Supernerds
Gespräche mit Helden
Herausgegeben von Angela Richter
Unter Mitarbeit von Julian Pörksen
Mit Zeichnungen von Daniel Richter
Mit freundlicher Unterstützung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.
Dieses Buch entstand im Rahmen der Produktion Supernerds – Ein Überwachungsabend von Schauspiel Köln, gebrueder beetz filmproduktion und WDR.
© by Alexander Verlag Berlin 2015
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, 14050 Berlin
www.alexander-verlag.com, info@alexander-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion/Lektorat: Julian Pörksen, Christin Heinrichs-Lauer, Florian Marker
Satz, Layout: Antje Wewerka
ISBN 978-3-89581-387-0 (eBook)
Angela Richter, geb. 1970, ist seit der Spielzeit 2013/14 Hausregisseurin am Schauspiel Köln. Ihre Arbeiten bewegen sich stets im Grenzbereich von Theater, Performance und journalistischer Recherche. 2006 gründete sie in Hamburg das Fleetstreet Theater, das sie bis 2010 leitete. Schon länger setzt sie sich künstlerisch mit dem Phänomen der Netzaktivisten auseinander. Sie lebt in Berlin und Köln.
Daniel Richter, geb. 1962, ist einer der bekanntesten zeitgenössischen deutschen Maler. Er lehrt seit 2006 an der Akademie der bildenden Künste Wien und lebt in Berlin.
Für David
»Der Dritte Weltkrieg wird ein Guerilla-
Informationskrieg sein, ohne Trennung zwischen
Militärs und Zivilisten.«
Marshall McLuhan
»In einem Staat, der seine Bürger unrechtmäßig
einsperrt, ist das Gefängnis der einzig wahre Ort für
einen gerechten Mann.«
Henry David Thoreau
»Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht
Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.«
Gilles Deleuze
INHALT
You cannot arrest an idea
Vorwort von Angela Richter
Du und ich, Kassandra
Daniel Ellsberg
Die Religion der Nationalen Sicherheit
Julian Assange
Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel
Jesselyn Radack
Eine moderne Variante des Sturms auf die Bastille
Jeremy Hammond
Just do it
Thomas Drake
Wir können diese Versager aus Washington rauswerfen
William Binney
The day irony died
Barrett Brown
Die Lektion des 11. September besteht darin,
KEINE Angst vor Terroristen zu haben
Edward Snowden
Glossar
Personenverzeichnis
Danksagung
You cannot arrest an idea
@atopiary
Ah, I’m sick to death of hearing things
From uptight, short-sighted, narrow-minded hypocrites
All I want is the truth
Just gimme some truth
I’ve had enough of reading things
By neurotic, psychotic, pig-headed politicians
All I want is the truth
Just gimme some truth
John Lennon
Ich habe Julian Assange Anfang Juli 2011 kennengelernt, bei einem Mittagessen mit Slavoj Žižek, das ich auf Ebay ersteigert hatte. Bei der Gelegenheit erzählte ich Assange von meinem Vorhaben, ein Stück über WikiLeaks zu machen, das auf Interviews mit ihm beruhen sollte.
Ich hatte wenig Hoffnung, dass er mitmachen würde, Assange hatte damals weiß Gott andere Probleme: Er stand unter Hausarrest und wurde mithilfe einer elektronischen Fußfessel überwacht. Durch seine Veröffentlichungen auf WikiLeaks hatte er sich mit der Weltmacht USA angelegt – und sie gründlich blamiert. Wie wir heute aus dem Stratfor Leak wissen, tagte in den USA zu diesem Zeitpunkt eine geheime Grand Jury über seinem Fall und bereitete eine versiegelte Anklageschrift vor. Außerdem drohte ihm die Auslieferung nach Schweden. Dort sollte er zu Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfen zweier Frauen befragt werden, die mit ihm geschlafen hatten. Es ging bei diesem bis heute andauernden Fall maßgeblich um die Benutzung von Kondomen. Trotz allem kam es im März 2012 überraschend zu unserem ersten Treffen im Soho House in London. Es dauerte mehrere Stunden, in denen Assange vor allem mich ausfragte. Ich war nervös und hatte nicht den Eindruck, eine gute Figur zu machen. Als wir uns schließlich verabschiedeten, meinte er ganz lapidar, dass ich ihn überzeugt hätte, und sagte mir zu. Von seinem Mitarbeiter Joseph Farrell wurde mir anschließend mitgeteilt, dass ich mich bereithalten solle, das nächste Treffen würde sehr kurzfristig anberaumt werden.
