Ausgewählt von der F.A.Z.-Redaktion
F.A.Z.-eBook 14
Frankfurter Allgemeine Archiv
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta
Redaktion und Gestaltung: Birgitta Fella, Hans Peter Trötscher
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2013 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelfoto: © patrick.loedel / Photocase
ISBN: 978-3-89843-255-9
Zusammengestellt von Dietmar Dath, Andreas Kilb, Peter Körte und Verena Lueken
Wie man klassisch erzählt: In Nuri Bilge Ceylans »Once Upon a Time in Anatolia« verfolgt die Kamera den Weg eines Apfels, der einen Hang hinunter in einen Bach rollt, bis er irgendwo im Wasser hängen bleibt.
»The Artist« knüpft mit seinem teilweise überschäumenden Tempo (und auch dem Hündchen Uggie) sehr geschickt an die Traditionslinie des Slapsticks der Zwanziger Jahre an, ohne die spezifisch melodramatische Stimmung jener Kinoepoche zu vernachlässigen.
»Dame, König, As, Spion« von Tomas Alfredson – nicht nur, weil der Weihnachtsmann eine Lenin-Maske trägt und die britischen Spione die sowjetische Nationalhymne so inbrünstig singen.
Wie Ben Kingsley in der Rolle von Georges Méliès in Martin Scorseses »Hugo Cabret« ein Krabbenballett inszeniert.
In ein Werk, das keine Hoffnung kannte, tritt eine Frau, zur Liebe fähig: Cécile de France spielt die Friseuse, die Cyril (Thomas Doret) in »Der Junge mit dem Fahrrad« von den Brüdern Dardenne auffängt – fast ein Neuanfang für die Dardennes, die Seriensieger von Cannes.
Wie Carey Mulligan in Steve McQueens »Shame« in einer Bar so langsam, so zögernd »New York, New York« singt, dass man fürchten muss, sie löse sich noch vor Ende des Lieds einfach auf.
»Barbara« von Christian Petzold – bestimmt nicht nur, weil es etwas sehr Meditatives hat, Nina Hoss beim Radfahren zuzusehen.
Wie der Alte und seine Tochter in Béla Tarrs »Turiner Pferd« heiße Kartoffeln mit den Fingern essen, so dass man beim bloßen Zusehen die Hitze spürt.
Wie die beiden Mädels in Athina Rachel Tsangaris »Attenberg«, gespielt von Ariane Labed und Evangelia Randou, weit die Münder aufreißen, um einen Zungenkuss zu üben.
Wie in Wes Andersons »Moonrise Kingdom« die Liebesgeschichte beginnt, als der Pfadfinder Sam in die Umkleidekabine einer Schultheateraufführung kommt, sich sechs Mädchen im Vogelkostüm zu ihm umdrehen und er mit ausgestrecktem Arm auf Suzy zeigt: »What kind of bird are you?«
Wie Juliette Binoche in David Cronenbergs »Cosmopolis« erklärt, dass die Mark-Rothko-Kapelle in Texas unverkäuflich ist.
»Holy Motors« von Leos Carax – auch weil hier die Limousinen sprechen und der multiple Held meist schweigt.
Wie sich Corinna Harfouch in Hans-Christian Schmids »Was bleibt« durch die Räume einer westdeutschen Verlegervilla bewegt, als ginge sie durch Glas.
»Liebe« von Michael Haneke – vor allem, weil der Film uns einer Erfahrung aussetzt und mit einem Thema oder Erläuterungen verschont.
Wie Rachel Weisz in »The Deep Blue Sea« von Terence Davies einen Vorhang zuzieht, als ihre Liebe unerwidert bleibt, als wollte sie sagen: »Schluss mit dem Theater!«
Wie Daniel Craig als James Bond in »Skyfall« von Sam Mendes auf die Frage »Was wissen Sie von der Angst?« antwortet: »All there is.«
Wenn sich in Ursula Meiers »Winterdieb« Simon (Kacey Mottet Klein) zu seiner Mutter (Léa Seydoux) ins Bett legen will, abgewiesen wird, ihr Geld bietet und dann das Feilschen um den Preis beginnt, zeigen sich Meisterschaft, Gefühl und Verstand.
Wie Hushpuppy (Quvenzhané Wallis) in Benh Zeitlins »Beasts of the Southern Wild« in den Armen einer Frau, die möglicherweise ihre Mutter ist, in einen Blues gewiegt wird.
