Susan Batson

TRUTH

Wahrhaftigkeit im Schauspiel

Ein Lehrbuch

Mit Beiträgen von Juliette Binoche,
Michael Haneke und Nicole Kidman

Deutsch von Sarah Fuhrmann

 

 

 

 

Alexander Verlag Berlin

Der Verlag dankt Nadja Schulz-Berlinghoff für ihre Initiative, das Buch auf deutsch herauszubringen.

Dank gilt außerdem Lena Lessing, Wolfgang Krenz, Dieter Hoffmeier und Wolfgang Wermelskirch für die redaktionelle Unterstützung.

Editorischer Hinweis: Zitate wurden übersetzt, wenn keine offizielle deutsche Übersetzung vorlag.

 

 

Deutsche Erstausgabe

Die Originalausgabe Truth – Personas, Needs, and Flaws in the Art of Building Actors and Creating Characters erschien 2007 bei Rugged Land, New York

© 2006 by Susan Batson

Für die deutschsprachige Ausgabe

© 2014 by Alexander Verlag Berlin

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin

www.alexander-verlag.com | info@alexander-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/Redaktion: Katharina Broich und Christin Heinrichs-Lauer

Grafik/Layout/Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Druck/Bindung: Interpress, Budapest

ISBN 978-3-89581-348-1 (eBook)

INHALT

Michael Haneke, Always in the Art

Nicole Kidman, Einführung

Prolog

Teil I
Need, Public Persona und Tragic Flaw

Der Kreis

Das Gesicht

Die Public Persona

Das Need

Der Tragic Flaw

Teil II
Der Schauspieler

Das Instrument

Kinderspiele

Die Journey of the Need

Sense Memory

Personalization

Sensory Condition

Die Vierte Wand

Gegenstände: Verloren und wiedergefunden

Der private Moment

Teil III
Die Figur

Die Geschichte der Figur

Der private Moment der Figur

Das Telefongespräch der Figur

Das Tier

Der Ort der Niederlage

Das Interview mit der Figur

Teil IV
Der Text

Die »klassischen Punkte«

Die Szenenanalyse/Der Drehbuchauszug

Die Standpunkte

Teil V
Das Leben

Improvisation

Die wirkliche Welt

Gold Dust

Juliette Binoche über Susan Batson

Ex-Er-Actor-Übungen

Ende

Glossar

Ausgewählte Quellenangaben

Filmographie (Verzeichnis erwähnter Filmtitel)

WIDMUNG

Meinen beiden wichtigsten Lehrern.

Meine Mutter, Ruth Batson, lehrte mich, daß unsere Lebensaufgabe die Verbesserung des Menschseins ist.
Mein Sohn, Carl Ford, lehrt mich nach wie vor bedingungslose Liebe, Mut, Selbstwert und die Macht der Träume.
Ihre beharrliche Verpflichtung Wahrheit und Freiheit gegenüber motiviert mich jeden Tag.

DANK

Ein besonderer Dank gebührt meiner Schwester Dorothy Batson ­Owusu. 1990 hatte Dorothy den Anfang eines Buches, den ich auf einem Notizblock aufgeschrieben hatte, in den Computer übertragen. Sie erinnerte mich an diesen ersten Versuch und ermutigte mich, weiterzumachen.

Voll Ehrerbietung möchte ich Bruce Bennett erwähnen, der sich regelmäßig mit mir traf, wenn mich mein Tragic Flaw überkam, mich führte, mir zuredete und beibrachte, seinen dringend benötigten Kenntnissen und seinem Einblick bei der Entstehung dieses Buches zu vertrauen. Dank seiner konsequenten Verpflichtung den Details und der Geschichte der Schauspielkunst gegenüber wurde aus diesem Buch eine weit bessere Erforschung dieser Kunstform, als ich es allein hätte erreichen können.

