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Buch

Am Silvestermorgen feuert ein Unbekannter in einer U-Bahn-Station in Washington, D.C. mit einer schallgedämpften Maschinenpistole wahllos in die Menge und tötet dreiundzwanzig Menschen. Eine Stunde später wird Bürgermeister Kennedy ein Erpresserbrief überbracht: Entweder werden 20 Millionen Dollar an »Digger«, den Drahtzieher des Blutbades, gezahlt oder der Täter wird bis Mitternacht alle vier Stunden ein weiteres Gemetzel anrichten. Natürlich wird das FBI eingeschaltet. Hochroutiniert und schlagkräftig steht es wenige Stunden später kurz vor einer Verhaftung. Da passiert das Unfassbare: Bei einem völlig alltäglichen Verkehrsunfall stirbt der einzige Komplize und Kontaktmann Diggers. Jetzt bleibt nur noch eine Spur: der handgeschriebene Erpresserbrief. Verzweifelt bittet die ermittelnde FBI-Agentin Margaret Lukas ihren früheren Kollegen, den Handschriftenexperten Kincaid Parker, diesen Brief zu analysieren. Doch Parker zögert. Als alleinerziehender Vater, der mitten in einem Sorgerechtsstreit steckt, möchte er endlich Abstand von der Welt der Verbrecherjagd gewinnen. Schließlich stimmt er zu – unter der Voraussetzung, dass niemand von seiner Mitarbeit wissen darf. Doch während Kincaid in mühsamer Kleinarbeit dem Schriftstück Information um Information abringt, scheint es, als sei der Mörder ihm immer einen Schritt voraus. Und schon bald kriecht die Gefahr bis in Parkers Familienleben …

Autor

Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Seit seinem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat der von seinen Fans und den Kritikern gleichermaßen geliebte Jeffery Deaver sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht.

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Jeffery Deaver

Die Tränen

des Teufels

Thriller

Deutsch von Gerald Jung

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Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel

»The Devil’s Teardrop« bei Simon & Schuster Inc., New York.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 1999 by Jeffery Deaver

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2001

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Copyright dieser Ausgabe © 2017

by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images/Hayden Verry

AF · Herstellung: wag

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-19628-8
V001

www.blanvalet.de

Mit Dank

an Madelyn

I

DER LETZTE TAG DES JAHRES

Durch die sorgfältige Analyse eines anonymen Briefes lässt sich die Anzahl seiner möglichen Urheber drastisch einschränken und einige in Frage kommende Urheber dürfen sofort ausgeklammert werden. Die Verwendung eines Semikolons oder der korrekte Gebrauch eines Apostrophs schließt eine ganze Gruppe von Urhebern aus.

OSBORN AND OSBORN,

Probleme im Umgang

mit zweifelhaften Dokumenten

1

8:55

Der Digger ist in der Stadt.

Der Digger sieht aus wie du, der Digger sieht aus wie ich. Er geht durch die winterlichen Straßen, so wie alle, die Schultern in der feuchten Dezemberluft hochgezogen, Hals und Kinn im Mantelkragen verborgen.

Er ist weder groß noch klein, weder dick noch dünn. Seine Finger in den dunklen Handschuhen könnten fleischig sein, aber das sind sie nicht. Seine Füße sehen groß aus, aber vielleicht liegt das auch nur an den Schuhen.

Würde man ihm in die Augen schauen, würde man weder ihre Form noch ihre Farbe wahrnehmen, sondern allein die Tatsache, dass sie nicht ganz menschlich wirken, und wenn der Digger deinen Blick erwidert, könnten seine Augen das Letzte sein, was du auf dieser Welt siehst.

Er trägt einen langen schwarzen Mantel, vielleicht auch dunkelblau, und keine Menschenseele auf der Straße bemerkt, wie er vorübergeht, obwohl es viele Zeugen gibt – auf den Straßen von Washington, D.C. wimmelt es in der morgendlichen Rushhour nur so von Menschen.

Der Digger ist in der Stadt, und es ist Silvester.

Mit einer Einkaufstüte vom Bauernmarkt in der Hand weicht der Digger Paaren, einzelnen Passanten und Familien aus, geht unbeirrt weiter. Vor sich sieht er die Metro-Station. Man hat ihm gesagt, er solle Punkt neun Uhr morgens dort sein, und so wird es sein. Der Digger kommt nie zu spät.