In »Cäsar muss sterben« wird die Ermordung Cäsars geprobt, bei der die Laiendarsteller, allesamt Gefängnisinsassen, nach einem Augenblick des Zögerns, mit einer Inbrunst zustechen, die etwas Gelassenes hat und gerade deshalb durch Mark und Bein geht.
Das unvergessliche Bild des Films »Der Geschmack von Rost und Knochen« ist ein Mann, der mit bloßen Fäusten auf eine Eisfläche trommelt. Darunter, im Wasser, treibt sein Kind. Der Mann hat eine Ausbildung als Profiboxer begonnen, er weiß, dass er sich die Fingerknochen brechen und seine Karriere ruinieren wird, aber er schlägt trotzdem weiter. Bis das Eis zerbricht.
Von Andreas Kilb
Eben darin – dass man es noch besser, eleganter, spektakulärer machen kann – liegt die Geschäftsgrundlage des Remakes. Selbst Meisterwerke der Filmgeschichte wie Billy Wilders »Sabrina« oder Tarkowskis »Solaris« haben ihre Nachahmer gefunden. Dass es dennoch im zweiten Anlauf meistens schiefgeht, hat mit der Psychologie der Wiederholung zu tun. Das Remake schielt mit einem Auge auf die Geschichte und mit dem anderen auf ihre erste, ursprüngliche Umsetzung. Es ist eine unfreie Form des Kinos, ein Sprechen mit gelähmter Zunge. Die Einfälle, mit denen es sein Vorbild zu überbieten sucht, wirken oft verkrampft und überdreht, während jene Szenen – im Regelfall die Mehrzahl –, die sich auf bereits gebahnten Pfaden bewegen, unvermeidlich die Frage nach dem Sinn der ganzen Übung provozieren. Muss man das alles wirklich noch einmal sehen?
Im Fall von »Verblendung« muss man es. Denn Fincher hat sich auf das tote Rennen zwischen Original und Variation, das für den Nachzügler nicht zu gewinnen ist, gar nicht erst eingelassen: Er hat seinen Film von Anfang an als Übermalung angelegt. Schon die ersten Einstellungen zeigen, wohin die Reise geht. Ein Greis, der Großindustrielle Vanger (Christopher Plummer), packt das in einem Paket ohne Absender geschickte Blumenbild aus, das er jedes Jahr an seinem Geburtstag zur Erinnerung an seine spurlos verschwundene Nichte empfängt; der Journalist Mikael Blomkvist (Daniel Craig), Herausgeber des Enthüllungsmagazins »Millennium«, wird von einem Stockholmer Gericht wegen Verleumdung eines zwielichtigen Unternehmers verurteilt; und die junge Hackerin Lisbeth Salander (Rooney Mara) informiert Vanger und seinen Anwalt über die Ergebnisse der Recherche zu Blomkvists Privatleben, mit der sie beauftragt war. Alles ist genau so, wie es im Buch steht und auch in Oplevs Verfilmung von 2009 zu sehen war.
Und doch ist alles ganz anders: in Ton, Licht, Tempo, Rhythmus. Worauf es Fincher mit seiner Version der Geschichte abgesehen hat, deutet der von der Animationsfirma Blur Studio produzierte Vorspann an, der ein Kunstwerk ganz eigener Art ist. Silbrig glänzende Öl- und matt schimmernde Wassertropfen perlen zu den pulsierenden Gitarrenriffs eines alten Led-Zeppelin-Songs über schwarzgetönte Gesichter, Hände, Blüten und Karosserien; dann flammt als greller Farbtupfer in dem finsteren Herbarium ein Streichholz auf, aber die Flüssigkeit löscht den Brand, und so strömen und gleiten die Bilder ruhelos weiter, bis ihre kalte Pracht erlischt. Es ist ein faszinierendes Gegenstück zu den bekannten James-Bond-Vorspannen, in denen Silhouetten von Waffen und nackten Frauen durch knallbunte Feuerwelten schweben; und es gibt zugleich den Ton vor, auf den Finchers Film gestimmt ist.