Danken möchte ich auch meinem Verleger Web Stone, der nicht ­wegen Klatschgeschichten über Filmstars auf mich zukam, sondern ­wegen ­meiner Kenntnisse über Schauspielerei. Mein aufrichtigster Dank an Nicole Kidman, Juliette Binoche und Michael Haneke. Dieses Buch wurde durch ihre Beiträge verbessert und mein Leben durch ihre Freundschaft und ihr Können bereichert.

Es gäbe weder dieses Buch noch das Black Nexxus Acting Studio ohne den Weitblick und die Führungsqualitäten meines Sohnes Carl Ford und die Loyalität, das Engagement, die Kraft, Intelligenz und herzliche Freundlichkeit von Greg Braun. Ich danke auch den Lehrern vom Black Nexxus in New York und Los Angeles: Roberta Wallach, Stuart Birney, Lucille Riven, Wass Stevens, Jimmy Antoine, Corey Parker, Kirsty Carlos Leon, Portia, Matt Wurd und Jamieson Rimes. Ein ganz besonderer Dank geht an Mary Setrakian für die Gründung der besten Theatermusikabteilung im Black Nexxus. Dank an alle Schauspieler (Schüler und Profis), die mir ihre wertvolle Begabung anvertraut haben.

Ich bedanke mich für die Mentorschaft meiner großartigen Lehrer. Herbert Berghoff hat mir beigebracht, daß Schauspielen eine ursprüngliche Kunstform mit Verantwortung der Menschheit gegenüber ist. Uta Hagen war eine strenge Meisterin, die mich von meinen Spleens befreite. Lee Strasberg führte mich an die Intimität heran, für mich das Herz der Schauspielkunst, und gab meinem Talent seinen Segen. Harold Clurman erkannte meine Fähigkeiten und vermittelte mir die unschätzbare Gabe, mich dem Text gegenüber verpflichtet zu fühlen. Ich danke auch jenen großartigen Pädagogen, die mich als Anfängerin gefördert haben: Elma Lewis, Adele Thane, Leo Nickole, Richard E. Arnold und Paul J. Austin.

Susan Batson

ALWAYS IN THE ART

Wenn Susan Batson eine E-Mail sendet, unterschreibt sie statt mit den üblichen Floskeln wie »With warmest regards« oder »All the best« immer mit »Always in the Art«. Mir ist niemand bekannt, der eine solche Formulierung berechtigter verwenden könnte.

Ich habe Susan vor über dreißig Jahren bei einem mehrwöchigen Workshop kennengelernt, den sie in München hielt. Eine Freundin hatte sie mir mit enthusiastischen Worten empfohlen und mich auch zu einer Vorstellung von Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht mitgenommen, die Susan kurz davor an der Universität mit Laien erarbeitet hatte. Ich hatte nie vorher und habe selten danach Darsteller erlebt, die so bei sich waren und deren Emotionen sich so unmittelbar auf den Zuschauer übertrugen wie an diesem Abend. So neugierig geworden, meldete ich mich bei dem mehrwöchigen Workshop an, nicht ahnend, was auf mich zukommen würde. Da ich bei dem Kurs der einzige Regisseur unter lauter Schauspielern sein sollte, gedachte ich mir distanziert anzuschauen, was da so passieren würde. Natürlich war ich der erste, der von Susan auf die Bühne gebeten wurde, und mit dem distanzierten Zuschauen war es vorbei. Es folgten drei oder vier Wochen (an die exakte Länge des Kurses erinnere ich mich nicht mehr), die sich an Arbeitsintensität mit nichts vergleichen lassen, was ich sonst in meinem beruflichen Leben kennenlernen durfte. In den ersten Tagen arbeitete man von 10 bis 20 Uhr, kurz darauf von 10 Uhr bis Mitternacht und in der letzten Woche von 10 bis 4 Uhr, manchmal bis 5 oder 6 Uhr früh. Schlaf war nicht mehr wichtig, es zählte nur noch das Suchen nach der Wahrheit, der schauspielerischen und der persönlichen. Die Nerven lagen blank, und während der Kursdauer wurden drei Übersetzer verschlissen, weil sie den nervlichen Anforderungen beim Übersetzen nicht gewachsen waren. Keiner der Beteiligten stieg aus, keiner kam zu spät, jedem ging es nur darum, zu lernen.

