Cover

Authentisch und faktenreich erzählt die Journalistin Bettina Röhl die Lebensgeschichte ihrer Eltern Ulrike Marie Meinhof und Klaus Rainer Röhl und zeichnet ein kompromissloses Portrait dieser zwei sagenumwobenen Schlüsselfiguren der Jugend- und Studentenrevolte von »68«.

Die Autorin lässt Ulrike Meinhof in zahlreichen Briefen und Dokumenten als Schülerin, Studentin, Journalistin, Ehefrau und Mutter selbst zu Wort kommen und zeigt, dass Meinhofs »erstes Leben« – anders als häufig impliziert wird – kein Präludium für ihre spätere Radikalisierung war.

Bettina Röhl dokumentiert den Aufstieg der Zeitschrift KONKRET, dem Sprachrohr ihrer Eltern, von deren Start in den Fünfzigerjahren bis zu ihrem Durchbruch in den Sechzigern, als sie zur meistgelesenen Studentenzeitschrift der BRD avancierte. Zugleich beschreibt die Autorin das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das diese Erfolgsgeschichte begünstigte.

Röhl führte zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und Weggefährten ihrer Eltern – u. a. mit Marcel Reich-Ranicki, Fritz J. Raddatz, Johannes Rau, Bahman Nirumand – und legt eine lebendige, mit viel Humor aufgezeichnete Familiengeschichte und ein wertvolles Gesellschaftsporträt der Fünfziger- und Sechzigerjahre vor.

»Ein großer bundesdeutscher Familienroman, […] Bettina Röhl lässt ihren Eltern nichts durchgehen […].« Nils Minkmar (FAS)

Bettina Röhl

So macht Kommunismus Spaß!

Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl
und die Akte KONKRET

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Beratung: Stefan Linde
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © Privatarchiv Bettina Röhl
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-21806-5
V002

www.heyne.de

Inhalt

Die heilige Johanna und der Schuft

Erinnerungen an die frühen Jahre
von Peter Rühmkorf

ERSTER TEIL

1. Ulrike und Klaus bekommen Zwillinge, 1962

Rosen aus Ostberlin | Tina und Gine | Die Tanten | Die Operation | Die Zwillingswaage | Keine Taufe | Die Partei

2. Die Gründung der Zeitschrift KONKRET, 1955

»Sind Sie eigentlich Kommunist?« | Danzig, die Röhls und die Neumanns | Ein Student in der Nachkriegszeit | Das bedeutende Jahr 1949 | Die FDJler | Philipp Müller | Sonst gibt’s eins auf die Schnauze! | Los, wir machen eine Studentenzeitung! | Die Akte KONKRET | Die Gründer des Studenten-Kuriers | Zusammenarbeit | Treffen im Hotel Adlon | So macht Kommunismus Spaß! | Eine wasserdichte Biografie | Richard Kumpf und der Stalinismus | Der Tucholsky-Kreis | Das KPD-Verbot 1956 | China, Moskau, Prag | Der Ungarn-Aufstand | Dr. Dr. Gustav Heinemann | Lagebericht, Zufriedenheit, Aufstieg | Zum Ritterschlag | Parteigruppe und Feuilleton: | Drei Tage Einschätzung in Ostberlin | »Die gibt es nur im winzigen Kreis des SDS« | Zu viele Anti-Ost-Artikel | Ein Leitartikel in KONKRET genügt nicht

3. Ulrike Marie Meinhof

Ulrike Marie Meinhof betritt die politische Bühne | Die Familie Meinhof | Ingeborg Guthardt und Werner Meinhof | Jena | Renate Riemeck trifft Ulrike Meinhof | Wer war Renate Riemeck? | Frauenfreundschaft | Flucht in den Westen | Der Tod von Ingeborg Meinhof | Sehnsucht nach den Lofotfischern | Ulrike Meinhof in England | Die Schülerin | Ulrike Meinhofs erste Liebe | Lothar Wallek | Renate und Holde | Der unterdrückte Jubel | Liebes Bettinchen | Wuppertaler Klüngel | Die Studentin Ulrike Meinhof

4. Kampf dem Atomtod, 1958

Akademie freier Geister | Die militärischen Potenzen | Argumente | Der Hinweis | »Also den Röhl, den finde ich fies« | Die KONKRET – Fraktion | Meinhof und Röhl ziehen an einem Strang | Meinhof macht Urlaub auf Fehmarn | »Machinationen« | Es war der Nebel | Ulrike Meinhof denkt nach | Ulrike Meinhof und Manfred Kapluck | KONKRET übernimmt den SDS | Lob, Erfolg, Einstimmung | Lenin und Rock-’n’-Roll-Riki | Die brillante Journalistin | Meinhof rettet Röhl | Der Anti-Atomwaffen-Kongress von 1959 | Das Gelage in Caputh am See | Ulrike, Chapel und Klaus | Kohlrabi und Steaks | Das junge Paar | Der Pyrrhussieg | Walter Ulbricht, Tibet, Ulrike Meinhof | Verlobung

ZWEITER TEIL

1. Die Chefredakteurin, 1961

Oberländer, die Blechtrommel und der Sieg des Sozialismus | KONKRET und das NS-Archiv in Ostberlin | Urlaub an der Riviera | Ulrike Meinhof wird Chefredakteurin | Die Notstandsexpertin | »Hitler in Euch« | Der Hamburger Genosse | Meinhof instruiert Riemeck | DFU – Die Freunde Ulbrichts | Die DFU im Wahlkampf | »Neutral zu werden wie die Schweiz« | »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten« | Die Kulakenlüge | Antiimperialistischer Schutzwall | Die Kärrnerarbeit der KPD | Eine Neue Linke | Die bulgarischen Kamele | Hochzeit | Wollte Ulrike Meinhof in der Bundesrepublik alt werden? | Unter Beobachtung | Die politische Linie | Vertrag mit Prag | »Fidel spricht heut’ nacht« | Käthe | Der Bruch mit der Partei | Alles oder nichts | Üb endlich Selbstkritik!