Denn dieser Regisseur will nicht durch Kitsch und Terror überwältigen, sondern durch Eleganz. Seit seinem Debüt mit »Alien 3«, in dem er den Science-Fiction-Schocker zu einem außerirdischen Klosterdrama herunterkühlte, herrscht in Finchers Kino die Diktatur des Stils. Die Mischung aus Klarheit und Understatement, mit der er selbst die explosivsten Momente der Handlung in Szene setzt, lässt in schwächeren Filmen wie in »Der seltsame Fall des Benjamin Button« die Geschichten zu Wachsfigurenkabinetten erstarren; in stärkeren bringt es ihre inneren Energien erst richtig zum Vorschein.
So wie hier. Stieg Larssons Romantriptychon, dessen Fortschreibung der frühe Tod des Autors im Jahr 2004 verhinderte, ist ja neben seinen Krimiaspekten auch eine Wunschphantasie über das Weiterleben der Zeitung im digitalen Zeitalter. Blomkvist, der Erbe einer untergehenden Pressekultur, trifft auf Lisbeth, die androgyne Göttin des Internets, und macht sie zu seiner Komplizin. In ihrer gemeinsamen Suche nach Vangers Nichte reichen sich die Generation der Blogger und Twitterer und die der Printschreiber die Hände im Namen der Wahrheitsfindung. Larsson hat an dieses symbolische Paar geglaubt, sonst hätte er sein Alter Ego Blomkvist, dessen Charakter im Lauf der Trilogie immer blasser wird, nicht stets von neuem mit der eigentlichen Heldin Lisbeth zusammengebracht.
Und auch Fincher glaubt daran. Von den gut zweieinhalb Stunden seines Films spielt ein Drittel in Bibliotheken, Archiven, Redaktionen, an Schreibtischen und Aktenregalen. Neben vielen gelungenen Details, den vertrackten Raumfluchten des Vangerschen Anwesens auf einer Privatinsel, den erlesenen Sepiafarben der Rückblenden in die sechziger Jahre, der skizzenhaften Brutalität der Vergewaltigungs- und Racheszenen zwischen Lisbeth und ihrem sadistischen Vormund Bjurman, ist das vielleicht der schönste Zug dieser Verfilmung: dass sie die klassische Recherche noch einmal ins hellste Licht rückt, dass sie von Leuten erzählt, deren Erfolgserlebnis darin liegt, in einem alten Firmenordner den Namen eines Subunternehmers zu entdecken.
Die Bilder, die Lisbeth und Blomkvist in Archiven und alten Fotoalben entdecken und einscannen, fließen wie entfesselt über die Leinwand, als hätte die digitale Verwandlung sie erst richtig zum Leben erweckt. Dennoch findet der eigentliche Showdown wieder im Reich der realen Materie statt, der Folterkeller, Jagdgewehre und Motorräder, und hier darf der Funke, der im Vorspann nicht gezündet hat, dann auch endlich seine Wirkung tun. Dass Fincher, um die Verbundenheit zwischen seinen beiden Helden zu unterstreichen, sie etwas zu oft miteinander ins Bett schickt, lässt sich verschmerzen: Es tut der Geschichte nicht weh.
Dies alles hat es, mit leichten Nuancen, auch in Oplevs Adaption gegeben. Aber bei Fincher sieht es dennoch immer eine Spur raffinierter aus. Dass Daniel Craig seinen Rotwein wie jener Bond-Typus in sich hineinschüttet, der er hier gerade nicht ist, und Finchers Entdeckung Rooney Mara oft eine Spur zu weich für ihre Figur ist, spielt dabei keine große Rolle, und auch das Budget ist nicht der alleinige Grund für den Unterschied zwischen beiden Filmen. Entscheidend ist, dass der eine Regisseur einen Fernseh-Zweiteiler drehte, den er vor der Ausstrahlung zu einem Spielfilm zusammenschnitt, und der andere einen Kinofilm und nichts anderes. Und dass der eine die Kräfte einer mittelständischen Branche hinter sich versammeln konnte und der andere die Erfahrungen einer weltweiten Industrie. Darin besteht, knapp gesagt, der Unterschied zwischen Europa und Hollywood. »Verblendung« ist dafür ein Lehrstück.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11.01.2012
Der Trailer zum Film: http://www.youtube.com/watch?v=oG9uJ0uZzow
Auf DVD und Blu-ray: http://www.sphe.de/movie/2457/verblendung
Von Andreas Kilb
Eine andere, ungeteerte Straße in der Abenddämmerung. Drei Wagen mit eingeschalteten Scheinwerfern nähern sich, eine Handvoll Männer steigt aus und starrt ins Dunkel. »Ist das die Stelle?« – »Kann sein. Da war ein Brunnen. Ich bin nicht sicher.« Zwei der Männer tragen Handschellen, ein anderer eine Polizeiuniform. Sie sehen sich um, zucken die Achseln, kehren zu den Wagen zurück und fahren weiter durch die Nacht.
