Die Kaiserhure
Das sündige Leben der
Regensburgerin Barbara Blomberg
Historischer Roman
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Überarbeitete Neuausgabe des Titels „Die Geliebte des Kaisers“ von 2003
ISBN 978-3-86646-708-8
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Titelbild: „Karl V. und Barbara Blomberg“, Holzstich nach Gemälde, 1894, von Willem Geets (geb. 1838) – akg-images
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Frontispiz
Des Kaisers Liebe
Deus lo volt
Des Kaisers Bastard
Der Hurenwaibel
Geronimo
Der Sterbende in Yuste
Philipp von Spanien
Flammen über Flandern
Das Klostergrab
Lepanto und Avalon
Die Audienz
Die letzte Reise
Nachwort
Glossar
In disem hauss vonn alter art
Hat offt geruet nach langer Fahrdt
Herr Keyser Carl der fünfft genandt,
In aller Welt gar wohl beckhant.
Der hat auch hie zue gueter stundt
Geküsset einer Jungkfraw mundt.
Dieselb die hiess bey Fern und nah
Man nur die scheene Barbara.
Ihr Stamm war pieder, schlicht und recht,
Pluemberger schrieb sich das geschlecht,
Dem bracht des Keysers Lieb vil leid,
Doch trost und Heyl der Christenhait.
(Inschrift an der Kaiserherberge
„Goldenes Kreuz“ in Regensburg)
Regensburg
Mai 1546
Fahler Morgennebel hing über dem Platz mit den hohen gotischen Gebäuden; noch schien die Donaustadt zu schlafen – doch plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Stille.
Verzweifelt wehrte sich die junge Frau gegen die derben Griffe zweier Büttel, aber rasch brachen die Männer den Widerstand der Delinquentin. Brutal zerrte der eine Folterknecht den Kopf der Metze an den Haaren nach hinten, gleichzeitig fetzte ihr der andere das Mieder vom Oberkörper. Nackter als nackt standen die Brüste der Frau einige Herzschläge lang vor der dunkelgrauen Quadermauer und dem helleren filigranen Maßwerk des Rathauses; überzogen sich jäh mit körniger Gänsehaut.
Ins Wimmern der Erniedrigten mischte sich nun das geile Johlen und Stöhnen der Schaulustigen. Dann zwangen die Büttel Hals und Handgelenke der zitternden Frau in die Muldungen des Prangers. Der schwere Sperrbalken aus Eichenholz rastete in die Halterung und wurde verkettet. Einem gefangenen Tier gleich, kauerte die Delinquentin auf dem schandbaren Podium. Langsam, wie tückisch tappende Bestien, schoben sich die ehrbaren Bürger näher. Den ganzen Tag würde ihnen die Hure jetzt ausgeliefert sein; das sündige Miststück, das es gewagt hatte, seinen Gemahl, den Bierschenk vom Fischmarkt, zu hintergehen.
Anfangs versuchte die ertappte Ehebrecherin noch, sich kreischend gegen die zotigen Anschuldigungen zu wehren; zwischendurch wand und bäumte sie sich im Stock, um heranfliegenden Kotbatzen und Aas auszuweichen. Bald jedoch, während die Frühlingssonne über den Stufengiebeln der Handelshäuser, den Zinnen der Patrizierburgen, den Kirchendächern und Domtürmen der Reichsstadt höher stieg, gab die junge Frau ihren sinnlosen Kampf auf und verfiel in dumpfe Teilnahmslosigkeit.
Das bösartige Geschrei der Regensburger rief nun kaum noch eine Regung auf ihrem schmutz- und blutverkrusteten Antlitz hervor; stumpf starrten ihre Augen ins Leere – auch dann, als der Waibel der Wache ihr gegen Mittag gnädig ein paar Kellen Wasser reichen ließ. Im Lauf der folgenden Stunden urinierte die Beklagenswerte, ohne es zu bemerken, mehrmals hilflos unter sich und erreichte damit den tiefsten Grad ihrer Demütigung.
Zuletzt, als die Schatten der Abenddämmerung in die Straßen der Donaustadt krochen, hing am Pranger bloß noch eine seelisch und körperlich gebrochene Kreatur. Die Metze vernahm nicht einmal mehr das Dröhnen der Kirchenglocken, welche die Vesper und damit das Ende ihrer Qual einläuteten.
***
In der Tändlergasse, nahe des Domes Sankt Peter, schien der Glockenschall die Mauern des Handwerkerhauses zum Sumsen zu bringen.
Barbara, die sechzehnjährige Tochter des Gürtlermeisters Wolfgang Pluemberger und seiner Gattin Sibylle, spürte die Schwingungen im Bauch, in der Kehle und im Gehirn. Auch unter ihren Fußsohlen, scheinbar aus den Bohlen der Treppe dringend, war das gleichermaßen berauschende und beängstigende Vibrieren – und verstärkte die Nervosität, unter der Barbara ohnehin schon den ganzen Tag litt. Auf dem vorletzten Treppenabsatz strauchelte sie und wäre um ein Haar gestürzt; mit einem raschen Griff an den Ellenbogen brachte die Mutter, welche an ihrer Seite ging, sie wieder ins Gleichgewicht.
„Langsam, du Fohlen! Wirst noch früh genug fallen diese Nacht – so es der Majestät gefällt!“, scherzte, das Wortspiel mit frivolem Lachen begleitend, Sibylle Pluemberger.
Ihre Tochter setzte zu einer Erwiderung an; sie wirkte störrisch, erregt und verwirrt. Doch im gleichen Moment wurde unten das Straßenportal aufgestoßen, und über die Schwelle trat der livrierte Ratsbote, welcher Barbara zum Bankett im „Goldenen Kreuz“ geleiten sollte.
Die Sechzehnjährige – tiefschwarz das füllige Haar, in seltsam aufreizendem Kontrast dazu die blauen Augen und das gleichfarbene Ballkleid – nahm die letzten Stufen wie gehetzt. Fast sah es so aus, als wollte sie sich dem jungen Magistratsdiener in kindlichem Übermut an den Hals werfen, aber unter dem steinernen Torbogen wurde sie jäh wieder damenhaft und versteifte sich. Draußen auf der Gasse dann musste der Bursche im Wappenkoller eine ganze Weile insistieren, ehe Barbara Pluemberger endlich dem Brauch gehorchte und ihm ihren Arm überließ.
Der Weg führte durch verwinkelte Straßenzüge in Richtung Kohlenmarkt. Nicht mehr weit von diesem Platz entfernt, als das Paar einer Gruppe von Dominikanern ausweichen musste und die Gürtlerstochter dabei wegen ihrer ängstlichen Hast erneut ins Stolpern kam, geriet unvermittelt ein hässliches Ruinenareal in Barbaras Blickfeld. Die hellen Augen der Herausgeputzten verdunkelten sich, ihre Nasenflügel krampften sich ein; etwas Bitteres schien heranzuwehen von dort drüben, wo bis zu dem Pogrom vor einem Menschenalter die Synagoge und die ineinander verschachtelten Häuser des Regensburger Judenghettos gestanden hatten.