Ich habe Susan in den letzten Jahren zweimal an die Wiener Filmakademie, wo ich unterrichte, eingeladen, und jedesmal war es für die Regiestudenten ein unvergleichliches Erweckungserlebnis. Einzelne Studenten sind ihr im Anschluß an die Kurse zu einem mehrmonatigen Einzelunterricht nachgereist und haben begeistert von ihren Fortschritten berichtet.

Jugendliche haben ein feines Sensorium für angemaßte Autorität. ­Warum folgten die Studenten in Wien vom ersten Moment an allen Anmutungen, die Susan an sie stellte, warum fiel damals bei unserm nervenzermürbenden Münchner Marathon kein einziger der berufserfahrenen Schauspieler aus?

Grob vereinfachend gibt es dafür, wie ich denke, zwei Gründe: Der erste liegt auf der Hand – es ist die Fachkompetenz. Obwohl Susan sich ja in erster Linie als Schauspiellehrerin mit der Wahrhaftigkeit des schauspielerischen Ausdrucks befaßt – und das in einer Weise, die den Kursbeteiligten manchmal wie Hexerei erscheinen mag, da sie die Ursachen von emotionalen Blockierungen mit nahezu hellseherischer Klarheit und Leichtigkeit aufzudecken und oft auch zu beseitigen vermag –, ist gerade für Regisseure die Methodik der Szenenanalyse ein Bereich, der bei Schauspielunterricht meist zu kurz kommt und den Susan in extrem anschaulicher Weise vermittelt.

Fachkompetenz ist, wie wir alle wissen, leider keine Selbstverständlichkeit im Bereich künstlerischer Lehre und künstlerischer Arbeit, aber Fachkompetenz allein ist keine hinreichende Erklärung für die außergewöhnliche Strahlkraft von Susans Persönlichkeit und den Enthusiasmus all derer, die das Glück hatten, mit ihr zu arbeiten. Mir ist in meinem langen Arbeitsleben selten eine Person begegnet, auf die das Wort Integrität mehr zutrifft als auf Susan. Diese im Alltagsleben eher unscheinbare, ja scheue, fast schüchterne Person wird, sobald sie den Bereich künstlerischer Arbeit betritt, zu einer Instanz, die alles fordern kann und darf, weil sie selber alles und ohne Vorbehalt gibt. Ihre emotionale und intellektuelle Investition ist so groß, daß die andern sich unmittelbar aufgerufen fühlen, nach- und gleichzuziehen. Das schafft Freiheit im Kopf und im Gemüt.

Die Gefahr vieler Lehrender und Gurus ist der Mißbrauch der Macht, welche die Methode über die Lernenden verleiht. Da wir uns alle erst mal scheuen, Grenzen zu überschreiten, bedarf es großen Vertrauens, um sich auf Grenzüberschreitungsreisen zu begeben. Der Erfolg von Susan Batson, auch in ihrer Arbeit als Coach berühmter Stars, rührt nicht zuletzt daher, daß jenes Wort zutrifft, mit dem sie ihre Botschaften signiert: Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes »always in the art«.

Natürlich kann dieses Buch die Begegnung mit der Persönlichkeit von Susan nur beschränkt ersetzen, aber es ist als Leitfaden zu einer wahrhaftigeren Auseinandersetzung mit dem Schauspielberuf ebenso empfehlenswert wie als methodische Erinnerung an die direkte Arbeit mit ihr oder als Anstoß, den persönlichen Kontakt mit ihr zu suchen. Ich hoffe, daß diese methodische Darstellung des »Method Acting« auch im deutschsprachigen Raum die Verbreitung erfährt, die sie verdient.