Die Tüte in seiner vielleicht fleischigen Hand ist schwer. Sie wiegt fünf Kilo, doch bei der Rückkehr in sein Motelzimmer wird sie deutlich leichter sein.

Ein Mann rempelt ihn an, lächelt und sagt: »Entschuldigung«, aber der Digger würdigt ihn keines Blickes. Der Digger sieht niemals jemanden an und will auch nicht, dass man ihn ansieht.

»Niemand darf …« Klick. »… dein Gesicht sehen. Schau weg. Nicht vergessen!«

Ich vergesse es nicht.

Klick.

Schau auf die Lichter, denkt er, schau auf die … klick … auf die Neujahrsdekoration. Dicke Babys in wehende Luftschlangen gehüllt, und da ist natürlich auch Gevatter Zeit.

Komische Dekoration. Komische Beleuchtung. Komisch, wie hübsch das aussieht.

Er ist am Dupont Circle, dort, wo Geld und Kunst zu Hause sind, wo sich die jungen, eleganten Menschen herumtreiben. Der Digger weiß das, aber er weiß es nur, weil ihm der Mann, der ihm alles sagt, vom Dupont Circle erzählt hat.

Er hat den Eingang zum U-Bahn-Schacht erreicht. Der Morgenhimmel ist bedeckt, und da es Winter ist, liegt ein trübes Grau über der Stadt.

Der Digger denkt an seine Frau, er denkt an Tage wie diesen. Pamela mochte die Dunkelheit und die Kälte nicht, deshalb … klick … deshalb … Was hat sie deshalb gemacht? Ach ja. Sie hat rote Blumen und gelbe Blumen gepflanzt.

Er richtet den Blick auf die Metro-Station und denkt an ein Bild, das er einmal irgendwo gesehen hat. Er und Pamela waren in einem Museum. Sie schauten sich ein altes Gemälde an.

Und Pamela sagte: »Das ist unheimlich. Lass uns gehen.«

Es war ein Bild vom Eingang zur Hölle.

Der Metro-Tunnel befindet sich zwanzig Meter unter der Erde. Manche Fahrgäste gleiten hinab, andere kommen herauf. Es sieht genau aus wie auf jenem Bild.

Der Eingang zur Hölle.

Lauter junge Frauen mit kurz geschnittenem Haar und Aktentaschen unterm Arm. Lauter junge Männer mit Sporttaschen und Handys.

Und da ist der Digger mit seiner Einkaufstüte.

Vielleicht ist er dick, vielleicht ist er dünn, jedenfalls sieht er aus wie du, sieht er aus wie ich. Der Digger fällt nicht auf, und genau das ist der Grund, weshalb er seine Aufgaben so hervorragend erledigt.

»Du bist der Beste«, hat ihm der Mann, der ihm alles sagt, im letzten Jahr gesagt. »Du bist der … klick, klick … der Beste.«

Um 8:59 steht der Digger neben der Rolltreppe, die nach unten führt und voller Leute ist, die alle hinunter in den Höllenschlund fahren.

Er greift in die Tüte und legt die Finger um den Griff der Pistole, die eine Uzi oder eine Mac-10 oder eine Intertech sein könnte, die aber eindeutig fünf Kilo wiegt und mit einem Hunderter-Magazin 22er-Langwaffenmunition geladen ist.

Der Digger hat Appetit auf eine Suppe, lässt sich davon jedoch nicht ablenken.

Weil er der … klick … der Beste ist.

Er lässt den Blick über die Menge schweifen, aber er sieht niemanden an, sieht nur zu, wie die Leute warten, bis sie an der Reihe sind, die Rolltreppe nach unten zu betreten, die sie in die Hölle bringt. Er sieht weder die Männer mit den Telefonen noch die Frauen mit den Frisuren von Supercuts an, dem schicken Laden, bei dem sich auch Pamela immer die Haare schneiden ließ. Auch die Familien sieht er nicht an. Er presst die Tüte an die Brust, so wie es jeder mit seinen Feiertagseinkäufen machen würde. Eine Hand auf dem Griff der Waffe, was auch immer es für eine sein mag, die andere – außerhalb der Tüte – um etwas gekrümmt, das man für einen Laib Brot halten könnte, Brot, das hervorragend zur Suppe passen würde, aber in Wirklichkeit ein mit Mineralwolle und Gummi-Ummantelung bestückter leistungsstarker Schalldämpfer ist.