Dann aber, weil er die Beklemmung der Sechzehnjährigen bemerkte, leistete sich ihr Begleiter einen halblauten Witz zu Lasten der Mönche. Barbara lachte, wenn auch ein klein wenig zu schrill; wenig später, auf dem Kohlenmarkt, vergaß sie ihr Unbehagen ganz. Im Zentrum des Platzes zeigte eine spanische Gauklertruppe ihre Künste. Zimbeln schrillten, Tamburine pochten; ein Tanzbär und ein feuerspuckender Seiltänzer, der über dem zottigen Haupt des Tieres kapriolte, schlugen die Zuschauer in ihren Bann. Die Sechzehnjährige ließ sich nur zu gerne hineinsaugen in die juchzende Menge; erst als der Livrierte ernsthaft drängte, verschwand sie zusammen mit ihm in einer Gasse, welche den Kohlenmarkt mit dem angrenzenden Rathausviertel verband.
Romanische und gotische Hausfronten, gelegentlich von eleganteren Renaissancefassaden aufgelockert, bildeten hier wieder das architektonische Spalier; darüber hing der schmale Streifen des nun bereits tintigen Firmaments. Die letzten Glockenschläge des Vesperläutens wummerten, plötzlich aus dem Rhythmus fallend, durch die steinerne Schlucht – und an deren Ausgang, vor quaderiges und zugleich filigranes Mauerwerk gesetzt, erblickte die Schwarzhaarige jetzt jäh das blasphemische Bild.
Mit erigiertem Sperrbalken stand dort der Pranger. Grölend, angetrunken nach der grausigen Pflicht dieses Tages, zerrten die Büttel soeben das blutverkrustete, mit Kot besudelte Bündel Mensch aus dem Block. Nacktes, geschändetes Frauenfleisch zitterte unter geil zupackenden Männerpranken. Verfilztes Haar fitzte und riss an splittrigem Holz; wie eine Wunde war ein Mund.
Unter den obszönen Spottrufen der Folterknechte taumelte die abgestrafte Metze davon; die Flucht erfolgte zunächst orientierungslos, dann zielgerichteter hinunter zur Donaulände. Die Kreatur passierte den „Roten Herzfleck“, den Kerkerbau am Rand des Rathausplatzes, wo die von den reichsstädtischen Richtern zum Tod verurteilten Delinquenten ihre Hinrichtung erwarteten. Jenseits des düsteren Gemäuers hastete die Ehebrecherin in einen finsteren Gassenschlund; im selben Augenblick klatschte aus dem Ledereimer eines der Büttel ein Wasserschwall gegen den Pranger. Ein paar Spritzer trafen den Kleidersaum Barbara Pluembergers, die nun ebenfalls floh und dabei notgedrungen ganz nahe am schandbaren Podium vorbei musste.
Erst mitten auf dem weiter westlich liegenden Haidplatz holte der Ratsbote die junge Frau wieder ein. „Daran hätte ich denken müssen, dass die Hure bis Einbruch der Dunkelheit im Strafstock stecken würde“, entschuldigte er sich. „Jetzt hat dir der Anblick die Freude aufs Bankett verdorben; wäre ja auch kein Wunder ...“
„Schweig!“ Heftiger als sie eigentlich gewollt hatte, stieß Barbara das Wort hervor. Dann aber drängte sie sich unvermittelt an den Magistratsdiener, hakte ihn erneut unter und setzte hinzu: „Was kratzt mich die Dirne? – Ich jedenfalls bin keine von der Art, bin als Ehrengast zum Fest der Majestät geladen! Mich darf keiner an den Pranger stellen, sollte ich auch noch so schön tun mit dem erlauchten Herrn ...“ Etwas Fiebriges schwang auf einmal in ihrer Stimme mit, irrlichterte in ihren Augen; sie zerrte den verdutzten Burschen weiter, auf das Portal des „Goldenen Kreuzes“ zu, wo anstelle des Erniedrigenden, das sie gesehen hatte, der Glanz war, der Prunk, der vom Fackellicht überflutete Widerschein der ganz großen Welt.
Gepanzerte standen links und rechts des Palasttores auf Posten; rötlich spiegelte sich das Züngeln der Feuerbrände auf ihren Harnischen, Helmen und Hellebardenklingen. Unter den hochgeklappten Visieren waren die oliv getönten Gesichter iberischer Landsknechte oder die hellhäutigeren deutscher und flämischer Söldner zu erkennen; allen gemeinsam indessen die Feldbinden, die sie trugen: Schwarz und Gelb, das Wappenbandelier des Habsburgers, in dessen ungeheurem Reich die Sonne nicht unterging. Auch von der Fassade der Stadtburg wehten die wespenfarbenen Fahnen, blähten sich zu Häupten der teils von weither angereisten Honoratioren, die nun in ständig anschwellendem Strom von allen Seiten herankamen. Die Ortsansässigen zu Fuß, die anderen in Sänften oder auf rassigen Rössern, nahmen sie ihre verbrieften, beziehungsweise erkauften Privilegien wahr. Die zumindest vorgebliche Creme des Nordgaues – Patrizier, Ritter und Handelsherren samt ihren nach der neuesten spanischen Mode herausgeputzten Gattinnen, der hohe Klerus dazu – gab sich in dieser Nacht ein Stelldichein in den Mauern der uralten Reichsstadt.
Barbara Pluemberger, die jetzt keinen Blick mehr für ihren Begleiter im schlichten Koller übrig hatte, stürzte sich förmlich in den Mahlstrom aus teilweise barbarisch parfümierten Menschenleibern. Dem Rempeln und Stoßen so gut wie möglich ausweichend, der oftmals derben Zurufe nicht achtend, erkämpfte sie sich den Zugang zum Portal; anschließend den Weg weiter zur Freitreppe, die hinauf zum Kaisersaal im ersten Obergeschoss der imperialen Herberge führte. Dort klang der Lärm unvermittelt gedämpfter – und dann, während der Ratsbote ihr den Platz, den sie einnehmen sollte, anwies, erblickte die Sechzehnjährige den Monarchen.
***
Karl V., Beherrscher des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, zudem deutscher und spanischer König, stand in diesem Frühling 1546 in seinem 47. Lebensjahr; er wirkte aber wie ein galliger, vom Dasein bereits allzu sehr verbitterter Mittfünfziger. Die schwarze Staatsrobe, der grau durchschossene Oberlippen- und Kinnbart sowie das eigenartig morbide Emblem des Ordens vom Goldenen Vlies, den der Habsburger auf der eher schmächtigen Brust trug, unterstrichen diesen Eindruck noch. Verbittert und gallig klang auch die Stimme des seit geraumer Zeit Verwitweten, als er den Ratsherrn Thuner, der soeben einen Trinkspruch auf das edle Waidwerk ausgebracht hatte, schroff zurechtwies: „Sauhatzen! Schwefelkuren! Wildbäder! Bankette! – Seit Wochen nichts als nutzloses Tandaradei hier auf dem Nordgau! Ich vergeude meine Zeit! Der Wittelsbacher, der Münchner Fettsack, lässt mich schmoren! Bequemt sich nicht, endlich nach Regensburg zu kommen ...“
Empört schnaufend brach der Monarch ab, griff nach seinem Bierhumpen und trank unmäßig. Der Thuner, nun vor dem erhöhten Sitz des Kaisers buckelnd und das Feixen der übrigen Edelleute mühsam ignorierend, wartete ab, bis der Bock seine Wirkung tat und der Habsburger unter schaumfleckigem Schnauzbart heraus ungeniert rülpste.
