Ross Thomas
Der Messingdeal
Ein Philip-St. Ives-Fall
Aus dem Amerikanischen von Wilm W. Elwenspoek
Bearbeitet von Jana Frey und Jochen Stremmel
Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin
Herausgegeben von Alexander Wewerka
Umweg zur Hölle. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Am Rand der Welt. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Voodoo, Ltd. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Kälter als der Kalte Krieg. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Gelbe Schatten. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Die Backup-Männer. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Dämmerung in Mac’s Place. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Gottes vergessene Stadt · Teufels Küche · Die im Dunkeln
Der Yellow-Dog-Kontrakt · Der achte Zwerg · Fette Ernte
Erste vollständige deutsche Ausgabe 2015
Die deutsche Erstausgabe erschien 1970 unter dem Titel
Bonbons aus Blei im Ullstein Verlag Frankfurt/M., Berlin.
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Brass Go-Between, © 1969 by William Morrow.
© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2015
Dank an Gisbert Haefs und Sophie Zue.
Alexander Wewerka, Postfach 19 18 24, D-14008 Berlin
info@alexander-verlag.com
www.alexander-verlag.com
Umschlaggestaltung: Antje Wewerka
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89581-381-8 (eBook)
Der Autor: Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma, verarbeitete seine vielfältigen beruflichen Erfahrungen in seinen Politthrillern, in denen er vor allem die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurden zweimal der Edgar Allan Poe Award und mehrmals der Deutsche Krimi Preis verliehen. Bis zu seinem Tod 1995 entstanden 25 Romane.
Ross Thomas veröffentlichte fünf Romane mit der Hauptfigur Philip St. Ives unter dem Pseudonym Oliver Bleeck. In dem Radio-Feature Der Faktor Mensch (SWR, 2002) von Roland Oßwald und Florian Sedlmeier heißt es, sein Verleger habe ihn um die Benutzung eines Pseudonyms gebeten, weil Thomas seiner Meinung nach zu schnell für den Markt schrieb und weil sich – ebenfalls nach Meinung des Verlegers – der Held aus Der Messingdeal gut in Serie verkaufen könnte. Im Feature verweist Ross Thomas lachend auf das trübe (bleak) Wetter an dem Tag, als er nach einem Namen suchte. Nach anderen Quellen spielt er auf Bleak House des erfolgreichen »Serienautors« Charles Dickens an.
INHALT
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Die Wahl war ganz einfach. Entweder konnte ich auf das Klopfen hin die Tür öffnen, oder ich konnte zu meinen drei Karos zwei weitere zu einem kompletten Flush ziehen, ein tollkühner Versuch, den man normalerweise nur Leuten mit einem unerschütterlichen Glauben an Elfen, Wahlversprechen und Geldzurückgarantien zutraut. Die Tür und wer auch immer hinter ihr stehen mochte – sogar die Avon-Tante – schien um einiges vielversprechender, darum warf ich die Karten hin, machte die Tür auf und war eigentlich nur wenig enttäuscht, als sich Myron Greene, der Anwalt, als die Person erwies, die angeklopft hatte. Etwas zu laut, fand ich, verkündete er, daß er mich dringend unter vier Augen sprechen müsse.
An diesem Samstag pokerten wir bei mir, Five Card Stud und Draw, und die Partie sollte den ganzen Tag über und bis tief in die Nacht dauern. Wir waren zu fünft und hatten um halb elf am Vormittag angefangen, und als am Nachmittag Myron Greene, der Anwalt, klopfte, stand ich mit fast sechshundert Dollar im Plus. Ich wohnte im achten Stock des Adelphi in der East 46th Street, und der einzige Raum, in dem man ungestört sein konnte, war das Bad, also gingen wir dort hinein. Ich schloß die Tür, setzte mich auf den Rand der Wanne und überließ Myron Greene den einen Platz, der einem Stuhl ähnelte. Er klappte den Deckel runter und setzte sich, schlug die dicken Beine übereinander, nahm die Brille ab, um sie mit einer Seidenkrawatte, die modisch breit war, zu polieren, und schnaufte dabei wie immer etwas asthmatisch.
»Sie beantworten Ihre Post nicht«, sagte er.
»Ich lese sie nicht einmal.«
»Sie gehen auch nicht ans Telefon.«
»Der Empfang nimmt Nachrichten entgegen. Ich hol sie einmal täglich ab.«
»Ich habe gestern vier Nachrichten für Sie hinterlassen. Dringende.«
»Gestern hab ich vergessen zu checken.«
»Ich mußte die ganze Strecke aus Darien herkommen«, sagte Myron Greene in vorwurfsvollem, sogar gereiztem Ton.
»Konnte es nicht bis Montag warten?« sagte ich. »Am Montag geh ich wieder ans Telefon.«
»Nein«, sagte Myron Greene, »es konnte nicht warten. Montag müssen Sie da sein.«
Ich habe mich nie überwinden können, Myron Greene als meinen Anwalt zu betrachten, und nicht etwa, weil ich ihn nicht leiden konnte oder sein Honorar nicht hoch genug war. Myron Greene entsprach einfach nicht der sorgfältig entwickelten Vorstellung davon, wie mein Anwalt sein sollte. Nach dieser Vorstellung war mein Anwalt ein schäbiger, geschwätziger alter Bock mit Triefaugen, einer rostfarbenen Alpakajacke auf dem Rücken, einer Cowboy-Krawatte um den Hals und Diebstahl im Herzen, der in einem schmuddeligen Büro ohne Fahrstuhl arbeitete, das er mit einem Kautionsagenten in der Nähe des Rathauses teilte. Außerdem wuchsen ihm krause graue Haarbüschel aus den Ohren.
