Was für ein Kulturschock? – Natürlich werden Sie in den Niederlanden keinen so derben Kulturschock erleben wie als Zuschauer eines Stierkampfes in Spanien, beim Besuch einer traditionellen Toilette in China oder im Umgang mit Bettlern in Indien.
Die niederländische Art zu leben ähnelt der in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Die wirtschaftlichen Entwicklungsgeschichten der mitteleuropäischen Länder weisen in den verschiedenen Phasen – von der Industrialisierung bis zur modernen Dienstleistungsgesellschaft – durchaus große Parallelen auf. Wie in anderen europäischen Ländern gibt es in den Niederlanden heute noch Menschen, die den Zweiten Weltkrieg im eigenen Land und auch in ihren Kolonien miterlebt haben. Nach dem Krieg fanden in den mitteleuropäischen Ländern mehr oder weniger zeitgleich ähnliche gesellschaftliche Veränderungen statt. Und nicht zuletzt ähnelt die niederländische Sprache der deutschen sehr. Das Gros der Niederländer sieht den Deutschen äußerlich recht ähnlich. Das kleine Land liegt zumindest für Rheinländer, Westfalen und Niedersachsen gleich nebenan und das niederländische Königshaus hat seine Wurzeln vor allem in Deutschland.
Warum sollte da Erklärungsbedarf herrschen und man gar einen Kulturschock erleben? Die etwas andere Architektur, die weltberühmte liberale Marihuana-Politik, die progressiven Ansätze bei Themen wie Euthanasie und Verhütung, typische Produkte der Nahrungsmittelbranche, die sich deutsche Urlauber gerne als Mitbringsel in ihr Gepäck stecken, Windmühlen, Sandhaufen, Blumenfelder sowie die vielen Wasserstraßen in den Städten und durch das ganze Land: Das kann man ja alles wahrnehmen, ohne es weiter zu hinterfragen.
Wie verhält es sich aber mit penetrantem Duzen oder den vielleicht befremdlich anmutenden Begrüßungs- und Abschiedsritualen mit all den Küsschen? Wieso sehen Landschaft und Architektur eigentlich doch anders aus als in den unmittelbaren Nachbarländern? Warum sind die Holländer eher pro-britisch als pro-französisch eingestellt? Warum sprechen sie so gut Englisch? Warum sind die Holländer noch immer nicht besonders gut auf die Deutschen zu sprechen? Warum regt man sich seit Jahren so vehement über das Aussehen der Figur des Zwarte Piet (Knecht Ruprecht) auf? Warum sind die vermeintlich lockeren oder toleranten Niederländer nicht in jeder Hinsicht so tolerant wie man denkt, während es im ganzen Land immer mehr Moscheen gibt? Warum gibt es selten Gardinen vor den Wohnzimmer- oder Esszimmerfenstern? Was hat es mit der Knausrigkeit des Volks auf sich? Wieso findet man in den Vororten keine Cafés, in denen man tagsüber gemütlich beisammensitzen könnte? Was bedeutet die erdrückende Präsenz der Farbe Orange beim Fußball und am Nationalfeiertag? Warum geht man salopp gekleidet ins Theater? Wie kommt es zur scheinbaren Gesetzlosigkeit bei den Themen Drogen, Prostitution oder auch Verkehrsregeln? Warum findet man kaum bezahlbare Mietwohnungen von privaten Vermietern?
Beim näheren Hinschauen stechen einem eine Menge Unterschiede ins Auge. Das Erstaunliche dabei ist, dass man diese vielschichtigen Differenzen zunächst nicht erwartet. Das bekommen besonders diejenigen zu spüren, die länger oder dauerhaft im Land verweilen, z. B. zum Studieren, Arbeiten oder aus Beziehungsgründen etc., denn je länger man bleibt, desto mehr kulturelle Nuancen werden einem auffallen, die mitunter ein heftiges Gefühl des Widerstands auslösen können. Ungeahnt komplexe Probleme, geboren aus einem Unverständnis darüber, wie anders die Bewohner der heutigen Niederlande seit dem Mittelalter sozialisiert wurden, sind oftmals die Folge. Dabei wird bequem mit dem Finger auf den Calvinismus als die Ursache fast „jeden niederländischen Übels“ gezeigt. Das wäre jedoch zu einfach und entspricht auch nicht der Wahrheit. Die Erklärungen hingegen sind komplex und nicht mit simplen Schlagwörtern zu leisten. Die besondere Geschichte der Niederlande ist dabei der Schlüssel zu vielen Rätseln und wird in den einleitenden Kapiteln im Hinblick auf die vielen kulturellen Besonderheiten zusammengefasst.
Als Niederländerin, die in Deutschland aufwuchs, wunderte auch ich mich seit meiner „Rückkehr“ in die Niederlande im Jahr 2000 über mir ungeläufig erscheinende Bräuche, z. B. bei Hochzeiten oder Geburtstagspartys von Nachbarn: Warum wird man nur selten zum Essen bei jemandem zu Hause eingeladen und warum kommt dem Thema Essen generell ein geringer Stellenwert zu?
Das ganze Land übte sich in Traditionen und Bräuchen, die meine westflämische Mutter ebenso wenig kannte wie mein Vater aus der stark römisch-katholisch geprägten Provinz Limburg (in den Niederlanden). Seit dem Jahr 2000 tausche ich mich mit ausländischen Freunden, Ex- und Repats (Niederländer, die im Ausland aufwuchsen und wie ich selbst zurückgekehrt sind), rege über die erstaunlichen Unterschiede zwischen den Besonderheiten der Niederländer und ihrer Kultur einerseits und der Kultur vieler anderer in den Niederlanden lebender Nationalitäten andererseits aus. Mehr als 15 Jahre der nicht abreißenden Verwunderung bestärkten mich in meinem Vorhaben, die Hintergründe genauer zu erforschen und Antworten zu finden, die in diesem Buch zusammengetragen wurden.
Ich bitte dabei um Nachsicht, wenn die verschiedenen Details dem einzelnen mal mehr mal weniger fremd erscheinen. Es kommt eben auch darauf an, wie weit die eigene geografische Herkunft von den Niederlanden entfernt ist. Für Thüringer, Bayern, Schwaben, Österreicher oder Schweizer sind die Unterschiede durchaus größer als für Emsländer oder Bewohner des Ruhrgebiets. Aber auch für Letzere gibt es viele unerwartete und spannende Details über die niederländische Kultur zu entdecken, die zum Nachdenken und Genießen anregen.
Ich wünsche Ihnen eine kurzweilige Lektüre!
Elfi H. M. Gilissen
Extrainfos im Buch
ergänzen den Text um anschauliche Zusatzmaterialien, die von der Autorin aus der Fülle der Internet-Quellen ausgewählt wurden. Sie können bequem über unsere spezielle Internetseite www.reise-know-how.de/kulturschock/niederlande17 durch Eingabe der jeweiligen Extrainfo-Nummer (z. B. „#1“) aufgerufen werden.