Erst dann erwiderte der Ratsherr besänftigend: „Mit Verlaub, Majestät! Seit Martinus Luther tot ist, scheint man es halt am bayerischen Herzogshof nicht mehr für so pressant zu halten, die Protestanten militärisch aufs Haupt zu schlagen. Womöglich möchte Herzog Wilhelm in seinem unerschütterlichen Gottvertrauen einfach auf die Zeit setzen, um das Übel unspektakulär aus der Welt zu schaffen. Viele im Lande denken wie er; sie meinen, dass man es jetzt, wo der Teufel den Erzketzer endlich geholt hat, ein wenig langsamer angehen könnte ...“
Mit seinen beruhigend gemeinten Worten hatte der Thuner die Rage Karls V. jedoch noch mehr angestachelt. „Kusch!“, fuhr ihn der Kaiser an; wegen seines von Geburt an verengten Nasensattels kam der Laut wie gebellt heraus. „Als ob mit der Höllenfahrt des Wittenbergers das ganze belialische Pack hin wäre! Exakt“, neuerlich das Blaffen, „das Gegenteil ist der Fall. Nun wollen die Hundsfötter im Schmalkaldischen Bund erst recht beweisen, dass sie auch wer sind. Der verräterische Kurfürst von Sachsen und der hinterfotzige Landgraf von Hessen allen voran, die abtrünnigen Städte hinterdrein. Zu Paaren muss man sie treiben, um des alleinseligmachenden Glaubens willen! Aber allein kann ich’s nicht, ich brauche den Wittelsbacher für den katholischen Pakt!“ Zum dritten Mal das gequälte Rachenkeuchen, dann schloss der Spanier, erneut nach dem silbernen Humpen greifend: „Doch der Herzog hat nichts Besseres zu tun, als Maulaffen feilzuhalten an der Isar!“
„So betrachtet, ist’s in der Tat eine Schande“, gab sich der Regensburger Ratsherr geschlagen und zog sich devot so weit wie möglich aus der Gewitterzone zurück.
Der Abt des Klosters Sankt Emmeram, violett und gelb ausstaffiert wie ein Pfau, nutzte die Gelegenheit, drängte den Thuner völlig beiseite und intrigierte: „Zu Paaren treiben, die Lutherischen – löblich, sehr löblich gedacht, Eure Majestät! Noch gottgefälliger freilich wäre es, sie gleich Hexen verbrennen zu lassen. Oder man springt so mit ihnen um, wie man es Anno ’19 in der hiesigen Stadt mit den Juden getan hat. Der Doktor Balthasar Hubmaier, Domprediger zu Sankt Peter damals, hat schon das rechte Mittel gewusst. Hat mit Musketen über die Ghettomauern hinweg auf das baalsanbeterische Pack schießen lassen. Da war Regensburg schnell gereinigt von den Abrahamitischen. Und mit den Feinden des Papstes muss man es ebenso machen, denn“, der Kleriker bekreuzigte sich dreifach, „Deus lo volt! – Gott will es!“
Zwei, drei Lidschläge lang ließ der Abt den letzten Satz nachwirken, dann machte er sich bis auf Tuchfühlung an den Habsburger heran und wiederholte verschwörerisch: „Deus lo volt! – So hat es zur höheren Ehre des Allmächtigen einst bei den Kreuzzügen geheißen. Und an der Zeit wäre es, solche Glaubensopfer auch heute wieder vom Volke Christi zu verlangen. Ungleich schärfer noch als bisher muss gegen die Schmalkaldischen gepredigt werden. Von jeder Kanzel herunter muss der heilige Ruf erschallen, in jedem Beichtstuhl das Nötige geflüstert werden. Dann besäße die Majestät bald die nötigen Musketen, Arkebusen, Feldschlangen, Bombarden, Kartaunen – und die freiwilligen Mannschaften dazu. – Nur ein Wort, Herr, und ich mache den Anfang; rufe den Glaubenskrieg aus in meiner Abtei und in allen ihr zugehörigen Pfründen ...“
Anfangs eher reserviert, dann aber mit wachsendem Interesse hatte der Monarch sich den Sermon des Kirchenfürsten angehört; während der abschließenden Sätze hatten seine stets etwas verkniffenen Augen unvermittelt zu leuchten begonnen. Der Hetzer registrierte es höchst befriedigt; es war offensichtlich, dass er glaubte, sich zumindest für diesen Abend die Gunst des Kaisers errungen zu haben – um so nachdrücklicher freilich malte sich im nächsten Moment die Enttäuschung auf seinem hängebackigen Antlitz.
Karl V. nämlich räumte hastig seinen Ehrensitz, ließ den Kleriker wie einen Lakaien stehen, eilte zum verdutzten Thuner, packte ihn am Arm und raunte ihm zu: „Die Schwarzlockige dort drüben, die im blauen Kleid, wer ist sie?“
Ratlos, denn im Bankettsaal drängten sich mittlerweile mehrere hundert Menschen, spähte der Patrizier umher; plötzlich feixte er und erwiderte: „Die Barbara Pluemberger meint Ihr wohl? Die reizende Tochter der Schöngürtlerin aus der Tändlergasse. Mein Kompliment für Euren Geschmack, Majestät!“ Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. „Selbstverständlich steht die Kleine Euch zu Diensten, wann immer Ihr es befehlt. Aus diesem Grund ließ der Rat sie ja zum heutigen Fest laden. Und es ist eine Ehre für die Stadt Regensburg, dass die Gegenwart der jungen Pluembergerin Euch Freude zu bereiten scheint!“
„Freude ...“, murmelte der schwarzgewandete Habsburger. „Dieses Gefühl habe ich selten genug verspürt in den vergangenen Jahren ...“
Spröde, sehr verwundbare Sehnsucht – erstaunlich genug bei einem, der Herrscher war über eine ganze Welt – schwang in seiner Stimme mit. Den Thuner schien er vergessen zu haben; seltsam tappend machte er ein paar Schritte in den Saal hinein, dünn klirrte die Ordenskette auf seiner Brust. Dann fing sein Blick denjenigen der Berückenden ein; etwas flirrte auf zwischen dem alternden Mann und der blutjungen Frau – eine Brücke entstand.