In den kommenden Wochen und Monaten wartete ich auf eine Nachricht aus London. In dieser Zeit vertiefte ich mein Wissen und verbrachte viel Zeit auf Twitter, wo ich nicht nur WikiLeaks folgte, sondern auch Mitgliedern von Anonymous und der genialischen Hackergruppe Lulzsec. Ich dachte Tag und Nacht an nichts anderes mehr und redete auch über nichts anderes mehr, sehr zum Leidwesen meiner Mitmenschen. Je mehr ich erfuhr, desto mehr neue Fragen taten sich auf, ich entwickelte eine regelrechte Besessenheit für das Thema und verlor mich völlig in den Weiten des Internets.
Da ich wochenlang nichts mehr von WikiLeaks gehört hatte, zweifelte ich mittlerweile an dem ganzen Unterfangen. Mitte Juni wagte ich mich schließlich auf eine lang geplante Reise nach Key West, um dort mit Delfinen in freier Wildbahn zu schwimmen. Kaum war ich da, erreichte mich die Nachricht von WikiLeaks, dass ich sofort nach London kommen soll. Assange hatte den letzten Prozess in Großbritannien verloren und sollte innerhalb von zwei Wochen nach Schweden ausgeliefert werden. Im Haus der Baroness Helena Kennedy sollte am Sonntag, dem 17. Juni 2012 eine Cocktailparty für Assange stattfinden, zu der Freunde und potentielle Unterstützer geladen waren. Am Dienstag darauf sollten Chris Kondek, der das Gespräch filmen sollte, und ich ihn in seinem Versteck in Kent treffen – das Interview schien in greifbarer Nähe. Ich verließ die Delfine und buchte den nächsten Flug nach London.
Vom Flughafen aus eilte ich direkt zu der Party, kam ungeduscht und gejetlagged dort an und stellte zu meiner großen Überraschung fest, dass ein großer Teil der Assange-Unterstützer Intellektuelle und Künstler waren sowie einige Repräsentanten des britischen Establishments mit einem Herz für Freigeister. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass so etwas in Deutschland undenkbar wäre. Die Gastgeberin selbst, Baroness Helena Kennedy, eine Anwältin und Mitglied im House of Lords, hatte Assange unterstützt und rechtlich beraten.
Es waren um die zwei Dutzend Leute da, neben seinen Unterstützern einige seiner Anwälte, das WikiLeaks-Team, die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, die Menschenrechtsanwältin Jennifer Robinson und die Aktivisten Peter Tatchell und Victoria Brittain. Es war ein heißer Sommertag, im Garten der Villa wurden kühle Getränke gereicht und schließlich hielt Assange eine kleine Ansprache, in der er allen für die unermüdliche Unterstützung dankte. Er wirkte dabei seltsam verlegen und linkisch, es schien ihm unangenehm zu sein, über seine anstehende Reise nach Schweden zu sprechen. Als wir uns später unterhielten und auf das Interview zu sprechen kamen, sagte er mir, dass er mir keine eindeutige Zusage für das Treffen am Dienstag geben könne. Ich war sofort alarmiert und fragte ihn nach den Gründen, bekam aber nur eine ausweichende, kryptische Antwort, er murmelte irgendetwas von »politischen Gründen«. Um mich abzulenken, stellte er mich dem Ehemann der Gastgeberin, Professor Ian Hutchinson, vor, einem renommierten plastischen Chirurgen. Assange wusste, dass ich an einem Stück über Schönheitschirurgie arbeitete. Monate später sollte sich diese Bekanntschaft als großer Gewinn für meine Arbeit erweisen.
Nachdem ich mich von Assange verabschiedet hatte, fragte ich seinen Mitarbeiter Joseph Farrell, ob das Treffen ernsthaft gefährdet sei. Joseph versicherte mir, dass das Interview auf jeden Fall stattfinden würde, Julian hätte einfach keine Ahnung von seinen Terminen. Ich solle mir keine Sorgen machen.