Im Gegensatz dazu war Myron Greene ein gepflegter, übergewichtiger Fünfunddreißiger, der sich einige (für ihn) gewagte Modegrade links der Brooks Brothers kleidete, Büroräume in der Madison Avenue hatte, ein Zuhause in Darien und, von mir abgesehen, Mandanten mit sechs- oder siebenstelligen Bankkonten oder Firmen hinter ihren Namen und Außenstellen in Houston und Los Angeles. Immer wenn ich mit Myron Greene sprach, empfand ich eine gewisse Enttäuschung. Ich gab die Hoffnung nicht auf, auf seinem Revers einen Soßenfleck oder auf seiner Krawatte einen Klecks Mayonnaise zu finden, aber das war nie der Fall, und so blieb Myron Greene der Anwalt.
»Wo muß ich Montag sein?« sagte ich.
»In Washington.«
»Warum?«
»Ein Schild«, sagte Myron Greene. »Er wird vermißt.«
»Von wem?«
»Einem Museum. Dem Coulter.«
»Warum ich?«
»Man hat nach Ihnen verlangt.«
»Das Museum?«
»Nein«, sagte Myron Greene. »Die andere Seite. Die Diebe.«
»Wieviel?«
»Eine Viertelmillion.«
»Woraus ist er? Aus Gold?«
»Nein. Aus Messing.«
»Die üblichen Bedingungen?«
Er nickte. »Zehn Prozent.«
»Brauche ich das Geld?«
Myron Greene kreuzte die Beine andersherum, fingerte an einem etwas abstehenden Aufschlag seiner achtknöpfigen, zweireihigen, geköperten Jacke im Kavallerieschnitt und lächelte mich mit weißen, bemerkenswert ebenmäßigen Zähnen an, denen seit zweiunddreißig Jahren ein Zahnarzt viermal jährlich seine volle Aufmerksamkeit widmete. »Ihre Frau«, sagte er.
»Meine Ex-Frau.«
»Ihr Anwalt hat angerufen.«
»Und?«
»Ihr Sohn fängt nächsten Monat mit der Schule an. Der Anruf sollte mich erinnern, daß sich Ihre Unterhaltszahlungen damit um zweihundert im Monat erhöhen.«
»Na ja, zweihundert monatlich sollten für seine Frühstücksmilch und die Kekse reichen. Ich würde ja nicht wollen, daß er sie in einer Papiertüte mitbringen muß.«
»Es ist eine besondere Schule«, sagte Myron Greene.
»Diese vornehme Privatschule, von der sie geredet hat?«
»Genau die.«
»Was spricht gegen einen öffentlichen Kindergarten?« sagte ich.
Myron Greene lächelte wieder. »Der hundertvierundsechziger IQ Ihres Sohnes – und Ihre Ex-Frau.«
»In erster Linie meine Ex-Frau.«
»In erster Linie.«
»Ich hab gehört, daß sie wieder heiratet.«
»Vorläufig nicht«, sagte er. »Nicht vor Mai. Wenn die Schule aus ist.«
»Wenn die Zahlungen um zweihundert monatlich erhöht werden, sind es runde tausend – richtig?«
»Richtig.«
»Dann brauche ich das Geld.«
Myron Greene nickte und strich sich mit der Hand sorgfältig über sein braunes Haar, das gerade nicht zu lang war – zu lang auf jeden Fall für einen City-Anwalt. Die Länge seines Haares entsprach völlig der Kleidung, die er trug, und dem Excalibur, den er fuhr. All das sollte andeuten, aber nur andeuten, was er als den wahren Myron Greene betrachtete, den Myron, der – wenn es nicht das Haus in Darien, den Bungalow in Kennebunkport, die Frau (seine erste), die drei Kinder (zwei Jungen und ein Mädchen), die Kanzlei und die Mandanten (ganz besonders die Mandanten) gäbe – dann dort wäre, wo die Post abginge, wo sein Verstand und seine Phantasie unbehindert, sein Sexleben reich und vielseitig wären, wo seine Seele ihm selbst gehörte und in vollkommenem Einklang mit dem Takt jenes anderen Trommlers wäre. Das ist der wahre Grund dafür, warum ich Myron Greenes Mandant war: Irrtümlicherweise glaubte er, ich würde den Trommler beim Vornamen kennen.
»Erzählen Sie mir mehr über den Schild«, sagte ich.
Myron Greene griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einen Umschlag heraus. »Als ich Sie gestern nicht erreichen konnte, habe ich alles diktiert«, sagte er und klopfte mit dem Umschlag gegen das gelbe Waschbecken von American Standard. »Wenn ich Sie hier nicht angetroffen hätte, hätte ich ihn unter der Tür durchgeschoben.«
»Wollen Sie es mir nicht erzählen, jetzt, wo ich hier bin?«
Er blickte auf seine Uhr, ein goldener Zeitmesser, der ihm bestimmt auch sagen konnte, wie spät es in Shanghai war. »Ich habe jetzt nicht viel Zeit.«
»Ich auch nicht.«
Darüber rümpfte Myron Greene die Nase. Einer, der am Nachmittag Karten spielte, mußte alle Zeit der Welt haben.
»Machen Sie’s kurz«, sagte ich.
»Also gut, kurz. Aber es steht alles hier drin.« Er hörte auf, mit dem Umschlag gegen das Waschbecken zu klopfen, und reichte ihn mir.
»Ich werde es lesen, wenn das Spiel vorbei ist.«
»Falls Sie die Zeit dafür erübrigen können.« Sarkasmus lag Myron Greene nicht besonders.
»Machen Sie’s kurz«, sagte ich wieder.