***
Seine Augen! Barbara konnte nur noch das eine denken: Seine Augen – jetzt, endlich, sind sie mein!
Nicht Zuneigung war es, die ihr den Kitzel verschaffte; es war das Gefühl, einen winzigen Splitter Macht über den Mächtigen errungen zu haben. Der Kaiser hatte sie bemerkt, er fixierte sie; sie war ihm nicht gleichgültig! Im Gehirn, in der Kehle, im Unterleib empfand die Sechzehnjährige wieder das gleiche Vibrieren wie eine Stunde zuvor: beim Vesperläuten der Domglocken, auf der Treppe im Gürtlerhaus. Sie ließ sich mental hineingleiten in diese betäubende, nervöse Lust; in der Tändlergasse war aus ihrer Erregung nichts weiter als Verwirrung erwachsen, doch nun spürte sie ein nie gekanntes, dunkles Locken in jeder Pore ihres Körpers.
Wie zwanghaft gab sie sich der Vorstellung hin, dass die imperialen Augen ihr immer näher kämen; so nahe, bis sie alles in ihr beherrschten – und wiederum sie selbst alles beherrschte in ihnen. Noch tiefer ließ Barbara sich fallen in ihren Wach- und vielleicht Wahrtraum; ließ sich fallen, bis die fast satanische Faszination jäh zurückschlug in die Realität. Eisklar im Kopf, schaute die junge Frau nun wieder auf den alternden Mann dort drüben, aber möglicherweise gerade deswegen glaubte sie plötzlich, jene verwundbare Nervosität, dazu die Sucht nach Lust und Betäubung auch aus seinen Pupillen brechen zu sehen – und schrankenloses Begreifen ihres eigenen intimsten Empfindens obendrein.
Unvermittelt jedoch, von einem Lidschlag auf den nächsten, stürzte die Brücke ein. Der bittere Zauber verflog im Aufbranden der Musik; das Defilee der Honoratioren, weder vom Kaiser noch von Barbara in diesem Moment erwartet, begann. Zwei Menschen wurden zurückgepeitscht in ihre gegensätzlichen Welten; zum Mittelpunkt des Bankettsaales musste, wie zuvor, der Habsburger werden; an den Rand und in die Bedeutungslosigkeit gespült wurde die Bürgerliche.
Etwas krampfte sich zusammen in der Brust der Dunkelhaarigen; sie fragte sich verschreckt, ob alles – seine Augen! – nicht bloß irrlichternde Einbildung gewesen war?
***
Ein einziges Irrlichtern dann tatsächlich die Nacht. Wie ein düsterer Gott thronte der Monarch im Zentrum des Trubels; die Trabanten um ihn – ihre schwarze Sonne – schienen sich immer besessener in einen schillernden Danse macabre zu verlieren. Barbara fühlte sich in ein Panoptikum entrückt, wie sie es einmal auf einem Gemälde des flämischen Malers Hieronymus Bosch gesehen hatte; außer Rand und Band geraten war die Welt im Bannkreis der zahllosen Fackeln und Kandelaber. Pelze, Ritterketten, gefältelte Halskrausen, Prälatenstolen, von Brüsseler Spitzen überflossene Prunkroben, juwelenbesetzte Degenschärpen, Mantillen und Federbarette kontrastierten protzig mit den erhitzten, lachenden, brüllenden, zunehmend ins Animalische sich verzerrenden Gesichtern ihrer Träger. Längst hatte sich das zu Beginn noch gemessene Defilieren und Quadrillenschreiten ins Schlemmen und Bechern aufgelöst; immer schriller jauchzten die Fideln, pfiffen und blökten die Schalmeien, setzten zwischendurch schmetternd die Posaunen ihre grellen Akzente.
Stunden ging dies so; von Stunde zu Stunde wurde der Brodem im Saal dicker und stickiger. Mehr als einmal ertappte die Sechzehnjährige sich bei dem Gedanken, dass sie am liebsten geflohen wäre: Hals über Kopf weg von hier. Aber selbst dann, wenn sie nicht dem Willen des Rates ausgeliefert gewesen wäre, hätten die Galane um sie herum ihr das Entkommen unmöglich gemacht.
Barbara, in gewissen schwülen Männerphantasien schon jetzt Kokotte des Kaisers, zog die von ihren erotischen Obsessionen Gekitzelten unwiderstehlich an; sie konnte sich vor zweideutigen Späßen, obszönen Anspielungen und gelegentlich sogar unverschämten Handgreiflichkeiten kaum retten. Zunehmend missbraucht und abgestoßen fühlte sie sich: den Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen – während doch nach wie vor anderswo der Adler thronte. Der Habsburger aber schien nun, während die gargantuanische Nacht sich ihrer Mitte näherte, unerreichbarer denn je für die Schwarzhaarige zu sein.
Wie einen fernen, verwischten Fleck nahm sie sein Antlitz jetzt bloß noch wahr; wie eine wächserne Maske, die schier verweichen wollte im Rahmen des dunklen Robenkragens, des tief in die Stirn gezogenen spanischen Hutes. Seltsam erstarrt wirkte die hagere Gestalt; nur selten und dann fast widerwillig griff die Hand zum Pokal, führte das gleißende Gefäß zum Mund. Der einzige, der die Schranke dann und wann zu durchbrechen vermochte, war – so jedenfalls Barbaras Eindruck aus der Distanz – der Patrizier Thuner, doch auch ihm warf Karl V. bei solchen Gelegenheiten nicht mehr als ein paar rüde Wortfetzen hin. Der Überdruss, den man dem Monarchen schon seit Jahren nachsagte, hatte ihn sichtlich einmal mehr gepackt. Wie eine neidische Reaktion auf das Ausgelassensein der anderen schien das Gallebittere den Habsburger zu würgen; unvermittelt assoziierte die Sechzehnjährige nun: Ein Adler ja – aber grausam ausgebrannt von der Einsamkeit ...
Etwas schmerzte sie bei dieser Vorstellung im Innersten; wie unter einem Zwang war sie versucht, den Gedanken bis in seine allerletzte Konsequenz weiterzuverfolgen. Doch ehe sie sich dessen, was nicht allein Mitleid war, schärfer bewusst werden konnte, erlaubte sich einer der Provinzadligen, der sie in dieser Nacht schon mehrmals plump angegangen hatte, wiederum eine Frivolität.