Am Dienstag traf ich mich schließlich mit Joseph und Chris an einem Bahnhof im Zentrum von London. Beladen mit schwerem Kameraequipment, nahmen wir den Regionalzug Richtung Kent. In Kent stiegen wir in ein Taxi. Das Taxi hielt lange bevor wir das Versteck erreicht hatten. Joseph wollte kein Risiko eingehen, wie er uns erklärte. Über etliche Umwege führte er uns zu der Adresse. Langsam wurden Chris und ich leicht paranoid. Wir fühlten uns wie in einem Spionagefilm, nur weniger glamourös. Es war ein ziemlich langer Fußmarsch und eine anstrengende Schlepperei bei schwülem Wetter. Als wir endlich das Haus betraten, erkannte ich im Erdgeschoss sofort die Räumlichkeiten wieder, in denen Assanges Talkshow »The World Tomorrow« gedreht worden war. Wir trafen auf Mitglieder von WikiLeaks, darunter auch Laura Poitras. Es herrschte eine angespannte Stimmung. Assange ließ sich nicht blicken. Wir wurden langsam ungeduldig.
Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Es wurde uns mitgeteilt, es gäbe Hinweise darauf, dass sein Versteck aufgeflogen sei, Assange müsse dringend in Sicherheit gebracht werden. Hektik brach aus. Mit gefärbten Haaren, einem angeklebten Bart und einem Stein im Schuh, um seinen Gang zu verfremden, verließ Assange das Haus, stieg in ein Auto und fuhr davon, ohne dass wir etwas davon mitbekamen. Wenige Stunden später erfuhren wir über die Presse, dass er die Ecuadorianische Botschaft betreten hatte, um politisches Asyl zu beantragen. Im August 2012 wurde es ihm bewilligt. Seitdem lebt er in der Botschaft. Mittlerweile fast drei Jahre. Drei Jahre auf zwanzig Quadratmetern und ohne Sonnenlicht. Das geplatzte Treffen von damals hat er mehr als wiedergutgemacht. Seit August 2012 hat er mir unzählige Interviews gegeben, unsere Gespräche dauern bis heute an. Anfang September 2012 hatte mein Stück Assassinate Assange in Hamburg Premiere. Während der Probezeit war ich an drei Wochenenden in London, meist dauerten unsere Gespräche von acht Uhr abends bis fünf oder sechs Uhr am nächsten Morgen. Wenn ich während einer dieser Marathonsitzungen müde wurde, dachte sich Julian immer irgendetwas aus, um mich wieder fit zu machen – mal rauchten wir eine riesige Shisha (ein Geschenk des Al-Jazeera-Chefs), mal machte er mir Tee, mal verabreichte er mir Sauerstoff aus einer Taucherflasche, die für »Notfälle« in der Ecke stand. Sein unermüdlicher Enthusiasmus war ansteckend. Am Ende hatte ich Hunderte von Seiten Material. Die Gespräche wurden unter Hochdruck transkribiert, übersetzt und geprobt. Das Projekt war zur Premiere noch lange nicht fertig, es erwies sich als work in progress, ich konnte es Stück für Stück weiterinszenieren, bei jedem Gastspiel neu, in Berlin, Wien und schließlich am Schauspiel Köln.
Angela Richter, Julian Assange. Foto: Oliver Abraham
In den Medien wird Assange in der Regel als fragwürdiger Charakter dargestellt, besonders von einigen ehemaligen Mitarbeitern und Journalisten. Wahrscheinlich ist es interessanter und sehr viel profitabler, ihn als durchgeknallten Freak darzustellen, genial zwar, aber narzisstisch, verrückt und hemmungslos. Wenn nichts anderes geht, wirft man ihm sogar mangelnde Tischmanieren vor. Mit dem Assange, den ich kennengelernt habe, haben diese Darstellungen allerdings nichts zu tun. Ich habe ihn immer als großzügig, warmherzig, humorvoll und loyal erlebt. Er ist hochintelligent und engagiert, sein Mut ist erstaunlich. Er hat mit mir sein Wissen und sein Essen geteilt. Jeder Künstler, den ich kenne, ist wesentlich narzisstischer. Ich kann jedoch durchaus verstehen, weshalb viele Journalisten ihn hassen: Er lässt sie alle aussehen wie opportunistische Karrieristen und willfährige Kollaborateure.
Zu den Vorwürfen in Schweden habe ich mich zahllose Male geäußert, deshalb nur so viel: Ich halte Julian Assange nicht für einen Vergewaltiger und den ganzen Fall für äußerst fadenscheinig.