Vorwort
Verhaltenstipps von A bis Z
Zwei wichtige Fragen vorab
Holland oder Niederlande? Wie heißt es richtig?
Wie sehen uns die Niederländer?
Die Niederlande verstehen
Die kultivierte niederländische Landschaft
Der Urkeim: die Republik, Migration und Handelsboom
Gesellschaftliche Kräfte: Glaube und Bürgermoral
Eckdaten der Entstehungsgeschichte der modernen Niederlande
Das niederländische Volk
Die Königsfamilie – ganz besondere Volksvertreter
Gleichstellung, Beruf und Familie
Egalitäre Gesellschaft – Auffallen unerwünscht
(Un)Sichtbare Minderheiten – Ursprung der Gesellschaft
Ein tolerantes Volk – stimmt das?
Das Selbstbild der Provinzbewohner
Typisch niederländisch!
Die niederländische Behausung
Gezellig! – Maxime des Zusammenlebens
Fahrradkultur auf zwei oder drei Rädern
Drei Luftküsse und das „Du“ – Umgangsformen
Mal kleckern und dann wieder klotzen
Arbeitsleben: informeller Ton und endloses Beraten
Fenster: Aushängeschild für wichtige Ereignisse
Sinterklaas ist anders als Sankt Nikolaus
Alles „oranje“ – nicht nur am Nationalfeiertag
„Gesetze gibt es viele, aber …“ – ein pragmatisches Rechtsverständnis
„Echt lekker!“ – kulinarische Besonderheiten
Käse, Käse und noch einmal Käse
Pro Englisch, anti Französisch und ach, die Belgier!
Anhang
Quellen
Literatur- und Filmtipps
Informatives aus dem Internet
Register
Übersichtskarte Niederlande
Die Autorin
Landeskunde auf den Punkt gebracht
Deutsch, Niederländisch oder Englisch?
Flutkatastrophen und Wassermanagement
Das Bürgertum und die Kunst
Allesamt Calvinisten?
Märchenstunde am Prinsjesdag
Abkürzungswald der Bildungseinrichtungen
Die Niederlande: sozialpolitischer Vorreiter
Die Suche nach pragmatischer Stabilität
Ikonen niederländischer Architektur: Kirchen und Windmühlen
Süßer Brotbelag mit königlichem Segen
Vielfalt an Volksfesten und Bräuchen
Warten auf Frost – eine Nation im „Eisfieber“
Coffeeshops sind keine Cafés!
Typisch niederländische Leckerbissen
Was wollen Sie trinken?
Als Besucher der Niederlande findet man sich regelmäßig in Situationen wieder, in denen man nicht so genau weiß, wie man sich im Umgang mit Ortsansässigen verhalten soll. Die vorliegende Liste an Verhaltenstipps kann da mit einem goldenen Hinweis weiterhelfen.
Abendessen: In den Niederlanden isst man mittags belegte Brote u. Ä., am Abend gibt es in der Regel eine warme Mahlzeit. Die meisten Niederländer essen sehr früh zu Abend, d. h. gegen 18 Uhr oder gar schon um 17.30 Uhr. Daher wird zum Essen im Restaurant oftmals 19 Uhr vorgeschlagen, damit man nicht allzu lang auf seine Abendmahlzeit warten muss. Überdies hat man genügend Zeit, um sich nach der Arbeit frisch machen zu können. Wenn man Gäste für eine spätere Uhrzeit zum Essen einlädt, muss man sich nicht wundern, dass sie dann nicht mehr viel essen, weil sie zur gewohnten Zeit bereits einen Imbiss zu sich genommen haben.
Abschied unter Bekannten, Freunden und Verwandten: Man küsst sich zum Abschied mit drei Luftküsschen, in der Regel in der Reihenfolge links, rechts, links, wenn man einander nicht täglich sieht, z. B. am Ende einer Verabredung. Dies gilt auch bei der ersten Begegnung mit jemandem, den man zu Anfang noch per Händedruck begrüßt hat (es sei denn, man findet einander sehr unsympathisch). Männer untereinander geben sich meistens nur die Hand. Siehe auch das Kapitel „Drei Luftküsse und das ‚Du‘ – die Umgangsformen“ ab Seite 163.
Adressen: In den Niederlanden ist der Name auf jeglicher Postsendung vollkommen unerheblich. Wichtig sind lediglich die Hausnummer und die vollständige Postleitzahl, bestehend aus vier Zahlen und zwei Buchstaben. Postsendungen ohne Namensnennung und lediglich adressiert mit z. B. „nr. 69, 5644KJ“ und gegebenenfalls mit dem Zusatz „Netherlands“ (aus dem Ausland) kommen anstandslos bei der korrekten Adresse an. Entsprechend sucht man in der Regel auch vergeblich ein Namensschild an der Klingel, es sei denn, es handelt sich um einen Apartmentkomplex, obwohl man auch dort häufig nur einen Zahlencode zum Klingeln eingeben muss.
Akademische Titel: Man findet sie auf Visitenkarten, im Absender- und Empfängerfeld bei Geschäftsbriefen sowie auf Kanzleischildern von Juristen oder Praxisschildern von Ärzten. Ansonsten werden akademische Titel weder bei der schriftlichen noch der persönlichen Anrede und auch nicht beim Vorstellen einer Person verwendet, da dies dem Egalitätsgedanken der Niederländer widerstrebt. Man gebraucht in der Regel nur die zwei Anredeformen (de) heer (Herr, das „de“ benutzt man bei der mündlichen Ansprache) und mevrouw (Frau).
Alkohol: Seit 2014 gilt in den Niederlanden ein strengeres Alkoholgesetz, nach dem man mindestens 18 Jahre alt sein muss, um alkoholische Getränke gleich welcher Art kaufen und/oder konsumieren zu dürfen. Weil Angestellte an der Kasse das Alter eines Kunden schlecht einschätzen können, schreibt das Gesetz vor, dass sich alle Personen, die jünger als 25 Jahre geschätzt werden, im Supermarkt oder in gastronomischen Betrieben ausweisen müssen. Da die Strafen für die Geschäfte recht saftig sind, wird wirklich oft nach legitimatie, einem Ausweis, gefragt. Geht man in einer Gruppe einkaufen, muss jeder Beteiligte seinen Ausweis vorzeigen und das entsprechende Alter vorweisen. Ein 18-Jähriger bekäme in Begleitung eines 17-Jährigen keinen Alkohol verkauft – nur wenn der Käufer mindestens 21 Jahre alt ist, darf er eine minderjährige Person als Begleitung bei sich haben, da man davon ausgeht, dass dieser junge Erwachsene jetzt in der Lage ist, verantwortungsvoll zu handeln und die minderjährige Person nicht mit Alkohol zu versorgen. Für Alkoholbesitz unter 18 Jahren wird abhängig vom tatsächlichen Alter ein Bußgeld zwischen 45 und 90 Euro verhängt.