„Falls es am Ende nichts wird mit dem Gesalbten, solltest du dich vielleicht beizeiten nach Ersatz umsehen“, feixte der Betrunkene. „Ich wäre genau der richtige Kerl, um dir das Paradiespförtchen zu schmieren: ein Ritter vom Nordgau voller Saft und Kraft.“
Hilfesuchend blickte Barbara auf den jungen Magistratsdiener, der sie herbegleitet hatte und sich auch jetzt wieder in ihrer Nähe aufhielt. Aber der Bursche konnte nichts unternehmen, der Rüpel stand im Rang haushoch über ihm. Infolgedessen blieb der Schwarzhaarigen nichts anderes übrig, als selbst zu kontern: „Ihr solltet Euch schämen, Herr! Solltet wissen, dass ich keine Ehrlose bin, der man so kommen darf!“
„Metze oder nicht – ich muss deinen sündigen Leib haben!“, vergaß sich der Adlige nun völlig. Er packte die junge Frau, versuchte ihr Miederband aufzunesteln; erschrocken wehrte sich die Bedrängte, dachte verzweifelt: Wenn ich ihn jetzt ohrfeigen muss, lässt er’s gewiss den Vater an seinem Handel büßen. Er braucht bloß seine Standesgenossen aufzustacheln, damit sie nicht mehr in der Tändlergasse kaufen!
Ehe es jedoch zum Eklat kam, sah sich der Alkoholisierte plötzlich heftig zurückgerissen. Ein Humpen stürzte um; die eben vorbeischreitende Gattin eines welschen Großkaufmanns, welche den Guss abbekam, kreischte auf; der Ritter landete in den Armen des zurücktaumelnden Magistratsdieners.
Wütend griff der Adlige zum Degen – im nächsten Moment erstarrte er. Er hatte den Thuner erkannt, den Vertrauten des Kaisers, der jetzt mit grimmiger Miene zwischen ihm und Barbara Pluemberger stand.
Drei, vier Herzschläge lang fixierten die beiden Männer sich scharf; zuletzt zog der vom Nordgau den Schwanz ein und drückte sich beiseite wie ein geprügelter Hund. Der Regensburger Ratsherr atmete tief durch, dann wandte er sich, als sei nichts weiter geschehen, der Gürtlerstochter zu und teilte ihr in gedämpftem Tonfall mit: „Die Majestät hat sich soeben zurückgezogen, hat aber zuvor noch nach dir verlangt. Gestatte, dass ich dir den Weg zu den Privatgemächern zeige ...“
Barbara verspürte eine jähe Hitzewallung und zugleich ein eisiges Frösteln; verwirrt nickte sie. Ihr Blick freilich ging dabei am Thuner vorbei, suchte in der Tiefe des Bankettsaales den bewussten Platz. Als sie sah, dass der Thronsitz tatsächlich leer war, schienen sich in ihrem Leib zitternde Lust und erregende Furcht zu einem wie wahnwitzig pochenden Knoten zu verklammern.
***
Hoch über der Welt, im obersten Geschoss des wuchtigen Wohnturmes, der sich östlich an den Haupttrakt der imperialen Herberge anschloss, standen Karl V. und Barbara Pluemberger einander gegenüber.
Zum Greifen nahe war der Kaiser der jungen Frau; dennoch hatte sie das Gefühl, sie würde womöglich nichts weiter als einen Schattenriss berühren, falls sie die Hand nach ihm ausstreckte. Seine schwarze Staatsrobe schien mit dem Halbdunkel des Raumes und der Finsternis jenseits der Mittelsäule im gotischen Spitzbogenfenster zu verschmelzen. Nur dort, wo der glühende Schein des Kaminfeuers das Gewand des Monarchen erreichte, wirkte die Silhouette körperlich. Der verzerrte, irreale Eindruck allerdings blieb auch hier bestehen und erinnerte Barbara neuerlich an eine Figur auf jenem Gemälde des Hieronymus Bosch: Für einen lastenden Moment vermeinte sie den Habsburger zu sehen, wie er sich zuckend in den Flammen des Purgatoriums wand.
Im gleichen Augenblick, da Beklemmung und unterschwelliges Mitleid für die Sechzehnjährige unerträglich zu werden drohten, brach der Spanier den Bann. Er löste sich aus dem Halbschatten, trat ganz ins flackernde Licht und hielt die Handflächen gegen die Kaminglut. Leise, über die eingezogene Schulter hinweg, sagte er: „Du siehst, ich bin ein müder, alter Mann. Kann gar nicht genug Wärme kriegen ...“
„Ihr sollt sie bei mir finden, und ich werde Euch auch wieder jung machen ... Majestät“, erwiderte Barbara; spontan war ihr der Satz über die Lippen gekommen. Dann trat sie von hinten an den Hageren heran und schlang die Arme um seinen Körper.
Wenig später, nachdem er das beinahe noch anonyme Streicheln und Flüstern der Dunkelhaarigen in seinem Rücken genossen und sich dabei entspannt hatte, übernahm der Mittvierziger die Initiative. Nun war er es, der sie hielt; der spüren wollte, wie ihr Leib in seinen Armen weich und willig wurde. Barbara ließ sich hineingleiten in seine eher spröde Zärtlichkeit; mehr denn je war der Kitzel – Macht über einen Mächtigen! – da, und daraus erwuchs erneut das berauschende Locken in jeder Pore ihres Körpers.
Prickelnd – auf ihrem Mund, ihrem Hals, in der Mulde unterhalb ihrer Kehle – empfand sie seine Küsse. Sie warf den Kopf zurück; spätestens jetzt begriff sie, dass sie ihm nichts, gar nichts vorzuspielen brauchte; nichts anderes wünschte sie sich jetzt mehr, als dass er sie entkleidete.
Er gehorchte ihrem fordernden Beben; er löste die Zierkämme aus ihrem Haar, befreite ihre Schultern und Brüste von der störenden Umhüllung. Er barg, während sie sich verzückt dehnte, sein Antlitz an ihrem Busen; zum Kind wurde er für einen Moment; zu einem Kind, das sich verkriechen wollte. Gleich darauf aber übermannte ihn sein Begehren und traf sich mit ihrer steigenden Lust. Der blaue Kleiderstoff glitt über ihren Bauch, die Schenkel, die Knie; zum Kissen wurde er dem Kaiser, der nun auf einmal vor der Gürtlerstochter kniete. Niemand, so dachte sie noch, würde mir das glauben, selbst wenn ich es auf die Bibel schwören würde! Mit dem nächsten Herzschlag stöhnte sie leidenschaftlich auf: Der Habsburger hatte seine Zunge fast schmerzlich intensiv in die Verletzlichkeit ihres Schoßes gewühlt.
Der Raum begann sich um sie zu drehen, das zuckende Flackern des Kaminfeuers fand glühenden Widerhall in ihrer Scham. Ihre Hände führten den Kopf des Monarchen; irgendwann fühlte sie sich hochgehoben und zum Bett getragen. Die Grannen der Pelzdecken vertieften, als sie hineinsank, ihre rauschhafte Sensibilität noch; dann war der Herrscher über eine ganze Welt in ihr und erfüllte Barbara mit seiner Kraft.
