Robert Brack • Psychofieber
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins
William Shakespeare
Psychofieber
PENDRAGON
Die Hauptpersonen
Harte Zeiten brechen an für den Journalisten Tolonen, obwohl sein hartgesottener Kompagnon Kreissberg allem Anschein nach zum Softie mutierte. Nur der Kripo-Beamte Menzel ist ganz der alte geblieben und gibt einen Tipp: Die Leiche der jungen Carmen Wüpperfürth liegt auf einer Elbinsel, als Überbleibsel einer Party, die Kai Uwe Katzur, Sohn des Innensenators Bruno Katzur, gegeben hat, bevor er verschwand. Ein imitierter Graf namens Guido Perosino, ein polnischer Dealer namens Robak und ein Detektiv namens Herbert A. P. Sapia kommen dem recherchierenden Journalisten in die Quere, während er das soziale Elend der Hansestadt in den Personen von Aloa, ihrem Freund Narc und dem aufmüpfigen Penner Klaus kennenlernt und von einem schwarzen Racheengel bedroht wird.
1
Wir haben hier alles, was wir brauchen. Zwei Betten zum Schlafen, zwei Stühle zum Sitzen, einen Tisch zum Schreiben, ein Radio zum Hören, ein Fenster zum Hinaussehen. Leider nur sehr wenig Luft zum Atmen für zwei erwachsene Männer. Und keinen Kühlschrank, um das Bier aufzubewahren. Da wir hier nur selten Bier bekommen, spielt das keine große Rolle. Mir ist es ohnehin egal, nur mein Kompagnon kann nicht oft genug das Fehlen eines eisgekühlten Holsten beklagen. Was mir viel mehr zu schaffen macht, ist der Ausblick aus dem Fenster: graue Mauern, grauer Asphalt, grauer Himmel. Viel mehr bekommen auch Sie nicht zu sehen, werden Sie jetzt sagen. Sicher. Aber die Mauern, die ich sehe, wenn ich mich auf die Zehenspitzen oder auf den Stuhl stelle, sind Gefängnismauern. Der Hof, den ich sehe, das ist der, in dem wir eine Stunde täglich herumlaufen dürfen. Und der Himmel? Der ist unsichtbar geworden. Wenn alles grau geschmirgelt ist, wird es schwierig, herauszufinden, wo die eine Fläche beginnt und die andere aufhört. Meiner Welt fehlt die dritte Dimension, sie existiert nur noch als Fläche. Es gibt keinen Raum mehr. Nur noch eine Zelle.
Der Mann, mit dem ich diese wenigen Quadratmeter teile, hat die Angewohnheit, vor dem Einschlafen ein Lied zu singen: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …“ Das singt er jeden Abend. Nicht richtig laut. Mal summt er es, mal murmelt er es im Sprechgesang, gelegentlich hebt er die Stimme etwas an, manchmal lallt er ein bisschen. Text und Melodie beherrscht er nur bruchstückhaft. Also muss er improvisieren. Ich achte auf jede Nuance, jede Abweichung, jede Neuentwicklung. Auf diese Weise singt er sich in den Schlaf. Ich habe es bis heute nicht geschafft, herauszufinden, wann der Schlaf bei ihm beginnt. Jedenfalls nicht erst dann, wenn sein Gesang verstummt. Er murmelt sowieso sehr viel im Schlaf. Leider kann ich davon kaum etwas verstehen, sosehr ich mich auch bemühe. Dabei würde ich gerne mehr über diesen Mann erfahren, mit dem ich nun seit einigen Wochen zusammenlebe. Nicht aus wirklichem Interesse natürlich, sondern aus Langeweile.
Mein Gott, wie ich mich langweile! Man kann tatsächlich ein Stadium der geistigen Öde erreichen, indem man zu nichts anderem mehr fähig ist, als sich zu langweilen. Eine Psychose. So weit wollen sie einen natürlich kriegen. Das nennen sie Strafvollzug. Sie machen einen dumpf, apathisch, blöd. Man wird zum rückgratlosen Weichtier hier. Um das zu verhindern, muss ich mich jetzt an den Schreibtisch zwingen. Ich frage mich, wie mein Kumpel wohl darauf reagieren wird. Ich glaube nicht, dass er in seinem Leben jemals mehr als seinen Namen niedergeschrieben hat. Als ich neulich versuchte, ein Buch zu lesen, hat er gefragt, was ich da in den Händen halte. „Ein Buch“, hab ich geantwortet. Ich hätte auch sagen können: einen „Holzklotz“. Die Reaktion wäre gleichermaßen indifferent ausgefallen: „Aha.“ Verständnisloses Kopfnicken. Offenbar hat er noch nie ein Buch in den Händen gehalten. „Na und, was sind schon Bücher?“, mag man einwenden. Überlebensmittel, wie ich jetzt feststellen muss. Überlebensmittel für Schwächlinge vielleicht. Mein Zellengenosse benötigt dieses Mittel jedenfalls nicht.