»Also gut. Vor drei Tagen – das war Donnerstag, oder?«
»Donnerstag.«
»Am Donnerstag eröffnete das Coulter Museum in Washington eine zweimonatige Ausstellung afrikanischer Kunst. Sie ist seit fast einem Jahr unterwegs – Rom, Frankfurt, Paris, London und Moskau. Washington ist die letzte Station. Am selben Abend, als sie eröffnet wurde, am Donnerstagabend, wurde das Spitzenstück gestohlen. Nur ein Stück. Es ist ein Messingschild mit einem Durchmesser von etwa einem Meter, rund sieben- oder achthundert Jahre alt. Womöglich älter. Jedenfalls ist er unbezahlbar, und wer immer ihn gestohlen hat, will für die Rückgabe zweihundertfünfzigtausend Dollar, und er will, daß Sie die Verhandlungen leiten. Deshalb hat die Museumsleitung sich mit mir in Verbindung gesetzt, und deshalb habe ich versucht, Sie zu erreichen. Das Museum ist mit der Summe einverstanden.« Myron Greene stand auf und sah wieder auf seine Uhr. »Jetzt bin ich schon zu spät.« Mit einer vagen Geste zeigte er auf den Umschlag in meiner Hand. »Da steht alles drin.«
»Na schön«, sagte ich. »Ich lese es nach dem Spiel.«
»Sind Sie im Plus?« sagte er, und ich wußte, er wünschte sich, daß ich nein sagte.
»Ja.«
»Wieviel?« Danach fragt man zwar nicht, aber Myron Greene tat es.
»Weiß nicht. Um die Sechshundert.«
»So viel?«
»So viel. Wollen Sie mitmachen?«
Myron Greene bewegte sich Richtung Badezimmertür, in Richtung Frau und Kinder, Kanzlei und Motorboot oben in Maine. »Nein, ich glaube nicht, jedenfalls nicht heute. Ich bin wirklich schon schrecklich spät dran. Spielen Sie regelmäßig?«
»Mehr oder weniger«, sagte ich. »Wir sind etwa fünfzehn Leute, aber normalerweise schaffen es nur fünf oder sechs gleichzeitig. Sie kommen und gehen. Ich mache Sie mit ihnen bekannt.«
»Also, ich weiß nicht –«
»Kommen Sie schon.«
Er lernte sie alle kennen. Er lernte Henry Knight kennen, der die Hauptrolle in einem Stück spielte, das trotz der Gleichgültigkeit, wenn nicht Feindseligkeit der Kritiker seit vierzehn Wochen lief. Knight, der mit zweiundvierzig Jahren wieder einmal einen jugendlichen Helden spielte, war mit den Kritikern einer Meinung und sah in jedem Gehaltsscheck eine reine Gratifikation. Er gab sein Geld genauso rasch aus, wie er es bekam, und Poker ging nicht nur schnell, sondern war auch angenehm und brauchte nicht unbedingt einen Kater nach sich zu ziehen. Knight stand mit fast zweihundert im Minus, und als Myron Greene ihm sagte, daß ihm sein derzeitiges Stück gefalle, sagte Knight: »Es gehören eine Menge wunderbare Leute dazu, ein solch wunderbares Stück Scheiße zu fabrizieren.«
Myron Greene lernte Johnny Parisi kennen, der kürzlich auf Bewährung aus Sing Sing entlassen worden war, wo er drei bis sieben Jahre nach einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung verbüßte. Parisi hatte sich den Ducci-Brüdern in Brooklyn angeschlossen, für die er, wie er einmal vor Gericht ausgesagt hatte, »dies und jenes« tat. Parisi hatte für ein kleines College in Pennsylvania Basketball gespielt und hatte es sogar geschafft, sein drittes Jahr hinter sich zu bringen, bevor er dabei erwischt wurde, daß er Spiele verschob. Jetzt war er Mitte Dreißig, ein Meter fünfundneunzig groß, immer noch schlank und sah irgendwie ganz gut aus. Zwischen den Zähnen hielt er eine lange Zigarettenspitze aus Bernstein, selbst wenn er nicht rauchte, und sprach durch sie hindurch oder um sie herum. Ich mußte ihn immer wieder fragen, was er gesagt hatte. Er stand mit ungefähr vierhundert in den Miesen, und der größte Teil davon war vor dem Mann links von ihm aufgestapelt, der ihn eigentlich wegen Verletzung der Bewährungsauflagen hätte festnehmen müssen. Dieser Mann war Lieutenant Kenneth Ogden vom Sittendezernat, in manchen Kreisen auch als Ogden der Kauz bekannt, und niemand fragte ihn je, woher er das Geld für Poker mit Tischlimit hatte, wenn auch einige seiner Kumpel behaupteten, seine Frau hätte Geld. Falls das stimmte, hatte sie eine Menge. Ogden war über Fünfzig, sah älter aus und kleidete sich besser als Knight oder Parisi, die in ihren jeweiligen Gesellschaftskreisen beide als schick galten. Parisi murmelte etwas um seine Zigarettenspitze herum, als ich Myron Greene vorstellte; Ogden sagte: »Hi yah«, und mischte weiter die Karten.
Der vierte Mann, den Myron Greene kennenlernte, trug eine Khakihose, ein Sweatshirt mit dem Aufdruck »Bluebird Inn Keglers« und schmutzige weiße Turnschuhe. Er hieß Park Tyler Wisdom III, und er tat absolut nichts für seinen Lebensunterhalt, weil seine Großmutter ihm einen Treuhandfonds von sieben Millionen Dollar hinterlassen hatte, als er zweiundzwanzig war. Gelegentlich schloß er sich dem einen oder anderen Protestmarsch an, und einmal war er festgenommen worden, weil er seinen Einberufungsbescheid – wie er behauptete – verbrannt hatte, aber es wurde keine Anklage gegen ihn erhoben, nachdem die Bundesbehörden diskret darauf hingewiesen worden waren, daß er einen Silver Star und das Purple Heart mit Eichenlaub für etwas besaß, das er während seiner zwei Jahre bei der First Air Cavalry in Vietnam getan hatte. Mit neunundzwanzig war Wisdom von etwas unterdurchschnittlicher Größe und etwas überdurchschnittlichem Gewicht. In meinen Augen war er nicht viel mehr als ein rapide alternder Kobold, für den der Spaß mit jedem Jahr komischer wurde. Er sagte zu Myron Greene durchaus fröhlich »Hallo«, obwohl der größte Teil meiner sechshundert Dollar von ihm stammte.
