. Mit leiser, ruhiger Stimme gab Riley ihr mehr Informationen.

"Nachdem er Tilda Steen getötet hat, vergrub er sie in einem flachen Grab. Kannst du mir beschreiben, wie das passiert ist?"

Wie bei der anderen Übung, versucht Lucy sich in den Verstand des Mörders zu versetzen.

"Er hat die Leiche auf dem Bett liegen lassen und ist dann aus der Tür des Motelzimmers gegangen", sagte Lucy laut. "Er hat sich vorsichtig umgesehen. Er hat niemanden gesehen. Also hat er die Leiche zu seinem Wagen gebracht und auf den Rücksitz geworfen. Dann ist er zu einem Waldgebiet gefahren. Einen Ort, den er gut kannte, der aber nicht zu nah am Tatort lag."

"Was dann?", fragte Riley.

Die Augen immer noch geschlossen, spürte Lucy die methodische Kälte des Mörders.

"Er hat an einer Stelle gehalten, die nicht einfach einzusehen war. Dann hat er eine Schaufel aus dem Kofferraum geholt."

Lucy war einen Moment unschlüssig.

Es war Nacht, also wie hatte der Mörder seinen Weg in den Wald gefunden?

Es wäre nicht einfach, eine Taschenlampe, eine Schaufel und eine Leiche zu tragen.

"War es eine mondhelle Nacht?", fragte Lucy.

"Das war es", sagte Riley.

Lucy fühlte sich ermutigt.

"Er hat die Schaufel mit einer Hand genommen und die Leiche mit der anderen über seine Schulter geworfen. Er ist in den Wald gegangen. Er ist so lange weitergegangen, bis er einen Platz gefunden hat, der weit genug weg war, dass niemand dort hinkommt."

"Ein weit entfernter Platz?", fragte Riley, die Lucys Gedanken unterbrach.

"Definitiv", sagte Lucy.

"Mach die Augen auf."

Lucy sah Riley an. Riley fing an, ihre Aktentasche einzuräumen.

Sie sagte, "Tatsächlich hat der Mörder die Leiche in den Wald auf der anderen Seite des Highways gebracht, direkt gegenüber von dem Motel. Er hat Tildas Leiche nur wenige Schritte in das Unterholz getragen. Er könnte leicht von Autos auf dem Highway gesehen worden sein und er hat vermutlich das Licht der Straßenlaternen genutzt, um Tilda zu vergraben. Er hat sie achtlos vergraben, mit mehr Steinen als Erde bedeckt. Ein vorbeifahrender Radfahrer hat wenige Tage später den Geruch bemerkt und die Polizei gerufen. Die Leiche war einfach zu finden."

Lucy blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.

"Warum hat er sich nicht mehr Mühe gegeben, den Mord zu vertuschen?", fragte sie. "Das verstehe ich nicht."

Die Aktentasche schließend, runzelte Riley die Stirn.

"Ich verstehe es auch nicht", sagte sie. "Niemand tut es."

Riley nahm ihre Aktentasche und verließ den Vorlesungsraum.

Als Lucy ihr hinterhersah, bemerkte sie eine leichte Bitterkeit und Enttäuschung in Rileys Haltung.

So unbeeindruckt Riley sich auch gab, dieser alte Fall schien sie noch immer zu quälen.

 

KAPITEL ZWEI

 

Noch beim Abendessen konnte Riley den Streichholzbrief-Killer nicht aus ihren Gedanken verbannen. Sie hatte den ungelösten Fall als Beispiel für ihren Unterricht verwendet, weil sie wusste, dass sie bald wieder davon hören würde.

Riley versuchte sich auf den köstlichen Eintopf zu konzentrieren, den Gabriela für sie zubereitet hatte. Ihre Haushälterin war eine wundervolle Köchin. Riley hoffte, dass sie nicht bemerken würde, welche Schwierigkeiten sie damit hatte, das Essen an diesem Abend entsprechend zu würdigen. Aber natürlich entging es den Mädchen nicht.

"Was ist los, Mom?", fragte April, Rileys fünfzehnjährige Tochter.