Seine Armbanduhr piept.

Neun Uhr.

Er zieht den Abzug durch.

Mit einem zischenden Geräusch arbeitet sich die Geschossgarbe die Rolltreppe hinunter, durch die Fahrgäste, die unter dem Beschuss nach vorne taumeln. Mit einem Mal wird das pst pst pst der Maschinenpistole von Schreien übertönt.

»Oh Gott, Achtung, mein Gott was ist denn los, ich bin verletzt, ich falle.« Ach, all so was.

Pst pst pst.

Dazu das grässliche Knallen der Fehlschüsse, der Kugeln, die auf Metall und Fliesen treffen. Dieses Geräusch ist unangenehm laut. Die Treffer klingen viel gedämpfter.

Alle Leute drehen sich um, niemand weiß, was eigentlich geschieht.

Auch der Digger sieht sich um. Alle runzeln verwirrt die Stirn. Auch er runzelt verwirrt die Stirn.

Keiner kommt auf den Gedanken, dass hier geschossen wird. Sie glauben, jemand sei gestürzt und habe eine Kettenreaktion ausgelöst, in deren Folge die Leute aufeinander fallen und die Rolltreppe hinunterpurzeln. Scheppern und Krachen, wenn Handys, Aktenmappen und Sporttaschen den Händen der Opfer entgleiten.

Die hundert Schuss sind in wenigen Sekunden weg.

Niemandem fällt der Digger auf, der sich wie alle anderen verdutzt umschaut.

Und dabei die Stirn runzelt.

»Schnell einen Krankenwagen Polizei, Polizei, großer Gott dieses Mädchen braucht Hilfe, sie braucht Hilfe, kann denn keiner helfen o mein Gott, er ist tot um Gottes willen, ihr Bein, ihr Bein, mein Kind, mein Kind …«

Der Digger lässt die Einkaufstüte sinken. Sie hat nur am Boden, dort, wo die Kugeln herausgekommen sind, ein kleines Loch. In der Tüte liegen die vielen heißen Metallhülsen.

»Abschalten, abschalten, schaltet die Rolltreppe aus, o mein Gott, so helft doch die Rolltreppe anhalten, sie werden alle zerquetscht …«

Und all so was.

Der Digger sieht hin. Weil alle hinsehen.

Aber es ist nicht leicht, in die Hölle zu blicken. Unter ihm stapelt sich ein Haufen blutiger Körper, wird immer höher, die Leiber winden sich … Manche leben noch, andere sind tot, einige versuchen verzweifelt, sich aus dem ständig wachsenden Haufen am Fuß der Rolltreppe herauszuarbeiten.

Der Digger schiebt sich vorsichtig rückwärts in die Menge. Und dann ist er verschwunden.

Er ist sehr gut im Verschwinden. »Wenn du gehst, mach es wie ein Chamäleon«, hatte der Mann gesagt, der ihm alles sagt. »Weißt du, was ein Chamäleon ist?«

»Eine Eidechse.«

»Genau.«

»Die ihre Farbe verändert. Habe ich im Fernseher gesehen.«

Der Digger auf den überfüllten Bürgersteigen. Leute rennen hin und her. Komisch.

Komisch …

Niemand bemerkt den Digger.

Der wie du und ich und eigentlich völlig unauffällig aussieht, mit einem Gesicht, weiß wie ein Morgenhimmel – oder dunkel wie der Eingang zur Hölle.

Im Gehen – langsam, langsam – denkt er an sein Motelzimmer. Wo er die Pistole nachladen, die Mineralwolle im Schalldämpfer austauschen und sich dann mit einer Flasche Wasser und einem Teller Suppe in seinen gemütlichen Stuhl setzen wird. Dort bleibt er dann bis zum Nachmittag sitzen und ruht sich aus, und dann – es sei denn, der Mann, der ihm alles sagt, lässt ihm eine Nachricht zukommen, die ihn davon abhält – zieht er wieder seinen langen schwarzen oder blauen Mantel an und geht hinaus.