Ampeln: Es gibt vier Ampelarten in den Niederlanden – für Autos, für Busse und Straßenbahnen, für Fußgänger und für Fahrräder. Rechtsabbiegende Autofahrer sollten aufpassen, dass der Fahrradfahrer nicht auch gerade grünes Licht und somit Vorrang hat! Fahrradfahrer fahren oft und gerne durch rote Ampeln, also Vorsicht, denn bei einem Unfall bekommt garantiert der Autofahrer die Schuld.
Applaus: Sehr zur Verärgerung der Verteidiger von Benimmregeln wird in den Niederlanden bei Theateraufführungen und Konzerten am Ende fast immer stehend applaudiert. Es handelt sich jedoch nicht um sog. „stehende Ovationen“, die ausdrücken, dass man die Darbietung außergewöhnlich gut fand. Wie gut es dem Publikum tatsächlich gefallen hat, kann der Künstler nur noch daran ablesen, wie schnell das Publikum aufspringt, wie laut der Beifall ist und wie lange geklatscht wird oder an den zusätzlichen Rufen und Pfiffen. Man ist jedoch keineswegs verpflichtet, ebenfalls aufzustehen. Durch die Umstehenden wird allerdings die Sicht auf die Bühne verstellt, was unangenehm sein kann.
Begrüßung unter Bekannten, Freunden und Verwandten: Bei der allerersten Begegnung begrüßt man sich in der Regel per Handschlag, aber schon beim ersten Abschied kann zur Luftküsschenvariante übergegangen werden, die fortan benutzt wird. Dabei gilt in der Regel die Reihenfolge links, rechts, links, wenn man einander nicht täglich sieht (dann entfallen die Luftküsschen ganz). Männer untereinander geben sich meistens die Hand. Siehe auch das Kapitel „Drei Luftküsse und das ‚Du‘ – die Umgangsformen“ ab Seite 163.
Bestattung/Kremierung: In der stark säkularisierten Bevölkerung ging die Zahl der kirchlichen Bestattungen so drastisch zurück, dass die privaten uitvaartcentra (Bestattungsunternehmen) nun ganz nach marktwirtschaftlichen Prinzipien um ihre Kunden buhlen. Bei der Berücksichtigung der individuellen Wünsche ihrer Kunden – darunter viele Einwanderer – legt ihnen die niederländische Gesetzgebung kaum Steine in den Weg. Wundern Sie sich also nicht über kreative Methoden, sollten Sie einmal einer niederländischen Bestattung oder Kremierung beiwohnen. In den Niederlanden darf (im Gegensatz zu Deutschland) die Asche des Toten z. B. auch auf dem eigenen Grundbesitz verstreut werden (oder auf fremdem, wenn man die Zustimmung des Besitzers hat), selbst in Flussläufe kann man nach Einholen der entsprechenden Genehmigung die Asche eines Verstorbenen einstreuen. In der Nähe von Krematorien gibt es sogar spezielle Felder zu diesem Zweck.
Bier: In Kneipen wird bei gezapftem Pils der Schaum mit einer Art Spatel vom Rand des Glases abgestrichen. Entsprechend nass ist die Außenseite des Glases. Bekommt man bei jemandem privat ein normales Pils angeboten, trinkt man es aus der Flasche. Nur die in den Niederlanden sehr populären belgischen Biere wie auch Guinness, Weizenbier u. a. werden in speziellen Gläsern ausgeschenkt. Beachte auch das Stichwort „Alkohol“ in diesem Kapitel.
Bitte: Niederländer sagen selten „bitte“, sondern formulieren Bitten mit „mag ik“ („darf ich“) oder fragen den anderen „zou je/jij“ („würdest du“) bzw. „kunt u“ („können Sie“).
Bouwvakvakantie (Ferien der Baubranche): Dabei handelt es sich nicht um Schulferien, sondern um einen staatlich festgelegten, dreiwöchigen Urlaub für die Baubranche innerhalb der jeweiligen Schulferien im Sommer. Daran halten sich sowohl der öffentliche Baubereich und auch fast alle privaten Bauunternehmen. Also wundern Sie sich nicht über die vielen ruhenden Baustellen, planen Sie keine professionellen Renovierungsarbeiten und auch keine Lieferungen von Bauunternehmen im Sommer. Nur normale Baumärkte haben dann geöffnet.
Bruin café („braune Kneipe“): „Braun“ sagt in diesem Fall nichts über die Gesinnung der Eigentümer oder der Besucher dieser urigen Kneipen aus, sondern bezieht sich auf die traditionelle Holzvertäfelung an den Wänden, Decken und dem Holzmobiliar, das recht resistent gegen Bier- und Nikotinflecken ist. Wenn der Niederländer den Vorschlag macht, in ein bruin café zu gehen, kann man sich auf ein uriges Ambiente und ganz normale Gäste aus der Nachbarschaft freuen.
Coffeeshop: Hier gibt es keine Kaffeebohnen zu kaufen, sondern auf dem Menü stehen verschiedene Sorten Marihuana und Haschisch. Man kann als Erwachsener maximal fünf Gramm zur privaten Nutzung kaufen (vor Ort oder zum Mitnehmen). Legal ist es nicht, aber Verkauf und Konsum werden offiziell von der Regierung geduldet und nicht strafrechtlich geahndet (siehe auch den Exkurs „Coffeeshops sind keine Cafés!“, ab Seite 214). In der Regel wird in Coffeeshops kein Alkohol ausgeschenkt, sondern nur nicht-alkoholische Getränke wie Tee und Kaffee, daher auch der Name.
Dialekt: Genau wie in Deutschland erlebte das Sprechen regionaler Dialekte in den 1990er-Jahren eine Renaissance. Menschen identifizieren sich eher mit einer Region und ihren unterschiedlichen Bräuchen, einer bestimmten Landschaft und Geschichte als mit dem niederländischen Königreich, dass es immerhin erst seit 1830 in dieser Form gibt. Im Arbeitsalltag sind alle Bürger der Niederlande jedoch angehalten, Algemeen Beschaafd Nederlands (ABN), die niederländische Hochsprache, zu sprechen. Aber wundern Sie sich nicht, wenn bei den informelleren Gesprächen am Kaffeeautomaten oder beim borrel (Umtrunk) wieder zum regionalen Dialekt übergegangen wird.
Dresscode: Niederländer kleiden sich bei Geschäftsterminen in der Regel recht leger, eine Krawatte sieht man kaum mehr, aber auch der Anzug ist eine Seltenheit geworden. Geht man ins Theater, muss man bei den Damen auch keine Abendgarderobe erwarten, normal gut gekleidet reicht in den Niederlanden aus. Alles andere wird als übertrieben empfunden und widerspricht dem Egalitätsgedanken (s. das Kapitel „Egalitäre Gesellschaft – Auffallen unerwünscht“ ab Seite 96).
