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Cave canem!

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Achtung, werter Leser! Hier folgt eine Hundegeschichte. Eigentlich müßte man in Erfahrung bringen, welche Art von Schwäche es ist, die Schriftsteller, selbst die anspruchsvollsten unter ihnen, im Laufe ihres Schaffens gelegentlich dazu verleitet, dem Menschen, ihrem ewigen und erhabenen Modell, den Rücken zu kehren und die Aufmerksamkeit den weiter unten angesiedelten Statisten der Schöpfung zuzuwenden. Solche Lektüre fällt im Ton immer ein klein wenig herablassend aus. Der Dichter schaut gnädig und mit Wohlwollen hinab in die niederen Sphären des Lebens, vielleicht auch betroffen oder ernüchtert vom tragischen Spiel, das ihm in Augenhöhe von den zweibeinigen Geschöpfen geboten wird – doch auf jeden Fall blickt er huldvoll und mit Nachsicht in die Niederungen, wo von einer der unteren Rangstufen der kreatürlichen Welt dieser harmlose, primitive und ferne Verwandte, das Tier, mit wachen Augen zu ihm aufschaut. Ach ja, der Hund! … denkt er gönnerhaft. Läßt einen Pfiff ertönen und macht sich zu einem Spaziergang mit ihm auf.

Unterwegs, während der minderwertige Freund voraus- und zurückläuft, mit gesträubtem Fell, gespitzten Ohren und schwanzwedelnd, auf jeden Fall mit unbeschreiblichem Eifer und erregt, Umschau hält in der Welt, an einigen ihm vertrauten Baumstämmen feuchte Botschaften deponiert, da und dort an einer Mauerecke die Tagesnachrichten überfliegt, keimt im Schriftsteller der Verdacht auf, daß nun offenbar auch in seinem Leben der kritische Moment gekommen ist, die Versuchung, einen Hunderoman zu schreiben.

Der Schriftsteller – im bürgerlichen Dasein Journalist –, der sich diesen erhabenen Titel allenfalls in gewissen Augenblicken der Überheblichkeit zugesteht, registriert die Versuchung mit ungutem Gefühl und versucht sie zu verdrängen. Aha, der Hunderoman! … – denkt er wieder. Und dann: Es scheint, etwas stimmt nicht mit dir, wenn du tatsächlich einen Hunderoman schreiben willst. So gehen sie, der Hund und der Schriftsteller, gedankenversunken hinunter zur Generalswiese. Am Rand der achtstufigen Treppe – ebendort, wo der erlösende Moment eintritt, der Schriftsteller den Hund von der Leine läßt und dieser sich, einem Selbstmörder gleich, explosionsartig und mit einem einzigen Irrsinnssprung in die Tiefe stürzt, wie von einer Rakete getragen dem Rausch und der Verzückung der Bewegung hingegeben – bleibt der Schriftsteller stehen, schaut dem minderwertigen Freund hinterher, der sich von der Leidenschaft so sehr hat mitreißen lassen, steckt sich eine Zigarette an und schüttelt das Haupt. Jetzt ist ihm klar, der Moment ist da, und es ist unausweichlich, er muß einen Hunderoman schreiben. Das behagt ihm nicht. Eigentlich schlimm, für Menschliches bist du also zu feige – denkt er. Ja, das ist der Augenblick, ein geradezu historischer dazu – denkt er weiter –, wenn ein nicht gerade bedeutender Schriftsteller gar nichts anderes mehr, eben nur noch einen Hunderoman schreiben kann. Er fühlt, das ist die Krise. Bisher war er stets bemüht, redlich zu sein, sinnt er, ist den Menschen treu geblieben. Und jetzt hat er zum ersten Mal keine Lust, redlich zu sein und den Menschen treu zu bleiben.

Hm, einen Hunderoman, warum eigentlich nicht? … – sagt er sich, nun schon leichteren Herzens, als wäre ihm der Grund für eine neue fixe Idee jetzt klar geworden, schwingt sein Stöckchen und zieht die herbfeuchte Luft, die dumpf über der großen Wiese hängt, tief in die Lungen ein. Klassische Hunderomane, hochliterarische Beispiele gehen ihm durch den Kopf, und das dämpft seine erste Begeisterung etwas. Vielleicht ist es Pflichtvergessenheit, über einen Hund zu schreiben – sinnt er weiter –, wo doch so viel Pressierendes, Unaufschiebbares zu sagen wäre, das den Menschen betrifft … Doch dann sucht er Entschuldigungen, Gründe – das fällt ja nie schwer –, stellt die Sache so hin, daß bei dem Unterfangen nichts Genierliches, daß der Hunderoman in der Laufbahn des Schriftstellers gleichsam der Sonntag ist, wenn der Kreative ausruht, in seine Pantoffeln schlüpft und sich der leichten Unterhaltung hingibt, zum Beispiel Radio hört – oder einen Hunderoman schreibt. Der Schriftsteller kann nicht, weder im privaten Leben noch in seinem Metier, ständig in der Toga herumlaufen und tragische Gesten produzieren. Es ist so leicht und billig, derartiges zu behaupten, Begründungen zu suchen …