Er ist größer und breiter als ich, ein echter Muskelprotz. Ich frage mich immer wieder, woher diese Kraft kommt. Bodybuilding betreibt er nicht, und einer regelmäßigen Beschäftigung ist er offenbar sein ganzes Leben lang nicht nachgegangen. Seine Muskeln sind sein ganzer Stolz, er stellt sie zur Schau mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der eine Sexbombe ihre Reize darbietet. Selbst an den kältesten Tagen trägt er nur ein Unterhemd. So kann jeder die Tätowierungen bewundern, die seine Arme und Schultern zieren: Frauen, Schlangen, Runen (SS), Hakenkreuze, Herze, Dolche, Schwerter, Rosen. Wenn er das Hemd auszieht, starrt man gebannt auf den feuerspeienden Drachen auf seinem massigen Rücken. Wenn er sich umdreht und dann vor einem steht, wird man unbarmherzig von dem pornographischen Frauenakt auf seinem muskulösen Bauch angezogen. Als ich einmal eine ironische Bemerkung über diese in die Haut geritzten Bilder anbringen wollte, hat er mich für einen kurzen Moment angesehen, al s wolle er mich erschlagen. Seitdem lasse ich das. Auch wenn ich geneigt bin, diese Malereien als „entartete Kunst“ einzustufen, für ihn sind es echte Kunstwerke, mit deren Hilfe er sein Verhältnis zur Welt beschreibt.
Übrigens ist er kein Nazi, auch wenn ihn seine Freunde liebevoll „SS-Heinz“ nennen. Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hat er mir erzählt, warum er eingelocht wurde.
Der Wärter (ein Mensch, der den perversesten Beruf der Welt ausübt) schloss die Zellentür auf und sagte: „Machen Sie sich nichts draus, Tolonen. Sie bekommen bald eine Einzelzelle. Aber keine Angst, der da ist ein gutartiges Raubtier.“
Das fand er witzig, wir nicht.
SS-Heinz lag auf seinem Bett an der linken Seite der Zelle und sah mich apathisch an.
„Hallo“, sagte ich und schmiss meine wenigen Utensilien auf das andere Bett.
„Tach“, sagte er.
„Sei nett zu ihm, Heinz“, meinte der Wärter überflüssigerweise, „das ist ein Intellektueller.“
„Mir egal.“
Die Tür knallte zu, und ich stand mitten in meiner neuen Behausung und fühlte mich ungeheuer elend. Wie lange werde ich diese Mauern ertragen müssen?, fragte ich mich. Und wie lange mit diesem tätowierten Fleischbrocken zusammen sein, der nach Schweiß und anderen Ausdünstungen riecht?
„He, Alter! Mach dir mal nicht gleich ins Hemd“, sagte er. „Ich heiße auch Heinz“, sagte ich hilflos.
Und da fing er an zu lachen. Ich fand das überhaupt nicht komisch. Ich bin vielleicht kein Intellektueller, aber immerhin genug vergeistigt und verkorkst, dass es mir schwerfällt, mit solchen Typen aus dem Proletariat zu kommunizieren. Ich hab Angst vor diesen Kerlen.
„Das ist klasse!“, brüllte er und wälzte sich begeistert auf dem unordentlichen Bett herum.
Ich setzte mich hin. Mein Magen krampfte sich zusammen. Der Prozess hatte mir ein halbes Magengeschwür beschert.
„Heinz und Heinz“, kicherte er und sah mich fröhlich an. „Wir können eine Ketchup-Firma aufmachen.“
„Was ist denn so witzig?“
„Mensch, Heinz! Du bist wohl schwer von Begriff? Funktioniert nicht alles so richtig da oben, he?“ Er deutete auf meinen Kopf.
„Wahrscheinlich nicht.“
„Einen Schluck?“
„Bitte?“
„Einen Whisky.“ Er zog eine Literflasche Jim Beam unter dem Kopfkissen hervor.
„Wo hast du die denn her?“
„Du kannst genau einen Schluck haben. Als Einstand. Dann musst du dir selbst eine besorgen.“
„Danke.“
Ich nahm einen großen Schluck, um ihm zu beweisen, dass ich ein harter Bursche war. Meine Innereien zogen sich zusammen. Ich krümmte mich und ächzte. Wenn ich jetzt sterbe, dachte ich, dann wenigstens wie ein Held.