Um das, was er eben getan hat, wieder zu tun.

Es ist Silvester. Und der Digger ist in der Stadt.

Während immer mehr Krankenwagen zum Dupont Circle rasten und Rettungsmannschaften sich durch den entsetzlichen Berg von Körpern in der Metro-Station gruben, spazierte Gilbert Havel ungefähr drei Kilometer entfernt in Richtung Rathaus.

An der Ecke Fourth und D Street, neben einem schlafenden Ahornbaum, blieb Havel stehen, öffnete den Briefumschlag, den er bei sich trug und las die Mitteilung ein letztes Mal durch.

Bürgermeister Kennedy –

Das Ende ist nacht. Der Digger ist los, und es gibt keine Möglichkeit, ihn zu hintern. Er wird wieder töten – um vier, 8 und Mitternacht, wenn Sie nicht zahlen.

Ich will haben $ 20 Millionen Dollars in bar, die Sie in eine Tasche legen und es drei Kilometer südlich der Rt 66 auf der West Seite des Beltway deponieren. Mitten auf dem Feld. Zahlen Sie das Geld zu mich bis 1200 Uhr. Nur ich das weiß, wie der Digger zu hintern ist. Wenn Sie mich Festnehmen, tötet er weiter. Wenn Sie mich töten, tötet er weiter.

Falls Sie mir nicht glauben: Einige der Kugeln des Diggers sind schwarz angemalt. Nur ich weiß das.

Das war, fand Havel, eine dermaßen geniale Idee, wie sie sonst keiner hätte. Monatelange Planung. Jede mögliche Reaktion der Polizei und des FBI vorausgesehen. Ein Schachspiel.

Von diesem Gedanken beschwingt, schob er die Nachricht zurück in den Umschlag, verschloss ihn, ohne ihn zuzukleben und spazierte weiter. Havel ging leicht vornübergebeugt, die Augen nach unten gerichtet, eine Haltung, die seine Körpergröße von einsfünfundachtzig kaschieren sollte. Doch es fiel ihm schwer. Eigentlich ging er viel lieber aufrecht und starrte die Leute an, bis sie wegsahen.

Die Sicherheitsvorkehrungen im Rathaus, am Judiciary Square Nummer 1, waren geradezu lächerlich. Niemand nahm Notiz von ihm, als er am Eingang des unscheinbaren steinernen Gebäudes vorbeiging und vor einem Zeitungsautomaten stehen blieb. Er schob den Umschlag unter das Gestell, drehte sich langsam um und schlenderte in Richtung E Street davon.

Ziemlich warm für Silvester, dachte Havel. Die Luft roch nach Herbst; verfaulte Blätter und feuchter Rauch. Der Geruch rief eine Reihe undeutlicher Kindheitserinnerungen in ihm wach. Bei einem Telefonapparat an der Ecke blieb er stehen, ließ ein paar Münzen hineinfallen und wählte eine Nummer.

»Rathaus. Sicherheitsdienst«, meldete sich eine Stimme.

Havel hielt ein Tonbandgerät an den Hörer und drückte auf PLAY. Eine computergenerierte Stimme sagte: »Briefumschlag direkt vor dem Gebäude. Unter dem Zeitungsständer der Washington Post. Sofort lesen. Es geht um die Metro-Morde.« Dann hängte er auf, überquerte die Straße, ließ das Bandgerät in einen Papierbecher fallen und warf den Becher in einen Abfalleimer.

Havel betrat eine Imbissstube und setzte sich in eine Nische am Fenster, von wo er einen hervorragenden Blick auf den Zeitungsautomaten und den Seiteneingang des Rathauses hatte. Er wollte sichergehen, dass der Umschlag abgeholt wurde; was auch prompt geschah, noch bevor Havel sich die Jacke ausgezogen hatte. Er wollte auch sehen, wer alles kam, um sich mit dem Bürgermeister zu beratschlagen. Und ob eventuell Reporter aufkreuzten.

Als die Bedienung an seinen Tisch kam, bestellte er Kaffee und, obwohl es immer noch Frühstückszeit war, ein Steak-Sandwich, das teuerste Gericht auf der Karte. Warum auch nicht? Bald schon würde er ein sehr reicher Mann sein.