Doch jetzt, da er schon so weit gekommen ist, auch seine Zigarette fast zu Ende geraucht hat und der Hund irgendwo in der Ferne gerade noch als physische Vorstellung vorhanden ist, sozusagen als Verkörperung der Bewegung an sich, wird er auf einmal unruhig. Man schreibt nicht ohne Grund und nicht eines billigen Vorwands wegen einen Hunderoman – denkt er trotzig. In der Welt gehen düster dreinblickende Propheten um, die den Schriftsteller heutzutage zu anderen Pflichten als zum Schreiben von Hunderomanen nötigen. Daran muß er denken. Aber im selben Augenblick geniert er sich bereits, denn dem Wort der Propheten fühlt er sich ja auch sonst nicht verpflichtet; und mit einemmal verspürt er wider alle Propheten jene Solidarität mit dem Hund, die er ihm vorhin aus politischer Feigheit schon so gut wie verweigert hatte. Er fühlt solidarisch mit dem Hund … Und weil es ihm gelungen ist, sich das so schön zurechtzulegen, bläst er erleichtert, wenn auch nicht ohne eine gewisse Erregung, einen Seufzer in den diesigen Äther, holt tief Luft und macht sich auf, hin zu seinem Hund. Er empfindet diese eigenartige Erregung wie vor einem Examen, eine Mischung aus Bauchgrimmen und innerer Unruhe, wie sie jeder Autor verspürt, wenn er sich entschlossen hat, das Leben anzugehen, und nicht nur den Willen, sondern auch den Mut hat, von ihm – unmittelbar und frei von Politik – etwas zu erfahren, und sei es durch einen Hund … Diese Mischung aus Bauchschmerz und Aufgeregtheit, die der Schriftsteller vor der Arbeit spürt, das ist die Inspiration. Aber vielleicht schickt es sich gar nicht, darüber zu reden.

Jetzt ist ihm schon klar, daß irgendwo hinter dem Entschluß auch etwas Beschämendes mit im Spiel ist, und er weiß, dem kann er nicht ausweichen; er spürt, es ist nicht allein der Einfall, der ihn mitreißt, denn seine Absicht ist auch von Neugier und innerer Erregung beflügelt – der Neugier nämlich, die sich einzustellen pflegt, wenn er eine Möglichkeit sieht, jenseits des Alltags einen Blick in einen anderen Bereich des Lebens zu werfen, in das undurchdringliche Gewirr der dämmrigen Nacht. Nein, nur über die Idylle von Hund und Mensch zu referieren, das ist in der Tat eine wenig aufregende Angelegenheit … Aber wenn er sein Augenmerk ganz besonders auf den Hund richtet, erfährt er vielleicht auch etwas über den Menschen. Und die Propheten werden dann schon erklären, was das Kleinbürgerliche daran ist, daß in einem historischen Augenblick, in dem der Mensch ein Hundeschicksal hat, jemand hoffen kann, über den Hund etwas von der augenblicklichen Lage der Menschen in der Welt zu erfahren.

Er hebt den Arm und winkt dem Hund, und zwar mit entschlossener Gebärde, wie einer, der sich entschieden hat. Dieser eigenartige Zwang und die Kraft, die den Vierbeiner in den kurzen Minuten der Freiheit gleichsam zu einer physikalischen Masse mit zunehmender Beschleunigung machte, beginnen sich unter der Wirkung seiner Handbewegung abzubauen, das Tempo der Bewegungen dieser kreisenden Materie nimmt ab, und der zwingenden Anziehung nachgebend unterwirft sie sich – zwar schwer und widerwillig, aber schließlich doch – diesem geheimnisvollen, magnetisch wirkenden Befehl. Naß und verdreckt, und ganz so, als wären bei jedem Schritt schmerzhafte Widerstände zu überwinden, nähert sich der Hund und bleibt hechelnd, aufgewühlt zwei Schritte vom Schriftsteller entfernt stehen. Kommt dann, trunken vom Herumjagen, unsicheren Schrittes zu ihm. Der Schriftsteller legt ihm die Leine an, zuckt die Achseln. Ja, daraus wird ein Hunderoman.