"Ist etwas passiert?", fragte Jilly, das dreizehnjährige Mädchen, das Riley hoffte adoptieren zu können.

Von ihrem Platz auf der anderen Seite des Tisches warf auch Gabriela ihr einen besorgten Blick zu.

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Morgen würde sie eine Erinnerung an den Streichholzbrief-Killer bekommen – einen Anruf, der jedes Jahr aufs Neue kam. Es hatte keinen Sinn, den Gedanken daran zu vermeiden.

Aber sie brachte nicht gerne Arbeit mit nach Hause zu ihrer Familie. Manchmal, trotz all ihrer Bemühungen, hatte sie ihre Liebsten in schreckliche Gefahr gebracht.

"Es ist nichts", sagte sie.

Die Vier setzten für einige Minuten ihr Essen schweigend fort.

Schließlich sagte April, "Es ist Dad, oder nicht? Es stört dich, dass er heute wieder nicht zu Hause ist."

Die Frage überraschte Riley. Die Abwesenheit ihres Ex-Mannes störte sie tatsächlich in letzter Zeit. Sie und Ryan hatten sich viel Mühe gegeben, sich nach einer schmerzhaften Scheidung wieder zu versöhnen. Jetzt schien der Fortschritt wieder einzubrechen und Ryan hatte mehr und mehr Zeit in seinem eigenen Zuhause verbracht.

Aber Ryan war gerade nicht in ihren Gedanken gewesen.

Was sagte das über sie selbst?

Wurde sie stumpf gegenüber ihrer auseinanderfallenden Beziehung?

Hatte sie aufgegeben?

Die drei Gesichter um den Esstisch sahen sie an, warteten auf eine Antwort.

"Es ist ein Fall", sagte Riley. "Er beschäftigt mich immer zu dieser Zeit des Jahres."

Jillys Augen wurden groß vor Aufregung.

"Erzähl uns davon!", sagte sie.

Riley fragte sich, wie viel sie den Kindern erzählen sollte. Sie wollte die Details der Morde nicht mit ihrer Familie teilen.

"Es ist ein ungelöster Fall", sagte sie. "Eine Reihe von Morden, die weder die örtliche Polizei, noch das FBI lösen konnten. Ich versuche seit Jahren, ihn zu knacken."

Jilly hüpfte regelrecht auf ihrem Stuhl auf und ab.

"Wie wirst du ihn lösen?"

Die Frage traf Riley unvermutet.

Natürlich wusste sie, dass Jilly es nicht böse meinte – ganz im Gegenteil. Das junge Mädchen war stolz darauf, eine Mutter zu haben, die für das Justizsystem arbeitete. Und sie dachte noch immer, dass Riley eine Art Superheldin war, die nicht versagen konnte.

Riley unterdrückte ein Seufzen.

Vielleicht ist es an der Zeit ihr zu sagen, dass ich nicht immer den Schuldigen fasse, dachte sie.

Aber Riley sagte einfach, "Ich weiß es nicht."

Es war die einfache, ehrliche Wahrheit.

Aber es gab etwas, das Riley wusste.

Tilda Steens fünfundzwanzigjähriger Todestag war morgen und sie würde ihn nicht so schnell aus ihrem Kopf verbannen können.

Zu Rileys Erleichterung wandte sich das Gespräch dem leckeren Abendessen von Gabriela zu. Die stämmige Frau aus Guatemala und die Mädchen fingen an, sich auf Spanisch zu unterhalten und Riley hatte Mühe allem zu folgen, was gesagt wurde.

Aber das war okay. April und Jilly lernten Spanisch und April wurde immer flüssiger. Jilly kämpfte noch mit der Sprache, aber Gabriela und April halfen ihr dabei, sie zu lernen.

Riley sah ihnen lächelnd zu.

Jilly sieht so gut gelaunt aus, dachte sie.

Sie war noch immer das dunkelhäutige, dünne Mädchen – aber kaum das verzweifelte, misshandelte Kind, das Riley aus den Straßen von Phoenix gerettet hatte. Sie war robust und gesund und sie schien sich gut in ihr neues Leben in Rileys Familie einzufinden.