Drogen: Der Besitz, Konsum und Verkauf von harten Drogen (Kokain, Amphetamine, XTC, Heroin, Speed, Crystal Meth etc.) ist grundsätzlich illegal und wird auch strengstens strafrechtlich verfolgt. Lediglich für weiche Drogen wie Marihuana und Haschisch herrscht eine Duldungspolitik, siehe auch das Stichwort „Coffeeshop“ in diesem Kapitel.
Danke: „Danke“ hört man fast nur noch beim Empfang von Geschenken oder der Verabschiedung von Gästen u. Ä., während gerade bei alltäglichen Dingen innerhalb des Familienkreises, wie z. B. dem Anreichen von Dingen am Tisch etc., immer seltener mit einem „Danke“ zu rechnen ist.
Deutsch sprechen: Beherrscht man kein Niederländisch, sollte man Niederländer immer auf Englisch ansprechen (nicht auf Deutsch), es sei denn, sie bieten das Deutsche von sich aus an. Heutzutage verstehen die meisten Niederländer Deutsch mehr schlecht als recht, aber ihre Englischkenntnisse sind in den meisten Fällen gut.
Duzen: In den Niederlanden duzt man sich fast immer, auch innerhalb von Firmen, bei geschäftlichen Treffen und im privaten Bereich sowieso. Das Duzen ist kein Ausdruck des Freundschaftsverhältnisses, sondern liegt begründet im Wunsch nach Gleichstellung und flachen Hierarchien im Arbeitsleben. Siehe auch das Kapitel „Drei Luftküsse und das ‚Du‘ – die Umgangsformen“ ab Seite 163.
Entschuldigung: Man wird angerempelt, jemand tritt einem versehentlich auf den Fuß und viele andere kleine Alltagspannen werden nur noch selten mit einem sorry entschuldigt, sondern als Kollateralschäden in einem beengten Land hingenommen. Diese Verrohung der Umgangsformen wird jedoch von vielen nicht gern gesehen, d. h. man darf durchaus eine Vorbildfunktion einnehmen und sich selbst sehr wohl entschuldigen, wenn es einem auch nicht unbedingt gedankt wird.
Etikette: Galanterien wie das Aufhalten von Türen, der Dame in den Mantel zu helfen u. Ä. sind in den Niederlanden nicht länger üblich. Im Zuge der Gleichstellung der Geschlechter sind diese Benimmregeln verschwunden. Ob man Mann oder Frau beim Durchschreiten der Tür z. B. eines Geschäftes den Vortritt lässt, folgt nunmehr dem Prinzip „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“.
Fachsimpeln: In der egalitären niederländischen Gesellschaft wird z. B. in akademischen Fachkreisen ein lockerer, freundlicher Umgangston bevorzugt. Daher sollte man die Alltagssprache nur mit unbedingt notwendigen Fachausdrücken anreichern, aber nicht in Fachsimpelei verfallen. Diese würde schnell als Angeberei gewertet werden.
Fräulein: Ähnlich wie auch in Deutschland gilt es in der emanzipierten niederländischen Gesellschaft als unhöflich bzw. geradezu sexistisch, eine weibliche Person oder Bedienung mit „juffrouw“ („Fräulein“) anzusprechen. Weibliche Erwachsene sollte man grundsätzlich mit „mevrouw“ („Frau“) ansprechen, bei jüngeren kann man „jongedame“ („junge Dame“) und bei Kindern „meisje“ („Mädchen“) sagen. Ungeachtet des Geschlechts versucht man im Restaurant, die Bedienung lediglich durch Handzeichen und Augenkontakt zum Herüberkommen zu animieren. Nur wenn das nicht fruchtet, kann man zusätzlich „sorry?!“ („Entschuldigen Sie“) rufen.
Fußgängerübergänge: Je nach Provinz gibt es kaum Zebrastreifen, sondern nur ausgeschilderte Fußgängerübergänge, die durch zwei quer zur Fahrbahn verlaufende weiße Parallelstreifen markiert werden (oftmals mit einer kleinen Verkehrsinsel in der Mitte). Als Autofahrer ist man jedoch nicht verpflichtet anzuhalten (im Gegensatz zum Zebrastreifen). Das Resultat: Kaum ein Fahrzeug stoppt und als Fußgänger braucht man viel Geduld.
Gastfreundlichkeit: „Woanders ist es auch nicht besser, sondern immer nur anders.“ Dies sollte man sich vor Augen führen, wenn man nicht mehr als ein Stück Kuchen auf Geburtstagsfeiern angeboten bekommt, wenn das Geschenk nur eine Kleinigkeit ist, Partys bewusst erst nach dem Abendessen anfangen und kein Essen angeboten oder man gegen 18 Uhr durch die Blume zum Verlassen des Hauses seines Gastgebers aufgefordert und nicht spontan zum Mitessen eingeladen wird.
Geburtstagskalender: Er hängt in fast allen Haushalten in der Toilette, damit auch ja kein Geburtstag von Freunden und Verwandten vergessen wird. Man kann davon ausgehen, dass jeder Besucher beim Gang zur Toilette kurz prüft, ob sein Name auch draufsteht. Wenn Ihr Name irgendwann draufsteht, wissen Sie, dass Sie jetzt wirklich als Freund(in) gelten. Seinen Geburtstag selbst zu ergänzen, gilt definitiv als Fauxpas.
Geschenke: Wurde man zum Kaffee oder einer Party eingeladen, kann man eine Kleinigkeit wie Kekse, Pralinen, Wein oder Blumen mitbringen. Große, teure Geschenke sollte man vermeiden bzw. nur zu Geburtstagen von sehr guten Freunden verschenken.
Getränkeautomat: In den Läden der niederländischen Supermarktketten wie z. B. Albert Heijn oder Jumbo gibt es einen Automaten, an dem man kostenlos einen Kaffee, Tee oder Kakao zapfen kann, den man vor Ort verzehren darf. Darüber hinaus gibt es sie auch am Arbeitsplatz, beim Automechaniker und an vielen anderen Orten, wo man Personal und Kunden bei Laune halten will. Die Automaten sind keine Notlösung, sondern integraler Bestandteil des Alltags! Man darf sich hier jederzeit bedienen.
Getränke bestellen: In der Regel kommt die Bedienung in der niederländischen Gastronomie recht schnell, um die Getränkebestellung aufzunehmen. Niederländer brauchen dafür keine Getränkekarte, sondern bestellen die typischen Standardgetränke. Es gilt also, einfach zu bestellen, was man gerne hätte, ohne eine Getränkekarte zu verlangen. Man bekommt dann schon zu hören, wenn das Bestellte nicht da ist. Übrigens ist fris(drank) der Sammelbegriff für alle nicht-alkoholischen Getränke. Möchte man wissen, welche nicht-alkoholischen Getränke es gibt, fragt man „Heb je iets van fris?“ und bekommt dann die Möglichkeiten aufgezählt.