Sie beobachten sich noch einige Tage gegenseitig. Ihre Beziehung ist nicht mehr ganz redlich, der Schriftsteller bemüht sich, alles Persönliche im Verhältnis zu seinem Modell zu unterdrücken; der Hund ist lustlos und voller Argwohn. Ich muß ihn so beschreiben, denkt der Schriftsteller ohne Mitleid und Leidenschaft, wie alles andere, was ich in der Welt beobachtet habe, wie einen Richter, eine Frau, einen Pfarrer oder einen Soldaten. Indessen stellt er überrascht fest, daß er im Lauf der Jahre schon eine ganze Menge klinisches Beobachtungsmaterial über Hunde gesammelt hat. Nichts spricht dagegen, eines Tages den Telephonhörer abzunehmen und dem Verleger einen Hunderoman anzutragen, worauf dieser höflich in die Leitung nickt. Die Propheten werden ihren Spaß haben, denkt der Schriftsteller, als er den Hörer einhängt, legt sich Papier und Stifte zurecht und schreibt, während der Hund es sich zu seinen Füßen bequem macht, den Titel hin: Cave canem! Und aus lauter Redlichkeit fügt er noch hinzu: Achtung, werter Leser! Hier folgt eine Hundegeschichte.

Es schneit

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Also, wenn er nun schon einmal angefangen hat, so wird er jetzt auch nicht weiter nachsinnen, sondern ist entschlossen, dieses Unterfangen nach allen Regeln des Metiers und in epischer Gemächlichkeit, ja sogar in der Art eines Romans und mit Zwischenüberschriften, ganz so wie es sich eben ziemt, hinter sich zu bringen. Es schneit also, wir haben Weihnachten, zehn Jahre nach dem großen Krieg, und es ist kein Geld im Haus.

Die Dame und der Herr, die besagtes Haus bewohnen, verlassen nach Tisch das Speisezimmer und begeben sich in den Nachbarraum, wo den Schreibtisch des Herrn – es ist Heiliger Abend – bereits ein hageres und ein wenig zerzaustes Fichtenbäumchen mit Beschlag belegt hat, das mit seinem armseligen Schmuck samt dem kaum wahrnehmbaren Waldgeruch dazu bestimmt ist, festliche Stimmung zu verbreiten. Die Maße des Baums sind so bescheiden, die über Jahre angefallenen Sternchen und Kugeln so angeschlagen und abgegriffen, daß dieser seiner Aufgabe nur bedingt gerecht zu werden vermag. Der Herr stellt sich davor und betrachtet das Bäumchen nicht ohne Mitleid. Im Zimmer ist es leicht dämmrig, denn am Morgen hat sich milderes Wetter eingestellt, und es schneit. In diesem Halbdunkel funkelt der Christbaumschmuck des rachitischen Gehölzes etwas verschämt; dazu hat der ganze Aufbau auch noch eine Schieflage, steht nach vorn geneigt, wie alle Weihnachtsbäume, die kinderlose Ehepaare ungeschickt, weil wissentlich unberechtigt, für sich aufstellen. Die Wohnung ist übrigens gegen Feuer versichert.

Doch die unmoralische Hoffnung auf letztere Möglichkeit verscheucht der Herr sogleich wieder. Er geht um den Baum herum und zuckt die Achseln. Das aufgeputzte Gewächs wirkt für ihn lächerlich, erinnert an Tante Gisella, die ein glitzerndes Kleid besaß, das wahrscheinlich aus Engelhaar gewebt und mit glimmernden Schuppen besetzt war und in dem sie zu allen großen Familienfesten zu erscheinen pflegte: blutarm, rachitisch, aber zurechtgemacht und eben wie ein Weihnachtsbaum funkelnd und behängt. Genau wie Tante Gisella, denkt er mißvergnügt. Voller Unbehagen blickt er auf das festliche Requisit, und dabei wird ihm klar, daß die Verachtung gar nicht dem Bäumchen und den naiven Accessoires des Festes gilt, sondern seiner eigenen Feigheit, die ihn davon abhält, sich auf die feierliche Stimmung der Festtage einzulassen. Dem Baum fehlt irgend etwas, denkt er noch, wagt aber nicht, sich dies laut einzugestehen.Wie er sich auch schon seit Jahren nicht mehr traut, vorzuschlagen, daß sie am Heiligen Abend statt dem Klingeling mit Kerzenlicht, dem üppigen Abendschmaus und den bescheidenen Geschenken doch vielleicht lieber in eines der wenigen Kaffeehäuser gehen sollten, die aus Gründen profaner Zweckmäßigkeit auch am Abend dieses Familienfestes offenhalten. Er wagt es nicht, dies zu empfehlen, traut sich auch nicht, etwas gegen das Bäumchen und den ganzen Klimbim zu äußern, weil die Dame und sogar das Dienstmädchen, das eben den Mokka hereingebracht hat, so ganz von freudiger Erregung durchdrungen sind; auch bereden sie gerade letzte Details zum abendlichen Programm, zum Festessen, es geht um die traditionellen Zutaten für den Mohnstrudel und den Nußstrudel, um die Sauce zum Fisch. Das alles vermittelt den Eindruck, als ginge es aufs Ganze, denkt der Herr mit aufrichtiger Verwunderung. Er stellt sich ans Fenster, betrachtet die tänzelnden Schneeflocken und hört den geflüsterten Verhandlungen der Dame mit dem Dienstmädchen zu. Auch eine Erinnerung, daß vor Weihnachten alles als Überraschung gehandelt wird – sogar vor sich selbst handhabt man alles und jedes irgendwie geheimnisvoller, etwa die Frage, wie viele Eier das Mädchen für die Mayonnaise einkaufen soll –, weil sie die Wiederkehr des Wunders und Mysteriums erwarten, das längst Vergangenheit ist. Als wäre tatsächlich und allen Ernstes Weihnachten, sinnt der Herr verblüfft, als handele es sich hier um eine ernstzunehmende Wohnung und eine ernstzunehmende Familie, ein ernsthaftes Weihnachtsfest mit feierlichen Gefühlen und tannenduftender Erwartung des Mysteriums … Über dergleichen muß er sich seit jeher wundern.