Und April hatte sich als perfekte große Schwester herausgestellt. Sie erholte sich gut von den Traumata, die sie erlitten hatte.

Manchmal, wenn sie April ansah, dann hatte Riley das Gefühl in einen Spiegel zu sehen – ein Spiegel, der ihr ihr eigenes Teenager-Selbst zeigte. April hatte Rileys Augen und die dunklen Haare, auch wenn sie noch nicht wie Rileys mit Grau durchzogen waren.

Riley spürte ein warmes Gefühl der Bestätigung.

Vielleicht mache ich wenigstens gute Arbeit als Mutter, dachte sie.

Aber das warme Gefühl schwand schnell wieder.

Der mysteriöse Streichholzbrief-Killer beschäftigte sie noch immer.

 

*

 

Nach dem Abendessen ging Riley in ihr Schlafzimmer und Büro. Sie setzte sich vor ihren PC und atmete einige Mal tief durch, im Versuch sich zu entspannen. Aber die Aufgabe, die vor ihr lag, machte sie nervös.

Es erschien ihr albern, sich so zu fühlen. Schließlich hatte sie unzählige gefährliche Mörder über die Jahre gejagt und festgenommen. Ihr eigenes Leben war öfter bedroht gewesen, als sie zählen konnte.

Mit meiner Schwester zu sprechen sollte doch nicht so schwer sein, dachte sie.

Aber sie hatte Wendy lange nicht gesehen … wie viele Jahre war es jetzt her?

Nicht mehr seit Riley ein kleines Mädchen gewesen war. Wendy hatte sie kontaktiert, nachdem ihr Vater gestorben war. Sie hatten telefoniert und die Möglichkeit eines persönlichen Treffens besprochen. Aber Wendy lebte weit weg in Des Moines, Iowa, und sie waren nicht in der Lage gewesen einen Termin zu finden. Also hatten sie sich auf einen Videoanruf geeinigt.

Um sich vorzubereiten, sah Riley auf das gerahmte Foto, das neben ihr auf dem Schreibtisch stand. Sie hatte es nach dem Tod ihres Vaters unter seinen Sachen gefunden. Es zeigte Riley, Wendy und ihre Mutter. Riley sah aus, als wäre sie etwa vier Jahre alt und Wendy musste im Teenageralter sein.

Beide Mädchen und ihre Mutter sahen beide glücklich aus.

Riley konnte sich nicht erinnern, wann und wo das Foto gemacht worden war.

Und sie konnte sich sicherlich nicht daran erinnern, dass ihre Familie jemals glücklich gewesen war.

Ihre Hände kalt und zittrig, tippte sie Wendys Videoadresse ein.

Die Frau, die auf dem Bildschirm erschien, könnte ebenso gut eine vollkommen Fremde sein.

"Hi, Wendy", sagte Riley schüchtern.

"Hi", erwiderte Wendy.

Dann starrten sie sich beide für einen Moment unbehaglich an.

Riley wusste, dass Wendy etwa fünfzig Jahre alt war, zehn Jahre älter als sie. Die Jahre standen ihr gut. Sie war ein wenig kräftiger und sah durch und durch normal aus. Ihre Haare waren nicht grau, wie Rileys, aber sie bezweifelte, dass es ihre natürliche Haarfarbe war.

Riley sah zwischen dem Foto und Wendys Gesicht hin und her. Sie bemerkte, dass Wendy ein wenig wie ihre Mutter aussah. Riley wusste, dass sie immer mehr nach ihrem Vater ausgesehen hatte. Sie war nicht gerade stolz auf diese Ähnlichkeit.

"Also", sagte Wendy schließlich, um die Stille zu durchbrechen. "Was hast du so gemacht … in den letzten Jahrzehnten?"

Riley und Wendy mussten beide lachen. Aber selbst ihr Lachen klang gezwungen und ungelenk.

Wendy, fragte, "Bist du verheiratet?"