2. Das neue KONKRET und die Familie

Das neue KONKRET | Ausschluss aus der Partei | »Ulbricht löst die DDR auf« | Röhl und Grass in Weimar | Zu Hause | Die Meinhof-Kolumnen | Boutiqueverkäuferinnen | Holde – Kinder | Renate im Rock | Zwillingsein ist wunderfein | Sonntags | Quietschvergnügt in der Altonaer Bahnhofshalle | Der Wolff-Prozess | Ulrike Meinhof und Marcel Reich-Ranicki | Mai 1965 – Zehn Jahre KONKRET | Selbstständig | Revolution und Sex | Der feine Zwirn | Die Creme der Kritiker in KONKRET | Neue Leute und Kolumnen | Onkel Aust | Joan Baez auf dem Ostermarsch 1966 | »Sex ohne Ehe« | Bundespräsident Lübke, ein KZ-Baumeister? | »Was sagen Sie nun, Herr Lübke?« | Café Moskau | Der Grenzgänger | CIA meets KGB | Horn und Prange statt C&A | Urlaub auf Mallorca

3. Morgendämmerung von 68

Ein beeindruckender Mann | Das Paradies des Ho Tschi-minh | Große Koalition | Der Beginn der Studentenbewegung in Berlin | Mao Tse-tung: Den Palast stürmen | Die »kleine Kulturrevolution« in Deutschland | Die Subversiven in KONKRET | Rudi Dutschke und Manfred Kapluck | Die Kommune 1 und die Röhls | Enteignet Springer!

4. Das Hamburger Medienestablishment, 1967

Hochgefühle | Farah Diba | Der 2. Juni 1967 | Der Fall Kurras / Ohnesorg: Staatsmord aus Ostberlin? | Augstein und KONKRET | Der wunderschöne Sommer 1967 | Besuche | Sommerkinder | Besuch bei den Feltrinellis | Jessika feiert Geburtstag | Zwillingsgeburtstag | Die Einweihungsparty | Das Ultimatum | Peggy und Lyngi beobachten »Oldie« und Ulrike | Jürgen Bartsch | Augstein und Nirumand | 68 tanzt in KONKRET | Trennung

Wie es weiterging

Epilog | Der Untergang des Röhl-KONKRET | 50 Jahre KONKRET und keine Feier | Ulrike Meinhofs Verhaftung und ihr Tod | Ulrike Meinhof und der Schwarze September

Nachwort

Bildteil

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Bildnachweis

Register

Die heilige Johanna und der Schuft

Erinnerungen an die frühen Jahre
von Peter Rühmkorf

Ich kannte Klaus von der Schule, das heißt, vom Athenaeum in Stade her, allerdings war er eine Klasse über mir, was zunächst nur zu einem lockeren Verbindungsfaden führte. Eine innigere Berührung ergab sich erst, als Klaus mit einem Freund ein Puppentheater gegründet hatte, da hab ich ihn dann, über meine Mutter, die dort Lehrerin war, an die Warstader Volksschule vermittelt. Die beiden schliefen bei uns im Haus, was dann sofort zu Gesprächen über gemeinsame Interessen führte, die im Großen und Ganzen mit der heute sogenannten klassischen Moderne zu tun hatten. Dabei neigte Klaus etwas stärker der sozialkritischen Neuen Sachlichkeit zu, also Erich Maria Remarque oder Arnold Zweig und Bertolt Brecht. Während ich gerade tief in den Sog des Expressionismus geraten war, was dann bis zu Wolfgang Borchert führte. Auch Kästner und Tucholsky waren ganz große gemeinsame Vorbilder, Leitbilder, woraus dann eine literarisch begründete Freundschaft erwuchs.

Aus der Schule entfloh er mir dann, weil er nach Hamburg an die Uni ging. Ich kam erst 1950 nach Hamburg, und da hieß es »auf Quartiersuche gehen«. Klaus wohnte direkt an der Elbchaussee in einem zerstörten Haus, von dem nur noch die Souterrainküche erhalten war. Das Haus war genau da, wo der Halbmondsweg in die Elbchaussee einmündet. Und nun kam ich im Sommer und habe dort erst mal ein Sofa in seiner Wohnküche bezogen. Der Begriff scheint mir heute fast schon luxuriös, aber immerhin gab es dort fließend Wasser und Strom für die Kochplatte. Außerdem waren wir beide große Sonnenanbeter, und weil sich etwas oberhalb der Küche noch ein Parkettfußboden von einem ehemaligen Salon erhalten hatte, hatten wir uns da zwei alte Liegestühle aufgebaut, in denen wir uns bräunten (wir sagten damals »tängten«) und gleichzeitig Gedanken über eine neue Studentenbühne machten.

Klaus hatte bereits Freunde um sich gesammelt, zum Beispiel Dick Busse, der ganz passabel Banjo spielen konnte, aber auch Peggy Parnass gehörte damals schon mit zum Ensemble. Wir zogen dann etwas später in eine Wohnbaracke in der Stresemannstraße in Lokstedt – zwei kleine Zimmerchen mit jeweils zwei Betten übereinander – eigentlich ziemlich kommissmäßig und, rückblickend, unsere Kommune 00. Weil wir alle gern sangen, war beinah jeden Abend Gemeinschaftsgesang angesagt: Chansons von Tucholsky, Kästner, Mehring, Klabund und Wedekind – und da passte irgendwie selbst Hermann Löns dazwischen.

Klaus war gewissermaßen mein Cicerone, der mich einführte in die große Stadt, er stellte mich überall als den größten zeitgenössischen Dichter vor, das fand ich sehr angenehm. Klausens Art war es, und das machte ihn so gewinnend, dass er jeden aus seinem Umfeld hochnobelte: Dick Busse zum Beispiel zum bedeutenden Gitarristen oder Peggy zur großen Diseuse. Das machte er mit einer gewissen Grandezza und Selbstverständlichkeit, und im Schmuck dieser selbst erschaffenen Edelgestalten wandelte er ganz lustig herum.