Michael Haneke

EINFÜHRUNG

Das Leben eines Schauspielers, wie das eines jeden Künstlers, ist ein langer, langer Weg. Aber ein Schauspieler geht diesen Weg nicht allein. Schauspielen ist eine gemeinschaftliche Arbeit. Es ist immer eine Ensemble-Leistung. Mit etwas Glück begegnet einem auf dem Weg jemand, mit dem die Zusammenarbeit so lebendig und fruchtbar ist, daß beide ganz selbstverständlich in Gleichschritt fallen. Für mich ist Susan Batson diese Person.

Das Buch, das Sie in den Händen halten, heißt Truth, und dieser Titel trifft genau den Kern unserer gemeinsamen Arbeit. Ohne Wahrheit kann ich nichts erschaffen – ich muß es fühlen. Susan hilft mir dabei, die Wahrheit in mir zu finden und deren Reinheit, Vertrautheit und Redlichkeit zu verwenden, damit meine Arbeit wahrhaftig ist. Sie hat mir geholfen, Wahrhaftigkeit in mir und in den Figuren, die ich gespielt habe, zu fördern und zu schützen. Von Susan habe ich gelernt, wie die Wahrheit um jeden Preis lebendig bleiben muß.

Schauspielen umgibt etwas wunderbar Geheimnisvolles. Dieses Geheimnis ist für mich unwiderstehlich. Jeder Schauspieler hat seine eigenen Ansichten zu diesem Thema, aber ich persönlich betrachte mich als eine Vermittlerin. Wenn du spielst, bist du ein Werkzeug – etwas, was über dich hinausgeht, arbeitet mit dir. Es geht nicht darum, wer du bist. Es geht nicht um dein Ego. Beim ehrlichen Schauspielen geht es darum, bereit und offen zu sein, deine tiefsten und dunkelsten Geheimnisse preiszugeben und zu sagen: »Hier sind sie.« Es geht um Gestaltung und Verwandlung und Veränderung. Alles in mir oder um mich herum kann Teil meiner Arbeit werden, solange es wahr ist.

Ich begegnete Susan zum ersten Mal in New York, kurz bevor ich The Peacemaker (Projekt: Peacemaker)1 drehte. In London, bei Eyes Wide Shut,2 arbeiteten wir zwei Jahre lang richtig miteinander und seitdem bei jedem meiner Filme, egal wo. Die Arbeit eines Schauspielers endet nicht mit einem bestimmten Projekt, und die Reise, die Susan und ich in den letzten zwölf Jahren gemeinsam unternommen haben, war nie ausschließlich auf eine bestimmte Leistung ausgerichtet. Spielen ist so viel mehr als nur künstlerischer Erfolg. Es ist stärker und geht tiefer. So muß es sein – es liegt mir im Blut, es fließt durch mich hindurch. Ich weiß, es liegt auch in Susans Blut. Es kommt mir so vor, als wären wir schon mein ganzes Leben zusammen.

Bei unserer gemeinsamen Arbeit hat Susan all meine verschiedenen Seiten und Identitäten gesehen. Sie kennt mich als eine Tochter, eine Mutter, eine Schwester und eine Ehefrau. Mehr als irgend jemand in ­meinem Leben hat Susan Zugang zum Lexikon meiner Emotionen. Wir finden und teilen buchstäblich die Begriffe, die in mir Gefühle auslösen und in den Figuren, die ich spiele. Nur ein wunderbarer, lenkender, einfühlsamer und sehr kluger Mensch kann das bewirken. Susan hat sowohl einen scharfen Verstand als auch ein starkes Gefühlsleben. Sie ist ebenso intuitiv wie intelligent. Diese beiden Seiten an ihr sind im Gleichgewicht. Ich versuche, im Leben wie in der Arbeit dasselbe Gleichgewicht zu wahren.