Er steht, betrachtet die fallenden Schneeflocken, hört aber nicht das Singen und Klingen von einst. Vom Mysterium keine Spur. Das ganze Fest ist eher unangenehm, als gäbe jemand in besserer Gesellschaft peinlich sentimentale Gemeinplätze von sich. Aber reden darf man darüber natürlich nicht. Seit Tagen ist die ganze Wohnung von Geheimnissen erfüllt, die Schubladen des Sekretärs sind verschlossen; am Tag zuvor kam um die Mittagszeit ein näselnder Mensch mit einem großen Paket und stiftete diskrete Verwirrung im Haus, indem er trotz energischer Beschwichtigungen des Mädchens in der Diele mit unangenehmer Stimme mehrmals wiederholte, daß er nur gegen sofortige Begleichung der Rechnung … Die Dame, die die Wohnung schon in den frühen Morgenstunden verlassen hatte, seither in der Stadt herumrannte und erst zum Mittagessen müde und nervös heimkam, will die historische These nicht akzeptieren: daß sich nämlich, sobald eine überholte Gesellschaftsordnung von einer anderen, neuen abgelöst wird, bei jenen, die von diesem historischen Prozeß betroffen sind, die passende Gemütsverfassung für dieses gnadenreiche Fest einfach nicht einstellen will. Dem Herrn will scheinen, er verfüge über nichts, das für ein Fest geeignet sein könnte, und er denkt dabei nicht nur an seine Taschen, die leer sind. Überhaupt ist alles leer. Doch wo findet sich ein Scharfrichter, der es wagen würde, der Dame das zu sagen? Sie besteht auf einem Fest – einem Fest mit Baum und Engelhaar, mit dem Duft brennender Wachskerzen und frischer Tannenzweige, einem mit kleinen Opfern und allerlei Geheimnissen behangenen Christbaum, einem richtigen, runden Fest. Wer wagt es, ihr zu sagen, daß das Fest keinerlei Geheimnis birgt, wenn nicht einmal er sich dies einzugestehen traut? Dem Herrn fehlt die Kraft dazu.

»Es schneit«, sagt er lieber. Und fügt stereotyp hinzu, was er schon tausendmal gehört hat. »Wir werden weiße Weihnachten haben.«