Hastige Kraft, zunehmend eigennützig – trotzdem genügte sie, um die Sechzehnjährige mitzureißen. Etwas, das sich kurz vor dem Verlassen des Bankettsaales zu einem wahnwitzig pochenden Knoten verklammert hatte, schien nun endgültig weichen zu wollen in der beinahe schon greifbaren Klimax. Die Schwarzhaarige schrie danach, keuchte und wimmerte ihre Sehnsucht heraus; hektisch und zuletzt fast verzweifelt versuchte sie, dem Toben des Mittvierzigers zu folgen. Schon flutete ihr Empfinden hinein in die sich anbahnende Ekstase – doch plötzlich kam die Ernüchterung. Der Kaiser, sich bäumend, sich wegbäumend von ihr, ejakulierte zu früh; gleich darauf entzog er sich ihr abrupt.
Die junge Frau stürzte ins Leere, zudem raubte ihr die brutale Enttäuschung das Gefühl von Geborgenheit. Nur Krampfiges und Schmerzliches war jetzt noch da – und mischte sich mit der jäh zurückschlagenden Erinnerung an die nervösen Stunden, in denen Barbara der Begegnung mit dem Monarchen entgegengefiebert hatte. Wieder schien sie die Treppe im Gürtlerhaus hinunterzuhasten, schien unversehens zu straucheln unter dem peinigenden Glockendröhnen. Diesmal freilich fing niemand sie auf; keiner war zur Stelle, der sie hielt; statt dessen wurde aus dem schockartigen Zusammenbruch ihrer Lust Panik – dann wirbelten alptraumhafte Bilder heran.
Krachend splitterte ihr Körper durchs Stiegengeländer, wie geblendet taumelte sie auf die Gasse. Sie wollte zurück ins Haus, wurde aber weitergejagt von den Dominikanern, den Inquisitoren; gleißend irrlichterten die Ruinen des zerstörten jüdischen Ghettos vorbei. Am Kohlenmarkt fand die Gehetzte sich wieder; spanische Gaukler kreischten, ein Bärenfell raubte ihr mit seiner reißend scharfen Ausdünstung den Atem. Keuchend floh sie in die Schlucht, die zum Rathausplatz führte; im Prangerstock dort krümmte sich die geschändete Frau. Kot und Blut waren eingekrustet auf ihrer nackten Haut, wie eine Wunde war ihr Mund; die Krallen der Büttel sättigten sich an ihrem wehrlosen Fleisch. Dann klaffte irgendetwas auf, balkenstark war etwas erigiert; die Tochter der Schöngürtlerin und die Metze wurden gemeinsam eingesaugt vom hohnkeckernden Herzfleck, dem roten. Neuerlich waren die Henkersknechte da und packten zu; ihre Klauen rissen am verfitzten Haar der Frauen – plötzlich schien sich der Sechzehnjährigen ein Fluchtweg zu öffnen: der imperiale Donaustrom weiter unten. Barbara wollte sich retten ins rauschende Fluten; in weiches, traumhaft behütendes Licht. Doch es glückte ihr nicht; vielmehr wurde sie vor dem Eintauchen ins Wasser von einer Klinge getroffen, die einer im Goldenen Kreuz gegen sie zückte. Der Stahl durchbohrte ihren zuckenden Schoß, bereitete ihr unbeschreiblichen Schmerz; sie schrie – und kam schluchzend zu sich.
Barbara drängte sich in die Arme des Kaisers; wenn der Mann, dem sie alles gegeben hatte, schon zum Versager an ihrem Körper geworden war, wollte sie wenigstens seelisch zur Ruhe gebracht werden. Doch Karl V. begriff nicht, warum sie zitterte und weinte. Kein warmes Wort hatte der Monarch für sie übrig, mit unverbindlichem Gemurmel speiste er sie ab; fahrig und knöchern waren seine Hände jetzt wieder. Ihr Versteinern deutete er falsch; kaum hatte sich ihr Wimmern zumindest äußerlich gelegt, entzog er sich ihr zum zweiten Mal in dieser Nacht: rollte sich weg und schlief ein.
In ihrer Wut darüber fühlte die Schwarzhaarige sich versucht, das Verbotene zu tun: sich selbst zu befriedigen – aber sie schaffte letztlich auch das nicht. Zu kalt und zu düster engte der Raum hoch über der Welt sie ein; der Hagere irgendwo an ihrer Seite war erneut zum Phantom geworden. Nichts, gar nichts bot der Schatten, der neben ihr das Bett verfinsterte, ihr noch; nicht die ärmlichste erotische Phantasie ließ sich mehr an ihm festmachen.
Als das erste dünne Morgenlicht durchs östliche Fenster des Gemachs fingerte, stahl die Sechzehnjährige sich vom zerwühlten Lager. Sie streifte das zerknitterte Kleid über, fand vor dem Kamin ihre Schuhe und ihren Schmuck. Auf dem Weg zum steinernen Türsturz fiel ihr das Funkeln eines venezianischen Spiegels auf. Sie verharrte; für einen Moment wirkte sie unschlüssig, dann – fast wie unter einem Zwang – trat sie nahe an das in einen Bronzerahmen gefasste kristallene Oval heran.
Lange betrachtete sie ihr Antlitz: die Augen, deren tiefblaue Intensität selbst von der schlaflosen Nacht nicht gebrochen worden war; die schmale Nase mit den sensiblen Flügeln und die weich gezeichneten Wangen; den leicht geöffneten Mund mit den vollen Lippen, der durch eine winzige Unregelmäßigkeit ihrer Schneidezähne seinen ganz besonderen, unverwechselbaren Reiz gewann. Von reizvoller Verspieltheit waren auch die kleinen Ohren, und all dies wurde umrahmt von der zerwühlten, wilden Pracht ihres rabenschwarz schimmernden südländischen Haares: Erbe welscher Kaufleute oder Söldner, die sich vor langer Zeit an der Donau ansässig gemacht hatten. Barbara spürte, wie das Genießen ihrer Schönheit ihr ein wenig inneren Halt zurückgab – plötzlich jedoch bemerkte sie den hässlichen, rotgeränderten Fleck am Hals.
Jäh erinnerte sie sich wieder an den Mann, dem sie ausgeliefert gewesen war; der sie, ihr zwiespältiges Begehren erwitternd, geschändet oder erhöht hatte – je nachdem. Sie wandte den Kopf ab, weil sie die beängstigende Frage in ihren eigenen Augen nicht ertragen konnte – und dabei geriet ihr unversehens noch einmal der Habsburger ins Blickfeld. Als fahl, als schäbig beinahe, empfand sie den reglosen Körper auf dem Bett; sie biss sich auf die Lippen und hastete zur Tür.
Draußen stieß sie auf einen Doppelposten von Hellebardieren in Brustharnischen. Das Grinsen der Männer verfolgte Barbara Pluemberger über die Treppenfluchten und durch die Korridore; an weiteren Bewaffneten und Lakaien vorbei – bis auf den Haidplatz. Noch vom Morgennebel verhüllt, lag das von hohen Gebäuden umgebene Areal da. Die junge Frau im blauen Kleid wandte sich zunächst gedankenlos östlich; dorthin, wo hinter den Zinnen einer Patrizierburg die Doppeltürme des Domes ins rötlich durchschossene Firmament stachen. Ehe Barbara aber die Einmündung der Gasse erreichte, die an dem Adelspalast vorbei zum Rathausplatz führte, stutzte sie plötzlich verschreckt. Sie schlug einen gehetzten Bogen und nahm einen Umweg zur Tändlergasse; neuerlich war ihr der Pranger in den Sinn gekommen, und sie wusste: Sie hätte seinen Anblick zu dieser Stunde unmöglich ertragen können.