Grüßen, auf der Straße: Begegnet man in seinem Wohnviertel (insbesondere auf der Straße, in der man wohnt) oder einer ansonsten menschenleeren Straße einem fremden gleichaltrigen oder älteren Erwachsenen, grüßt man mit „goedemorgen“, „goedemiddag“, „goedenavond“ („Guten Morgen“, „Guten Tag“, „Guten Abend“). So wird man auch beispielsweise von Verkäufern im Geschäft begrüßt. Erwachsene Niederländer grüßen unbekannte Kinder oder Jugendliche in der Regel nicht und erwarten auch nicht, von ihnen gegrüßt zu werden. Kennt man die Person persönlich, sagt man hingegen „hoi“ („Hi“) oder „hallo“ („Hallo“).
Grußkarten: In den Niederlanden werden traditionell noch immer sehr viele Grußkarten geschrieben und verschickt, auch wenn immer mehr per E-Mail oder Social Media gratuliert und gegrüßt wird. Selbst Beileidsbekundungen für Bekannte werden mittlerweile auf Facebook akzeptiert, wenn man im Grunde so wenig befreundet ist, dass man ansonsten ohnehin nicht wüsste, dass eine angehörige Person verstorben ist. Die wichtigsten Anlässe für Grußkarten sind Glückwünsche zur Geburt eines Kindes, Weihnachten, Geburtstage (insbesondere runde), Schul- und Hochschulabschlüsse. Dabei gilt es nicht als unhöflich, keinen persönlichen Text zu schreiben, die Unterschrift auf der vorformulierten Karte reicht schon im Sinne von „ich denke an dich“. Ein längerer persönlicher Text ist überflüssig. Die Weihnachtspost kann man im Übrigen mit speziellen vergünstigten Weihnachtsbriefmarken verschicken und es steht ein gesonderter Briefkasten zur Verfügung. Die Empfänger hängen sie mit Vorliebe an einer Schnur am Fenster oder quer durch die Wohnung mit Wäsche- oder Büroklammern auf. Es ist weniger als Angeberei gemeint nach dem Motto „schau, wie viele Karten ich bekommen habe“, sondern untermalt einfach die festliche Stimmung wie eine Wimpelleine. Die Niederländer würden sich also auch über Grußkarten von Bekannten aus dem Ausland freuen!
Kleidung: In den Niederlanden kleidet man sich zum Ausgehen ins Theater oder zum Essen weitaus weniger schick als das in z. B. Deutschland üblich ist, obwohl jüngere Generationen jetzt auch gern mit besonderer Markenkleidung gesehen werden wollen. Förmliche Abendgarderobe sieht man im Grunde nur zu besonderen Anlässen bei Mitgliedern des Königshauses oder politischen Würdenträgern. Bei einer akademischen Promotion sind der Doktorand, seine unmittelbaren Familienmitglieder sowie seine zwei paranimfen, die ihm während der Disputation zur Seite stehen (gute Freunde oder Studienkollegen, die sich einfach nur darum kümmern, dass z. B. das Mikrofon funktioniert oder dass der Doktorand nicht allzu nervös wird), förmlich gekleidet. Der männliche Doktorand und die paranimfen tragen einen Frack, die weiblichen hingegen einen Hosenanzug oder ein angemessenes schwarzes Kleid. Bei dem recht archaischen Zeremoniell trägt der Rektor oder seine Vertretung eine Amtskette, den Universitätsstab und einen Talar. Von anderen Anwesenden wird zu diesem Anlass entsprechend adrette Kleidung erwartet.
Lekker (dt. lecker): Ein Wort mit dem man im Niederländischen nicht nur auf den wohlmundenden Geschmack von etwas reagiert, sondern es kann auch auf viele andere Dinge angewendet werden: das Wetter, einen attraktiven Mann oder eine hübsche Frau (lekker ding), eine gute Nachtruhe, ein gutes Gefühl, eine gemütliche Ruhe. Der Gebrauch ist also prädestiniert für Missverständnisse. Vorsicht!
Medikamente: Alle nicht verschreibungspflichtigen Medikamente bekommt man in den Niederlanden in Drogerien. In eine Apotheke geht man im Grunde nur mit einem Rezept vom Arzt. Das Medikament erhält man dort selten in der Originalverpackung des Herstellers, sondern die verschriebene Anzahl der notwendigen Pillen wird eigens in eine weiße Schachtel abgezählt und umgepackt, mit dem Namen des Patienten und der vom Arzt verordneten Dosierungsanleitung versehen. Eine Wahl des Herstellers hat man nicht, um so die Pharmaindustrie dem Gemeinwohl unterzuordnen und Preiskämpfe in der Pharmaindustrie zu vermeiden. Zu der Schachtel bekommt man auch einen Ausdruck des Beipackzettels. Also nicht wundern, dass das ganze furchtbar lange dauert. Man ziehe seine Nummer und übe sich in Geduld. Übrigens muss man sich als Einwohner bei der Apotheke seiner Wahl als Kunde registrieren lassen – alles Maßnahmen die dem Medikamentenmissbrauch und Unverträglichkeitsproblemen entgegenwirken sollen, da die Apotheke über den Konsum aller verschreibungspflichtigen Medikamente des Patienten im Bilde ist.
Milchprodukte: In den Niederlanden werden viele Milchprodukte konsumiert. Überraschend ist da vielleicht, dass insbesondere niederländische Männer mittags gerne ein Glas Milch oder karnemelk (Buttermilch, aber geschmacklich irgendwo zwischen Buttermilch und Kefir angesiedelt) trinken und zwar auch beim Geschäftsessen! Vielleicht ist das das Geheimnis der überdurchschnittlichen Körpergröße vieler niederländischer Männer, insbesondere im Norden des Landes?
Mittagessen: Ist man geschäftlich in den Niederlanden, sollte man sich darauf einstellen, dass mittags belegte Brote, Salate u. Ä. gegessen werden, die warme Mahlzeit gibt es grundsätzlich erst am Abend, wenn die Familie zusammenkommt oder die alleinstehende Person Zeit zum Kochen hat. Entsprechend gibt es in niederländischen Betrieben keine Kantinen, sondern man isst sein mitgebrachtes Brot am Arbeitsplatz oder macht z. B. mit Kollegen einen Spaziergang. Bei einem Geschäftstermin bekommt man in der Regel nur belegte Brote angeboten.