Wir alle haben unseren Schutzpanzer. Es passieren Dinge im Leben, die uns ermutigen, den Panzer zu durchbrechen, und andere Dinge, die uns dazu bringen, den Panzer neu anzulegen. Das gilt besonders für den manchmal ziemlich entmutigenden und manchmal ganz außergewöhnlichen künstlerischen Weg, den Susan und ich gehen. Meine Zeit mit Susan hat mich gelehrt, an meinem Panzer zu arbeiten. Durch ihre Zusammenarbeit wurde ich so viel selbstsicherer als Schauspielerin und durch ihre Freundschaft selbstbewußter als Frau. Egal was passiert ist, ich bin nie ins Wanken geraten. Susan läßt das nicht zu.

Mit einer großartigen Lehrerin erscheint einem alles möglich. Viele Schauspieler, die ich bewundert und verehrt habe und mit denen ich bei einigen wenigen Gelegenheiten das Glück hatte zu arbeiten, wurden von Lehrern geformt und inspiriert, die ihnen einen Zugang zu ihrer Kunstform eröffneten. Unter den Schauspielern sind Lee Strasberg, Sanford Meisner und Jeff Corey ebenso legendär wie ihre Schüler Marilyn Monroe, Robert Duvall und Jack Nicholson. Ich bin sicher, daß Susan Batson als eine legendäre Schauspiellehrerin in die Geschichte eingehen wird. Ich kann nur hoffen, daß meine Arbeit zu ihrer Berühmtheit beitragen wird.

Susan unterschreibt ihre Briefe mit »Always in the Art«. Susan und ich werden den Rest meines Weges als Schauspielerin Seite an Seite gehen. Wir werden gemeinsam »immer für die Kunst« arbeiten, und ich werde immer dankbar sein, daß ich sie gefunden habe.

Und jetzt, mit diesem Buch, hast auch du sie gefunden.

Nicole Kidman

1 USA 1997, Regie: Mimi Leder.

2 USA 1999, Regie: Stanley Kubrick.

PROLOG

Wahrheit! Gott hat dich geschaffen, über Fluten und Flammen oben zu schwimmen.

Alexandre Dumas3

Der Weg zur Wahrheit durch die sorgfältige Untersuchung der Tatsachen ist der Weg des Wissenschaftlers. Ein schwerer und undankbarer Weg. Es ist nicht der Weg des Dichters. Er versteht Wahrheit durch Kraft: Die Wahrheit, die er versteht, kann nicht geleugnet werden, außer durch eine größere Kraft, und es gibt keine größere Kraft.

John Masefield4

Die Fahrt

Ich wohne in der Upper West Side von Manhattan. Jeden Tag holt mich mein Fahrer Segundo ab und fährt mich zum Black Nexxus, dem Schauspielstudio, das mein Sohn und ich im Theaterviertel betreiben. Weil ich entweder eingeigelt zu Hause Drehbücher lese oder bis in die Puppen im Studio arbeite, habe ich meine Fahrten quer durch die Stadt ins Zentrum lieben gelernt. Ich freue mich darauf, auf den West Side Highway abzubiegen und die Stadt eine Weile beiseite zu lassen. Auch wenn ich in der Regel den größten Teil der Autofahrt mit dem Handy telefoniere, schaue ich doch aus dem Fenster auf das Wasser, und es erinnert mich daran, daß es ein tiefes, fließendes Universum von Ideen und Menschen zu erkunden gibt.

Ein paar Blocks bevor wir in die 44. Straße abbiegen, verspricht eine Werbetafel eine Nonstop-Live-Show mit nackten Mädchen auf zwei Bühnen. Das bringt mich immer abrupt in die Wirklichkeit zurück. Einige der Schauspielerinnen, mit denen ich arbeite, tanzen in diesem oder ähnlichen Clubs in New York und New Jersey. Mir öffnet das jeden Tag die Augen über die Entscheidungen, die Schauspieler treffen müssen, um zu überleben.