„Die haben dich ganz schön in der Mangel gehabt, was?“
SS-Heinz nahm die Flasche wieder an sich: „Ich hatte mal einen Kumpel, dem kam auch immer die Galle hoch im Knast. Jetzt hat’s ihn zerrissen. War ein Arschloch, aber ein klasse Typ. Ich mein, der konnte einem echt auf den Geist gehen mit seinem Gelaber, aber wenn’s drauf ankam, war er voll dabei. Ingo. Ich trink jeden Tag einen Schluck auf sein Wohl.“
Er nahm einen sehr großen Schluck und grunzte. „Wir haben ihn verbrannt.“
„Was?“
„Jetzt sitzt er in einer Urne.“
„Ach so.“
„Scheiße.“
Er nahm noch einen Schluck und verstaute die Flasche wieder unter dem Kopfkissen.
„Und ich sitz hier und dreh Däumchen. Na, vielleicht besser als in einer Urne.“
„Däumchendrehen in der Urne?“
„Ha! Du bist ein Scherzkeks, hä?“
„Manchmal.“
„Teil dir deine Witze gut ein, du wirst sie noch brauchen.“
„Mach ich.“
„Ich hab nämlich keine mehr über. Ich denk immer an diese scheiß Urne, die wir gekauft haben. Wir haben die teuerste genommen. Sah ganz schön bescheuert aus, das Ding. Scheiße. Nachdem der Topf unter der Erde war, haben wir uns die Birne zugeknüppelt, die Jungs und ich. Und dann haben wir diese Arschgeigen getroffen. Na ja.“ Er machte eine abschätzige Handbewegung.
„Was, na ja?“
„Ich hatte geladen wie noch nie, Mann. Es war ein beschissener, trauriger Tag, verstehst du? Und dann kommen diese Figuren an, fünf Mann hoch, und angegeben haben sie wie zehn nackte Neger. Grünschnäbel.“ Er wälzte sich auf die Seite: „Glatzen. Kennst du die Typen?“
Ich sah ihn fragend an.
„Skinheads. Die kamen angelatscht im Kampfanzug und so weiter, Knüppel, Schlagring. Wir waren sowieso schon schlecht drauf, Mann. Und dann werden wir von diesen Arschgeigen angemacht. Die wollten Blut sehen, verstehst du? Ich hab denen meine Buchstaben gezeigt. Hier.“
Er hielt mir seine linke Faust entgegen. Auf die Finger hatte er sich die Buchstaben H-A-S-S tätowieren lassen.
„Dann hab ich so gemacht.“ Er streckte Zeigefinger und Mittelfinger vor, drehte die Hand um und hielt sie hoch: „SS. Das sind meine Buchstaben. Da waren sie wohl sauer, weil sie nichts dagegenhalten konnten. Jedenfalls meinte der eine, wir Penner dürften die Buchstaben nicht benutzen. Sie wollten mir die Finger abhacken. Das fanden sie lustig. Die haben gelacht. Und dann hatte der Oberschwätzer von denen die Buchstaben in der Fresse hängen. Dann ging der Rambozambo los. Mann, wir waren so sauer, wegen Ingo und überhaupt, dass wir gedroschen haben wie Schwarzenegger. Ungelogen, Alter. Wir haben sie fertiggemacht. In Nullkommanix lagen die platt wie die Fliegen auf dem Boden. Siehst du die Faust hier?“
„Ja, klar.“
„Mit der hab ich ihn zermatscht. Ich hab ihm den Schädel zu Brei gehauen, konnte gar nicht aufhören damit. Scheiße.“ Er schüttelte betrübt den Kopf: „Und jetzt sitz ich hier, verdammt. Nur wegen so ein paar Arschgeigen. Das war vielleicht ein beschissener Tag!“
Er holte tief Luft und schwieg. Einige Minuten sagte keiner von uns einen Ton. Dann kramte er mit der rechten Hand die Flasche wieder hervor.
„Willst du noch?“
„Danke.“
Er hielt mir die Flasche hin. Auch auf den Fingern der rechten Hand waren Buchstaben.
„Was steht denn da?“, fragte ich und nahm die Flasche entgegen.
Er machte eine Faust. Wenn er den Daumen richtig hielt, konnte man fünf Buchstaben erkennen.
„L-I-E-B-E“, sagte SS-Heinz und schloss die Augen.