Ein verborgener Weg führt von der einen zur anderen Szene. Aber Nuri Bilge Ceylans Film »Once upon a Time in Anatolia« geht ihn vorerst nicht. Dieser Regisseur, ein Türke von Geburt, ein Zeitgenosse von Tarkowski, Antonioni, Bresson und Angelopoulos durch sein Werk, lässt die Verbindungen zwischen seinen Geschichten gern offen, bis sie sich von selbst im Kopf des Zuschauers schließen. Dass der Mann mit dem Hund in der ersten Einstellung das Mordopfer ist, nach dem in der zweiten Einstellung gesucht wird, interessiert ihn weniger als die erzählerischen Möglichkeiten, die sich auf der nächtlichen Fahrt durch die leere, vom Wind zerzauste Landschaft ergeben. Ein Untersuchungsrichter, ein Arzt, drei Polizisten und die beiden Tatverdächtigen sind da unterwegs, dazu ihre Fahrer – ein verlorener Konvoi, eine Männergesellschaft im Kleinen, in der sich die Welt draußen vor den Autofenstern, das Leben der Städte und des weiten Landes spiegelt.
Einmal stehen der Arzt und der Richter an einem Hügel, und der Richter erzählt von der Frau eines Freundes, die während ihrer Schwangerschaft auf den Tag genau ihren Tod voraussagte. Sie war wunderschön, sagt er, und sie starb ohne Grund; und erst viel später werden wir erfahren, dass sie die Frau des Untersuchungsrichters selbst war und dass sie sehr wohl einen Grund hatte, sterben zu wollen. Dazu sieht man, wie ein Apfel vom Baum fällt, den Hang hinabkullert, in einem Bach landet und mit dem Wasser davontreibt, bis er an einer Stelle hängen bleibt, an der sich schon anderes Fallobst staut. So geht es auch der Geschichte dieses Films, sie rollt über offenes Terrain, schlägt Haken, hält inne, lässt sich scheinbar willenlos treiben und folgt dabei doch konsequent ihrer inneren Schwerkraft, bis sie schließlich einen Ort erreicht, an dem man unverhofft in eine abgründige Tiefe blickt.
Es dauert eine Weile, bis man erkennt, dass der Arzt Cemal die Hauptfigur der Handlung ist. Man merkt es vor allem an der Art, wie er in die Kamera schaut, prüfend, als blickte er in einen Spiegel. Cemal ist der Bruder der landflüchtigen, heimwehkranken Intellektuellen aus »Uzak«, »Jahreszeiten« und anderen Filmen, mit denen Nuri Bilge Ceylan die Türkei auf die Landkarte des Weltkinos gesetzt hat, und doch für Ceylan eine ganz neue Figur. Schon der Filmtitel deutet an, dass es diesmal um Dinge geht, die sich nicht einfach wiedergutmachen lassen, um archaische Schicksale und die ihnen entsprechenden Landschaften. Und so, wie die anatolische Steppe mit ihren kahlen Hügeln und Geröllpisten ein Bild des Unwiederbringlichen ist, malt sich in Cemals Zügen die Geschichte eines vom Leben Gezeichneten, der sich in die Provinz zurückgezogen hat wie ein krankes Tier in sein Nest. Am Ende fragt man sich, wer in diesem Film schlimmer dran ist, der Mörder, der ins Gefängnis kommt, oder die anderen, die draußen in der Freiheit bleiben müssen.