Keiner von ihnen interessierte sich für den Anwalt, wenn er nicht mitspielen wollte, darum brachte ich ihn zum Fahrstuhl, und als wir draußen im Gang waren, blieb er stehen, drehte sich um und fragte: »Ist das nicht der Parisi, der –?«
»Genau der«, sagte ich.
Der echte Myron Greene wachte auf. Verschwunden war der Traum von einem sorglosen, verwegenen Leben. Hier stand Staatsbürger Greene, ein Organ der Rechtspflege. »Glücksspiel ist ein Verstoß gegen die Bewährungsvorschriften«, sagte Staatsbürger Greene. »Dieser Detective müßte –«
»Lieutenant«, sagte ich. »Er ist bei der Sitte. Außerdem gewinnt er Parisis ganzes Geld.«
Myron Greene schüttelte den Kopf, als er auf den Fahrstuhlknopf drückte. »Ich verstehe nicht, wo Sie diese Leute aufgabeln.«
»Es sind Freunde und Bekannte«, sagte ich. »Wenn sie nicht Freunde und Bekannte wären, wäre ich für Sie nicht sonderlich brauchbar, oder?«
Er schien über meine Frage einen Augenblick nachzudenken und kam offensichtlich zu dem Schluß, daß sie keine Antwort verdiene. Er hatte eine eigene Frage. »Werden Sie das Memo lesen, das ich Ihnen gegeben habe?«
»Sobald das Spiel vorbei ist.«
»Sie werden am Montag in Washington erwartet.«
»Das sagten Sie schon.«
»Rufen Sie mich morgen zu Hause an, und lassen Sie mich wissen, wie Sie sich entschieden haben.«
»Gut.«
»Sie brauchen das Geld, wissen Sie.«
»Weiß ich.«
Myron Greene schüttelte betrübt den Kopf, während er auf den Fahrstuhl wartete. »Ein Killer und ein Cop«, sagte er.
»Es ist die Welt, in der wir leben.«
»Ihre vielleicht, meine nicht.«
»Von mir aus.«
Für Myron Greene war der Klang des anderen Trommlers verklungen. Der Fahrstuhl kam, und er ging hinein, drehte sich um und schaute mich an. »Wenigstens könnten Sie ans Telefon gehen«, sagte er, während er darauf wartete, daß die Fahrstuhltür sich schloß. Wenn ich anfing, ans Telefon zu gehen, wenn es klingelte, war ich vielleicht auf dem Pfad der Erlösung.
»Morgen«, sagte ich. »Morgen geh ich ran.«
»Heute«, insistierte er. »Es könnte etwas passieren.«
Ich war mit sechshundert im Plus und konnte mir deshalb erlauben, ein bißchen zu verlieren. »Na schön«, sagte ich. »Heute.«
Die Tür begann sich zu schließen, und Myron Greene nickte mir brüsk zu. Ich deutete es als eine Geste der Ermutigung, eine, die mir helfen sollte, meine trägen Gepflogenheiten abzulegen, meine üblen Gefährten zu meiden und sogar beim ersten Klingeln ans Telefon zu gehen.
2
Es muß ein paar Orte geben, die noch heißer sind als Washington im August. Die Gewürzinseln, vermute ich. Death Valley. Vielleicht auch der Tschad um Bokoro herum. Die Washington Post, die ich auf dem Weg vom Flughafen zum Madison Hotel in einem Taxi ohne Klimaanlage las, brachte auf der ersten Seite einen Bericht, in dem damit geprahlt wurde, daß gestern der heißeste Augusttag gewesen sei, der je verzeichnet wurde, und daß es heute voraussichtlich noch heißer würde.
Der Kongreß hatte für eine Weile aufgegeben und war in der vergangenen Woche nach Hause gefahren, nachdem er weder mehr noch weniger als üblich geleistet hatte. Es war kein Wahljahr, nicht daß das eine Rolle spielte, und zu Hause – wo das auch sein mochte, selbst in Scottsdale, Arizona – war es vermutlich kühler als in Washington. Die beiden größten Attraktionen der Hauptstadt, das Kirschblütenfest und der jährliche Aufruhr, waren gekommen und gegangen, die erste im April, die zweite im Juli. Da sich der Kongreß also vertagt hatte, die Lobbyisten im Urlaub waren und die Touristen einen Sonnenstich scheuten, war das Foyer des Madison praktisch verlassen, abgesehen von zwei gelangweilten Hotelpagen, die aussahen, als ob sie sich ernsthaft überlegten, den Beruf zu wechseln.
Der Empfangschef schien entzückt zu sein, daß er etwas zu tun bekam, als ich ihn fragte, ob für Philip St. Ives ein Zimmer reserviert sei. Das war es, und infolge des abrupten Temperaturwechsels nieste ich während der ganzen Fahrt ins sechste Stockwerk hinauf, wo einer der Hotelpagen an den Knöpfen der Klimaanlage herumfummelte und einige treffende Bemerkungen über das Wetter machte.
Nachdem er – um einen Dollar reicher – gegangen war, nahm ich den Umschlag heraus, den Myron Greene mir am Samstag gegeben hatte, und schaute einen Namen und eine Telefonnummer nach. Ich wählte die Nummer, und als sich eine Stimme mit: »Coulter Museum« meldete, sagte ich: »Mrs. Frances Wingo, bitte.« Nach der Zentrale mußte ich nur noch eine Sekretärin überwinden. Die nächste Stimme meldete sich dann mit: »Hier ist Frances Wingo, Mr. St. Ives. Ich habe Ihren Anruf erwartet.« Für eine Frau hatte sie eine gute Telefonstimme, eine Nuance über Kontralto, mit einem selbstbewußten, durchdringenden Klang, der mich davon überzeugte, daß niemand sie je »Frannie« nannte.