2
Es war Sommer und seit Tagen viel zu heiß. Die Rechten hatten die Wahlen gewonnen. Ich saß mit einer Flasche eisgekühltem Bier vor meinem Fernseher und machte in Kulturpessimismus. Vielleicht war es an der Zeit auszuwandern. Ich hatte sowieso seit einiger Zeit das Gefühl, in dieser Stadt überflüssig zu sein. Aber nur wegen dieser 15,5 Prozent rechtsradikaler Wählerstimmen ins Exil gehen? Wohin denn? Kleinbürgerliche Nationalisten gibt es überall. Wenn man sich mit ihnen herumplagen muss, dann besser zu Hause, wo man wenigstens ihre Sprache versteht. Ich lächelte bitter in Richtung Mattscheibe. Der Fernsehapparat strahlte ein eisiges Blau in mein Zimmer, draußen wurde es allmählich dunkler. Ich stand kurz auf, holte mir eine neue Flasche Bier und öffnete nach kurzem Zögern eine Dose Erdnüsse. Die Übertragung von Wahlergebnissen hat was von einer Sportübertragung, warum soll man es also nicht genießen?
Im Wahlstudio machten sich die etablierten Politiker lächerlich, indem sie den Wählern die Schuld an der Misere gaben. Die Politiker der sozialliberalen Regierungspartei sahen blass aus. Vielleicht stand ihnen der kalte Schweiß auf der Stirn. Die konservativen Oppositionsvertreter grinsten verlogen und schoben jede Verantwortung weit von sich. Als sich ein korpulenter Kryptofaschist der Deutschnationalen an den Diskussionstisch schob, rümpften alle die Nase. Sogar die Reporter rückten merklich weg, von diesem „Vertreter einer schweigsamen Minderheit“, wie der Bursche sich selbst höhnisch einführte. Schulterschluss der Demokraten, konnte man das nennen. Oder auch billige Kungelei der Etablierten, die ja die öffentlich-rechtlichen Sender kontrollierten. Und somit auch die angeblich so aufrechten Reporter, die nun vergeblich versuchten, den dickfelligen Abgeordneten der „Deutschnationalen Partei für die Ordnung“ (abgekürzt D.P.O.) in die Enge zu treiben. Wie wollten die denn einen solchen Kerl in die Enge treiben, diesen billigen Jakob der Gegenaufklärung? Vernünftige Argumente verstand er nicht oder wollte er nicht verstehen. Aber seine deutschtümelnden Sprüche wurden von zahlreichen Anhängern, die sich ins Wahlstudio gemogelt hatten, lautstark bejohlt und beklatscht.
Die Erdnüsse schmeckten bitter, und das Bier trug seinen Teil zu meiner Depression bei. Dies ist nicht mehr meine Stadt, entschied ich und griff nach der Fernbedienung. Sollen sie doch diskutieren, diese Idioten, jetzt ist es sowieso zu spät! Ich schaltete von einer Betroffenheitsdebatte zur nächsten. Dann hatte ich einen „Tatort“ auf der Mattscheibe. Solche schlappen Exkurse in die bundesdeutsche Wirklichkeit sehe ich mir normalerweise überhaupt nicht an. Heute Abend blieb mir jedoch nichts anderes übrig.
Aber meine Gedanken schweiften schnell ab, es war sowieso klar, wer der Mörder war. Natürlich nicht der nette Türke, der die Ehre seiner Tochter retten wollte. An einem echten Tatort war ich erst am Nachmittag gewesen. Ich hatte den Besuch der Leiche mit einem Ausflug an die Elbe verbinden können. Immerhin.
Wäre ich nicht aus lauter Langeweile am Sonntagnachmittag auf einen Sprung ins Büro gegangen, hätte mich der Anruf von Kreissbergs Kumpel Menzel überhaupt nicht erreicht. Menzel arbeitete in der Vermisstenabteilung der Kripo und war ein Freund meines Kompagnons Kreissberg aus Bundeswehrtagen. Er hatte erfolglos versucht, Kreissberg zu Hause zu erreichen, und auf gut Glück die Nummer unseres gemeinsamen Büros gewählt. Auf meine geheuchelte Frage, ob er an einem so schönen Sonntag nichts Besseres zu tun hätte als Informant zu spielen, lachte er nur dämlich und faselte etwas von „allzeit bereit“. Mir sollte es recht sein. Eine unbekannte Tote, die in der Hitze vor sich hin weste, daraus konnte eventuell eine Geschichte werden, für die sich eine Illustrierte interessierte. Um ehrlich zu sein, mein professionelles Interesse am Telefon war eine einzige Lüge. Man soll ja nie einen eifrigen Informanten verprellen. Dennoch überlegte ich, ob es den Aufwand wirklich rechtfertigte. Aber was kann man an einem beschissenen Sommersonntag schon Besseres tun als arbeiten. Außerdem konnte ich dann ruhigen Gewissens den Gang zur Wahlurne ausfallen lassen. (Oh, ich gehöre zu jenen Parteiverdrossenen, auf die nun alle mit den Fingern zeigen. Na und?)