Sie trinken den Mokka und versichern sich gegenseitig noch einmal, sicher das zehnte Mal, mit Ehrenwort, daß es in diesem Jahr keine Geschenke gibt. Letztes Jahr haben sie es sich ebenso versichert, auch im vorletzten, vor acht und neun Jahren, es gibt keinen Grund, es in diesem Jahr nicht genauso zu halten. Dieses Ehrenwort, das nicht zu brechen eine Schmach wäre, geben sie sich also. Der Herr weiß, daß die Dame, die sich in den letzten Wochen, übrigens nach neun Jahren zum ersten Mal, mit ungewöhnlicher Neugier nach seiner neuen Kragenweite erkundigt hat, ihre Vormittage in der Innenstadt verbringt, gelegentlich auch nachmittags mit gedämpfter Stimme telephoniert und sich nach dem Schnittmuster der für eine wildfremde Person in Auftrag gegebenen Hemden erkundigt. Die Dame weiß, daß der Herr kein Geld hat, er also Schulden machen wird, denn ohne Grund kann er nicht gefragt haben, übrigens seit neun Jahren zum ersten Mal, welches Parfum die Dame in letzter Zeit verwendet. Wie jedes Jahr versichern sie sich auch jetzt wieder, »es wäre doch lächerlich, wenn man sich in völlig überflüssige Unkosten stürzen würde«. Der Herr, der noch vor kurzem, und zwar in einfacheren und weniger verantwortungsvollen Zeiten, gern betont hat, es lohne nicht, sich in überflüssige Kosten zu stürzen, neigt in den letzten Monaten viel seltener zu aphoristischen Äußerungen und zieht zustimmendes Schweigen vor. Das Gelübde des »diesmal gar nichts, für niemand«, das jetzt wirklich nicht schwer mit triftigen Gründen zu untermauern wäre, haben sie ohnehin schon gebrochen, weil es im letzten Augenblick ja doch ganz unmöglich schien, daß der brave und bescheidene Josef, der den Prozeß gegen das verantwortungslose Wochenblatt so uneigennützig und erfolgreich geführt hat, das lederne Zigarrenetui mit Silbermonogramm nicht bekommt – soll es doch eher als bescheidener Ehrenlohn denn als bloße Aufmerksamkeit dienen. Und ein feiner Herr, ein Leser aus der Provinz, dieser echte literary gentleman und Vertreter einer im Aussterben begriffenen Rasse, hat am Vormittag per Postpaket sechs Flaschen alten Tokajer geschickt: Zum Glück trinkt der Hausarzt, dieser Intimfreund, der die seelischen Unpäßlichkeiten der Familie mit größerer Hingabe und Neugier als die körperlichen Wehwehchen aufspürt und kuriert, nur Süßwein; so kann die Sendung, mit einigen Tannenzweiglein aufgewertet, gleich an ihn weitergereicht werden. Bleiben noch ein paar Cousinen, die von einem kleinen Flakon französischen Parfums vermutlich auch angenehm berührt sein werden, dank der weisen Voraussicht der Dame sind von der letzten Parisreise noch einige vorrätig, und Theres, das Dienstmädchen. Aber Theres bekommt Geld, sie schätzt eher das Materielle.

»Also diesmal gar nichts für niemand«, sagt die Dame und steckt sich die einzige Zigarette an, die sie tagsüber zu rauchen pflegt. »Ehrenwort. Nicht daß ich dann am Abend mit nichts dastehe und mich schämen muß.«

Der Herr gibt ihr die Hand darauf. »Und jetzt sag einen Wunsch«, fährt die Dame ohne Übergang fort. So geht es jedes Mal. Der Herr denkt nach und stellt verblüfft fest, daß er gänzlich wunschlos ist. Weder an einem silbernen Feuerzeug noch an einem Seidentuch ist er interessiert, ja nicht einmal an einem neuen Automobil oder einem Urlaub an der Riviera, selbst die sechzehnbändige Kunstgeschichte, die ihn vor einigen Monaten noch so brennend interessiert hat, wünscht er sich gar nicht. Umgehend beendet er auch die Aufzählung von nicht erwünschten Geschenken, es führt doch zu nichts. Tatsache ist, daß er keine Wünsche hat. Und dies gibt er auch zu. Verkündet ohne Genugtuung oder Anmaßung, daß er damit niemanden strafen möchte, aber es ist nun einmal so: Er ist wirklich wunschlos. Das setzt ihn selbst in Erstaunen. Ein schlechtes Zeichen, bemerkt er ohne Nachdruck, aber laut. Denn es ist noch nicht lange her, daß er sich zornig und zähneknirschend nach etwas sehnen konnte, gar nicht so sehr nach etwas Bestimmtem, sondern eher nach der ganzen Welt. Das einzige Verlangen, welches er im Augenblick bei sich zu registrieren vermag, ist, daß er auch dieses Weihnachtsfest schon gern hinter sich hätte wie die gehabten, wenn möglich ohne größeres Mißgeschick – das ist jetzt sein einziger Wunsch, aber der ist heiß und mächtig.

Jetzt klingelt es: Alarmzeichen für neues Ungemach, denn ein aufmerksamer Herr hat der Dame Blumen geschickt, was man gezwungenermaßen augenblicklich mit einer Aufmerksamkeit erwidern muß, und zwar innerhalb von Minuten, damit es nicht nach Revanche aussieht und der Schein der gegenseitigen Aufmerksamkeit gewahrt bleibt.

