70 Jahre Grundgesetz
F.A.Z.-eBook 56
Frankfurter Allgemeine Archiv
Herausgeber: Dr. Reinhard Müller, verantwortlicher Redakteur für die Seiten »Staat und Recht« und »Zeitgeschehen« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie für F.A.Z. Einspruch.
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher
Zuständiger Bildredakteur: Henner Flohr
Illustrationen: © Greser und Lenz 2019
Projektleitung: Olivera Kipcic
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
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© 2019 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main
Titelbild: © tbcgfoto / adobe.com
ISBN: 978-3-89843-475-1
Vorwort
Gutes Gerüst
Das Grundgesetz nach 70 Jahren
Die Bibel der Deutschen
Mehr Freiraum!
Wirkung für die Welt
Im offenen Dialog mit Europa
Speicher der Freiheit
Eine gerechte Ordnung?
Eine weitere Schuldenbremse
Die Zeiten änderten sich, das Grundgesetz hatte Bestand
Geburtsurkunden für die Bundesrepublik
Ein Jahr Grundgesetz
Will man die Verfassung aushöhlen?
Das Grundgesetz in der Probe des Lebens
Verfassungspatriotismus
Freiheit in Widersprüchen
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Mütter des Grundgesetzes
Vergessene Vorschriften des Grundgesetzes
Schlummerndes Potential
Das Recht zur Neuschöpfung
Nicht für die Schule lernen wir
Entschädigung bis in alle Ewigkeit?
Das unbekannte Organ
Entrechtung
Ein Recht zum Widerstand
Bücher
Ausgewählte Literatur zum Thema Grundgesetz
Personen
Von Reinhard Müller
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Von Berthold Kohler
Dass das wiedervereinigte Deutschland vor drei Jahrzehnten die Präambel änderte, weil die Einheit erreicht war, sich aus diesem Anlass aber keine neue Verfassung gab, ist vor allem von ostdeutscher Seite bemängelt worden. Selbst wenn damals keine Eile geboten gewesen wäre, als sich den Deutschen überraschend die Gelegenheit bot, den schon weitgehend verblassten Traum der Wiedervereinigung zu verwirklichen, müsste man sich jedoch fragen: Wie sehr hätte sich eine neue Verfassung vom Grundgesetz unterscheiden sollen?
Das Grundgesetz ist die hellste Verfassung, die je auf deutschem Boden ersonnen wurde. Sie ist nicht nur eine Verfassung wie aus dem Lehrbuch einer freiheitlichen Demokratie; sie ist auch ein Lehrbuch über die deutsche Geschichte und ihre Lektionen. Wer zweifelt, dass Völker aus ihrer Vergangenheit lernen können, sollte sich die Protokolle der Beratungen auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat ansehen.
Das Grundgesetz ist, von den Werten, für die es steht und die es schützt, bis zu den Regeln, die es für die Organe des Staates aufstellt, eine Antithese zur Herrschaft des Bösen in den Jahren 1933 bis 1945. Mit Blick auf die Erfahrungen in der Weimarer Republik und auf den Zivilisationsbruch der Nazi-Barbarei schufen die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine Grundordnung für das Zusammenleben der Deutschen, die, was eine gute Verfassung ausmacht, überzeitliche Qualität hat. Selbst dieses Manifest konnte die Zukunft nicht vorhersehen. Das Internet etwa mit seinen Chancen und Gefahren kann in einer siebzig Jahre alten Verfassung noch nicht vorkommen. Das Rüstzeug für die – in pluralistischen Demokratien »ewige« – Debatte über das Verhältnis von Persönlichkeitsrecht, der Meinungsfreiheit und deren Grenzen ließ sich aber auch schon zu analogen Zeiten aus dem Grundrechtskatalog entwickeln.