Da ich keinen eigenen Wagen mehr besaß, pferchte ich mich mit zahllosen Sommerfrischlern (Wahlboykotteure?) in die S-Bahn und fuhr nach Wedel. Dort, vor den Toren der großen Stadt, gibt es nicht nur eine Schiffsbegrüßungsanlage und einen Yachthafen, sondern auch eine langgezogene Elbinsel. Und auf dieser Insel hatte ein pensionierter Vogelschützer am frühen Morgen die Leiche entdeckt.
Als ich am Schulauer Hafen ankam, ging das Rätselraten los: Wer würde mich zur Insel übersetzen? Den Gedanken, mir ein Ruderboot zu mieten und mit eigener Kraft die Elbe zu überqueren, schob ich schnell beiseite. Ehrlich gesagt, ich hatte Schiss. Die großen Tank- und Containerschiffe fahren auch sonntags aufs Meer hinaus.
Im Yachthafen lagen zahllose kleine Segelschiffe nebeneinander. Die weißen Segel glänzten grell im Sonnenschein, der Wind ließ sie herumflattern, und es sah aus wie in einer Waschmittelreklame. Die emsigen Freizeitaktivisten hatten eine ähnliche Ausstrahlung. Vielleicht erinnerten sie auch mehr an eine Reklame für alkoholfreies Bier. Es lebe die geschmacklose Zukunft! Sie waren alle blond und gesund, trugen weiße italienische Shorts und bedruckte amerikanische T-Shirts. Ich weiß nicht, warum ich diese Leute nicht mag. Vielleicht weil ich jene Existenzzweifel, die denen völlig abgehen, im Übermaß mit mir herumschleppe. Kann auch sein, dass ich diese unglückseligen Sportskanonen mit Yacht und Blondine einfach nur beneide. Na, und wenn schon! Lieber Alkoholiker als Light-Bier-Spezi, lieber Wampenträger als „Du-darfst“-Diätist. (Trotzdem, wenn ich diese Erfolgreichen da so sehe, packt mich ein leichter Jammer.)
Ich schlurfte über den Yachtanleger und besah mir die braungebrannten Hamburger Bürgerdeerns. Dann fummelte ich meine verspiegelte Sonnenbrille aus der Brusttasche meines Hemdes und setzte sie auf. Wenn die Sonne nicht mehr blendet, hebt sich das Selbstbewusstsein. Wen sollte ich nun fragen? Die beiden Hübschen da drüben? Hm, der Gedanke, dass mir zwei durchtrainierte Bürgerstöchter zeigten, wie man am Sonntag Aktivurlaub betreibt, wollte mir nicht behagen. Vielleicht diesen italienisch aussehenden Muskelprotz da drüben, den mit der betont männlich geschnittenen Badehose? Oder dieses fröhliche Pärchen mit den originellen Schirmmützen? Lieber nicht. Aber den Langhaarigen da drüben, der bei dieser Hitze sogar noch einen Pullover trägt, der sein Boot schwarz angemalt hat und aus dessen Kassettenrecorder „Deserted Cities of the Heart“ von Cream dröhnt, den könnte man mal fragen.
Ich lief zu ihm rüber.
Auch er hatte eine Frau dabei, natürlich. Sie trug ein schwarzes Kleid und hatte mehr Sommersprossen im Gesicht als zehn Iren auf Italienurlaub. Sah ganz nett aus. Er machte einen eher finsteren Eindruck. Die beiden wollten gerade ablegen. Sie kniete auf den Holzplanken und löste das Tau. Ziemlich langsam, beinahe schläfrig.
Ich beschleunigte meine Schritte, winkte und rief: „He, hallo!“
Sie sah gar nicht auf, aber er musterte mich finster: „Was ist los?“
„Können Sie mich mitnehmen?“
Er grinste, und ich sah, dass er schlechte Zähne hatte. „Das ist keine Fähre hier, Mann.“
„Ich muss unbedingt zur Insel rüber.“
„Zur Vogelinsel?“
Sie sah mich immer noch nicht an, sondern knotete weiter das Tau auf.