Riley seufzte laut. Wie konnte sie erklären, was zwischen ihr und Ryan vorging, wenn sie es selber nicht wirklich verstand?

Sie sagte, "Na ja, wie die Kinder heutzutage so schön sagen, 'Es ist kompliziert.' Und ich meine wirklich kompliziert."

Mehr nervöses Lachen.

"Und du?", fragte Riley.

Wendy schien sich ein wenig zu entspannen.

"Für Loren und mich sind es bald fünfundzwanzig Jahre. Wir sind beide Apotheker und haben eine eigene Apotheke. Loren hat sie von seinem Vater geerbt. Wir haben drei Kinder. Der jüngste, Barton, ist gerade im College. Thora und Parish sind beide verheiratet und haben ihr eigenes Leben. Ich nehme an, das macht mich und Loren zu klassischen Empty-Nestern."

Riley spürte einen seltsam melancholischen Stich.

Wendys Leben war so anders als ihr eigenes. Tatsächlich schien Wendys Leben vollkommen normal zu sein.

Wie schon beim Abendessen mit April, schien sie auch jetzt in einen Spiegel zu blicken.

Außer, dass es kein Spiegel in ihre Vergangenheit war.

Sie sah ihr zukünftiges Selbst – jemand, der sie hätte werden können, aber nun niemals sein würde.

"Was ist mit dir?", fragte Wendy. "Hast du Kinder?"

Wieder fühlte Riley sich versucht zu sagen:

'Es ist kompliziert.'

Stattdessen sagte sie, "Zwei. April ist fünfzehn. Und ich bin dabei noch eine zu adoptieren – Jilly, die dreizehn ist."

"Adoption! Mehr Leute sollten das tun. Das finde ich klasse."

Riley hatte nicht das Gefühl einen Glückwunsch zu verdienen. Sie würde sich vielleicht besser fühlen, wenn sie wüsste, dass Jilly mit zwei Elternteilen aufwachsen würde. Im Moment war dies jedoch zu bezweifeln. Das wollte sie aber nicht mit Wendy diskutieren.

Stattdessen gab es etwas, das sie mit ihrer Schwester klären musste.

Und sie befürchtete, dass es unangenehm werden würde.

"Wendy, du weißt, dass Daddy mir in seinem Testament seine Hütte hinterlassen hat", sagte sie.

Wendy nickte.

"Ich weiß", sagte sie. "Du hast mir Fotos geschickt. Sieht nach einem netten Ort aus."

Die Worte hatten für Riley einen misstönenden Klang.

" … ein netter Ort."

Riley war einige Mal dort gewesen – das letzte Mal kurz nach dem Tod ihres Vaters. Aber ihre Erinnerungen waren alles andere als erfreulich. Ihr Vater hatte die Hütte nach seinem Eintritt in den Ruhestand als US Marine Kommandant gekauft. Riley erinnerte sich an das Haus als das eines einsamen, gemeinen alten Mannes, der jeden gehasst hatte – und im Gegenzug von jedem gehasst wurde. Das letzte Mal, als Riley ihn lebend gesehen hatte, war es zu einem Schlagabtausch gekommen.

"Ich denke, es war ein Fehler", sagte sie.

"Was?"

"Mir die Hütte zu hinterlassen. Das war falsch von ihm. Du hättest sie bekommen sollen."

Wendy sah aufrichtig überrascht aus.

"Warum?", fragte sie.

Riley spürte hässliche Emotionen in sich aufwallen. Sie räusperte sich.

"Weil du am Ende für ihn da warst, als er im Hospiz war. Du hast dich um ihn gekümmert. Du hast dich sogar danach um ihn gekümmert – die Beerdigung und die Papiere erledigt. Ich war nicht da. Ich––"

Sie erstickte fast an ihren nächsten Worten.

"Ich denke nicht, dass ich das hätte tun können. Die Dinge zwischen uns waren nicht gut."

Wendy lächelte traurig.

"Die Dinge zwischen mir und ihm waren auch nicht gut."