Klaus und ich zeigten uns mal unsere Gedichte und schrieben uns unsere Beurteilungen an den Rand. Ich habe heute noch Klausens Gedichte mit meinen Bemerkungen dazu in meinem Archiv und auch meine Gedichte mit Klausens Randglossen. Damals dichtete er noch so frisch, fröhlich, frei, eigentlich ganz unberührt von dem Geist der literarischen Moderne, es war mehr so die Richtung Zupfgeigenhansel, einerseits volksliedhaft schön und das auch wieder ziemlich privat. Ich habe neulich die Sachen mal wieder gelesen – neulich heißt vor drei Jahren –, und da habe ich zu Klaus gesagt, Mensch, die waren gar nicht so schlecht, warum habe ich eigentlich den Umweg über die Moderne gemacht. Andererseits war das letzten Endes mein Gewinner, dass ich wirklich durch die Moderne geprägt worden bin, rückblickend viel verkrampfter als Klaus, aber das war eben die Spannung der Moderne, ihre nervösen Irritationen, die mich gepackt hatten, während Klaus lustig wie Gründgens über alle Abgründe hinwegsprang und seine Lieder sang.

Klaus war außerordentlich geschickt darin, gute Jobs zu akquirieren. Er verstand es, irgendwie durch eine Art von Frechheit oder Aufgewirbeltheit die an Land zu ziehen, und die meisten Jobs habe ich mit ihm zusammen gemacht. Wir verteilten die erste Bild – Zeitung, trugen Postpakete aus und warben auch mal für ein Waschmittel, wobei wir weiße Kittel trugen und so Türkenfeze aufhatten. Damit gingen wir auf dem Jungfernstieg spazieren und riefen im Chor: »Valan, die Waschmaschine in der Tüte«. Wir drehten unsere Gesichter immer der Sonne zu, weil wir uns auch gleichzeitig bräunen wollten. Dann haben wir uns als neue Studentenbühne konstituiert, entwarfen eine richtige Satzung und haben uns an der Uni registrieren lassen, damit man seine Anschläge machen konnte am Schwarzen Brett. Theaterzeit, Jobberzeit. Wann wir je studiert haben?

In der Uni waren wir immer zusammen. Neben der Mensa gab’s den Kaffeegang, wir waren die Herren des Kaffeeganges, und dort warb Klaus seine neue Truppe zusammen. Übrigens gab es auch eine kommunistische Studentengruppe, die neben uns ihre Sachen ans Schwarze Brett schlug, und irgendwie, vermutlich auch durch Kaffegang-Connections, kriegten wir Kontakt zu dieser Gruppe.

Ein Teil dieser Leute, Eberhard Zamory z. B., war als jüdischer Emigrant als britischer Staff Sergant wieder nach Deutschland zurückgekommen, wo ein Teil seiner Familie im Halbdunkel überlebt hatte. Ich sag das aus bestimmtem Grunde. Was in der Restaurationszeit immer noch als Schreckgespenst galt – jüdisch-marxistische Kreise –, war für uns ein ganz besonderer Anziehungsmagnet. Literarisch durch die fortschrittlichsten Literaten der Weimarer Republik beglaubigt.

Es waren Berührungskontakte, wobei sich mir erst später offenbarte, dass die kommunistische Gruppe natürlich ein starkes Missionsbedürfnis hatte und einen großen Infiltrationstrieb. Die haben schon sehr früh die Fühler nach uns ausgestreckt. Rückblickend würde ich sagen, dass sie eine alte kommunistische Taktik schon auf der Universität angewendet haben, das heißt, in vorhandene Gruppen oder Organisationen einzusickern.

Wir waren das progressivste Theater, das sich damals überhaupt denken ließ, erst mal mit diesem knallig provozierenden Namen Pestbeule, der von mir stammte, und dann gar durch die Unterzeile, die sich Klaus ausgedacht hatte, »KZ-Anwärter des vierten Reiches«. Unser Stück hieß »Die im Dunkeln sieht man nicht«. Ich fand seine Texte kabarettistisch effektiver als meine, sie waren doch eigentlich zu ernst, waren expressionistischer und sprachlich geschärfter geprägt, während Klaus ganz leichte Chansons machte, und die Musiken kamen auch von ihm. Nur einmal war mir auch eine Melodie eingefallen, dann stellte sich aber heraus, dass das die sowjetische Nationalhymne war; ich wohnte bei Kommunisten, und mein Wirt hatte nachts immer Radio Moskau eingestellt. Da hatte sich die Nationalhymne wohl etwas zu oft in mein Ohr eingeschlichen.

Klaus konnte eines gut, das betrifft die Bühne wie die Zeitung: Regie führen. Er hatte das Talent, Leute in Verbindung zu bringen und sie einander zuzuordnen, dialogisch und choreografisch. Wer später alles für die Zeitschrift geschrieben hat, ist heute kaum noch zu fassen. Er fand auch die richtigen Worte – manchmal schmeichlerische, aber die wurden gerne geschluckt –, um sehr unterschiedliche Charaktere für eine gemeinsame Sache zu begeistern.

Unser Theaterstück, das sich im Untertitel »kabarettistisches Mysterienspiel« nannte, erlebte zunächst zwei Aufführungen in der Emilie-Wüstenfeld-Schule. Es wurde von der Presse ganz gnädig aufgenommen, aber in der Welt ganz furchtbar verrissen. Dort hieß es – ich hab das heute noch im Ohr – »Der dreckige Kitsch von vorgestern will doch hoffentlich nicht morgen Kunstersatz werden?« Das war natürlich entlarvend, und da sind wir, zusammen mit unseren KP-Freunden, bei der Welt vorstellig geworden, was die sich unter dem dreckigen Kitsch von vorgestern bitte schön vorstellten. Gestern, das war die Nazikunst, ja, alles klar. Aber vorgestern, damit könnten doch nur Brecht und Kästner und Tucholsky gemeint sein – na, die haben sich vielleicht gewunden.