„Ja, es ist sehr wichtig.“
Er machte eine abwehrende Handbewegung: „Wir fahren nicht da rüber.“
„Ich könnte Sie dafür bezahlen.“
Jetzt sah sie zu mir hoch. Ziemlich desinteressiert. Hennagefärbte Haare.
„Nehmen Sie erst mal die Brille ab“, sagte er.
Ich schob meine Brille in die Brusttasche: „Ich hab beruflich dort zu tun.“
„Heute am Sonntag haben Sie beruflich auf der Insel zu tun, was?“
„Genau.“
„So ein Quatsch.“
Sie stand jetzt auf und hielt das Tau in der Hand. Musterte mich.
„Was wollen Sie denn zahlen?“, fragte er. „Wie viel?“
„20 Mark?“
„In Ordnung.“
Er zuckte mit den Schultern und sah seine Freundin an: „Was meinst du?“
Sie zuckte ebenfalls mit den Schultern. „Okay, Mann, spring rein. Aber vorsichtig.“
Sie zog das Boot an den Steg, und ich kletterte hinein. „Bleib da vorne sitzen“, sagte er.
Sie sprang ziemlich behände hinterher, und wir legten ab. Er hisste ein rotes Segel und manövrierte das Boot zum Ausgang des Yachthafens. Die Glücklichen und Erfolgreichen würdigten uns keines Blickes. Meine Gastgeber schienen die Asozialen des Hafens zu sein. Langsam strebte das Boot der Elbe zu. Ich fühlte mich unwohl. Wann war ich das letzte Mal auf einem Boot gewesen? Hatte ich überhaupt jemals ein Segelboot betreten?
Ziemlich lässig und keineswegs unelegant schipperten wir aus dem Schulauer Hafen. Sie betätigte das Ruder. Als wir den Fluss erreicht hatten, strich er sich die wirren Haare aus dem Gesicht und sah mich amüsiert an:
„Ich heiße Georg.“
„Tolonen.“
„Tolonen? Wie der Jazzrock-Gitarrist aus Finnland?“
„Genau so.“
„Ist ja lustig. Was gibt’s denn da drüben zu besichtigen?“
„Eine Leiche.“
„Soso. Du hast gar keinen Fotoapparat dabei.“
„Warum sollte ich?“
„Du bist doch Journalist, oder?“
„Sieht man mir das an?“
„Na klar. Wenn einer so großkotzig daherkommt. BILD-Zeitung ?“
„Ich hab mein eigenes Büro.“
„Na schön, dann schieb mal die Kohle rüber.“ Er hielt die Hand auf.
Ich gab ihm einen 20-Markschein, den er in seine zerschlissene schwarze Jeans stopfte.
„Was für eine Leiche soll denn das sein?“
„Eine Frauenleiche, mehr weiß ich auch nicht“, sagte ich.
„Ertrunken?“
„Ermordet.“
„Genau das richtige für einen rasenden Reporter.“
„Genau das“, wollte ich antworten, aber einige Böen verfingen sich in dem roten Segel und beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit. Das Mädchen zündete sich einen Joint an, als das Boot wieder ruhiger lag, und reichte ihn an ihren Freund weiter.
„Wie lang liegt sie denn schon da?“, fragte er zwischen zwei Zügen.
„Weiß ich nicht.“
„Na ja, ist ja auch egal. Willst du einen Zug?“
Ich schüttelte den Kopf, und er gab den Joint wieder seiner Freundin zurück.
Als wir uns der Insel näherten, deutete er nach vorn: „Du bist nicht der erste, Pechsache.“
„Das werden die Polizeibeamten sein. Da drüben liegt ein Boot der Wasserpolizei.“
Wir hielten auf den Strand zu. Zwei Uniformierte sahen uns und machten Handbewegungen. Sie wollten nicht, dass wir landeten.
„Was jetzt?“, fragte Georg.
„Ich steig aus, und ihr fahrt weiter.“ Ich sah auf meine Turnschuhe und die Hose. Sollte ich die Hosenbeine hochkrempeln? Bei der Hitze war es wohl egal.
„Ich fahr dich da drüben hin, dann hast du die Bullen nicht gleich im Nacken“, sagte Georg.
Als wir nahe genug am Strand waren, bedankte ich mich und ließ mich vorsichtig über Bord gleiten.
„Viel Spaß mit der Leiche“, sagte Georg. Seine Freundin hielt es nicht für nötig, mich zu verabschieden.