In der Nacht macht der Konvoi in einem Dorf Rast. Der Mukhtar beklagt sich bei seinen Gästen über den Zustand des Friedhofs, der verfällt, weil die Jungen das Dorf verlassen und nur noch zum Begräbnis ihrer Angehörigen zurückkehren. Dann fällt der Strom aus. Die Tochter des Mukhtars bringt ein Windlicht und Tee. Sie ist eine engelhafte Schönheit, und Ceylan nimmt sich die Zeit, jeden einzelnen der Männer dabei zu beobachten, wie er in ihr Gesicht blickt, staunend, sehnsüchtig, zärtlich, verzweifelt, während er den Tee vom Tablett nimmt. Für diese Augenblicke muss man Ceylans Filme lieben: die Momente, in denen sich die Erzählung von ihrem Anlass löst und zur Expedition in eine Seelenlandschaft wird, in die nur die Größten des Kinos bisher vorgedrungen sind.
Am Morgen wird das Mordopfer gefunden und in die nahe Kreisstadt gebracht. Dort offenbart sich, was sich auf der Fahrt bereits angedeutet hat: Der Täter hat mit der Frau des Ermordeten ein Kind; die Gaffer auf dem Hauptplatz wollen ihn lynchen, sein Sohn wirft selbst den ersten Stein. Der Arzt aber hat in der Frau die Spuren eines verlorenen Glücks wiedererkannt. Um ihrem Geliebten die Höchststrafe zu ersparen, wird er bei der Autopsie lügen und sich so noch tiefer an die Provinz ketten. In einem Fernsehkrimi wäre das alles eine Sache von Minuten; hier aber hat es einen sachten, schwebenden Gang, wie Bilder in einem Traum.
Einmal, noch in der Nacht, sieht man den Arzt an der Straße stehen und in die Dunkelheit starren. Ein Zug fährt als lichtes Band am Horizont. »Später können Sie sagen: Es war einmal in Anatolien, in einer Nacht wie dieser . . .«, sagt ein Fahrer, der Cemal trösten will. So möchte man von diesem Film erzählen: als hätte man ihn erlebt.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20.01.2012
Der Trailer zum Film: http://www.kinostar.com/Verleih/filme/1350_OnceUponATime/trailer.htm
Auf DVD: http://www.kinostar.com/Verleih/DVD1.htm#P_OnceUponaTim14%20...
© Kinostar Filmverleih GmbH
Von Andreas Kilb
So muss man sich die Art vorstellen, wie sich »The Artist« dem Stummfilmkino nähert: mit Verehrung – und mit einem Augenzwinkern. Das eine wäre bloß museal, das andere nur ein Spaß; beides zusammen ist unwiderstehlich. Es gibt Filme, nach denen die Welt in ein anderes Licht, in kräftigere Farben getaucht ist; dieser gehört dazu. Und das, obwohl – nein, gerade weil – er schwarzweiß ist.
Es beginnt mit einer Szene aus einem Agentenfilm. Der Held wird mit Elektroschocks gefoltert, sein Quälgeist (oder besser: ein eingeblendeter Zwischentitel) fordert: »Sprich!«, doch der Mann bleibt stumm. Dann ist der Film aus, wir sind in einem prächtigen Kinosaal, in dem George Valentin (Jean Dujardin), der Stargast der Premiere, mit seinem Hund Slapstick-Späße macht – aber nach wie vor hört man nur die Musik, die die Bilder begleitet, nicht den Applaus des Publikums, das Kläffen des Hundes, die Schritte auf der Bühne. In diesen zwei Minuten spult »The Artist« die Kinogeschichte um achtzig Jahre zurück. Zuerst sehen wir nur einem Stummfilm zu. Dann, als sich der Vorhang schließt, sitzen wir mitten darin.
Seit den Anfängen des Tons im Kino gibt es unter Filmleuten eine Sehnsucht nach der Rückkehr ins Reich der schweigenden Bilder. Billy Wilder hat ihr mit »Sunset Boulevard« eins seiner Meisterwerke gewidmet, Chaplin huldigte ihr im »Großen Diktator«, und auch bei Hitchcock, der noch mit Stummfilmen angefangen hat, blitzt sie immer wieder auf – man denke nur an die »stumme« Mordszene in »Psycho«. Viele unvergessliche Bilder bei Kubrick (das tanzende Raumschiff!), Tarkowski, Kurosawa sind geräuschlos, nur mit Musik unterlegt; und auch Martin Scorseses neuer Film »Hugo Cabret«, eine Hommage an den Kinopionier Georges Méliès, spielt mit dem Reiz des Stummfilms (und seiner Überhöhung in 3D).