Riley wusste, dass das stimmte. Arme Wendy – Daddy hatte sie regelmäßig geschlagen, bis sie schließlich mit fünfzehn weggelaufen war. Und trotzdem hatte Wendy den Anstand gehabt, sich am Ende um ihn zu kümmern.

Riley hätte das nicht getan und sie fühlte sich deswegen auch nicht schuldig.

Riley sagte, "Ich weiß nicht, was die Hütte wert ist. Sie muss zumindest etwas wert sein. Ich will, dass du sie bekommst."

Wendys Augen weiteten sich erschrocken.

"Nein", sagte sie.

Die Direktheit der Antwort überraschte Riley.

"Warum nicht?", fragte Riley.

"Ich kann nicht. Ich will sie nicht. Ich will alles über ihn vergessen."

Riley wusste, wie sie sich fühlte. Sie fühlte sich genauso.

Wendy fügte hinzu, "Du solltest sie einfach verkaufen. Behalte das Geld. Ich will, dass du es behältst."

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte.

Glücklicherweise wechselte Wendy das Thema.

"Bevor Dad gestorben ist, hat er mir erzählt, dass du BAU Agentin bist. Wie lange machst du diese Arbeit schon?"

"Etwa zwanzig Jahre", sagte Riley.

"Nun. Ich denke, Dad war stolz auf dich."

Ein bitteres Lachen stieg in Rileys Kehle auf.

"Nein, das war er nicht", sagte sie.

"Woher weißt du das?"

"Oh, das hat er mich wissen lassen. Er hatte seine eigene Art, Dinge zu kommunizieren."

Wendy seufzte.

"Ich nehme an, das hatte er", sagte sie.

Ein unangenehmes Schweigen senkte sich über sie. Riley fragte sich, über was sie reden sollten. Schließlich hatten sie seit Jahren nicht gesprochen. Sollten sie noch einmal versuchen, ein persönliches Treffen auszumachen? Riley konnte sich nicht vorstellen nach Des Moines zu reisen, nur um diese Fremde namens Wendy zu besuchen. Und sie war sich sicher, dass es Wendy mit einem Besuch in Fredericksburg ähnlich ging.

Was könnten sie schließlich gemeinsam haben?

In dem Moment klingelte Rileys Festnetz Telefon auf dem Schreibtisch. Sie war dankbar für die Unterbrechung.

"Da sollte ich besser drangehen", sagte Riley.

"Ich verstehe", sagte Wendy. "Danke, dass du dich gemeldet hast."

"Danke dir", sagte Riley.

Sie beendeten den Anruf und Riley ging ans Telefon. Riley sagte Hallo und hörte dann die verwirrt klingende Stimme einer Frau.

"Hallo … wer spricht da?"

"Wer ruft an?", fragte Riley.

Ein Schweigen folgte.

"Ist … ist Ryan zu Hause?", fragte die Frau.

Ihre Worte klangen ein wenig undeutlich. Riley war sich ziemlich sicher, dass die Frau betrunken war.

"Nein", sagte Riley. Sie zögerte einen Moment. Schließlich, sagte sie sich selbst, könnte es eine Klientin von Ryan sein. Aber sie wusste, dass es nicht so war. Die Situation war zu vertraut.

Riley sagte, "Rufen Sie diese Nummer nicht noch einmal an."

Sie legte auf.

Sie zitterte vor Wut.

Es fängt schon wieder von vorne an, dachte sie.

Sie wählte Ryans Festnetznummer.

 

KAPITEL DREI

 

Als Ryan abnahm, verschwendete Riley keine Zeit mit einer Begrüßung.

"Triffst du dich mit jemand anderem, Ryan?", fragte sie.

"Warum?"

"Eine Frau hat hier angerufen und nach dir gefragt."

Ryan zögerte, bevor er fragte, "Hast du nach ihrem Namen gefragt?"

"Nein. Ich habe aufgelegt."

"Ich wünschte, das hättest du nicht. Sie könnte eine Klientin gewesen sein."

"Sie war betrunken, Ryan. Und es war etwas Persönliches. Ich konnte es in ihrer Stimme hören."

Ryan schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.

Riley wiederholte ihre Frage, "Triffst du dich mit jemand anderem?"