Ich stand bis über beide Knie im dreckigen Elbwasser und watete an Land. Im Sand lag einiges Strandgut und ziemlich viel Abfall, der von einer Party stammen musste: eine Bierkiste mit leeren Flaschen, ein Karton mit Müll, hier und da eine Sektflasche, Pappteller, Plastikbecher, außerdem ein schmutziges Hemd und ein Damenschuh neben einer kleinen Feuerstelle.
Die beiden Uniformierten eilten mir entgegen. Schirmmützen auf dem Kopf, aber hemdsärmelig bauten sie sich vor mir auf. Der eine hatte einen Bierbauch, der andere war irgendwie zu kurz geraten.
„Was soll das?“, fragte der mit dem Bauch. „Was wollen Sie hier?“
„Ich nehme an, das mit dem Aufräumen übernehmen Sie. Ich will mir nur die Leiche angucken.“
Der andere deutete aufs Wasser, wo sich das rote Segel fortbewegte: „Was ist das für ein Boot?“
„Meine Fähre.“
„Sie sind hier völlig fehl am Platz“, sagte der Dicke. Ich holte meinen Journalistenausweis aus der Gesäßtasche und faltete ihn auf: „Es ist mein Beruf, fehl am Platz zu sein.“
Der zu kurz Geratene warf einen Blick darauf und gab den Ausweis an seinen Kollegen weiter, der ihn genauestens studierte.
„Herr Tolonen?“, fragte er dümmlich.
„Ganz recht.“
„Ich glaube nicht, dass Sie hier erwünscht sind.“ Ich blickte suchend um mich: „Sind meine Kollegen schon angekommen?“
„Was für Kollegen?“
„Na wie schön, dass ich der erste bin.“
„Das hier ist Naturschutzgebiet. Sie haben kein Recht –“
„Seit wann stehen Leichen unter Naturschutz?“
„Sie gehen hier nicht –“
„Doch, genau das werde ich tun. Vielleicht möchten Sie mir den Weg zur Fundstelle zeigen. Sonst muss ich eigenmächtig handeln.“
„Hören Sie!“, stieß der zu kurz Gekommene hervor, aber sein Kollege winkte müde ab.
„Wir müssen ihn sowieso hinbringen. Also kommen Sie.“
Sie führten mich über einen Pfad durchs Gestrüpp, an einem Tümpel vorbei auf die andere Seite der schmalen, langgezogenen Elbinsel. Dort in einer Dünenkuhle im Schatten einiger Weidenbäume lag die tote Frau. Kriminalbeamte knieten neben ihr oder liefen umher, um Spuren zu sichern. Der Kommissar blickte verärgert über den Rand seiner Lesebrille, als er die beiden Beamten mit mir in ihrer Mitte auf sich zukommen sah. „Guten Tag“, begrüßte ich ihn höflich. Er löste sich aus der Gruppe der Zivilbeamten und trat einige Schritte auf mich zu. Er war klein und drahtig, trug ein kurzärmeliges weißes Hemd und Hosenträger, obwohl er die wahrscheinlich gar nicht nötig hatte. Seine Füße steckten in weißen Socken und Gesundheitssandalen. Er gehörte zu jener Sorte von Beamten, die immer verärgert sind. Die chronische Magenverstimmung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?“
„Tolonen, mein Name, Journalist.“
„Na fein“, sagte er. „Da hat wieder mal einer nicht dichtgehalten.“
„Seit wann darf die Presse nicht mehr über Verbrechen berichten?“
„Haben Sie einen Ausweis?“
Der dicke Uniformierte gab ihm meinen Presseausweis. Der Kommissar blickte flüchtig darauf und gab ihn mir zurück. „Aber passen Sie auf, dass Sie uns nicht im Weg stehen!“, sagte er mit einer Leichenbittermiene. Dann drehte er sich um und gesellte sich zu seinen Kollegen von der Spurensicherung.
„Gehen wir zurück?“, fragte der zu kurz Geratene seinen Kumpel.
Der zögerte, und ich nahm ihm die Antwort ab: „Gehen Sie ruhig, vielleicht kommen ja noch mehr, denen Sie den Weg zeigen müssen.“
Sie warfen mir finstere Blicke zu und trollten sich von dannen. Es war sauwarm, und die Leiche stank bestialisch. Ich sah mir die Tote an. Sie war nackt. Ihr aufgedunsener Körper ähnelte dem einer riesigen Made. Gesichtszüge und Körperformen waren nur noch zu erahnen. In Brust und Bauch bemerkte ich einige hässliche, durch das Aufquellen verformte Wunden. Die Augenhöhlen waren leere Löcher, vielleicht von Vögeln ausgepickt. Füße und Hände sahen klein aus im Vergleich zu den sonstigen, leicht monströsen Körperformen.