Ohne Assange und die Hilfe seiner Mitarbeiter wäre keines der Interviews entstanden, die ich in den letzten Jahren mit unzähligen Whistleblowern und Aktivisten geführt habe – ob mit Edward Snowden, Thomas Drake, William Binney, Jesselyn Radack oder Daniel Ellsberg.
Das Haus von Daniel Ellsberg liegt in Kensington, auf den Hügeln über Berkeley, von denen man einen guten Blick auf die Golden Gate Bridge hat. Ich habe Ellsberg, das große Vorbild der Whistleblower, der mit der Veröffentlichung der Pentagon Papers entscheidend zum Ende des Vietnamkriegs beitrug, am 5. Oktober 2014 dort besucht, um ein Interview mit ihm zu führen. Aus ein paar Stunden wurden drei Tage. Morgens machte er mir Omelette und sprang, während er aus seinem Leben erzählte, immer wieder auf, um mir einzelne Szenen und Begegnungen vorzuspielen. Der 83-Jährige wirkte dabei wie ein hyperaktiver, charismatischer Junge. Wir sprachen über die Pentagon Papers, über Verrat und Widerstand, und irgendwann las er mir ein Sonett von Albrecht Haushofer vor, der an der Verschwörung vom 20. Juli gegen Hitler beteiligt war und später von der SS hingerichtet wurde. Die letzten Zeilen zitierte er auf Deutsch: »Ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! / Und heute weiß ich, was ich schuldig war …«
Als schwierigste Herausforderung erwies sich ein Treffen mit Edward Snowden. Es gelang mir nur dank der Hilfe von WikiLeaks, Sarah Harrison und den Menschenrechtsanwälten Renata Avila und Ben Wizner. Ich hatte ihm einen langen Brief geschrieben, der mit den Worten endete: »Du brauchst das Theater und die Kunst sicher nicht, aber die Kunst braucht Dich.« Die Nachricht, dass er eingewilligt hatte mich zu treffen, kam wieder sehr kurzfristig: Am 24. Februar 2015 wurde mir mitgeteilt, dass ich ihn am 27. Februar in Begleitung von Renata Avila treffen könne. Auf meine Frage, ob ich ihm etwas mitbringen solle, erreichte mich eine Wunschliste aus Russland: amerikanische Erdnussbutter und Knabbereien. Ich packte so viel in meinen Koffer wie ich tragen konnte. Um Snowden nicht zu gefährden, ist es mir an dieser Stelle nicht möglich, konkrete Details über das Treffen wiederzugeben. Nachdem ich eine halbe Stunde in der Lobby eines Moskauer Hotels gewartet hatte, tauchte er plötzlich auf – eine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, den Jackenkragen hochgestellt. Er nickte mir zu, und wir bestiegen schweigend einen Aufzug. Als wir im Zimmer ankamen, legte er seine Mütze ab und ich war völlig verblüfft über sein extrem jugendliches Aussehen. Ich hatte nicht erwartet, dass er so zierlich ist, er wirkte wie ein Sechzehnjähriger auf mich. Er sah meine Überraschung, wir lachten und umarmten uns spontan. Ich übergab ihm die Geschenke, er freute sich und erklärte, dass es durch die Sanktionen sehr schwer geworden sei, in Russland an Erdnussbutter zu kommen.
Wir bestellten Essen und ich schaltete das Diktiergerät ein – ich hatte etwa fünf Stunden Zeit für das Interview. Er sprach ruhig, eloquent, wirkte mit einem Mal erwachsener. Nach dem Interview unterhielten wir uns über seine Situation, und er betonte mehrfach, wie sehr er sich wünschen würde, Asyl in Deutschland zu bekommen und dass er gerne in Berlin leben würde, wo inzwischen diverse Leute aus dem Umfeld der Whistleblower und Internetaktivisten im freiwilligen Exil leben. Ich schämte mich in diesem Moment für die deutsche und europäische Heuchelei, die feige Unterwürfigkeit gegenüber den USA. Wäre er ein russischer oder chinesischer Dissident, man würde ihm den roten Teppich ausrollen, da bin ich mir sicher.
Der Abschied fiel mir nicht leicht. Als ich am gleichen Abend am Roten Platz spazieren ging, noch aufgewühlt von dem Gespräch, wurde nur wenige Hundert Meter entfernt der russische Oppositionelle Boris Nemzow erschossen. Es war eine unheilschwangere Nacht.