Segundo hält vor der Tür meines Studios. Mit wenigen Schritten bin ich durch die Tür und im Studiobüro und bespreche den Tagesplan mit meinen Mitarbeitern. Alle, die für mich arbeiten, sind Schauspieler. Manche von ihnen tauschen ihre Arbeitszeit in meinem Büro gegen meine Arbeitszeit mit ihnen im Kurs. Ich habe diese Regelung nie bereut. Sie sind dieselbe Verpflichtung eingegangen wie ich: sich nicht nur blicken zu lassen, sondern vorbereitet und bereit für die Arbeit zu erscheinen. Das ist es, woran ich glaube. Das ist alles, worum es mir geht – zu arbeiten.

Und das gilt auch für meinen ersten Kurs heute. Er steht allen offen, ungeachtet ihrer Erfahrung – jeder, der von der Straße hereinkommt mit dem Wunsch zu arbeiten und der Leidenschaft, etwas zu erschaffen, ist willkommen. Ein offener Kurs wie dieser hilft mir, herauszufinden, auf welchem Stand ein Schauspieler ist und was wir im Nexxus für ihn tun können. Außerdem bekommen die Schauspieler im Kurs ein Gefühl dafür, wer ich bin und welche Methode ich anwende. Sie müssen sehen, ob mein Studio der richtige Ort für sie ist. Es hat sich auch als beste Art erwiesen, Schaumschläger loszuwerden, die nicht arbeiten wollen!

Wenn ich mein Studio betrete, trete ich in eine Welt, in der ich mich seit meinem achten Lebensjahr bewege, und es ist der einzige Ort, an dem ich mich je wirklich wohl gefühlt habe. Ich gebe diese anspruchs­­volle und wunderbare Kunst des Schauspielens gern weiter. In diesem Sinne machen wir uns an die Arbeit.

3 In: Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo, München 1999. (Anm. d. Red.)

4 In: John Masefield: Shakespeare & Spiritual Life, Oxford 1924. (Originalausgabe)

Teil I

Need,
Public Persona
und
Tragic Flaw

KAPITEL 1

Der Kreis

Unsere soziale Persönlichkeit ist eine geistige Schöpfung der anderen.

Marcel Proust5

Der Kurs

Ich drücke die Play-Taste an einem tragbaren CD-Player, und Curtis Mayfield singt:

People get ready, there’s a train a-coming

Ich übertöne die Musik:

»Ich werde jeden von euch, einen nach dem anderen, in die Mitte des Kreises rufen, damit ihr euch zu der Musik bewegt. Ihr könnt euch ausdrücken, wie ihr wollt. Die anderen bleiben außerhalb des Kreises und folgen der Person im Zentrum. Gebt euch der jeweiligen Person hin, ihrer Phantasie, ihrer Sexualität, ihrem Rhythmusgefühl und ihrer emotionalen Erfahrung – ihrer Persönlichkeit! Öffnet euch ihrem Selbstempfinden!

Gut, eine neue Figur tritt in die Mitte des Kreises!«

You don’t need no baggage, you just get on board.

DREW WINSLETT

Drew kann es kaum erwarten, in den Kreis zu treten. Auf dem Weg in die Mitte zieht sie ihren Pullover aus wie eine Stripperin. Sie folgt ganz ihren Impulsen, ohne Hemmungen – möglicherweise ein großes Talent.

Sie spürt die Erregung, in die sie die restlichen Kursteilnehmer versetzt, und zusammen mit ihnen genießt sie jede ihrer Bewegungen. Die Schauspieler außerhalb des Kreises betrachten sie, tanzen mit ihr und sind hundertprozentig dabei. Drew findet diese Aufmerksamkeit aufregend.