Zu unseren kommunistischen Freunden noch mal. Einige hatten zu unserem Theaterpersonal gehört, andere hatten technische Arbeiten für uns erledigt, und als ich mit meinem Freund Werner Riegel eine eigene Zeitschrift aufmachte – Zwischen den Kriegen war der Titel –, hielt Klaus weiter Kontakt zu den KP-Leuten. Ja, und dann eröffnete er uns eines Tages, dass er eine Zeitschrift aufmachen wolle, den Studenten-Kurier, der uns natürlich mächtig interessierte, weil wir bisher nur hektografiert hatten, und das war nun schon richtig gedruckt. Dass das Blatt praktisch von drüben, das heißt von Ostberlin aus finanziert wurde, kam uns dabei gar nicht in den Sinn. Erstens bekamen wir kein Honorar für unsere Artikel und Gedichte, und wo so offensichtlich kein Geld floss, kam niemand auf den Gedanken an trübe Quellen. So wurde ich in trügerischer Unschuld gehalten, aber ich hatte die einmalige Gelegenheit, bereits als Student unter fünf oder sechs Pseudonymen alles schreiben zu können, was ich wollte. Ich schrieb, wie mir ums Herz war – und das saß allerdings schon ziemlich weit links –, und Klaus brachte das dann gegenüber den Hintermännern durch, egal ob sie was ärgerte.

Er muss da schon sehr geschickt herumlaviert haben, mit brechtscher List sozusagen, sonst hätte er nicht mal zu mir gesagt: »Wir müssen jetzt aber mal wieder ’n paar Hiebe gegen den Osten austeilen, sonst hält man uns noch für eine kommunistische Zeitung«, und weil ich mir damals unter dem Pseudonym Leslie Meier einen »Lyrik-Schlachthof« eingerichtet hatte, ließ ich postwendend Johannes R. Becher über meine Klinge springen, der immerhin DDR-Kulturminister war, und da werden die da drüben schon ziemlich schiefe Gesichter gezogen haben. Später stieß dann auch Ulrike mit zu dem Blatt, da wehte der Wind auch sofort ’n bisschen schärfer. Das Blatt ging irgendwie auf Linie. Auch gingen ihm sichtlich der lustige Studentenwitz und die Farbe aus, und ich wechselte zum Rowohlt Verlag über, wo man mir ein kleines Pöstchen eingeräumt hatte.

Trotzdem hielten wir, Ulrike und Klaus, Eva und ich, freundschaftlichen Kontakt, und wir haben die beiden öfter in ihrem Häuschen in Hamburg-Lurup besucht. Als die Zwillinge dann auf die Welt gekommen waren, entwickelte Ulrike auf einmal überraschend bürgerliche Züge. Sie begann, sich bürgerlich einzurichten, auf propere Weise kleinbürgerlich, würde ich sagen. Eines Tages hingen dann sogar moderne Bilder an der Wand, sozialistisch angehauchte, aber malerisch nicht gänzlich von gestern. Dann fragte sie uns, wir fielen beinahe vom Sessel, nach Antiquitätengeschäften. Hatte sie eigentlich früher Kunstgeschichte studiert? Ich kann es nicht mehr sagen. Aber dann war bei ihr zu Hause auf einmal Jugendstil und Art déco angesagt, solche Phase von leicht gehobenem »Schmücke Dein Heim«, was Eva und ich mit einem gewissen erstaunten Vergnügen zur Kenntnis nahmen. Lange her und nobody knows (außer Klaus natürlich), aber man muss das wissen, um das spätere Trennungstrauma richtig mit auf die Reihe zu kriegen.

Aber ganz so weit sind wir noch nicht. Ulrike war in unserer Hamburger Zeit außerordentlich gesellungslustig, und das in mehrerlei Hinsicht. Auf der einen Seite tanzte sie gern und genoss die Sympathie, die man ihr entgegenbrachte. Sie fühlte sich absolut wohl in ihrer linken Haut, ohne in dem ganzen pluralistischen Trubel von gewissen rigorosen Meinungen zu lassen, die sie allerdings nie wie eine missionarische Eiferin vortrug. Sie war hübsch anzusehen und vertrat selbst radikale Ansichten mit einem gewissen diplomatischen Charme, Natur- oder Agentencharme, das ist von heut aus gesehen gar nicht mehr zu trennen. Auf jeden Fall hatte sie das Gefühl, in dieser Hamburger Society liebe Freunde und Freundinnen gewonnen zu haben – schlicht gesagt, sie fühlte sich aufgehoben. Auch in dem Nest in Lurup, wo sie mit Klaus zusammenlebte und die Hausmusik bestimmte.

Bis dann eines Tages eine andere Frau in Klausens Leben auftauchte, und da fühlte sie sich aus dem Nest hinausgeworfen. Ein aus dem Nest geworfenes Vögelchen, traurig, tragisch, aber nicht der erste Trauerfall auf dieser Welt, und dann zog sie eines Tages die Konsequenz und setzte sich nach Berlin ab, um dort ein Gegennest zu gründen. Einen Adlerhorst, wie sich später zeigen sollte, aber verschmähte Liebe ist zu allem fähig, zu Mord, Selbstmord, Totschlag und Weltbrandstiftung.

Klaus hatte also lange Zeit ein linksliberales Blatt gemacht, das am wenigsten angepasste Intelligenzblatt in der gesamten Bundesrepublik. Und dann fiel die Trennung fatalerweise in eine Zeit, in der sich auch anderes trennte und auseinanderscherte. Politische Ansichten beispielsweise, ein Bruch, der durch die gesamte bundesdeutsche Intelligenz ging und viele Verlage und Presseorgane berührte. Turbulenzen insgesamt, die natürlich auch mitten durch die Zeitschrift KONKRET gingen, sie praktisch zerrieben von innen her, bis dem Verleger und Herausgeber das Blatt im Jahre 1973 von Hermann L. Gremliza, Peter Neuhauser und in letzter Instanz von Klaus Hübotter entwunden wurde.