Der Gerichtsmediziner war ein hagerer Mann mit
„Ist sie misshandelt worden?“, fragte der Kommissar sachlich.
„Saubere Einstiche“, erwiderte der Mediziner und schüttelte den Kopf.
„Nicht gerade präzise, aber einigermaßen gezielt. Sie sollte sterben. Einstiche von vorn und von hinten, wahrscheinlich von hinten zuerst.“
„Sie muss ihren Mörder also nicht unbedingt gekannt haben.“
„Wer weiß.“
„Es war eine Party, die meisten müssten sich wohl gekannt haben.“
„Wer hat die Party veranstaltet?“ mischte ich mich ein.
Der Kommissar warf mir einen verächtlichen Blick zu: „Wenn wir so schlau wären wie Sie, hätten wir es vielleicht schon herausgefunden. Es ist eine Woche her. Woher sollen wir wissen, wer hier seine Orgie abgehalten hat?“
„Und die Identität der Toten?“, fragte ich weiter. „Sie machen mir Spaß! Sie liegt hier nackt und tot vor uns. Keine Klamotten, geschweige denn ein Ausweis oder Adressbuch oder sonst was.“
„Es könnte eine Vergewaltigung stattgefunden haben“, sagte der Mediziner, der sich über den Unterleib der Leiche gebeugt hatte.
„Eine verdammte Orgie“, brummte der Kommissar. „Schöne Scheiße.“
„Ich habe gesagt, eine Vergewaltigung könnte stattgefunden haben. Vielleicht war’s auch nur ganz normaler Geschlechtsverkehr.“
„So was kommt ja vor im Sommer auf Inseln, wenn man feiert“, murmelte der Kommissar.
„Die Leiche wurde von einem Vogelschützer gefunden?“, fragte ich.
„Ich möchte mal wissen, woher dieser Schlaumeier so gut Bescheid weiß“, sagte der Kommissar mehr zu seinem Kollegen gewandt. Dann grinste er mich schief an: „Sie werden’s mir nicht sagen, was?“
„Nein.“
Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Morgen steht dann irgendwas vom ‚Lustmord auf der Orgieninsel‘ in einem dieser verdammten Käseblätter. Und wir sind wieder die Deppen, weil wir weniger behaupten dürfen als die Journaille.“
„Ich sehe mir mal die Umgebung an“, sagte ich, als ich merkte, wie mir allmählich schlecht wurde.
Ich sah den Beamten von der Spurensicherung zu, wie sie jeden Quadratzentimeter der Insel inspizierten. Sie sammelten alles, was nach Abfall der Überflussgesellschaft aussah: Von der leeren Cola-Dose bis zum gefüllten Kondom, von der zerbrochenen Sonnenbrille bis zur plattgetretenen Zigarettenschachtel wurde alles in Plastiktüten verpackt.
Am Nachmittag nahm mich ein Boot der Wasserschutzpolizei mit. Die Beamten redeten nicht mit mir. Sie sprachen über Bundesligaergebnisse und das angebliche Asylantenproblem. Zur Wahl waren sie schon gegangen. Als ich sie fragte, wem sie ihre Stimme gegeben hatten, sagten sie „den richtigen“ und grinsten höhnisch.
Am Anleger in Neumühlen ließen sie mich aussteigen. Ich drängelte mich durch die Masse der Elbspaziergänger und eroberte mir einen Platz in einem überteuerten Gartenlokal. Trotz der Erinnerung an die Leiche hatte ich großen Hunger. Ich saß an einem Tisch mit lauter sonnenverbrannten Touristen, die ihre Rente verprassten, und fühle mich unwohl. Die Kutterscholle schmeckte gut, aber der Kartoffelsalat war fade. Nach dem zweiten Bier wurden mir die fröhlich-verschwitzten Wochenendausflügler zu viel, und ich fuhr mit dem Bus nach Hause. Als ich an meinem Wahllokal in St. Georg vorbeikam, erinnerte ich mich an die Wahlbenachrichtigung, die seit drei Tagen in meiner Mülltonne lag. Ein Personalausweis würde vielleicht genügen, um seinen Anspruch auf das Bürgerrecht anzumelden … Ich sah auf die Uhr: Es war 18:06 Uhr. Zu spät. Mir blieb nur noch die Möglichkeit, der Staatsbürgerpflicht Nummer zwei nachzukommen: Fernsehen.