"Es – Es tut mir leid", stammelte Ryan. "Ich weiß nicht, woher sie deine Nummer hat. Es muss eine Art Missverständnis gewesen sein."

Oh, und ob es da ein Missverständnis gibt, dachte Riley.

"Du beantwortest meine Frage nicht", sagte sie.

Ryan fing nun an, ärgerlich zu klingen.

"Was wenn ich jemand anderen treffe? Riley, wir haben nie gesagt, dass wir exklusiv sind."

Riley war sprachlos. Nein, sie konnte sich nicht erinnern, darüber gesprochen zu haben. Aber trotzdem …

"Ich bin davon ausgegangen––" begann sie.

"Vielleicht bist du von zu viel ausgegangen", unterbrach Ryan.

Riley versuchte ihren Ärger herunterzuschlucken.

"Wie heißt sie?", fragte sie.

"Lina."

"Ist es ernst?"

"Ich weiß es nicht."

Der Telefonhörer zitterte in Rileys Hand.

Sie sagte, "Denkst du nicht, es ist an der Zeit, dich zu entscheiden?"

Ein Schweigen folgte.

Schließlich sagte Ryan, "Riley, ich wollte schon mit dir darüber reden. Ich brauche ein wenig Freiraum. Dieses ganze Familien-Ding – Ich dachte, ich wäre bereit dafür, aber das war ich nicht. Ich will mein Leben genießen. Du solltest dir auch ein wenig Zeit nehmen, um dein Leben zu genießen."

Riley konnte den nur zu vertrauten Ton in seiner Stimme hören.

Er ist wieder in seinem Playboy-Modus, dachte sie.

Er genoss seine neue Affäre, zog sich von Riley und seiner Familie zurück. Er hatte in der letzten Zeit wie ein veränderter Mann gewirkt – mehr Verantwortung und Engagement gezeigt. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht lange anhält. Er hatte sich nicht geändert.

"Was willst du jetzt machen?", fragte sie.

Ryan klang erleichtert, dass er seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte.

"Hör zu, Riley, dieses ganze Hin und Her zwischen deinem Haus und meinem – das funktioniert für mich einfach nicht. Es fühlt sich zu vorübergehend an. Ich denke, es ist besser, wenn ich gehe."

"Das wird April sehr treffen", sagte Riley.

"Ich weiß. Aber wir schaffen das schon irgendwie. Ich verbringe weiter Zeit mit ihr. Das wird sie schon verstehen. Sie hat Schlimmeres durchgemacht."

Ryans aalglatte Antworten machten Riley von Sekunde zu Sekunde wütender. Sie war kurz davor, zu explodieren.

"Und was ist mit Jilly?" sagte Riley. "Sie hat dich sehr gerne. Sie verlässt sich auf dich. Du hast ihr bei vielen Dingen geholfen, wie ihren Hausaufgaben. Sie braucht dich. Sie macht gerade so viele Änderungen durch, es ist nicht leicht für sie."

Eine weitere Pause folgte. Riley wusste, dass Ryan sich bereit machte, etwas zu sagen, dass ihr nicht gefallen würde.

"Riley, Jilly war deine Entscheidung. Ich bewundere dich dafür. Aber ich habe mich nicht dafür gemeldet. Ein Problem-Teenager von einem Fremden ist zu viel für mich. Das ist nicht fair."

Für einen Moment war Riley zu wütend, um zu sprechen.

Ryan kümmerte sich wieder nur um seine eigenen Gefühle.

Es war hoffnungslos.

"Komm her und hol deine Sachen", sagte sie durch zusammengebissene Zähne. "Komm erst, wenn die Mädchen in der Schule sind. Ich will, dass alles von dir so schnell wie möglich von hier verschwunden ist."

Dann legte sie auf.

Sie stand auf und tigerte rauchend vor Wut durch den Raum.

Sie wünschte, sie hätte einen Weg, um Dampf abzulassen, aber es gab nichts, was sie gerade tun konnte. Eine schlaflose Nacht lag vor ihr.