»Myron Greene hat ein Treffen erwähnt«, sagte ich. »Aber die Zeit hat er nicht erwähnt.«
»Um ein Uhr. Zum Mittagessen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Ist es. Wo?«
»Hier im Museum. Wir beide und die drei Herren des Vorstands werden da sein. Jeder Taxifahrer weiß, wo das Museum ist.«
»Also dann um ein Uhr«, sagte ich.
»Um eins«, sagte sie.
Nachdem wir aufgelegt hatten, las ich Myron Greenes dreiseitiges Memorandum noch einmal durch, fand aber nichts darin, was mir vorher entgangen wäre. Die nächsten 45 Minuten hatte ich nichts zu tun, deshalb zog ich meine Brieftasche heraus und zählte mein Geld. Es waren etwas über vierhundert Dollar. Die Pokerpartie hatte ich am Sonntagmorgen um drei Uhr mit einem Gewinn von annähernd fünfhundert Dollar abgeschlossen, das waren etwa fünfhundert Dollar mehr als üblich. Wenn meine Berechnung zutraf, hatte ich einen Vorsprung von annähernd fünfunddreißig Dollar in dem Spiel, das jetzt seit ungefähr drei Jahren lief. Mein verblüffendes Können als Kartenspieler erschien mir trotzdem nicht als brauchbarer Ersatz für Fleiß, Sparsamkeit und Mut – Charakterzüge, die mir im Laufe der Jahre irgendwie abhanden gekommen waren.
Da noch immer nichts zu tun war, und ich Zeit zu vergeuden hatte, ging ich ins Bad, putzte mir die Zähne, bewunderte die lindgrüne Ausstattung und inspizierte mein Zahnfleisch, von dem ein Zahnarzt mir kürzlich gesagt hatte, es schwinde in einer normalen, gesunden Geschwindigkeit. Ich fragte mich, was das sei: ein Zentimeter im Jahr? Weniger? Wahrscheinlich mehr. Von dem Untersuchungsergebnis etwas deprimiert und keineswegs davon überzeugt, daß im Coulter Museum vor dem Essen ein Aperitif gereicht wurde, ging ich in das Foyer hinunter und bestellte mir in der Bar einen Martini. Es war halb eins, aber die Bar war kaum zu einem Viertel gefüllt. Nur die wirklich Durstigen schienen bereit zu sein, der Mittagssonne in der Hauptstadt zu trotzen.
Als Amos Woodrow Coulter 1964 im Alter von einundfünfzig Jahren an einer infektiösen Hepatitis unverheiratet und allein starb, hinterließ er den größten Teil seines auf 500 Millionen Dollar geschätzten Vermögens verschiedenen Stiftungen und der Bundesregierung. In seinem Testament bemerkte er, daß die Regierung »es wahrscheinlich sowieso bekommt«, fügte aber die sorgfältig formulierte Bestimmung hinzu, daß das Geld verwendet werden solle, um in Washington eine Galerie oder ein Museum zu bauen, das seine umfassende Kunstsammlung aufnehmen und »andere würdige, interessante, wertvolle und bedeutende Werke, die auf dem Weltmarkt angeboten werden«, erwerben solle.
Coulter hatte sein Vermögen mit Elektronik gemacht, und die meisten Geräte, die seine Firma sich patentieren ließ und herstellte, wurden von der Regierung aufgekauft, um ihre Geschosse zu lenken und ihre Raketen zum Mond und darüber hinaus zu steuern. Wenn er nicht gerade Geld machte, reisten Coulter und seine außerordentlich kenntnisreichen Agenten um die Welt und gaben es, wenn möglich, für den Ankauf großer Partien und, wenn nicht, für Einzelwerke aus. Sein Studium war in den dreißiger Jahren durch die Wirtschaftskrise beendet worden, als er im zweiten Studienjahr an der Texas Christian University war, aber schon damals war er von der Liebe zur Kunst in all ihren Formen besessen gewesen. Es gab Leute, die behaupteten, Amos Coulter habe nie geheiratet, weil er nie eine Frau fand, die bereit war, sich von ihm an die Wand hängen zu lassen. Jedenfalls übertraf sein Kunstverständnis noch seine Leidenschaft. Seine erste Anschaffung, einen Modigliani, machte er 1946, kurz nachdem er seine erste Million gemacht hatte. Von da an bis zu seinem Tod gab er großzügig Geld aus und kaufte klug auf dem wachsenden Markt. Als er starb, wurde seine Sammlung neben seinem übrigen Besitz und Vermögen vorsichtig auf 200 Millionen Dollar geschätzt.
Coulter selbst entwarf das Museum, das seinen Namen tragen sollte, und jetzt stand es dicht bei der Independence Avenue auf einem mehrere Morgen großen Grundstück, wo vorher »provisorische« Bauten aus dem Ersten Weltkrieg gestanden hatten, die 1917 hastig errichtet und fast ein halbes Jahrhundert später immer noch benutzt worden waren. 1965 war das Gelände durch einen Kongreßbeschluß für das Museum gestiftet worden, und obwohl es erst wenige Jahre existierte, wurde es bereits als eines der schönsten der Welt gewürdigt. Leute, denen es nicht gefiel, mochten auch das Guggenheim nicht.