Nicht allein auf diesem Spannungsfeld erweist sich das Grundgesetz als eine Verfassung der Ausgewogenheit, der Balance und der Güterabwägung. In ihrem Zentrum steht das Individuum mit seiner unantastbaren Menschenwürde – aber nicht das Recht auf schrankenlosen Egoismus. Das Grundgesetz ist der Bauplan für einen Nationalstaat – und gleichzeitig ein Bekenntnis zur europäischen Integration. Weil Zeiten und Ansichten sich ändern, muss immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden, welche Richtung die Republik in den weiten Grenzen einschlägt, die ihr vom Grundgesetz gesetzt werden. Die Entscheidung darüber sollte die Politik nicht ganz so oft nach Karlsruhe abschieben. Der Versuchung, das durch ein Aufblähen der Verfassung zu kompensieren, ist ebenfalls zu widerstehen.
Braucht man andererseits noch alles, was 1949 nötig zu sein schien, auch aus manchem Selbstzweifel heraus? Die Entscheidung für eine repräsentative Demokratie hat sich, trotz ihrer Mängel, bewährt. Das System der Gewaltenteilung, das jeder Form von Machtergreifung einen Riegel vorschieben sollte, mag manchem aus heutiger Sicht zu stark ausgebaut vorkommen, wenn es um die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung geht oder um die Beteiligung des Bundestags an der Entscheidung für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Doch trägt die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsorganen und der Länder mit dem Bund dazu bei, dass sowohl die politischen Prozesse als auch ihre Ergebnisse von einer Tendenz zu Maß und Mitte geprägt werden. Das ist bei einer Geschichte, die oft von einem Extrem ins andere taumelte, nicht der geringste Grund für das hohe Ansehen, welches das Grundgesetz genießt, bei den Deutschen selbst wie bei ihren Nachbarn.
Nach dem extremsten Extrem legten kluge Männer und Frauen einen – damals nicht unumstrittenen – Entwurf für ein Deutschland vor, wie es aus ihrer Sicht sein sollte. Nach siebzig Jahren, in denen es auch harte Auseinandersetzungen um die Gestalt dieses Gemeinwesens und um seine Verfassung gab, kann man feststellen: Ihr Plan für die Errichtung einer stabilen deutschen Demokratie ging auf. Das Grundgesetz ist, auch dank intensiver Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht, zur Bibel der Deutschen geworden. Wer verstehen will, wer wir sind und woran wir glauben, sollte sie lesen. Wer zu uns gehören möchte, muss ihre Gebote befolgen. Weil diese aber Menschenwerk sind, werden sie nur so lange gelten, wie die Deutschen im Bewusstsein ihrer »Verantwortung vor Gott und den Menschen« die beste Verfassung, die sie je hatten, mit Leben erfüllen und gegen innere wie äußere Feinde verteidigen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.05.2019
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Von Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages
Die kontrovers geführte Debatte unterstrich aber auch: Eine Verfassung kann bessere oder schlechtere Rahmenbedingungen schaffen, sie bleibt immer ein Rahmen, der von den Menschen getragen werden muss – und durch die Politik ausgefüllt. Das Jubiläum bietet insofern Gelegenheit zur selbstkritischen Betrachtung unseres Umgangs mit den verfassungsrechtlich gewährten Freiheiten einerseits und den gesetzten Regeln andererseits, ohne die eine offene Gesellschaft nicht funktionieren kann.
Es heißt, freiheitliche Verfassungen sollen notwendige Veränderungen ermöglichen, ohne sich selbst verändern zu müssen. Das ist das Ideal. Das Grundgesetz hat in der Vergangenheit eine Reihe von Eingriffen erfahren, die zwar nie die Gesamt-Statik verändern konnten, aber auch nicht belanglos waren. Dabei täten wir gut daran, auch künftig nicht alles, was man politisch gestalten möchte, im Grundgesetz festzuschreiben. Die Gestaltungsmöglichkeiten sollten sich vielmehr nach den Mehrheiten richten, über die der Wähler alle vier Jahre entscheidet. Dinge verfassungsrechtlich zu regeln macht das Grundgesetz nicht zwingend besser – es engt aber zwangsläufig die politischen Handlungsspielräume erheblich ein.