Zwei Interviews, die ich unbedingt persönlich, von Angesicht zu Angesicht, führen wollte, scheiterten, nicht am mangelnden Willen der Beteiligten, sondern an den Hürden des amerikanischen Gefängnissystems. Der Journalist Barrett Brown und der Hacker Jeremy Hammond sind zwar keine Whistleblower im klassischen Sinne, aber untrennbar mit dem Thema verwoben. Ihre Fälle fanden in Deutschland kaum Beachtung, und deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, ihnen in diesem Buch Gehör zu verschaffen. Es gelang mir schließlich, über das Gefängnis-E-Mail-System CorrLinks mit ihnen in Kontakt zu treten, und wir einigten uns darauf, dass ich ihnen meine Fragen schicke. Nur wenige Stunden nachdem mir Barrett Brown einen bemerkenswerten Essay als Antwort zugeschickt hatte, bekam ich folgende Nachricht aus dem Gefängnis: »This is a system generated message informing you the above mentioned federal inmate temporarily does not have access to messaging. You will receive notification when they are again eligible for messaging.«* Der Journalist Glenn Greenwald twitterte daraufhin, dass auch er diese Nachricht erhalten habe, nachdem er mit Brown über einen Beitrag verhandelt hatte, den dieser in den nächsten Monaten für die Nachrichten-Website The Intercept hätte schreiben sollen. Einen Tag später tauchte im Internet ein Statement von Brown auf: Nachdem man ihm zunächst erklärt hatte, es würde sich um ein technisches Problem handeln, gab man ihm schließlich zu verstehen, dass er durch übermäßigen Austausch mit Journalisten das E-Mail-System missbraucht habe, woraufhin ihm das FBI alle weiteren Kontakte für ein ganzes Jahr untersagt hat. Nachdem man ihn seiner Freiheit beraubt hatte, wurde ihm nun auch noch die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung genommen.
Die Antworten von Jeremy Hammond erreichten mich in letzter Minute. Der Hacker und Anarchist nimmt auch im Gefängnis kein Blatt vor den Mund, kritisiert schonungslos die herrschende Klasse und deren Geheimdienstapparat. Auf die Frage, wie er sich, wenn sein Leben ein Film wäre, das Ende vorstellen würde, hat er geantwortet: »Something like a modern Bastille Day!«** Bleibt zu hoffen, dass ihm nicht das Gleiche wie Brown widerfährt und er den digitalen Zugang zur Außenwelt verliert.
In den letzten fünf Jahren habe ich vieles gelernt, war auf diversen Internet- und Hackerkonferenzen, besuchte u. a. zweimal die Biennale HOPE (Hackers on Planet Earth) in New York und mehrfach den jährlich stattfindenden Chaos Communication Congress in Hamburg sowie den Cyber Security Summit,* auf dem sich das Establishment trifft. Aktivisten und Hacker haben ihr Wissen mit mir geteilt. Ich habe mehrfach die Whistleblower William Binney, Jesselyn Radack und Thomas Drake getroffen, die in den letzten Jahren unermüdlich über die Massenüberwachung aufgeklärt haben, noch lange bevor Snowden auftauchte. Sie haben alle große berufliche und private Opfer auf sich genommen, um die Wahrheit zu enthüllen, ohne dass ihnen die verdiente öffentliche Beachtung zuteilgeworden wäre, die ja immer auch Schutz bedeutet. Als ich im Frühjahr 2015 schließlich die letzten Interviews mit ihnen führte, wurde mir klar, dass sie Snowden den Boden bereitet haben. Er hat mir erzählt, dass er ihre Fälle sehr genau studiert hatte, bevor er selbst zum Whistleblower wurde.
Ich werde oft gefragt, wie ich die Distanz zu meinen Interviewpartnern wahre, wie ich ihnen gegenüber objektiv bleibe. Meine Antwort lautet: gar nicht. Ich lege keinen Wert auf Objektivität, ich glaube nicht einmal, dass sie überhaupt existiert. Es ist eine reine Behauptung, die im Grunde eine freiwillige Begrenzung bedeutet, eine Reduktion der Möglichkeiten. Den Whistleblowern und Aktivisten bin ich mit unverhohlener Sympathie und Empathie begegnet, mit offenem Visier. Ich mache aus meiner Bewunderung für ihre Taten und ihren Mut keinen Hehl. Warum sollte ich auch? Ich bin keine Journalistin und ich möchte nicht, dass man mir die üblichen vorgefertigten Antworten präsentiert. Skepsis gebiert Skepsis. Misstrauen wird mit Misstrauen erwidert.