Die Verbitterung von Klaus war einschneidend und nachhaltig. Er verlor bei den folgenden Prozessen das Haus in Blankenese, in dem auch Ulrike sich recht wohlgefühlt hatte, das nebenbei. Eine gewisse linksbürgerliche Reputation war von einem Tag auf den anderen futsch. Kreise, die sich um ihn wie um einen Magneten geschart hatten, stoben auf einmal auseinander, als ob er der Leibhaftige wäre. Ich will dabei nicht mal sagen, dass er sich gewisse massenhafte Idiosynkrasien nicht selbst zugezogen hat. Er war ein unzuverlässiger Geist, der nicht den geringsten Sinn für Pünktlichkeit hatte und bei dem pünktliche Autorenauszahlungen nicht zur Tagesordnung gehörten. Aber als sich die Welt dann so in Schwarz und Weiß bzw. Rot und Schwarz zu zerteilen begann, da verlangte es die aufgewühlte und meiner Meinung nach völlig derangierte Intelligenz nach fassbaren Gegenbildern, in unserem Fall einer heiligen Johanna und einem adäquaten Bösnikel und Konterrevolutionär, und da prasselte die gesammelte Scheiße gewissermaßen auf Klausens Haupt. So die Dramaturgie der Zeit, die, von heut aus gesehen, ein Living Theatre der besonderen Art war, aber nach fast archaischen theatralischen Regeln funktionierte. Ich habe darüber ausgiebig geschrieben und berühre lieber mal einen anderen Punkt, den nie jemand richtig im Blick gehabt hat.

Ulrike war – und ich kenn die Beziehung bis in ihre verborgensten Intimitäten – nie Klausens wirkliche Liebe gewesen. Da war viel, nach Brecht, von der »Dritten Sache« die Rede gewesen, das heißt, der gemeinsamen Bindung an die Partei. Und sie waren ja auch als Agentenpärchen von drüben angeleitet worden, wobei ich nicht sagen kann, wem von dort aus mehr Glaubwürdigkeit zugebilligt wurde. Sie waren auf seltsame Weise miteinander verklammert, von außen gesehen nicht unharmonisch, ich habe nie ein böses Wort zwischen beiden vernommen. Darf ich es mal so sagen: Sie liebte ihn, und er umwarb sie aufs Freundlichste als unverzichtbare Mitarbeiterin. Nur dass sich Klaus Ende der Sechzigerjahre (und das fiel irgendwie mit der Hamburger »Partyrepublik« zusammen, die ich schon öfter beschrieben habe) in eine andere Frau verliebte – richtig besinnungslos und als ob ihn der Blitz getroffen hätte –, und da war es zu Ende mit seinem ganzen Gauklertum und auch seiner ewigen Wankelmütigkeit. Ich sag das aus einem Grund. Er, den man immer nur als Schwankebold und Frontenwechsler und unzuverlässigen Liebhaber mehrerer Frauen abzunotieren sucht, lebt mit dieser Frau noch heute zusammen, und ich kann aus einer gewissen Entfernung nicht sagen, wer da letzten Endes die Zügel in der Hand hat. Sie haben mich vor nicht gar so langer Zeit einmal besucht, und das war nun richtig lustig, wie Danae und ich ihn gelegentlich zwiebelten und ihn gewisser neuer Rechtsschlenker wegen auf die Schippe nahmen.

Mit dem Umzug Ulrikes von Hamburg nach Berlin fand sie gewiss viele neue Freunde und Freundinnen, die sich ihrer annahmen, andererseits geriet sie unversehens in schlechte Gesellschaft. Berlin war damals so was, was man einen Braukessel aller zeitgenössischen Verrücktheiten und politischer Überkandideltheiten nennen kann, und alles zog und zerrte an ihr herum, um sie als Galionsgestalt in ihre Mitte zu manipulieren. Eine Insel der Genossinnen und Genossen, wie sie es empfunden haben mag, aber im Grunde eine ziemlich verwirbelte, paranoische Galaxis. Man fühlte sich mitten im Volke wie die Fische im Wasser – um mal ein Wort von Mao zu zitieren –, aber das war alles nur ausgedachtes Zeugs, und im Grunde bewegte man sich in einem schlecht gelüfteten Aquarium. Es war eine Zeit, von der kaum jemand, den ich kenne, vollkommen unberührt blieb. Die Welt ist ja nicht frei von solchen massenhaften Geistesverwirrungen, Geißlerbewegungen, Kinderkreuzzügen, islamistischen Selbstmordkommandos, religiös-verrückten Alleinvertretungsansprüchen und ihren mörderischen Auswüchsen, und da geriet Ulrike dann immer tiefer rein in diesen Strudel, was wir voller Betrübnis sahen, schon weil meine Frau Eva zusammen mit ihr in Marburg studiert hatte – u. a. Religion, pikanterweise. Bloß dass sich bei uns zu Haus die Weltenuhr genau in die andere Richtung bewegte. Während Ulrike die Institutionen kaputt machen wollte, ging Eva richtig konkret rein in die Institution, sie wurde Gefängnisdirektorin und mühte sich dort gegen unzählige Widerstände für allerdings längst fällige Reformprozesse ab.