Nachbarn: Wenn man neu in eine Wohnung oder ein Haus eingezogen ist, klingelt man im Laufe der ersten Wochen bei seinen Nachbarn, um sich kurz vorzustellen. Gute Nachbarschaft ist den Niederländern sehr wichtig. Man weiß ja nie, wann man sie braucht, z. B. um die Katze oder Zimmerpflanzen etc. zu versorgen, wenn man in den Urlaub fährt, oder ganz einfach, um Pakete und Päckchen entgegenzunehmen, wenn man gerade nicht zu Hause ist (siehe auch das Stichwort „Pakete“ in diesem Kapitel). Man sollte seine Nachbarn daher auch immer freundlich grüßen, wenn man ihnen begegnet und sein Auto in städtischen Wohnvierteln nach Möglichkeit vor seinem eigenen Haus parken und nicht vor dem des Nachbarn.
Nachname: Der Nachname einer Frau ändert sich mit der Hochzeit auf offiziellen Dokumenten nicht und der Mädchenname wird heutzutage in der Regel nach der Eheschließung weitergeführt. Nur auf einen Antrag hin wird der Nachname des Ehemannes auf dem Ausweis der Ehefrau ergänzt. Bei Kindern von verheirateten Ehepaaren bekommen die Kinder automatisch den Nachnamen des Vaters und bei unverheirateten den der biologischen Mutter, es sei denn sie beantragen ausdrücklich eine andere Namenszuweisung für das erstgeborene Kind (nachfolgende Geschwister aus der gleichen Verbindung bekommen immer den gleichen Nachnamen wie ihre Geschwister). Bei gleichgeschlechtlichen Paaren ohne biologische Mutter muss der Nachname immer per Antrag festgelegt werden. Das heißt, man kann vom Nachnamen eines Kindes oder Ehepartners nur selten auf den Nachnamen der Mutter bzw. der Partnerin schließen. Da hilft nur nachfragen!
Niederländisch sprechen: Die Niederländer schätzen es, wenn man als Deutschsprachiger in der niederländischen Sprache mit ihnen spricht. Allerdings haben sie recht wenig Geduld, fehlerhaft formulierte oder mit Akzent ausgesprochene Sätze zu dekodieren und fallen dann immer schnell ins Englische. Das ist oftmals vermutlich einfacher für beide Seiten. Man sollte jedoch beharrlich beim Niederländischen bleiben, wenn man in den Niederlanden lebt, denn sonst werden sich die Niederländer garantiert nach einigen Jahren beschweren, dass Sie noch immer kein vernünftiges Niederländisch beherrschen.
Pakete: Wenn man selbst nicht zu Hause ist, werden Päckchen und Pakete von den diversen Zustellern in der Regel einfach bei irgendeinem Nachbarn abgegeben und man findet in seinem Briefkasten einen Hinweiszettel, wo man das Paket abholen muss. Niemand bricht sich einen Zacken aus der Krone, wenn er auch für völlig unbekannte Nachbarn eine Postsendung annimmt. Diese Form der Nachbarschaftshilfe ist in den Niederlanden überaus gern gesehen und selbstverständlich.
Rauchwaren: Seit 2016 gilt in den Niederlanden ein strengeres Tabakgesetz. Das Mindestalter für den Kauf jeglicher Tabakwaren inklusive E-Zigaretten und Nachfüllpackungen ist 18 Jahre. Zusatzstoffe wie Vanillearoma oder andere den Tabakgeruch maskierende Duftstoffe wurden bereits verboten, sowohl im Tabak als auch im Zigarettenpapier. Ab 2020 werden auch Mentholzigaretten gänzlich verboten sein. Da die Geldbußen für den Verkauf von Tabakwaren an Minderjährige genau wie beim Verkauf von Alkohol sehr hoch sind, verlangen die Angestellten von jedem Kunden, dessen geschätztes Alter unter 25 Jahren liegen könnte, einen Ausweis. In einer Gruppe muss jeder seinen Ausweis vorzeigen (Ausnahmen werden nur in Begleitung der Eltern gemacht).
Rotlichtviertel: Das Amsterdamer Rotlichtviertel, „De Wallen“ genannt, in dem Prostituierte ihre Dienste in den rot beleuchteten Schaufenstern entlang der Grachten anbieten, ist ebenso berühmt-berüchtigt wie die Hamburger Reeperbahn. Dennoch gibt es im 21. Jahrhundert wieder vermehrt städtische und polizeiliche Maßnahmen, um das Gebiet zu verkleinern und illegalen Aktivitäten wie Menschenhandel, Verkauf von harten Drogen und Beschaffungskriminalität entgegenzuwirken. Auch andere rosse buurten (Rotlichtviertel) in den Niederlanden werden zunehmend geschlossen, wie z. B. die Hausboote entlang der Vecht am Zandpad in Utrecht und Gebäude der Hardebollenstraat, die 2013 komplett geschlossen wurden. Voyeuristischer Rotlichtviertel-Tourismus trägt nicht gerade zur Vermeidung von Prostitution oder der Verbesserung der Arbeitsverhältnisse von Prostituierten bei. Man sollte sich daher reiflich überlegen, ob ein Besuch des Rotlichtviertels wirklich wünschenswert ist.
Ruhebereich: Auch in den Niederlanden kennt man in den IC-Zügen Ruhebereiche (stiltecoupé), in denen Handytelefonate, Klingeltöne, lautes Musikhören über Kopfhörer und laute Gespräche jeder Art unerwünscht sind. Die Meinungen darüber gehen auseinander: Reisende sehen gerade zu Spitzenzeiten im Pendlerverkehr nicht ein, warum z. B. Mütter mit Kindern oder eine Freundesgruppe, die sich unterhalten möchte, im Ruhebereich nicht willkommen sind, wenn in den anderen bereits übervollen Waggons kein Platz für sie ist.
Ruhezeiten: Diese gibt es vor allem in den Großstädten schon lange nicht mehr (streng reformierte Ortschaften und Campingplätze mal ausgenommen). Am Sonntag wird immer irgendwo der Rasen gemäht oder gehämmert, mittags gibt es keine Siesta und die Grill- oder Studentenparty geht bis in die Nacht, ohne dass man vorher den Nachbarn Bescheid gegeben hätte. Nachbarschaftsstreitigkeiten gibt es zur Genüge, dennoch wird in den Niederlanden vielfach nach eigenem Ermessen gehandelt und nicht nach vorgegebenen gesellschaftlichen Regeln. Bei einem Problem kann man ruhig mit den Nachbarn reden, man sollte sich nur bewusst sein, dass man sich nicht auf eine allgemein gültige Ruhezeit beziehen kann.
Schweigeminuten: Am 4. Mai ist „Dodenherdenking“ (Totenehrung für die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg), das seit 1956 auf nationaler Ebene am National Monument in Amsterdam mit einer Zeremonie begangen wird. Um genau 20 Uhr ertönt dann landesweit ein Signal, dass zwei Schweigeminuten zum Gedenken der Toten einleitet. Danach werden Reden gehalten, die Nationalhymne gesungen und Kränze niedergelegt (der König zuerst). Ein ähnliches Zeremoniell findet in allen Gemeinden statt. Egal, was man gerade tut, wenn man das Signal hört, sollte man es den Niederländern gleichtun und respektvoll zwei Minuten lang schweigen.