Aber alle diese Filme sprechen von etwas Unwiederbringlichem. Kein Regievirtuose bringt es mehr zurück. Und genau darin, dass er diese Wahrheit bestreitet, liegt der Knalleffekt von »The Artist«. Man mag sich kaum vorstellen, was passiert ist, als Michel Hazanavicius, der Regisseur, sein Projekt zum ersten Mal einem Produzenten vorgestellt hat: Lasst uns einen Stummfilm drehen! Dazu noch einen, der vom Untergang des Stummfilms handelt! In Amerika und England soll es Leute gegeben haben, die nach den ersten Minuten des Films an die Kinokasse gelaufen sind, um ihr Eintrittsgeld zurückzufordern. Sie haben sich ihren Fortschrittsglauben bewahrt – und damit gerade das verpasst, was das Kino seinen Zuschauern trotz aller technischen Feinheiten immer seltener gewährt: Verzauberung und Entfesselung, Rührung und Entzücken, den Glanz und die Tiefe der Illusion. In »The Artist« ist das alles wieder da.
Vor dem Kino, in dem sein Film »A Russian Affair« Premiere hatte – der nächste wird »A German Affair« heißen –, fällt dem Stummfilmstar George Valentin ein weiblicher Fan vor die Füße: Peppy Miller, ein Fräulein mit Tänzerinnenbeinen und frischem Gesicht, das von den Pressefotografen sogleich abgelichtet wird. Im Filmstudio »Kinograph«, wo Peppy (Bérénice Bejo) sich als Statistin bewirbt, trifft er sie wieder und verschafft ihr eine kleine Rolle; sie bedankt sich mit einem Solo in seiner Garderobe, bei dem sie dem Frack ihres Idols heimlich jene Gefühle offenbart, die sie seinem verheirateten Träger nicht zu gestehen vermag. Und in Valentins Garderobe spielt auch jene Szene, die zum ersten Mal den Abgrund aufreißt, über dem diese Geschichte tanzt.
Denn auf einmal gehen dem in seiner stummen Welt eingeschlossenen George die Ohren über. Er hört das Glas auf seinem Schminktisch klirren. Er hört seinen Hund bellen. Er hört das Rauschen des Windes. Schritte klackern über das Pflaster, dazu Frauenstimmen. Eine Feder fällt mit dumpfem Knall zu Boden. George aber kann sich nicht wehren gegen den Lärm, er öffnet den Mund, um zu schreien, doch es kommt kein Laut. Da endlich wacht er schweißgebadet auf: Er liegt im Bett, es war nur ein Albtraum.
Mit der Traumsequenz, die ein filmisches Kunststück ganz eigener Art ist (Verbeugungen vor Murnau und Buñuel eingeschlossen), nimmt der Film die Kurve zum Melodram. Von nun an, es ist 1929, läuft die Uhr gegen das Stummfilmkino; und während der verstockte George sein gesamtes Geld in ein geräuschfreies Regieprojekt steckt und Schiffbruch erleidet, wird die skrupellos plappernde Peppy zum neuen Stern von Hollywood (dessen Schriftzug hier historisch korrekt »Hollywoodland« lautet).
Der Aufstieg des einen und der Niedergang des anderen Stars bringen die beiden dennoch immer wieder zusammen, bis der lebensmüde Beau sich als Rekonvaleszent in Peppys Villa wiederfindet – die Originalaufnahmen entstanden auf dem Anwesen von Mary Pickford in Los Angeles –, wo auch sein Fahrer und sein zwangsversteigertes Mobiliar ein zweites Zuhause gefunden haben. Die Szene, in der George seine unter weißen Tüchern verborgenen Tische und Gemälde entdeckt, ist der zweite unsterbliche Augenblick in »The Artist«, denn sie erzählt durch den Schleier des Geschehens hindurch eine wahre Geschichte des Stummfilms: wie seine Formen und Gestalten in den Fundus des Tonkinos übergingen; und wie das Leben in ihnen unter der musealen Decke allmählich erlosch.