Ich selbst hatte sehr früh, das heißt bevor die Mord- und Brandgeschichten richtig losgingen, mal einen Artikel in KONKRET geschrieben und alle mir bekannten Sympathisanten oder heimlichen Anhänger der sogenannten »Bewegung« bei ihrem Namen aufgerufen und sie beschworen, sich von dem unheilvollen Treiben zu distanzieren. Ohne praktisch erkennbare Folgen, wie ich heute sagen muss, und ich kenne auch die Namen zahlreicher Parteigänger – zumal – Innen, die zumindest als Quartiergeber tätig wurden, aber diese (zum Teil berühmten) Namen nenne ich nun wirklich nicht – die müssen mit ihren ehemaligen Irrungen und Verranntheiten selbst zurechtkommen, und es liegt bei ihnen, ob sie das heimlich als ihre Heldenzeit verbuchen ODER als einen total abseitigen Spuk, dem sie zeitweilig verfallen waren. Als lang ausgezogenen Gedankenstrich am Schluss, dass ich die 67er-, 68er-Anfänge des antiautoritären Aufbegehrens von Herzen begrüßt habe. Schon aus dem privaten Grund, weil ich durch zwei ultraautoritäre Naziprofessoren aus ihren Seminaren verwiesen wurde, was seinerzeit der Existenzvernichtung gleichkam. Aber das ist eine andere Geschichte, die meine eigene Biografie betrifft und die uns im Augenblick aus der gemeinsamen Spur bringen würde.

ERSTER TEIL

1. Ulrike und Klaus bekommen Zwillinge, 1962

Rosen aus Ostberlin

Am frühen Morgen des 21. September 1962 verlässt ein aufgeregter Mann sein Vorstadthäuschen, steigt in seinen beigefarbenen Opel Rekord und fährt beschwingt und etwas nervös zum Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf. Er weiß, dass er an diesem Tag Vater werden wird, und will so schnell wie möglich zu seiner Frau, um das Baby in Empfang zu nehmen.

Da die werdenden Eltern nicht wussten, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen würden, hatten sie sich kurzerhand dazu entschlossen, das Baby mit einem hellgrünen Outfit zu empfangen. Ein paar Monate vor der Geburt waren sie von ihrer Stadtwohnung in ein Häuschen im Kleine-Leute-Vorort Lurup gezogen und hatten dort ein perfektes Kinderzimmer eingerichtet. Jetzt musste bloß noch »das Kind«, wie sie es seit Monaten nannten, kommen. »Hoffentlich ist alles gut gegangen«, dachte Klaus Rainer Röhl, als er beherzt in die Entbindungsstation eilte.

Schließlich gab es da ein Problem, weshalb das Kind im achten Monat per Kaiserschnitt entbunden werden sollte: Wenige Wochen zuvor hatte sich die werdende Mutter Ulrike Marie Röhl mit unerträglichen Kopfschmerzen ins Krankenhaus begeben, wo ein Tumor in der linken Kopfhälfte festgestellt wurde. Ulrike Röhl und ihr Mann hatten sich nach dieser Diagnose gemeinsam mit den Ärzten für einen Kaiserschnitt entschieden und dafür, die Geburt vorzuverlegen, da während der Schwangerschaft keine ausreichende medikamentöse Behandlung der Kopfschmerzen möglich war. Sobald sich Ulrike Röhl von der Geburt erholt hätte, sollte der Tumor operiert werden. Keine leichte Operation. Die Ärzte schlossen nicht aus, dass es sich um ein Karzinom handeln könnte, auch wenn dies nicht wahrscheinlich war.

Der Kaiserschnitt wurde an diesem sonnigen Spätsommermorgen planmäßig um 8.30 Uhr durchgeführt. Klaus Röhl erschien nur wenige Minuten später auf der Station und wurde überrascht: »Das Kind« waren Zwillinge. Die Operation, hörte er von der Hebamme, war zunächst normal verlaufen. Das kleine Mädchen hatte sich schon in sicherer medizinischer Verwahrung befunden, die Geburt hatte als geglückt gegolten, da war das Staunen im Kreißsaal nicht schlecht, als plötzlich eine Krankenschwester rief: »Da bewegt sich noch etwas!« Bis dahin für alle unbemerkt, mühte sich offenbar noch ein zweites Menschenkind, in den Genuss des Lebens zu kommen, sodass schließlich doch ein wenig Aufregung aufkam, bis man auch das zweite Baby alles in allem glücklich entbunden hatte. Dieser Zwilling war ich.

Nach einem Blutaustausch wurde ich sofort in den Brutkasten gesteckt. Folglich konnte ich am ersten Familienkonvent, der bald darauf am Bett der jungen Mutter tagte, nicht teilnehmen. Die Eltern nahmen meine Schwester in den Arm und freuten sich erst einmal an dem einen Kind. Kurze Zeit später musste auch bei meiner Schwester ein Blutaustausch vorgenommen werden, die danach im Brutkasten meine Nachbarin wurde. Gemeinsam blieben wir einige Wochen in unseren Gewächshäuschen.

Erst als Klaus Röhl mit seiner Frau allein war, fiel ihm der große Strauß roter Rosen auf, der auf dem Tisch stand. »Der ist von den Genossen«, sagte Ulrike Röhl und lachte trotz ihrer Kopfschmerzen. »Weißt du noch, zu unserer Hochzeit haben sie uns auch einen geschickt.« Der Rosenstrauß war eine Aufmerksamkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands, die – in der Bundesrepublik verboten – ihren Sitz in Ostberlin hatte.

Tina und Gine

Am Nachmittag besichtigte mein Vater dann auch mich in dem Vitrinchen, wo »seine Zwillinge« nebeneinanderlagen. Jetzt, als er seine Kinder zum ersten Mal in Ruhe in Augenschein nahm, war er »entsetzt«. »Winzig klein wie zwei Bierflaschen … ganz schön vermurkst … mit einem Wort: wie Pik sieben«, hätten wir ausgesehen. Besonders ich hätte ein »ramponiertes Gesichtchen«1 gehabt, erinnerte er sich noch unlängst. Typisch Klaus Röhl. Liebkosungen voller Ironie und opernhaft böse Zuneigung gab’s vom ersten Tag an gratis.