Aus diesem Grund und auch, weil es bereits langsam zu dämmern beginnt und in ein, zwei Stunden die Geschäfte schließen, drückt der Herr eilends seine Zigarette aus und begibt sich auf den schweren Weg. In der Tür wendet er sich noch einmal um: »Sag einen Wunsch.«

»Oh«, sagt die Dame mit einer Handbewegung, die bedeuten soll, daß auch sie wunschlos ist; verteilt mit der Handfläche den Rauch in der Luft und bemerkt mit dieser typischen sanften Geringschätzung in der Stimme, wie sie eben doch nur eine Frau den Dingen der Welt gegenüber empfinden kann: »Also, wenn es unbedingt sein muß … Irgendein Firlefänzchen.«

Der dafür verwendete ungarische Ausdruck »Schnorka« existiert nur im privaten Slang der Familie, ist wohl von »schnorren« abgeleitet und bezeichnet ein so belangloses Geschenk, daß sich der Schenkende fast schämen muß und der Beschenkte beleidigt sein könnte. Das also wünscht sich, zehn Jahre nach dem großen Krieg, die Dame vom Herrn als Weihnachtsgeschenk. Aber eben durch die Erfahrung der zehn Jahre klug geworden, blickt der Herr etwas ratlos vor sich hin, er kennt sich nämlich in den symbolischen Untiefen des Wortschatzes der Dame einigermaßen aus, und nur ein Tiefenpsychologe vermöchte auf die Schnelle herauszufinden, ob das »Firlefänzchen« für eine Villa mit Dachgarten, für ein Sümmchen Bares in fremder Valuta, ein Collier, ein Pariser Modellkleid oder für ein modernes Sportcoupé steht. Der Herr weiß, daß es ganz zwecklos wäre, an dieser Stelle nachzubohren, und macht sich stillschweigend auf den Weg. Im Weggehen hört er gerade noch, wie die Dame, die ans Fenster getreten ist und die dichter fallenden Schneeflocken betrachtet, mit feierlicher Rührung in der Stimme sagt: »Es schneit. Wie schön für die armen Leute.«

Firlefänzchen

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Wie schön für die armen Leute, klingt es dem Herrn noch in den Ohren, während er durch den Schnee langsam in die Stadt hinunterstapft. Sie dürfen jetzt am Weihnachtsabend schaufeln und fegen, und das ist schön und gut für sie. Er geht zu Fuß über die Donaubrücke. Die Stadt gibt sich in dieser Stunde gehoben feierlich. Er schreitet an den erleuchteten Schaufenstern vorüber und fühlt diese Angst und Betroffenheit, die ihn bei jedem Einkauf und Geschäftsabschluß überfällt. Kaufen ist für ihn gleichbedeutend mit Akzeptieren, Einwilligen: Man muß dieses ganze System akzeptieren, den Einzelhandel vor allem, diesen peinlichen Nahkampf, zu dem es unweigerlich kommt, sobald er ein Geschäft betritt; und im nächsten Augenblick, während er in gedämpftem Ton mit dem Kaufmann redet, der anbietet, empfiehlt, indes er höflich auswählt, dämmert ihm die Vision, daß sich hier zwei wilde Bestien mit fürchterlichen Tatzen gegenseitig an die Kehlen gehen in diesem elektrisch illuminierten Urwald, dieser Wüste aus Beton, sich im Ringen um den fetten Happen zerfleischen, auf Leben und Tod. Er weiß, er wird in diesem Kampf auf jeden Fall der Unterlegene sein, denn der Geschäftsmann wirft sein ganzes Wesen, seine Existenz in den Kampf, er dagegen nur sein Geld, von dem er ohnehin immer nur so wenig hat, daß es eine ernsthafte Verteidigung gar nicht lohnt.

Wie jedes Jahr hat er den Weihnachtseinkauf bis zum letzten Tag, bis zur letzten Stunde aufgeschoben, denkt er zerknirscht. Alljährlich wieder erlebt er die Qual der Geschenkauswahl gleich abgehetzt, schlecht gelaunt und nervös, und jedes Jahr nimmt er sich fest vor, nächstes Jahr schon Wochen vor dem Weihnachtsfest einen Nachmittag lang seine ganze Aufmerksamkeit auf die Auswahl der Geschenke zu richten – und steht doch wieder im letzten Augenblick vor den Auslagen, fühlt sich bedrängt und angeekelt, da ihm der Mut und die Lust zu dieser Prozedur fehlen. Schenken ist etwas Wunderbares, doch wenig und einfallslos zu schenken ist lieblos und beschämend.