Strandspaß: Deutsche Urlauber, die am Strand ihren Sitzbereich mit Sandwällen umgeben bzw. eine Kuhle als Sitzbereich graben, sind den Niederländern ein Dorn im Auge und wecken allen Ernstes nach wie vor negative Assoziationen mit den Verteidigungsgräben im Zweiten Weltkrieg (nahezu jeden Sommer findet man zum Auftakt der Badesaison einen Artikel zum Thema in den Zeitungen). Deutschsprachige Urlauber sollten auf diese Form des Buddelns verzichten und stattdessen Sandburgen bauen.
Taxi: Es gibt sie, aber man kann sie selbst in Amsterdam nicht einfach heranwinken, sondern muss sie telefonisch bestellen oder am Taxistand aufsuchen. Für den Fall der Fälle sollte man sich also mindestens eine Telefonnummer von einer Taxizentrale pro Stadt notiert und ein Handy zur Hand haben. Die Preise sind im Übrigen noch wesentlich teurer als man das z. B. in Deutschland gewohnt ist.
Terminkalender: Ohne eine agenda verabreden sich Niederländer nicht, d. h. spontane Verabredungen gibt es kaum. Allerdings wird der volle Terminkalender auch gerne als Ausrede vorgeschoben. Die Nuancen zwischen tatsächlich vollem Terminkalender aber ehrlichem Interesse und den Ausflüchten wird man im Laufe der Bekanntschaft mit Niederländern interpretieren lernen müssen.
Toilette: Achtung, das wildplassen („wild pinkeln“) in Städten wie z. B. das Urinieren in Grachten wird mit einer Geldstrafe von 140 Euro geahndet. Nicht umsonst werden in den beliebten Ausgeharealen der größeren niederländischen Städte am Wochenende in der Regel zusätzliche Urinale (oftmals der Sorte Dixi) in den Straßen aufgestellt, damit Männer erst gar nicht in die Verlegenheit kommen, sich am nächsten Baum oder an der Kirchenmauer zu erleichtern. Am Sonntagvormittag werden die Urinale wieder entfernt, wobei es auch solche gibt, die am Sonntagmorgen in den Boden abgesenkt werden.
Trinkgeld: In der Regel gibt man in den Niederlanden kein Trinkgeld und rundet Rechnungsbeträge auch nicht auf. Lediglich in einem gehobenen gastronomischen Lokal geben gut situierte Gäste schon einmal fünf bis zehn Prozent Trinkgeld, wenn es ihnen entsprechend gut gemundet hat. Je nach Café oder Kneipe steht manchmal ein Sparschwein für Trinkgelder an der Kasse, das oftmals von ausländischen Mitarbeitern aufgestellt wurde.
Tulpen: Man hält die Tulpe heute für ein urniederländisches Gewächs, tatsächlich kommt sie aber aus der Türkei. Im Goldenen Zeitalter waren ihre Zwiebeln Sammelobjekte für Reiche und wurden zum Gegenstand von Spekulationsgeschäften. Im Jahr 1637 verspekulierte man sich und viele Niederländer verloren ihr gesamtes Vermögen. Das war das Ende der verrückten Preise für die Blumenzwiebeln, aber die Niederlande blieben eine absolute Größe im internationalen Blumengeschäft. Das weltweit größte Auktionshaus für Blumen steht in Aalsmeer, wo täglich ca. 19 Millionen Blumen und zwei Millionen Pflanzen von 7000 Züchtern den Besitzer wechseln. Rund 80 % werden ins Ausland verkauft. Kein Wunder also, dass man im Westen des Landes vom Flugzeug aus nur Blumenfelder sieht, so weit das Auge reicht, Blumencorsos im ganzen Land beliebt sind und die Blumenausstellung im Keukenhof weltberühmt ist. Einen Strauß Blumen im Haus zu haben oder zu verschenken, ist für Niederländer das Normalste der Welt.
Verabschieden: Von fremden Personen z. B. im Geschäft oder Café verabschiedet man sich in der Regel mit tot ziens („Auf Wiedersehen“). Das umgangssprachliche doei („Tschüss“) und seine regional unterschiedlichen Varianten (doeg in Amsterdam, hou doe in Brabant) sind eher Freunden und Bekannten, aber auch dem Geschäftspersonal, das man regelmäßig sieht wie z. B. den Angestellten in der Bäckerei, vorbehalten. Was die nonverbalen Verabschiedungsrituale betrifft, siehe auch das Kapitel „Drei Luftküsse und das ‚Du‘ – die Umgangsformen“ ab Seite 163.
Vorstellen: Wird man einer unbekannten Person im privaten Bereich oder am Arbeitsplatz vorgestellt oder stellt man sich selbst vor, gibt man sich in der Regel die Hand und nennt lediglich seinen Vornamen, im beruflichen Bereich Vor- und Nachnamen. Es kann je nach Situation aber auch zu den drei Luftküsschen kommen (siehe das Kapitel „Drei Luftküsse und das ‚Du‘ – die Umgangsformen“ ab Seite 163).
Extrainfo 1 (s. S. 6): ZDF-Doku zur „Tulpomanie“ und dem ersten Börsencrash der Geschichte
Wein: Je gehobener die Gastronomie, desto eher kann man eine Auskunft über die Traubenart des angebotenen Weines erwarten. In normalen Kneipen gibt es schlicht irgendeine Hausmarke Rotwein, Weißwein und eventuell auch Rosé aus dem Großmarkt. Im Süden der Provinz Limburg gibt es übrigens ein Weinanbaugebiet, wo vorwiegend Weißweine hergestellt werden.
Witze: Humor bei Geschäftsbesprechungen dient der informellen entspannten Atmosphäre und gehört auch im Geschäftsleben zum Alltag. Das bedeutet nicht, dass Niederländer die Arbeit nicht ernst nehmen, aber auch die Arbeitszeit soll gezellig sein. Also mitmachen und nicht gleich bierernst zur Tagesordnung übergehen!
Zegels: Diese Rabattmarken oder Sparpunkte bekommt man in fast allen Supermärkten und auch an Marktständen oder beim Pizzaladen etc. angeboten. Diese Form des (vermeintlichen) Sparens ist in den Niederlanden ungeheuer populär. Die Supermarktkette Albert Heijn bietet mit der kostenlosen Bonuskarte eine Art Treueprogramm an. Auf Vorzeigen der Bonuskarte bekommt man ausgezeichnete Produkte des Supermarktes preiswerter verkauft. Die Kassierer fragen immer nach der Karte – hat man keine dabei, zückt der Kassierer womöglich eine eigene oder fragt den nächsten Kunden bzw. der Kunde fragt die Umstehenden selbst. Als Tourist kann man auf die vielen Fragen nach zegeltjes, airmiles oder bonuskaart im Regelfall pauschal mit „nein“ antworten. Nur bei der Frage, ob man das bonnetje, die Quittung, haben möchte, sollte man bei Bedarf „ja“ sagen.