Peppy und George aber bekommen ihr Happy End. Der Ausschnitt aus Bernard Herrmanns Filmmusik zu Hitchcocks »Vertigo«, der sie dorthin begleitet, ist in diesem Reigen der offenen und versteckten Zitate womöglich einen Tick zu lang (Kim Novak, Hitchcocks Hauptdarstellerin, hat sich im Branchenblatt »Variety« über die »Vergewaltigung« durch Hazanavicius beschwert), doch zum Schluss stimmt dann wieder alles. Bevor die Helden einander in die Arme fallen, macht der Geist der Zwischentitel einen letzten, zugleich seinen besten Witz (»Peng!«); und auf den Befehl des Bösewichts vom Anfang – »Sprich!« – gibt jetzt Jean Dujardins Stimme die erlösende Antwort: »With pleasure«. Er sagt es mit französischem Akzent.
Vielleicht muss man wirklich ein 1967 geborener, als Gagschreiber und Fernsehregisseur erprobter Franzose sein, um eine derart hinreißende Liebeserklärung an das klassische Hollywood hinzukriegen. Inzwischen hat »The Artist«, nach dem Darstellerpreis in Cannes, auch noch drei Golden Globes gewonnen und gilt als Favorit für die Oscars. Für Michel Hazanavicius, der sich in seiner Heimat mit den James-Bond-Persiflagen der »OSS 117«-Serie einen Namen gemacht hat, öffnen sich damit in Amerika alle Türen. Aber einen Boom von Stummfilm-Hommagen wird »The Artist« nicht auslösen. Er bleibt ein Solitär. Das stumme Bild ist die Kindheit des Kinos, und über die Komödienklassiker des Vorabendprogramm strahlt es weit in unsere Kindheit hinein. Aber es kehrt nicht zurück. Nur manchmal, wie in diesem Film, kommen wir ihm ganz nah.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25.01.2012
Der Trailer zum Film: http://theartist-derfilm.de
Auf DVD und Blu-ray: http://dcmworld.com/distribution/?p=683
Von Peter Körte
Wenn dann, nach mehr als zwei Stunden, der Maulwurf enttarnt ist, wenn die hermetische Welt des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 wieder im Gleichgewicht zu sein scheint, wenn das Puzzle, welches der Film ausgelegt hat, um das komplette Bild erst mit dem letzten Stein sichtbar werden zu lassen, vor einem liegt – wenn also der Kalte Krieg ganz einfach weitergeht, dann bleibt von dieser labyrinthischen Verschwörungsgeschichte vor allem ein kleiner Moment, der mehr über Agenten und Doppelagenten erzählt als alle aufgelösten Rätsel.
Es ist nur eine Weihnachtsfeier im »Circus«, wie John Le Carré den MI6 genannt hat, die grün-roten Girlanden der Dekoration sorgen für die kräftigsten Farben während des ganzen Films, und auf einmal betritt der Weihnachtsmann die Bühne. Er trägt eine Lenin-Maske, und sobald er die sowjetische Nationalhymne anstimmt, fällt die ganze Auslandsabteilung mit einer Inbrunst ein, die nicht geheuchelt ist. Den Originaltext können sie alle mindestens so gut mitsingen wie die Zeilen von »God Save the Queen«, und das ist, ganz ohne Freud, keine Identifikation mit dem Aggressor, sondern die Bestätigung einer internationalen, um nicht zu sagen: internationalistischen Bruderschaft der Spione, die ihrem jeweiligen Feind so tief verbunden sind, weil er die Bedingungen ihrer Existenz garantiert.
Nur einer mag dabei nicht mitsingen, mag sich auch nicht über zu wenig Gin in der Bowle beschweren oder sich dem allgemeinen Schulterklopfen anschließen. Er wirkt wie der sauertöpfische Buchhalter, der nur dabei ist, weil es für solche Betriebsfeste eine unausgesprochene Teilnahmepflicht gibt. Und er muss auch, ohne eine Miene zu verziehen, mit ansehen, wie seine Frau ihn mit einem Kollegen betrügt. Dieser einsame Mann heißt George Smiley, und der Schriftsteller John Le Carré hat ihn durch seine Bücher zur wohl bekanntesten Agentenfigur neben Ian Flemings James Bond gemacht, von welchem ihn dann allerdings weit mehr trennt, als Ost und West im Kalten Krieg. Ein hyperkorrekt gekleideter Mann, der nie lächelt, dessen tiefe Falten im Gesicht Bitterkeit verraten; ein Mann, der eine viel zu große Brille trägt und auf den ersten Blick niemandem auffällt. Der Mastermind als freudloser Angestellter.
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Auf DVD und Blu-ray: http://www.damekoenigasspion.de/main/paralax.htm#door
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