Welchen Eindruck genau das etwas schiefe Gesicht mit der großen Nase, das mich an diesem Tag von oben durch die Glasscheibe betrachtete, auf mich gemacht hat, weiß ich naturgemäß nicht mehr. Klaus Rainer Röhl, damals 33 Jahre alt und stolzer Herausgeber der linken Studentenzeitschrift KONKRET, stellte sich schon bald als hochmotivierter Vater heraus. Schnell lernte ich den permanenten Zirkus kennen, den er in seiner unmittelbaren Umgebung veranstaltet – tief- und unsinnig zugleich –, und hielt diese Art Familienoperette für das Normalste von der Welt.

Mein Vater kam von nun an häufig zu uns an den Brutkasten. Zu unserer Mutter konnten wir erst nach einer Woche, nachdem sich ihr Zustand verbessert hatte. Wegen der bevorstehenden Kopfoperation war sie auf eine andere Station verlegt worden und durfte ihr Bett nicht verlassen.

Da meine Eltern nicht mit zwei Kindern gerechnet hatten, hatten sie auch keine zwei Mädchennamen parat, weshalb wir zunächst beide nach Oma Meinhof »Ingeborg« benannt wurden. Meine Schwester bekam dann wenige Tage nach der Geburt den Mädchennamen, den Ulrike Röhl, geb. Meinhof, damals 27 Jahre alt und junge Chefredakteurin der Zeitschrift KONKRET, sich für das eine Kind als Mädchennamen ausgedacht hatte: Regine. Mir wollte sie den Märchennamen Rapunzel geben. Diese Schnapsidee hat ihr mein Vater Gott sei Dank ausgeredet. Er argumentierte, dass es doch ganz schrecklich wäre, wenn ich später einen Freund hätte und dieser seinen Freunden sagen müsste, dass seine Freundin Rapunzel hieße, und dass man, wenn schon nicht auf mich, doch auf meinen zukünftigen Freund Rücksicht nehmen müsse. Für eine derartig verdrehte Logik war Ulrike Röhl immer zu haben, und so gab sie nach.

Schließlich war es meine »Tante« Renate Riemeck, die nach dem Tod von Ulrikes Eltern deren Ziehmutter und Vormund gewesen war, die meinen Namen fand: Bettina, nach der berühmten sozial engagierten Dichterin Bettina von Arnim. Die Pädagogin und Historikerin Renate Riemeck hatte ausdrücklich nach einem intellektuellen weiblichen Vorbild gesucht. Ich sollte, wie sie selbst und wie meine Mutter, eine kluge, berufstätige und emanzipierte Frau werden und auf keinen Fall »nur« Hausfrau und Mutter. Andererseits meldet auch Klaus Röhl die Urheberschaft für meinen Namen an und betont, dass er es war, der seine Kinder nach den Romantikerinnen des 19. Jahrhunderts benennen wollte. Auch meine Schwester sollte nämlich, laut Klaus Röhl, nach der Dichterin und Schriftstellerin Karoline von Günderode, einer engen Freundin von Bettina von Arnim, ursprünglich von Regine in Karoline umbenannt werden, um nun beiden Zwillingen eine bekannte Namensvetterin zur Seite zu stellen. Aber es war zu spät. Der einmal angemeldete Name Regine konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, und so blieb es bei Ingeborg Regine und Ingeborg Bettina Röhl, wie wir Zwillinge endgültig heißen sollten. Oder wie wir im Familienkreis genannt wurden: Tina und Gine.

Die Tanten

Während wir im Brutkasten träumten, wartete die gesamte Verwandtschaft auf den nächsten Termin, die Kopfoperation. Man bangte mit meiner Mutter um die erst danach mögliche Diagnose. Ulrike Röhl konnte nach der Entbindung die Medikamente nehmen, die ihre Schmerzen linderten. Die Angst nahmen sie ihr nicht. Fest stand, dass sie – unabhängig vom Untersuchungsergebnis – allein wegen der notwendigen Öffnung des Kopfes etwa vier Monate im Krankenhaus würde bleiben müssen. So stellte sich die Frage, wer in dieser Zeit die Babys übernehmen kann. Oma Röhl lag wegen einer Magenkrankheit selber im Hospital und kam also nicht in Betracht. Mein Vater wurde in seiner Firma und von seiner Frau gebraucht. Da erboten sich Ulrikes Ziehmutter Renate Riemeck und deren Freundin Holde Bischoff, die mit dieser zusammenlebte, uns Kinder zu sich nach Gundelfingen bei Freiburg zu nehmen. So gingen wir unmittelbar nach Verlassen des Brutkästchens auf große Fahrt.

Holde Bischoff, eine hochgewachsene, schlanke, damals 42-jährige Frau mit kurzen, schon leicht angegrauten Locken und einem langen, weiten Rock, kam Anfang November mit dem Zug nach Hamburg, wo wir ihr, in einem Kinderwagen überwarm eingemummelt, am Altonaer Bahnhof von einem fröhlich-hektischen Klaus Röhl, der heilfroh war, das »Babyproblem« gelöst zu haben, mit besten Ratschlägen und Danksagungen übergeben wurden. »Tante« Holde hat mir später noch oft von der langen Nachtfahrt mit den zwei Neugeborenen erzählt. Sie gestand mir, dass sie und Renate, beide unverheiratet und kinderlos, ziemlich aufgeregt waren. »Wie man Babys wickelt und ihnen das Fläschchen gibt, das wussten wir beide nicht, aber wir hatten uns Bücher gekauft, und ich hatte schon auf der langen Fahrt nach Hamburg ganz viel gelesen.«2

Renate Riemeck, die zum Zeitpunkt unserer Geburt ebenfalls 42 Jahre alt war und zu Recht als die wichtigste politische und geistige Mentorin Ulrike Meinhofs gilt, nahm uns freudig als ihre »Ziehenkelkinder«, wie sie uns nannte, in Empfang. In Gundelfingen war für uns ein kleines Babyparadies hergerichtet. Diejenige, die sich von morgens bis abends um uns kümmerte und die unsere eigentliche Ziehtante wurde, war Holde, die in dem Frauenhaushalt die Wirtschaft führte. Holde hatte, bevor sie mit Mitte dreißig zu Renate gezogen war, im elterlichen Sanatoriumsbetrieb in Berneck im Fichtelgebirge als Bademeisterin und Diätköchin gearbeitet und später eine Ausbildung als Masseurin gemacht. Sie war im Umgang mit Menschen geübt und stellte sich als Idealbesetzung heraus, meine Schwester und mich zu übernehmen.