Er weiß, daß sich der nur mit größtem Energieaufwand beschaffte Hundert-Pengö-Schein in seinen Händen spurlos auflösen wird, sobald er das Geschäft betritt, und daß als Erinnerung an ihn allenfalls ein kleines, überflüssiges Päckchen bleibt, dessen Inhalt nach den Festtagen unwiderruflich umgetauscht werden muß. Dabei gibt es Menschen, in deren Fingern das Geld eine geradezu magnetische Kraft gewinnt, sie können noch mit Molekülen kleinster Summen beachtliche Objekte, Gegenwerte von Gewicht an sich ziehen; Menschen, die mit einem Hundert-Pengö-Schein das prachtvollste Weihnachtsfest für einen Vier-Personen-Haushalt auszurichten in der Lage sind: Aus einem unsichtbaren Zylinder zaubern sie Geschenke hervor – praktische, lustige, unnütze –, arrangieren für Freunde ein opulentes Mahl und behalten am Ende auch noch sechsundzwanzig Pengö übrig, die sie aufs Sparbuch einzahlen. Der Herr ist kein solcherart begnadeter Mensch. Er spürt vielmehr, daß dieser Hunderter in Sekundenschnelle fort sein wird und statt dessen nur ein kleines Ridikül bleibt, welches später gegen eine Armbanduhr oder einen Parfumflakon umgetauscht werden muß, den man seinerseits für einen Damenhut umtauscht. Das Ganze ist ermüdend, eintönig, ja bedrückend.

Und doch spielt sich all das seit zehn Jahren in schöner Regelmäßigkeit vor den kleinen und großen Festen, vor allgemeinen und familiären Feiertagen in dieser Form ab; aus ebendiesem Grund macht er sich, die Hände in der Tasche und in stillem Einverständnis angesichts der spiegelnden, gleißenden Auslagenflut, jetzt auf, um sich gleich der ersten größeren Versuchung, die vom Fenster eines raffinierten Kundenfängers ausgeht, vorbehaltlos zu stellen.

Er flaniert über die schmale Einkaufsmeile in der inneren Stadt, eine enge Straße von ethnographischer Relevanz, da sie scharf und sicher Orient und Okzident voneinander scheidet. Hier ist die Grenze – empfindet er jedesmal, wenn er das elegante und ansehnliche Revier durchmißt. Er bewegt sich vorsichtig, will keinen Fußbreit von seinem Saum abgleiten, und wieder einmal kommt es ihm vor, als finge schon ein paar Zentimeter weiter links der Osten an, während wenige Schritte weiter rechts noch der Westen prangt. Diese schmale Straße ist der äußerste, noch ganz westliche Millimeter dieses Kontinents, einer der letzten Boulevards des untergehenden Abendlandes, mit seinen Auslagen nach Art des Bauhauses hinter den Schaufensterscheiben, das ganze soeben erst aus der Mode gekommene Warensortiment, das die westliche Welt entbehren kann, im Angebot. In dichtem Flockenwirbel fällt der Schnee, die Passanten streben drängelnd, wie aneinandergeklebt, vorwärts, ergriffen von der Vorfeiertagsatmosphäre dieser profanen Prozession. Die etwas zugeschneiten und grell gleißenden Auslagen preisen in verwirrender Fülle alles an, was im Westen gerade noch letzter Schrei war: das neueste Werk von Valéry, eine Delikatesse und Novität, die in Paris noch im vergangenen Frühling Tagesgespräch der noblen und eingeweihten Gesellschaftskreise gewesen ist, das Parfüm »Mysterium des Sommers«, dessen eigenwilliger Duft voll gedämpfter Erotik während der Saison in den Wandelgängen der exklusiven Badeorte Europas hing. Das berühmte Skizzenalbum von George Grosz, das vorige Weihnachten mit dem Makel der Gotteslästerung vor den Berliner Staatsanwalt gezerrt wurde; nach dem Freispruch kam es als eine Art Ramschartikel auch hierher, wo es die hiesige Staatsgewalt noch nicht aufgespürt hat. Reizende Dinge für die Dame, verführerische Schönheitsmittelchen: alles »höchst modern« oder, wie man in dieser Gegend zu sagen pflegt: »up to date«, denn der Kundschaft, die hier kauft, ist es ein Herzensanliegen, im Gleichschritt mit den Neuigkeiten des Westens zu gehen; bei jedem feilgebotenen Artikel ahnt man allenfalls die Distanz einer Stunde, die möglicherweise nichts anderes ist als die Differenz zwischen mitteleuropäischer und westeuropäischer Zeit.