Wenig später, fast schon in Sichtweite des elterlichen Hauses, fragte die Schwarzhaarige sich, ob der Kaiser sie wohl noch einmal zu sich befehlen würde?
***
Dies war der Fall; in etwa halbwöchentlichen Abständen sättigte Karl V. sich bis zum Ende des Marienmonats am blutjungen Leib der Bürgerlichen. Zumeist hastig, quasi zwischen Rindfleisch und Meerrettich, pflegte er ihren Körper zu genießen; manchmal jedoch bequemte er sich vor oder nach dem Akt immerhin zu einer gewissen menschlichen Anteilnahme. So erkundigte er sich einmal beinahe väterlich, ob Barbara denn schon einen Bräutigam habe; beim nächsten Treffen – vielleicht, weil sie die Frage verneint hatte – entlohnte er sie überraschend mit einer Handvoll Dublonen.
Die Tochter der Schöngürtlerin lernte, das eine wie das andere mit Anstand hinzunehmen; sie lernte ebenso, die häufigen Unmutsäußerungen des Monarchen wegen des immer noch nicht in der Reichsstadt eingetroffenen Wittelsbachers zu ertragen. Zuletzt aber, nachdem Dutzende berittener Boten zwischen dem Nordgau und dem bayerischen Oberland hin und her geeilt waren, tauchte die Kavalkade des Münchners vor dem südlichen Stadttor auf, und erstaunlich schnell konnte nun die katholische Allianz gegen den Schmalkaldischen Bund unter Dach und Fach gebracht werden. Während die militärischen Modalitäten beraten, die pekuniären Aspekte berechnet und schließlich ganze Bündel von Dokumenten gesiegelt wurden, lebte der Kaiser sichtlich auf. Seine Kurtisane schien er darob völlig vergessen zu haben, doch Barbara Pluemberger grämte sich deswegen gewiss nicht; der einstige Kitzel war ohnehin schon während der ersten Nacht verflogen.
Lediglich mit einem etwas wehen Gefühl des Erstaunens schaute sie dem Habsburger nach, als er nach Beendigung der Verhandlungen inmitten eines kleinen Heerbannes in Richtung Nürnberg abmarschierte. Die Wälder nordwestlich von Regensburg schluckten den Düsteren samt seinem gleißenden Gefolge. Fast erleichtert verließ die junge Frau ihren Aussichtsposten auf dem Wehrgang neben der Steinernen Brücke, aber auf dem Heimweg überfiel sie plötzlich beklemmende Furcht.
Es wurde ihr bewusst, dass sie dem Imperialen beinahe einen ganzen Monat zu Willen gewesen war, und nun fragte sie sich angstvoll, was werden sollte, falls er sie geschwängert hatte ...
Mühlberg/Sachsen
April 1547
Jörg Eisenschinkh hatte jede Menge Pech gehabt auf seinem monatelangen Weg von der Donau zur Elbe. Hundertmal hatte er sich einen Narren gescholten, weil er den leidigen Auftrag angenommen hatte, obwohl er doch ebenso gut in der reichsstädtischen Wachtstube auf der faulen Haut hätte liegen können. Doch der Extralohn und dazu die Bitte in den Augen des Thuners, mit dem der etwa dreißigjährige Söldner um etliche Ecken herum verschwägert war, hatten ihn die spätwinterliche Mühsal auf sich nehmen lassen.
„Es geht nicht an, Jörg, dass die Majestät bloß eine nüchterne Depesche erhält“, hatte der Ratsherr in seltsamem Tonfall zwischen Grimm und Betroffenheit gesagt. „Der Kaiser muss von dem ... Missgeschick, wenn es denn schon einmal passiert ist, aus dem Mund eines verständigen Mannes erfahren. Du bist herumgekommen in der Welt, bist genau der richtige Kerl für diese heikle Mission; also tu’ mir und den anderen Patriziern den Gefallen und reite. Soll dein Schaden gewiss nicht sein – fünf Goldstücke gleich auf die Hand, fünf weitere nach deiner Rückkehr, und über eine Beförderung zum Waibel können wir danach auch reden. Ich verspreche es dir; ich nehm’s in die Hand, sobald nur erst die Sache mit der Pluembergerin geregelt ist ...“
Das waren in den letzten Februartagen die Worte des Thuners gewesen; vierundzwanzig Stunden später hatte der Regensburger Stadtknecht seinen Braunen gesattelt und war über die Steinerne Brücke davongetrabt. Vier Wochen hatte er für den Weg über Böhmen ins sächsische Kurfürstentum gerechnet; jetzt, da er im Tal den breiten Nebelstreifen über der Elbe erspähte, musste er sich sagen, dass es acht geworden waren.
Fluchend löste sich Jörg Eisenschinkh aus dem Windschatten der halbverfallenen Kate, wo er die Nacht verbracht hatte. Der nagende Hunger und die frühmorgendliche Kälte ließen ihn frösteln; das Schaudern legte sich erst, als er die Hochebene verließ und sich an den Abstieg durch eine verstrüppte Klamm in der Flussleite machte. Während er trotz seiner Schwäche ziemlich mühelos tiefer und tiefer kam, erinnerte sich der Regensburger noch einmal an die Heimsuchungen, denen er in den beiden vergangenen Monaten ausgesetzt gewesen war.
Unterm stichelnden Februarschnee in den Nordwald hinein; das Fell des Wallachs vom Morgen bis zum Abend harsch überkrustet. Ein Eiszapfen auch der Reiter; das gefrorene Kollerleder hart wie Schmiedeeisen, die Stiefel wie Schraubstöcke, der Mantel brettschroff; am schlimmsten die Schaller, die sich gleich glühendem Stahl in die Schädelhaut zu fressen schien. Schon das erste Wegdrittel bis Eger also eine einzige Tortur; das Irrereiten im oft völlig menschenleeren Waldgebirge gar nicht gerechnet. Hinter den Stadtmauern von Eger dann ein noch schlimmerer Schlag. Das Ross, kaum dass es im Stall stand, vom Rotz befallen, bald das Röcheln und Husten; mit dem weicher werdenden Windpludern in der ersten Märzwoche ging der Braune ein.