Der Staatsrechtler Christoph Möllers hat bereits zum sechzigjährigen Geburtstag des Grundgesetzes mit dem Hinweis Wasser in den Jubiläumswein gegossen, die bisherigen Verfassungsänderungen würden im »sprachlichen Nachkriegsdenkmal«, welches das Grundgesetz eben auch darstelle, so verheerend wirken wie ein Parkhaus aus Beton in einem Bauhaus-Ensemble. Daran zu erinnern passt in das laufende Bauhaus-Jahr, es ist vor allem aber noch immer gültig. Hier geht es um mehr als Verfassungsästhetik, wie Dieter Grimm in dieser Zeitung zu Recht betont hat. Alles, so der frühere Verfassungsrichter, was auf der Verfassungsebene geregelt werde, sei dem demokratischen Prozess entzogen: »Es ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse politischer Entscheidungen.« Jede Politikänderung setze so eine vorgängige Verfassungsänderung voraus. Die Verfassung ermögliche dann nicht Flexibilität, sondern bewirke Immobilismus – und der werde in Zeiten hohen Problemdrucks als Politikversagen wahrgenommen.
Artikel 1 Absatz 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. © Adobestock / spuno
Die Erfahrung zeigt: Ergänzungen des Grundgesetzes wecken zudem neue Bedürfnisse, nach dem Muster: Ist erst mal der Tierschutz verankert, müssen erst recht die Kinderrechte mindestens als Staatsziel aufgenommen werden. Dadurch wird eine Spirale in Gang gesetzt, die das Grundgesetz aufbläht mit der Folge, dass immer mehr Gestaltungsfragen durch Verfassungsrecht und -interpretationen dem demokratischen Gesetzgeber entzogen werden.
Der römische Leitsatz Summum ius – summa iniuria beweist sich auch heute noch. Je umfassender die rechtlichen Regelungen und je ausgeprägter die Neigung, in allen Bereichen immer noch genauer steuern, justieren und austarieren zu wollen, umso exzessiver und widersprüchlicher die Auslegung und umso enger die Handlungsräume, die das Recht doch eigentlich schützen soll.
Ob wir uns um Lärm- und Atemschutzregelungen drehen, die Trassenplanungen der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie unterwerfen oder um Grenzwerte bei Feinstaub und Stickoxiden debattieren: In einem überbordenden, sich vielfach widersprechenden Gutachter- und Beraterwesen legt die immer weitere rechtliche Absicherung Deutschland nicht nur bei Großprojekten viel zu oft wie Gulliver in Fesseln. Wo es aber kaum mehr Gestaltungsmöglichkeiten gibt, wird es irgendwann auch am Gestaltungswillen fehlen.
Vom Drang nach immer perfekteren Regelungen ist auch die Verfassungsjurisdiktion nicht frei. Die überfällige und vergleichsweise klein scheinende Wahlrechtsreform ist durch die immer detailliertere Rechtsprechung der vergangenen Jahre zum Ausgleich von Überhangmandaten längst zur Quadratur des Kreises geworden – die zu erklären dann der Politik zufällt.
Die überbordende Verrechtlichung ist also nicht allein das Ergebnis der Neigung des Gesetzgebers, manche Regelungen bis zum Exzess zu treiben. Sie wird auch durch die Hypertrophie der Rechtsprechung befördert. Schlagendes Beispiel sind die überzogene Detaillierung des Artikel 16a GG und die komplizierten Verrenkungen, die Anfang der 1990er Jahre notwendig waren, um in unserem Streben nach juristischer Perfektion das einst so schlicht wie schön formulierte Asylrecht auf das Schutzniveau der Genfer Flüchtlingskonvention zu präzisieren. Nur so konnte die Neufassung vor Gericht Bestand haben.