Das Abreagieren würde bis zum nächsten Tag warten müssen.

 

KAPITEL VIER

 

Riley wusste, dass ein Angriff kommen würde und zwar plötzlich und unerwartet. Und er konnte von überall aus diesem labyrinthartigen Raum kommen. Sie arbeitete sich langsam den schmalen Flur des verlassenen Gebäudes entlang vor.

Aber die Erinnerungen an den letzten Abend stahlen sich immer wieder in ihren Kopf.

"Ich brauche ein wenig Freiraum", hatte Ryan gesagt.

"Dieses ganze Familien-Ding – Ich dachte, ich wäre bereit dafür, aber das war ich nicht. Ich will mein Leben genießen."

Riley war wütend – nicht nur auf Ryan, sondern auch auf sich selbst, weil sie sich von diesen Gedanken ablenken ließ.

Konzentrier dich, sagte sie sich. Du musst einem Verbrecher das Handwerk legen.

Und die Situation sah nicht gut aus. Rileys jüngere Kollegin Lucy Vargas war bereits verwundet worden. Rileys langjähriger Partner Bill Jeffreys war bei Lucy geblieben. Sie waren beide um die Ecke hinter Riley und hielten herannahende Schützen ab. Riley hörte Schüsse aus Bills Gewehr.

Mit der Gefahr genau vor sich konnte sie sich nicht umdrehen und nachsehen, was geschah.

"Wie sieht es aus, Bill?" rief sie.

Jetzt hörte sie eine Reihe von halbautomatischen Schüssen.

"Einer erledigt, noch zwei übrig", rief Bill zurück. "Ich schalte die Kerle hier aus, kein Problem. Und ich gebe Lucy Deckung, sie kommt wieder in Ordnung. Halte deine Augen vorne. Der Typ vor dir ist gut. Wirklich gut."

Bill hatte Recht. Riley konnte den Schützen vor sich nicht sehen, aber er hatte bereits Lucy getroffen, die selbst eine ausgezeichnete Schützin war. Falls Riley ihn nicht erledigte, dann würde er sie alle ausschalten.

Sie hielt ihren M4-Karabiner im Anschlag. Sie hatte schon lange kein Sturmgewehr mehr in der Hand gehabt, also gewöhnte sie sich noch immer an das Gewicht und die Ausmaße.

Vor ihr lag der Flur, dessen Türen alle offen standen. Der Schütze konnte sich in jedem dieser Räume verstecken. Sie war entschlossen ihn zu finden, ihn zu erledigen, bevor er mehr Schaden anrichten konnte.

Riley drückte sich weiter an der Wand entlang und bewegte sich auf die erste Tür zu. In der Hoffnung, dass er sich dort befand, hielt sie sich von der Öffnung fern, streckte ihre Waffe aus und feuerte drei Kugeln in den Raum. Die Waffe zuckte scharf in ihrer Hand. Dann trat sie in den Türrahmen und feuerte drei weitere Schüsse. Diesmal presste sie den Schaft gegen die Schulter, um den Rückstoß aufzufangen.

Sie senkte die Waffe und sah, dass der Raum leer war. Sie wirbelte herum, um sicherzustellen, dass der Flur noch frei war, bevor sie einen Moment innehielt und ihren nächsten Schritt überdachte. Abgesehen von der Gefahr, würde es zu viel Munition kosten, jeden der Räume auf diese Weise zu überprüfen. Aber sie schien keine andere Wahl zu haben. Falls der Schütze in einem dieser Räume war, dann hatte er sicherlich seine Waffe so positioniert, dass er jeden töten würde, der durch den Türrahmen trat.

Sie hielt inne und kontrollierte ihre eigene physische Reaktion.

Sie war aufgebracht, nervös.

Ihr Puls schlug heftig.

Sie atmete schnell.

Aber lag das an dem Adrenalin oder dem Ärger der letzten Nacht?

Wieder erinnerte sich an seine Worte.

"Was wenn ich jemand anderen treffe?" hatte Ryan gesagt.

"Riley, wir haben nie gesagt, dass wir exklusiv sind."