Jörg sah sich gezwungen, tagelang in der böhmischen Stadt auszuharren; weil die kaiserlichen Truppen den Winter hindurch schonungslos für den bevorstehenden Krieg requiriert hatten, dauerte es, bis er Ersatz für den Gaul fand. Drei seiner fünf Goldstücke gingen drauf, ehe er wenigstens notdürftig wieder beritten war. Anschließend erneut der zermürbende Kampf ums Vorwärtskommen durch zumeist weglose Wildnis: das westliche Erzgebirge diesmal. Statt des Schneetreibens nun Regengüsse; statt der verfirnten Krusten unter den Hufeisen Schlamm. Nächte, die in Höhlen verbracht werden mussten, in der äußersten Not unter freiem Himmel; nur selten das Dach einer verlausten Herberge über dem Kopf. In der zweiten Märzhälfte, als der Falbe seinen abgerissenen Reiter hinunter ins Flusstal der Mulde trug, hätte Jörg den Thuner, das gewesene Liebchen des Kaisers dazu, ohne viele Gewissensbisse erwürgen können.
Absolut keine Skrupel in den tückischen Augen der Strauchdiebe dann, die ihn auf halber Strecke zwischen Zwickau und Leipzig abfingen. Vier, fünf Galgenstricke plötzlich aus dem Unterholz am linken Stromufer heraus; Waidmesser, Äxte und Knüttel in den Fäusten. Der müde Gaul sich noch halb bäumend, das Schwert des Regensburgers noch eine Elle aus der Scheide – aber dann auch schon die schwirrende Seilschlinge und der mörderische Ruck im Genick. Der Sturz gegen die wirbelnde Erde, das Hineinplatzen des Körpers in den von Kieseln und Granittrümmern durchsetzten Schlick. Schläge, Fußtritte noch zusätzlich in die ohnehin schon heranwummernde Ohnmacht hinein; unmittelbar darauf die explodierende Sonnenscheibe unendlich hoch oben.
Dämmerung, sehr nahe an der völligen Finsternis bereits, als Jörg stöhnend wieder zu sich kam. Dämmerung und beißende Kälte: Einzig das Schamtuch trug der Blessierte noch am blaugefrorenen und von Platzwunden übersäten Leib. Als er den Stoff betastete, war jede Bewegung eine Qual; erst nachdem er sicher sein konnte, dass die Halsabschneider ihn wenigstens unter dem Tuch nicht gefilzt hatten, dachte er an sich selbst und kroch gleich einem angeschweißten Tier auf ein Weidengestrüpp zu.
Es sei ein Wunder, dass sie ihn überhaupt noch lebend aufgefunden hätten, behaupteten am nächsten Morgen die Plättenschiffer, die sich seiner erbarmten. Während der Älteste, der ihm auch das Leinenwams und den Mantel gegeben hatte, ihn mit Branntwein und eher heidnischen denn christlichen Wundbeschwörungen traktierte, suchten dessen Gefährten mit gezückten Kurzspießen die Umgebung ab. Kehrten aber bald unverrichteter Dinge zurück; hatten vom geraubten Ross und den Wegelagerern nichts weiter mehr als die Spuren vom Vortag entdeckt. Jörg, einigermaßen bei Sinnen jetzt wieder, hatte nichts anderes erwartet; er war schon froh, dass die Händler sich bereit erklärten, ihn bis Leipzig mitzunehmen.
Geschlagene drei Wochen dort im Hospiz neben der Thomaskirche; die protestantischen Pfleger nach Kräften um den Katholiken bemüht, dennoch machtlos gegen das Eiterschwären in seinen Wunden. Erst gegen die Aprilmitte hin allmählich das Eintrocknen und Verkrusten der Verletzungen; trotzdem hatte es bis zum zwanzigsten Tag des launischen Monats gedauert, ehe Jörg Eisenschinkh fähig gewesen war, das letzte Stück seines schier endlosen Weges zum Kaiser in Angriff zu nehmen. Dass Karl V. sich am Mühlberger Elbufer auf eine Schlacht gegen den sächsischen Kurfürsten vorbereitete, hatte der Regensburger von den Leipziger Spitalbrüdern erfahren. Noch einmal war er drei Tage mit knurrendem Magen gewandert, und nun – am Morgen des 24. April 1547 – lag das Ziel vor ihm: der von einem breiten Nebelstreifen überflutete Strom und irgendwo dort unten das Heerlager der deutschen und spanischen Majestät.
Der reichsstädtische Bote brachte die verstrüppte Klamm hinter sich; als das Gelände flacher wurde, beschleunigte er seinen Lauf. Während er über die binsenbestandene und von Altwassern durchsetzte Auenebene rannte, hatte er das Gefühl, letztlich doch noch zu spät zu kommen. Unter der kräftiger werdenden Sonne lichtete sich der Dunst jetzt rasch; als Jörg um eine Flusskrümmung bog, tauchte hinter einem Waldstreifen am jenseitigen Hochufer die befestigte Stadt Mühlberg auf. Damit hatte der Bayer das Ziel greifbar vor Augen; ebenso wie der verfludernde Nebel um ihn herum begann seine ungewisse Beklemmung sich aufzulösen. Im nächsten Moment aber stolperte er, wäre um ein Haar gestürzt – konnte sich gerade noch festklammern an der Hellebarde, die aus der Deckung eines Erlenstammes heraus jäh gegen ihn gezückt worden war.
„Halt, du Hundsfott!“, raunzte ihn, ziemlich überflüssigerweise, der Landsknecht in den schwarzen und gelben Feldfarben an. „Keinen Schritt weiter, oder mein Kamerad da schlitzt dir die Kehle von einem Ohr bis zum anderen auf!“
Als Jörg Eisenschinkh vorsichtig den Kopf wandte, erblickte er den zweiten Söldner, der ihn grinsend mit dem blanken Raufdegen bedrohte; gleich darauf kamen im Laufschritt weitere Geharnischte herbei.
Jörg begriff, dass er an einen Vorposten der habsburgisch-wittelsbachischen Armee geraten war. Schlagartig verwich die in seinen Gedärmen köchelnde Furcht; er löste die Hände vom eisenbeschlagenen Hellebardenschaft, hob die Arme halb über den Kopf und erwiderte hastig: „Gut Freund und gut katholisch bin ich; ich schwör’s! Aus der Reichsstadt Regensburg stamme ich und habe eine wichtige Nachricht für die kaiserliche Majestät zu überbringen ...“
„Nachricht für den Kaiser? So schaust du aus!“ Der Sergeant, der ihn unterbrochen hatte, ließ ein verächtliches Lachen hören, dann setzte er spöttisch hinzu: „Warum nicht gleich für die Madonna? Oder die Dreifaltigkeit höchstpersönlich?“ Unvermittelt wurde seine Stimme hart: „Selten habe ich eine solche Frechheit gehört! Ein abgerissener Lump wie du – und möchte was mit der Majestät zu schaffen haben. Eher glaube ich, dass uns mit dir ein Spion in die Falle gegangen ist.“ Nun sprach aus den Worten des Postenführers nackter Hass: „Der Teufel soll mich holen, wenn du nicht ein gottverfluchter Ketzer bist, der sich von Mühlberg aus über den Fluss gestohlen hat. Wärst nicht der erste von der Art. Aber im katholischen Heer ist man wachsam. Da pflegt man mit solchen wie dir kurzen Prozess zu machen!“