Diese verschneite und vornehme Straße ist absolut noch Europa, nur führt man hier im Rahmen der europäischen Modenschau die Versatzstücke und Einfälle der westlichen Welt als letzte vor, kurz bevor sie in der Abstellkammer und auf dem Balkan landen. Vor einer Buchhandlung hält der Herr inne, unterzieht die europäische Literatur einer Inspektion. Auf den ersten Blick und nach dem Reichtum der Auslage zu urteilen, scheint alles in Ordnung zu sein, die europäische Literatur erfreut sich offenbar üppigster Blüte. Auf den Schutzumschlägen der stattlichen Prachtbände liest er zahlreiche vertraute, bekannte Namen, nimmt nicht ohne Skepsis die verdächtige Gelegenheits- und Festtagsproduktivität mancher Kollegen von europäischem Rang in Augenschein, besieht sich voller Sehnsucht eine tadellose Ausgabe der Encyclopaedia Britannica und wagt nicht einmal zu denken, daß er den Fuß auf die Schwelle des Ladens setzen könnte: würde doch die Dame jedwedes Buchgeschenk des Herrn mit größtem Argwohn betrachten, sogar die Encyclopaedia Britannica, und nicht ganz grundlos davon ausgehen, daß er damit vor allem sich selbst eine Freude bereiten wollte. Aber davon kann keine Rede sein. Er muß etwas ausgesprochen Damenhaftes finden, denkt sich der Herr, und die Encyclopaedia Britannica ist doch nur mit ganz viel gutem Willen als ein weibliches Geschenk anzusehen. Und sie wird es ohnedies umtauschen oder zum Färben bringen …

Es soll etwas sein, das zugleich ein wenig praktisch und ein klein bißchen überflüssig, eine Spur luxuriös, aber doch strapazierfähig ist, nach Möglichkeit warm, vielleicht aus Leder oder schön bunt, es muß jedenfalls etwas hermachen, dazu aber auch schlicht und geschmackvoll sein, alles in allem: ein Firlefänzchen. Etwas, worüber sie sich freut. Natürlich, das ist das Wichtigste. Etwas, womit sie spielen oder sich schön machen kann. Das Gescheiteste wäre vielleicht ein größeres Spielzeug, eine Puppe mit echtem Haar, die ihre Augen auf- und zumachen und »Mama« sagen kann – oder eine Eisenbahn mit Schienen und Semaphor … Ach nein, auf keinen Fall, die wünsche ich mir ja seit langem selbst, gesteht er sich beschämt ein. Aber was dann? Irgend etwas, das nicht gleich wieder in der Rumpelkammer des Lebens landet, das den Moment des Schenkens überlebt, wenn auch nur für einen Augenblick, etwas, von dem sie glauben kann, man hätte es im Atelier der Welt eigens für sie gefertigt … Viel hat sie sowieso nie geschenkt bekommen, überlegt er, und das verdirbt ihm die Laune.

Mitten auf der Straße hält er inne, ringsum Lederartikel, modische Hüte, unbezahlbare Juwelen und zum Tragen untaugliche Schmuckimitationen, und er blickt mit dem schlechten Gewissen eines Habenichts um sich. Alles, was er hier kaufen könnte, verrät und unterstreicht nur seine Mittellosigkeit: im Endergebnis also ein Scheitern, das Eingeständnis, in geschäftlichen Transaktionen des Lebens nicht geschickt und flink, nicht vif und begabt genug gewesen zu sein. Irgendeinen Schmarren, ein Firlefänzchen, sagt er zu sich und winkt eine Taxe herbei.

»Zum Zoo«, ruft er mit Nachdruck und setzt sich in den Fond. Der Fahrer mustert ihn voll Verwunderung.

Der Wagen schlittert auf der glatten Schneefahrbahn, das Stadtwäldchen zerfließt im Nebel, eine einsame Dame an der Zookasse, die in einem Roman liest, empfängt ihn mit ungläubigem Staunen, auch der Wärter sieht ihm argwöhnisch nach. Schwer zu begreifen, daß sich am Nachmittag vor dem Heiligen Abend jemand für die Nilpferde interessiert. Allein der Auerochs harrt im Freien aus, schneebedeckt; ein paar Kleintiere und ein Trupp Ziegen stehen zitternd unter der Felswand. Der Herr hätte nicht übel Lust, zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch im Elefantenpavillon einzukehren; doch Eile ist geboten, schließlich dämmert es bereits. Weder Mensch noch Tier zeigt sich auf den verschneiten Wegen. Hinter den dicken Mauern der Winterquartiere hört man die großen Tiere brüllen. Irgendwo in der Dunkelheit leiert aus einem sinnlosen und unsichtbaren Lautsprecher Radiomusik. Mit aller Entschlossenheit umrundet der Herr den aus Versatzstücken errichteten künstlichen Berg, er beschleunigt seine Schritte auf eine Weise, als fürchte er, unterwegs mutlos und anderen Sinnes zu werden. Der Braunbär bettelt im Freien, vis-à-vis vom Hundezwinger, auch hier nicht die Spur eines Besuchers, als ob die Tiere heute abend sich selbst überlassen ihr rätselhaftes Gefangenendasein lebten. Nur beim Zwinger der Hunde empfängt ihn wildes Gekläff.