Ein wichtiges Gespräch fehlt in diesem Buch. Bisher ist es mir leider nicht gelungen, Chelsea Manning im Gefängnis zu besuchen und zu interviewen, insofern ist dieses Buch in gewisser Weise unvollständig. Durch das von Manning an WikiLeaks übermittelte Material haben wir nicht nur von den Schrecken der Kriege in Afghanistan und im Irak erfahren (Collateral Murder, Afghan War Diary, Iraq War Logs), sondern auch einen umfassenden Einblick in die weltweiten diplomatischen und wirtschaftlichen Verwicklungen der USA erhalten (Cablegate).
Durch die Begegnung mit Whistleblowern und Aktivisten wurde mein Weltbild auf den Kopf gestellt. Auch meine Haltung gegenüber den bewährten Mitteln der Subversion hat sich geändert. Ironie, früher ein machtvolles Werkzeug der künstlerischen Avantgarde, ist heute längst im Mainstream angekommen. Ob Theaterstück, Seifenoper, NPD-Parteitag, Feuilleton oder Talk bei Günther Jauch – kaum ein Format, das ohne Ironisierungen auskommt. Die subversive Kraft ist verschwunden, Ironie dient heute vielmehr dazu, den Status quo aufrechtzuerhalten.
Ich denke trotzdem nicht, dass man als Künstler auf das wertvolle Mittel des Humors und der Ironie verzichten sollte – aber vielleicht sollte man öfter den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne sich hinter einem Witzchen zu verstecken. Zumindest jedoch müsste man radikal zu Ende denken, wie man Ironie überhaupt noch subversiv einsetzen kann. Als es um den Untertitel dieses Buches ging, dachte ich über zwei mögliche Varianten nach: das ironisierende »Gespräche mit Verrätern« oder »Gespräche mit Helden«. Ich entschied mich für das Letztere.
Angela Richter
Berlin, April 2015
* »Das ist eine automatisch generierte Nachricht, die Sie darüber informiert, dass der oben genannte Häftling zurzeit keinen Zugang zum Nachrichtensystem hat. Sie werden benachrichtigt, sobald die Berechtigung dazu wieder besteht.«
** »So etwas wie eine moderne Variante des Sturms auf die Bastille«, siehe Interview mit Jeremy Hammond, S. 85.
* Gemeinsam mit der Deutschen Telekom AG richtet die Münchner Sicherheitskonferenz seit 2012 jährlich den Cyber Security Summit in Bonn aus. (Anm. d. Red.)
DANIEL ELLSBERG
wurde am 7. April 1931 in Chicago geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University und schloss 1962 mit einer Promotion ab. Von 1954 bis 1957 diente er als Offizier in der US-Marineinfanterie. Seit 1959 war Ellsberg als strategischer Analyst der militärischen Denkfabrik RAND Corporation tätig, die das Verteidigungsministerium in Fragen der Kontrolle und des Einsatzes nuklearer Waffen beriet. 1964 wechselte er direkt ins Verteidigungsministerium, wo er einem Beratungsstab angehörte, der sich mit dem Vietnamkonflikt befasste. Er beteiligte sich als Kriegsstratege an der Ausarbeitung geheimer Pläne, die auf eine Eskalation in Vietnam abzielten und maßgeblich zum Kriegsausbruch im Frühjahr 1965 beitrugen. 1967 kehrte er in die RAND Corporation zurück, wo er Zugang zu den Pentagon Papers hatte, die er 1971 der Presse zuspielte. Die Veröffentlichung der Pentagon Papers enthüllte die jahrelange Täuschung der amerikanischen Bevölkerung über wesentliche Aspekte des Vietnamkrieges. Ellsberg stellte sich dem FBI und musste sich vor Gericht verantworten. Er wurde u. a. unter dem Espionage Act angeklagt, ihm drohten zeitweise 115 Jahre Haft. Der Prozess wurde 1973 für ungültig erklärt und Ellsberg freigesprochen. Die Veröffentlichung der Pentagon Papers trug zum Ende des amerikanischen Engagements im Vietnamkrieg bei.