Er hatte ihr gesagt, dass der Name der Frau Lina war.

Riley, fragte sich, wie alt sie war.

Wahrscheinlich zu jung.

Ryans Frauen waren immer zu jung.

Verdammt, hör auf, an ihn zu denken! Sie verhielt sich wie ein blutiger Anfänger.

Sie musste sich daran erinnern, wer sie war. Riley Paige, eine respektierte und bewunderte Agentin.

Sie hatte jahrelanges Training und Arbeit im Feld hinter sich.

Sie war zur Hölle und wieder zurück gegangen. Sie hatte Leben genommen und Leben gerettet. Sie verhielt sich im Angesicht der Gefahr immer kühl und überlegt.

Also warum ließ sie sich von Ryan so aufbringen?

Sie schüttelte sich und versuchte so, die Ablenkungen aus ihrem Kopf zu verbannen.

Sie bewegte sich auf den nächsten Raum zu, feuerte um den Türrahmen herum, trat in den Raum und betätigte wieder den Abzug.

In dem Moment klemmte ihr Gewehr.

"Verdammt", grummelte Riley laut.

Glücklicherweise war der Schütze auch nicht in diesem Raum. Aber sie wusste, dass ihr Glück jederzeit vorbei sein konnte. Sie trat zurück, ließ den Karabiner sinken und zog ihre Glock.

In dem Moment sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Dort war er, in einem Türrahmen weiter vor ihr, sein Gewehr genau auf sie gerichtet. Instinktiv ließ Riley sich fallen und rollte sich ab, um seinen Schüssen auszuweichen. Dann kam sie auf die Knie und feuerte dreimal, sich bei jedem der Schüsse in den Rückstoß lehnend. Alle drei Kugeln trafen den Schützen, der rückwärts zu Boden fiel.

"Ich habe ihm erwischt!", rief sie Bill zu. Sie hielt ihren Blick auf die Figur gerichtet und sah kein Lebenszeichen. Es war vorbei.

Dann stand Riley auf und zog ihren VR-Helm mit den Gläsern, Kopfhörern und dem Mikrofon ab. Der gefallene Schütze verschwand, zusammen mit dem Labyrinth der Gänge. Sie fand sich in einem Raum der Größe eines Basketballplatzes wieder. Bill stand in der Nähe und Lucy kam wieder auf die Füße. Bill und Lucy nahmen ebenfalls ihre Helme ab. Wie Riley, trugen auch sie jede Menge Ausrüstung, mit Sensoren an ihren Handgelenken, Ellbogen, Knien und Knöcheln, die jede ihrer Bewegungen in der Simulation verfolgten.

Jetzt, da ihre Partner keine simulierten Puppen mehr waren, hielt Riley einen Augenblick inne, um ihre Anwesenheit zu würdigen. Sie schienen ein seltsames Paar zu sein – einer von ihnen reif und solide, der andere jung und impulsiv.

Aber sie gehörten beide zu ihren liebsten Menschen.

Riley hatte mehr als einmal mit Lucy zusammen gearbeitet und wusste, dass sie sich auf sie verlassen konnte. Die junge Agentin mit ihren dunklen Augen schien regelrecht von innen heraus zu leuchten, Energie und Enthusiasmus zu versprühen.

Im Gegensatz dazu war Bill in Rileys Alter und auch wenn seine vierzig Jahre ihn ein wenig langsamer gemacht hatten, war er immer noch einer der besten Agenten.

Und er sieht immer noch sehr gut aus, sagte sie zu sich selbst.

Für einen kurzen Augenblick, fragte sie sich – jetzt wo die Dinge zwischen ihr und Ryan wieder schief gelaufen waren, vielleicht sollten sie und Bill …?

Aber nein, sie wusste das war eine fürchterliche Idee. In der Vergangenheit hatten sie und Bill beide unbeholfene Versuche unternommen, um etwas Ernsthaftes zu starten und die Ergebnisse waren ein Desaster gewesen. Bill war ein guter Partner und ein noch besserer Freund. Es wäre dumm, das zu zerstören.