Welcher Begriff ist nun der richtige für das Land und seine Bewohner? Offiziell heißt es seit 1830 Koninkrijk der Nederlanden (Königreich der Niederlande) und umfasst heute insgesamt vier Gebiete: die Niederlande, Aruba, Curaçao und Sint Maarten, wobei die drei Letzteren zusammen mit den drei Sondergemeinden Bonaire, Sint Eustatius und Saba das sogenannte Caribisch Nederland (Karibische Niederlande) bilden. Innerhalb der Niederlande gibt es heute zwölf Provinzen: Noord-Holland, Zuid-Holland, Utrecht, Zeeland, Friesland, Groningen, Gelderland, Overijssel, Drenthe, Flevoland, Noord-Brabant und Limburg.
Bis auf Flevoland und Limburg waren die genannten Regionen von 1806 bis 1810 bereits Teil des durch Napoleon gegründeten Königreichs Holland und davor Teil der ebenfalls kurzlebigen Batavischen Republik von 1795 bis 1806. Zuvor hatte es über 200 Jahre lang eine lose Föderation zwischen den sieben nördlichen Provinzen Holland, Zeeland, Utrecht, Friesland, Groningen, Gelderland und Overijssel gegeben, die später die „Republiek der Zeven Verenigde Provinciën“ (Republik der Sieben Vereinigten Provinzen) genannt werden sollte. Drenthe gehörte zwar dazu, aber diese verarmte Provinz bekam keinen eigenen Repräsentanten in den sogenannten Staten-Generaal (Generalstaaten), wie sich das wichtigste Organ dieser Föderation nannte, in dem sich regelmäßig die Vertreter aller Provinzen versammelten, um Entscheidungen über die Außenpolitik und auch den internationalen Handel zu fällen.
Die Provinz Holland war die größte und einflussreichste und musste darum auch 58 % der Kosten der Republik tragen. Hier gab es die meisten Städte und somit die meisten Menschen. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass niederländische Seefahrer, die seit dem Goldenen Zeitalter auf der ganzen Welt von sich reden machten, ihre Herkunft mit „Holland“ angaben. So errang Holland schon früh weltweiten Ruhm. Wenn diese Holländer in der Kolonialzeit neue Gebiete für sich beanspruchten, benannten sie diese oftmals nach ihrer Heimatprovinz. So nannte der Niederländer Abel Tasman den durch ihn entdeckten australischen Kontinent z. B. „New Holland“. In Amerika wurde „Nieuw-Amsterdam“ (Neu Amsterdam, heute New York) gegründet, was die Holländer jedoch 1667 nach einem verlorenen Krieg an die Engländer abtraten, dafür konnten sie die von Sklaven bewirtschafteten Plantagen in Suriname behalten.
Das heißt, seit der Ära der großen Kolonialmächte England, Holland, Frankreich, Portugal und Spanien kennt man die „Holländer“ weltweit, denn in der Provinz lagen die Schiffe, die die Handelswaren aus den Kolonien nach Europa brachten. Dieser Bezeichnung begegnet man daher auf Schritt und Tritt auf dem Weltparkett und sie trifft heute noch immer auf die Einwohner der zwei am dichtesten bevölkerten Provinzen in den Niederlanden zu. Von der niederländischen Gesamtbevölkerung wohnen heute 38 % allein in den Provinzen Noord- und Zuid-Holland.
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist jedoch nicht immer die historische Provinz gemeint, wenn es um „Holland“ geht. Im Englischen ist die Verwendung von „Holland“ und „Dutch“ sehr geläufig und den Zungenbrecher „The Netherlands“ als korrekte Bezeichnung des Landes findet man fast ausschließlich in der gehobenen Schriftsprache. Mitunter aus diesem Grund vermarktet das Niederländische Büro für Tourismus & Convention die Niederlande seit den späten 1960er-Jahren unter dem Markennamen „Holland“. Bei jeder Fußballbegegnung, aber auch bei anderen internationalen sportlichen Wettkämpfen fallen die Fanartikel mit der Aufschrift „Holland“ auf, „Nederland“ hingegen sieht man seltener. Seit der Kreation des Fußballsongs „Hup Holland (Hup)“ durch zwei TV-Mitarbeiter im Jahr 1950 mauserte sich dieser für die Niederländer zum Schlachtruf schlechthin. Nur beim Fußball ist es dann auch dem waschechten Limburger oder Friesen egal, dass es korrekterweise „Nederland“ heißen sollte. Auf dem sportlichen Parkett vermarkten sich die Niederländer auch selbst vorwiegend als „Holland“, was sich aus diesem Grund auch in der internationalen Sportberichterstattung durchgesetzt hat.
Landeskunde auf den Punkt gebracht
Die Niederlande sind ein kleines Land, von der Fläche und der Bevölkerungsdichte her mit Nordrhein-Westfalen zu vergleichen. Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen den Provinzen. Sieben der niederländischen Provinzen hatten im Mittelalter eine eigene Regionalregierung und Verwaltungsstruktur; sie sind in ihrer Unterschiedlichkeit mit den Bundesländern zu vergleichen, wenn auch auf einer weitaus kleineren Fläche.
Fläche: 41.528 km2 (18,41 % Wasser)
Bevölkerung: über 17 Millionen Einwohner (2016; vgl. NRW 17,7 Mio. auf 34.110 km2), davon 5 % Ausländer
Bevölkerungsdichte: 502 Einwohner pro Quadratkilometer
Autonome Länder (in der Karibik), dem Königreich der Niederlande zugehörig: Aruba (102.911 Ew., 180 km2, Hauptstadt: Oranjestad), Curaçao (153.500 Ew., 444 km2, Hauptstadt: Willemstad), Sint Maarten (33.609 Ew., 34 km2, Hauptstadt: Philipsburg)
Besondere Gemeinden (in der Karibik), dem Königreich der Niederlande zugehörig: Bonaire (19.408 Ew., 288 km2 Hauptstadt: Kralendijk), Saba (1947 Ew., 13 km2, Hauptstadt: The Bottom), Sint Eustatius (3193 Ew., 21 km2, Hauptstadt: Oranjestad)
Religionen: 27 % römisch-katholisch, 16 % protestantisch, 5 % muslimisch, 1 % hinduistisch, 2 % andere, 48 % keine Religionszugehörigkeit
Offizielle Sprachen: Niederländisch und Friesisch (nur in Friesland gesprochen) auf dem niederländischen Festland. Im karibischen Bonnaire, Sint Eustatius und Saba auch Papiamento und Englisch. Als Regionalsprachen anerkannt sind das Niedersächsische (seit 1996) und das Limburgische (seit 1997).
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