Es war ein beeindruckender Bau in einer Stadt voll beeindruckender Bauten. Es war zwar nur fünf Stockwerke hoch, schaffte es aber trotzdem, ein wenig in die Höhe zu ragen, und wenn es keine Ehrfurcht einflößte, verdiente es zumindest Bewunderung und Respekt. Aus italienischem Marmor und strukturiertem Beton errichtet, bedeckte es fast einen ganzen Häuserblock, schuf irgendwie die Atmosphäre einer freundlichen Galerie statt eines städtischen Gefängnisses und schien die Vorübergehenden aufzufordern, hereinzukommen und sich umzusehen. Ich bewunderte das Gebäude, während das Taxi sich ihm näherte. Innen informierte mich eine Aufsicht, daß Mrs. Wingos Büro im vierten Stock liege und die Fahrstühle gleich links von mir seien. Im vierten Stock wies ein diskretes Schild den Weg zum Büro der Museumsdirektorin, und als ich eintrat, blickte eine junge Negerin von ihrer Schreibmaschine auf, lächelte und wollte wissen, ob ich Mr. St. Ives sei. Als ich das bestätigte, sagte sie, daß Mrs. Wingo mich erwarte.
Mrs. Frances Wingo, Direktorin des Coulter Museums, saß hinter einem bumerangförmigen Schreibtisch, auf dem nichts weiter stand als ein Paar dreiundzwanzig Zentimeter hohe, ziemlich scheußliche afrikanische Figuren und eine Telefonkonsole, die mindestens drei Dutzend Knöpfe zu haben schien. Hinter ihr, Richtung Osten, sah man durch ein Fenster das Capitol, das nicht realer wirkte als in den Filmen über Washington, wo es immer direkt auf der anderen Straßenseite von jedermanns Büro zu sein scheint, sogar wenn er in einem Keller des Pentagons draußen in Virginia arbeitet. Es war ein großer mit einem hübschen Teppichboden ausgelegter Raum, wie er einem Unterstaatssekretär oder dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei zugestanden wird. An der einen Seite befand sich sogar ein Kamin, um den eine Clubgarnitur gruppiert war. An den mit Kork verkleideten Wänden hing eine Anzahl Bilder. Ich erkannte einen Klee und fand es eine Schande, daß er hier versteckt der Öffentlichkeit vorenthalten wurde.
»Ich tausche die Bilder hier drinnen jede Woche aus, Mr. St. Ives«, sagte Mrs. Wingo, die Gedankenleserin. »Keines wird der Öffentlichkeit vorenthalten. Aber setzen Sie sich doch.«
Ich setzte mich auf etwas Bequemes aus gepolstertem Leder und Holz. Ein Aschenbecher war nicht in Sicht, aber Frances Wingo zog eine Schublade auf und stellte eine blaue, längliche Keramikschale vor mich hin. Ich entschloß mich, nicht zu rauchen. Sie war entweder etwas über oder etwas unter dreißig und recht groß, falls sie nicht auf zwei Kissen saß. Sie trug ein dunkelbraunes Kleid aus einem genoppten Stoff und hatte jenen leicht defensiven Gesichtsausdruck der meisten weiblichen Manager, die vor ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr eine Führungsposition erreicht haben. Danach verhärtet sich dieser Ausdruck im allgemeinen zu grimmiger Entschlossenheit. Sie trug ihr Haar kurz geschnitten, vielleicht zu kurz, und einen Augenblick lang dachte ich, daß sie praktizierende Lesbe sein könnte, aber ihre Augen waren zu sanft, braun und groß – obwohl sie möglicherweise auch nur Probleme mit der Schilddrüse hatte. Sie hatte eine leichte Stupsnase und sich nicht die Mühe gemacht, die Sommersprossen auf deren Rücken zu verbergen. Ihr Mund war breit, aber nicht zu breit, und es war schwer zu erkennen, ob sie Lippenstift aufgetragen hatte. Ich kam zu dem Ergebnis, daß Frances Wingo zwar weit davon entfernt war, schön zu sein, aber ein Gesicht hatte, an das man sich gern erinnerte, und beim Frühstück sah es vermutlich genauso aus wie zur Cocktailstunde.
»Sie haben die denkbar besten Empfehlungen«, sagte sie.
»Von wem?«
»Von Ihrem Mr. Greene und von den Leuten, die den Schild gestohlen haben.«
»Soviel ich weiß, haben sie um mich gebeten.«
»Nicht gebeten. Bestanden.«
»Ich weiß nicht recht, ob ich geschmeichelt sein soll.«
Sie öffnete eine Schublade ihres Schreibtischs, nahm einen gelben, unangespitzten Bleistift heraus und begann abwesend, mit dem Radiergummiende auf die Schreibtischplatte zu klopfen. »Auch Senator Kehoel aus unserem Vorstand hatte ein paar freundliche Dinge über Sie zu sagen.«
»Weil ich ein paar freundliche Dinge über ihn geschrieben habe«, sagte ich. »Vor langer Zeit.«
»Vor vier Jahren«, sagte sie und klopfte weiter mit dem Bleistift. »Unmittelbar bevor Ihre Zeitung dichtmachte. Es überrascht mich, daß Sie nicht mehr schreiben. Sie hatten einen interessanten Stil.«
»Dafür gibt es nicht mehr genug Zeitungen. Jedenfalls nicht in New York.«
»Und anderswo?«
»Anderswo denkt man, ich sei zu teuer.«
Sie blickte auf eine Uhr, die sie am rechten Handgelenk trug. »Die anderen sollten schon im Speiseraum sein. Sie können Ihre Fragen bis nach dem Essen zurückstellen. Okay?«
»Gut.«
Wir erhoben uns, und sie erwies sich als so groß, wie ich es erwartet hatte, fast eins fünfundsiebzig. Das weitgeschnittene braune Kleid versteckte ihre Figur nicht, aber das wußte sie wahrscheinlich und benutzte es für geschäftliche Zwecke. Ich folgte ihr durch den Raum zur Tür und bewunderte den Schwung ihrer Hüften und die Kurve ihrer Waden, die – wie ich mit Vergnügen feststellte – in Nylon gehüllt waren und nicht in Baumwolle oder Halbwollenes. Wenn es um weibliche Bekleidung geht, scheine ich eindeutig reaktionäre Tendenzen zu haben, aber man hat mir gesagt, daß ich daraus vielleicht herauswachsen werde.