Holde setzte uns in den Zwillingskinderwagen und fuhr uns durch den Ort, badete und fütterte uns, strickte uns Strampelanzüge und beobachtete aufmerksam das Zwillingsspiel. Sie machte die ersten Filmaufnahmen von uns und legte im Laufe der Jahre ein ganzes Archiv von Bildern an. Renate Riemeck saß in dieser Zeit meist in ihrem Arbeitszimmer und schrieb Artikel, Bücher und Vortragsmanuskripte. Doch mehrmals am Tag kam sie bei Holde und uns vorbei, um sich an dem unverhofften Zwillingssegen zu erfreuen.

Der deutlichste Unterschied zwischen uns Zwillingen war der, dass ich besonders gern aß und schlief und ansonsten keinerlei Probleme machte, weshalb ich von Holde das »Normalbobbele« genannt wurde, während meine Schwester immer nur das halbe Fläschchen austrank und schlechter einschlief, dementsprechend weniger wog und trotzdem immer hungrig guckte, weshalb Holde sie liebevoll das »Vögelchen« nannte.

Die Operation

Wenige Tage nach unserem Umzug nach Gundelfingen wurde Ulrike Röhl in Hamburg operiert. Es wurde ein vergleichsweise harmloser Blutschwamm gefunden, der mit einer Metallspange, die im Kopf verblieb, abgeklemmt wurde. Diese Diagnose war für alle eine große Erleichterung. Ulrike Röhl hatte danach allerdings noch länger mit den Folgen des Eingriffs zu kämpfen, denn nach der mehrstündigen Operation litt sie weiter unter heftigen Kopfschmerzen.

Erst nach langen Tagen, in denen kein Schmerzmittel zu helfen schien, begann sich ihr Zustand zu bessern. Dann aber fiel sie in einen Wochen andauernden Müdigkeitszustand – sie selber nannte diese Zeit ihre »Plem-plem-Phase«, so Klaus Röhl, in der ihre Orientierung und Koordination nicht immer reibungslos funktionierten. Sie klagte darüber, alles doppelt zu sehen, ein völlig normales Zwischenstadium auf dem Weg zur Heilung, wie ihr die Ärzte versicherten. Nach ein paar Wochen normalisierte sich ihr Zustand. Sie blieb dann aber noch länger im Krankenhaus und war natürlich erschöpft.

»Ich kann kranke Frauen auf den Dood nicht ausstehen«, scherzte Klaus Röhl – ein Spruch, den seine Frau, deren Stärke Humor ohnehin nicht war, wahrscheinlich nicht besonders komisch fand. Zumal mein Vater dies, wie alles, was er sagte, natürlich ernst meinte, wie er in solchen Fällen stets mit großem Gestus betonte. Das war seine Art von Ironie und Schicksalsbewältigung: denn tatsächlich ist Klaus Röhl immer ein ganz besonders aktiver Krankenpfleger gewesen.

Klaus Röhl besuchte seine Frau täglich, gab an ihrem Krankenbett den Spaß- und Gute-Laune-Macher und brachte Freunde wie den Lyriker Peter Rühmkorf und dessen Frau Eva zum Skatspielen mit. Bekannt ist, dass Ulrike Röhl noch als Rekonvaleszentin schon wieder zur Schreibmaschine griff und vom Krankenbett aus ihren ersten Artikel nach der Operation für KONKRET schrieb. Böse Zungen haben gern behauptet, ihr Mann habe sie gezwungen, so früh wieder zu schreiben. Andere gehen davon aus, dass sie selber nach der Schreibmaschine verlangte. Wahrscheinlich war ihr eigenes Verlangen danach sogar besonders rigoros. Weder hatte sie selber allzu viel Verständnis für Krankheit, noch hatte sie die geringste Lust, etwas anderes zu tun als zu schreiben und politisch aktiv zu sein. Mit Macht drängte es die im Krankenhaus 28 Jahre alt gewordene ehrgeizige Ulrike Röhl wieder in die Redaktion, zurück zu ihrer Arbeit.

Ulrike Röhl stand in diesen Jahren am Beginn einer steilen Karriere als Journalistin, sodass man ihre Ungeduld verstehen kann. Sie fühlte sich zu Höherem berufen und wollte zurück an die Arbeit, zumal sie sich der Machtkämpfe in der Zeitung bewusst war und verhindern wollte, dass andere Mitarbeiter die Baby- und Krankheitspause ausnutzten, um selbst an den begehrten Chefredakteursposten zu gelangen. Nicht ganz falsch ist wohl auch die Analyse von Klaus Röhl, dass sie nach der Kopfoperation sich und den anderen beweisen wollte, dass sie noch schreiben und denken konnte. So verfasste sie im Krankenhaus einen Artikel über die von der damaligen Regierung geplanten Notstandsgesetze und demonstrierte damit, dass sie wieder auf dem Posten war. Sie entschied sich damit für ein Thema, das ihr geläufig war. Das eigentliche innenpolitische Thema des Herbstes 1962, die Spiegel-Affäre, die ihr als Chefredakteurin und Zuständige für das Ressort Deutschland unter normalen Umständen ganz gewiss in den Fingern gejuckt hätte, musste sie für sich ganz ausfallen lassen. In KONKRET wurde die Spiegel-Affäre vom Redakteur Hans Stern und von dem Rechtsanwalt Heinrich Hannover sowie von Klaus Rainer Röhl selber ausführlich behandelt.