Wir sollten nicht zulassen, dass unsere Ordnungen durch unseren Hang zur Perfektion so erstarren, dass wir sie nicht mehr reformieren können. Wir müssen uns vielmehr wieder um stärkere Dynamik bemühen. Die Aufgabe politischer Führung ist es, diesem Prozess Form, Richtung, Nachhaltigkeit zu geben. Und immer auch wieder mal die Kraft dazu aufzubringen, mehr ändern zu wollen, als möglich erscheint.
Zumal wir Deutschen uns gerade in einem als perfekt erweisen: zu erklären, warum etwas nicht funktionieren kann. Auch in anderen Demokratien sehen wir, wie schwer es geworden ist, politische Mehrheiten für etwas zu gewinnen. Mehrheiten bilden sich vor allem gegen etwas – die Brexit-Abstimmungen im britischen Parlament sind das eindrücklichste Beispiel dafür. Wo es an Gestaltungsmehrheiten fehlt, gibt es keine echten Entscheidungen mehr, also das, woran Politik gemessen wird. Wenn wir aber politisch nichts mehr gestaltet bekommen, wächst zwangsläufig der Unmut, schwindet das Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente, und erodieren damit die Grundlagen der Demokratie. Wenn wir bei der Umsetzung politischer Ziele nicht erkennbar besser werden, droht ein Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber anderen Modellen. Wir befinden uns mit der EU doch längst in einem globalen Wettbewerb mit autoritären Systemen, die mit einem ungefährdeten Effizienz- und Wohlstandsversprechen für sich werben – ohne freilich ihren Bürgern die Freiheiten zu gewähren, die uns viel zu selbstverständlich scheinen.
Die Geltung von Werten, Prinzipien und Regeln ist für die Stabilität einer demokratischen Ordnung nur das eine. Der ökonomische Erfolg das andere. Es braucht beides. Unsere Aufgabe ist, Freiheit, sozialen Ausgleich und auch ökologische Verantwortung zu verbinden mit Marktwirtschaft, Effizienz und Wachstum. Das sichert den gesellschaftlichen Frieden, das fördert den Zusammenhalt. Es muss uns auch zukünftig stets neu gelingen, hier die richtige Balance zu finden.
Das Grundgesetz stellt dafür den verlässlichen Rahmen. Es wurde von weitblickenden Menschen erdacht, die das Fundament für einen freiheitlichen, handlungsfähigen Staat schufen. Diesen Gedanken sollten wir wieder stärker freilegen, statt uns weiter einzumauern hinter immer neuen Regelungen, die immer weitere, noch detailliertere nach sich ziehen. Besinnen wir uns darauf, dass politische Gestaltung Freiräume braucht! Das Grundgesetz schützt uns alle. Aber es verdient, auch vor allzu großem Regulierungsdrang bewahrt zu werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.05.2019
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Von Christoph Grabenwarter, Vizepräsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs
Im Grundgesetz werden die weltweit klarsten verfassungsrechtlichen Absagen an die Diktatur und an die Negation des Menschen in seiner Würde formuliert. Die »freiheitliche demokratische Grundordnung« mit diesem unbedingten Anspruch konnte und musste sich über Jahrzehnte in Konfrontation mit einer neuen Diktatur im »anderen« Deutschland und der Teilung des Landes behaupten und bewähren. Begünstigt durch wirtschaftlichen Aufschwung haben die Verfassungsorgane dem Grundgesetz zu einer Stellung verholfen, die Verfassungen in anderen Staaten nicht erlangen konnten. So entstand über die Jahre auch ein gewisser »Verfassungspatriotismus«, der in Krisen ein zusätzliches, wenn auch kein unerschöpfliches Reservoir für Sicherungen gegenüber Gegnern der Demokratie bildet.
© F.A.Z.-Foto / Frank Röth
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