Frances Wingo blieb an der Tür stehen und sah mich mit einer Art aufflackerndem Interesse an, so als ob ich ein leicht gewagtes Aquarell wäre, vielleicht ganz amüsant, aber nichts, das man sich kaufte.
»Sagen Sie mir eines, Mr. St. Ives«, sagte sie.
»Was?«
»Wenn Sie die Zeile in Ihrer Einkommensteuererklärung ausfüllen, in der nach dem Beruf gefragt wird, was schreiben Sie da hin?«
»Mittelsmann.«
»Und sind Sie das wirklich?«
»Ja«, sagte ich, »das bin ich wirklich.«
Das hatte sich alles vor vier Jahren ganz zufällig so ergeben, unmittelbar bevor die Zeitung, für die ich arbeitete, dichtmachte, Opfer eines langanhaltenden Streiks, einer untragbaren Fusion, eines leicht zu vergessenden neuen Namens und einer durch und durch schlechten Unternehmensleitung. An fünf Tagen in der Woche schrieb ich ein Feature über New Yorker hohen, mittleren und niederen Standes, die mein Interesse weckten, und da ich ein ziemlich gutes Ohr, auf der Highschool einen Kursus in Stenographie absolviert und einen unbekümmerten Charakter habe (meine Ex-Frau nannte ihn freizügig, aber sie hatte es immer mit den neuesten Klischees), wurden die Beiträge im allgemeinen gut aufgenommen. Das führte auch dazu, daß ich eine umfangreiche Kollektion ausgefallener Menschen kennenlernte, und es war sogar einmal von einer Veröffentlichung in mehreren Zeitungen die Rede, aber daraus wurde nie etwas.
Meine neue Laufbahn begann, als einem Mandanten von Myron Greene Schmuck im Wert von 196.000 Dollar gestohlen wurde (nach der zurückhaltenden Schätzung der Versicherung), und der Dieb zu verstehen gab, daß er bereit sei, alles für bloß 40.000 Dollar zurückzugeben, vorausgesetzt, daß ich als Mittelsmann diente. »Ich hab seine Kolumne gelesen«, hatte der Dieb Myron Greene am Telefon gesagt. »Dem Typ geht alles am Arsch vorbei.«
Myron Greene und ein Vertreter der Versicherung traten an mich heran, und ich erklärte mich bereit, die Rolle des Mittelsmanns zu übernehmen, vorausgesetzt, daß ich nach Abschluß der Verhandlungen darüber schreiben dürfe. Der Versicherungsvertreter wollte davon nichts wissen, weil er es für erstrebenswerter zu halten schien, den Tripper zu bekommen als Publicity. »Schließlich, St. Ives«, hatte er gesagt, »wollen wir ja nicht, daß Sie ein Lehrbuch für Erpresser schreiben.«
Schließlich stimmte er zu, weil ihm nichts anderes übrigblieb, und am Tag der Transaktion trieb ich mich in nicht weniger als neun Telefonzellen herum, wo ich von dem Dieb Anweisungen bekam. Der Tausch wurde schließlich um drei Uhr morgens in einer U-Bahn vorgenommen, die in Richtung Coney Island fuhr. Der Dieb bekam das Geld, ich bekam den Schmuck. Der Vorfall lieferte mir Stoff für ein paar gute Artikel und wurde sogar im Pressespiegel der Newsweek erwähnt. Ich stand gerade davor, eine Gehaltserhöhung vorzuschlagen, als am Schwarzen Brett in der Lokalredaktion die Bekanntmachung ausgehängt wurde, daß die Zeitung ab achtzehn Uhr am selben Tag nicht mehr existierte.
Den Dieb, einen kleinen Halunken namens Albert Fontaine, erwischten sie drei Wochen später in Miami Beach, wo er bei den falschen Leuten zuviel Geld ausgab. Ich besuchte ihn nach seiner Auslieferung einmal im Manhattan House of Detention, in den »Tombs«, weil ich weiter nichts zu tun hatte. Er wollte wissen, ob ich in meiner »Kolyumne« über ihn schreiben würde.
»Die Zeitung ist eingegangen, Al«, sagte ich.
»Das ist eine verdammte Schande«, sagte Fontaine, und dann, weil er noch etwas sagen wollte, etwas Nettes, nehme ich an, sagte er noch: »Wissen Sie was? Ich finde, Sie haben wirklich gut geschrieben.« Sie gaben Albert Fontaine schließlich sechs Jahre.
Meine Frau und ich, eine völlige Fehlpaarung, beinahe wie von einem Computer, trennten uns bald danach in angenehm erbitterter Weise, und gerade als die Abfindung zu Ende ging, erhielt ich einen weiteren Anruf von Myron Greene, dem Anwalt. Er wollte, daß ich wieder als Mittelsmann fungierte.
»Ihre Mandanten scheinen eine Menge Ärger zu haben«, sagte ich.
»Also, es ist eigentlich nicht mein Mandant, sondern der Mandant eines Freundes, der sich daran erinnert hat, wie Sie die andere Sache abgewickelt haben.«
»Um was geht’s?« sagte ich. »Wieder Schmuck?«
»Das nicht gerade. Es ist schon etwas ernster.«
»Um wieviel ernster?«
»Nun ja, es ist eine Entführung.«
»Danke nein.«
Myron Greenes Asthma wurde schlimmer. Ich konnte ihn durch das Telefon keuchen hören. »Na ja, ein geringes Risiko mag damit verbunden sein.«
»Deshalb sagte ich auch nein.«
»Der Mandant meines Freundes ist natürlich bereit, Sie entsprechend zu entschädigen.«
»Wieviel ist ihm das geringe Risiko wert?«
»Sagen wir zehntausend Dollar?«
»Niemand bezahlt so viel für ein geringes Risiko.«
»Also, es geht –«
»Moment«, sagte ich. Ich überlegte einen Augenblick und fragte dann: »Wieviel berechnen Sie für eine Scheidung?«
»Ich habe noch nie eine Scheidung übernommen«, sagte er, wie mir schien, etwas steif.
»Also, wenn Sie es täten, was würden Sie berechnen?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Es gibt bestimmte –«
»Übernehmen Sie meinen Scheidungsprozeß und bezahlen Sie mir die zehntausend Dollar, dann mache ich es.«
Jetzt war Myron Greene an der Reihe zu überlegen. »Also gut«, sagte er nach einigen Augenblicken. »Können Sie um fünf bei mir im Büro sein?«
Trotz des teuren und völlig vernünftigen Rats des Anwalts, der Myron Greenes Freund war, weigerte sich die Familie des Entführungsopfers, die New Yorker Polizei oder das FBI hinzuzuziehen. Statt dessen bestand sie darauf, die Anweisungen der Kidnapper genau zu befolgen. Die Anweisungen waren nicht sehr innovativ. Ich mußte einen mit 100.000 Dollar in gebrauchten Zehnern und Zwanzigern vollgestopften Schulranzen auf einer einsamen Landstraße in New Jersey um 3:30 aus dem Wagen werfen. Dann fuhr ich drei Minuten lang mit einer Geschwindigkeit von genau dreißig Kilometern pro Stunde weiter, bis in meinem Scheinwerferlicht der Stammhalter der Familie auftauchte, ein junger Mann von zwanzig Jahren, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen mitten auf der Fahrbahn herumtaumelte. Er war außerdem total hysterisch.
Die Geschichte kam nie in die Zeitungen, aber sie sprach sich herum, und die Polizei und sogar das FBI begannen, bei mir zu unregelmäßigen Zeiten aufzukreuzen. Als sie anfingen, mich auf das Strafmaß für unterlassene Anzeige eines Verbrechens hinzuweisen, rief ich Myron Greene an, der seinen Freund anrief, der seinen reichen Mandanten anrief. Der Mandant rief vermutlich den Bürgermeister oder den Gouverneur oder Gott an, und die Besuche der Polizei und des FBI hörten auf.
Zum drittenmal hörte ich vier Monate später von Myron Greene, gerade als die zehntausend Dollar sich ihrem Ende näherten – Opfer meiner verschwenderischen Natur und des Besuchs eines höflichen, aber unerbittlichen Vertreters der Steuerbehörden. Diesmal schlug Myron Greene mir vor, wir sollten ein Abkommen treffen, wobei er gegen einen Anteil von zehn Prozent meine Honorare für mich aushandeln würde.
»Mit anderen Worten, Sie wollen zehn Prozent von meinen zehn Prozent«, sagte ich.
»Es wäre für Sie entschieden von Vorteil«, sagte Myron Greene.
»Ich dachte, daß Sie für ein Honorar von tausend Dollar nicht mal über die Straße gehen würden.«
Er schwieg, und eine Zeitlang hörte ich seinem Asthma zu. »Es geht eigentlich nicht um das Honorar«, sagte er. »Darum geht es überhaupt nicht. Es geht einfach darum, daß ich solche Verhandlungen faszinierend finde.« Er seufzte ein wenig, eine keuchende Art von Seufzer. »Eigentlich hätte ich eben doch Anwalt für Strafsachen werden sollen.«
»Davon würde Ihr Asthma nur schlimmer werden.«
Ich beschloß, daß Myron Greene noch mehr tun könne, wenn er der Agent eines Mittelsmanns sein wollte, und wir verhandelten ausführlich in seinen Büroräumen in der Madison Avenue. Schließlich fand er sich bereit, als mein Anwalt zu fungieren und so lästige Dienste wie die vierteljährliche Vorlage meiner Einkommensteuererklärung zu übernehmen, meine Rechnungen zu begleichen, meine Unterhaltszahlungen auf dem laufenden zu halten und sogar eine gewisse Ordnung in meinem Scheckbuch aufrechtzuerhalten. Seine Sekretärin, ein fünfundvierzigjähriges Energiebündel, das Myron Greene Spivack nannte, tat die Arbeit, und der Anwalt bekam zehn Prozent von jedem Honorar, das mir zufloß, und das Vergnügen, sich wenigstens stellvertretend in der Gesellschaft von Gangstern zu bewegen.
Während der folgenden vier Jahre stellte ich fest, daß ich ein Gewerbe oder einen Beruf ausübte, der keiner Reklame bedurfte. Die Anwälte und die Diebe und die Versicherungsgesellschaften und selbst die Cops verbreiteten die Nachricht, man könne sich darauf verlassen, daß ich Anweisungen befolgte und daß ich so ehrlich war, wie man vernünftigerweise erwarten konnte. Fast alle Aufträge erhielt ich durch Myron Greene, vier oder fünf oder sechs im Jahr, und sie ermöglichten mir ein angenehmes, wenn auch nicht gerade ausschweifendes Leben, selbst nachdem die Unterhaltszahlungen einmal pro Monat abgegangen waren.
Die meisten Gangster wurden schließlich doch gefaßt, aber manche nie – die Kidnapper zum Beispiel –, und jene, die im Gefängnis landeten, empfahlen mich warm jedem weiter, der es hören wollte. Manchmal besuchte ich sie oder schickte ihnen Zigaretten oder Zeitschriften. Ich fand, das sei das mindeste, was ich tun konnte, um meine Einkommensquelle zu fördern.
»Sie müssen ein merkwürdiges Leben führen, Mr. St. Ives«, sagte Frances Wingo, während wir durch den Gang zum Speiseraum der Museumsdirektion gingen. »Ich glaube nicht, daß ich schon mal einem professionellen Mittelsmann begegnet bin.«
»Das tun wenige Menschen, solange sie keinen brauchen.«
»Haben Sie große Konkurrenz?« sagte sie.
»Nein. Nur mein besseres Wissen.«