Aber so selbstbewußt sie auch scheint, dieses Mädchen ist in Wirklichkeit darauf aus, anderen zu gefallen. Anstatt ihren eigenen Instinkten zu vertrauen, orientiert sie sich an den Reaktionen der anderen. Dabei hört sie nur auf eine Stimme in ihrem Innern, die des Selbstzweifels, die sie treibt, mehr und mehr und mehr zu geben, wodurch ihre Selbstachtung unerreichbar wird.

All you need is faith to hear the diesels humming
You don’t need no ticket, you just thank the Lord

»Eine neue Figur ist in die Mitte gekommen. Öffnet euch ihr!«

EASTWOOD DE WAYNE

Bevor er in die Kreismitte trat, machte dieser gutaussehende, selbstbewußte, sehr männliche Typ einen Diskoschritt, wobei er jeden im Raum zum Wegsehen zwang. Ich schmunzelte, froh, daß er sich über sich selbst lustig machen konnte. Aber sobald er in der Mitte ist, ist er sich voller Befangenheit seines Körpers bewußt und merkt, was ihn wirklich ­beherrscht. Er verwandelt sich in einen steifbeinigen Hengst. Jeder im äußeren Kreis versteift sich mit ihm und zwingt ihn so, sich mit einer kreisförmigen Spiegelvision seiner Verwundbarkeit konfrontiert zu sehen.

All die Schwäche und Angst, die zu verbergen dieser Mann sich antrainiert hat, kommen ans Licht. Die verborgene Angst, die er preisgibt, hat ihn dazu getrieben, eine harte Fassade zu errichten, aber diese Angst hat ihn wahrscheinlich auch in meinen Kurs getrieben. Ich weiß, daß die Kehrseite dieser Angst die Entschlossenheit ist, etwas zu erschaffen.

Verlegenheit hat etwas wunderbar Zerbrechliches, wie die errötenden Wangen eines harten Kerls. Während ich beobachte, wie Eastwood nur mit Mühe weiter ein Hengst zu bleiben versucht, hoffe ich, daß er den Dichter in sich kennenlernen wird.

Faith is the key, open the doors and board them
There’s hope for all among those loved the most

»Eine neue Figur!«

SEAN DEAN

Grüblerisch, dunkel, düster – als Teil des äußeren Kreises bewegte er sich kaum. Er hat nicht versucht, sich einzulassen – sich dem Charakter und der Persönlichkeit von jemand anderem zu öffnen.

Aber als er in die Mitte gerufen wird, ballt Sean seine Fäuste, sein Gesicht verzieht sich, und er sinkt auf die Knie. Tränen laufen ihm über die Wangen, und er krallt sich auf dem Boden fest. Seine emotionale Tiefe ist enorm. Aber er muß lernen, daß Schauspielen nicht Gefühle darstellen bedeutet, sondern TUN. Er muß auf das setzen, was aus einer Figur einen Menschen aus Fleisch und Blut macht, und nicht auf seine eigene Theatralik. Sein starkes Gefühlsleben ist ein naturgegebenes Talent. Wenn er es richtig nutzt, kann ihn dieses Talent zu einem großen Schauspieler machen.

There ain’t no room for the hopeless sinner
Who would hurt all mankind just to save his own

»Und noch eine! Komm in die Mitte!«

ANGELINA LA MONROE

Geschmeidig, kurvenreich, strotzt sie vor Sexappeal, als sie in die Mitte tritt. Aber ihre Augen sagen etwas anderes als ihr Körper. Dieser unter schweren Augenlidern glühende Blick sagt mir, daß diese Schönheit sich nach Anerkennung sehnt. Sie überdeckt diese Sehnsucht mit Ehrgeiz. Und dieser Ehrgeiz hat sie zu dem Supermodel gemacht, das sie heute ist. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung rührt mich. Angelina weiß, daß sich die Leute nach ihr umdrehen, aber ich glaube nicht, daß sie weiß, daß sie etwas kann, was nur wenige Schauspieler können: Menschen wirklich berühren.

Have pity on those whose chances grow thinner
For there is no hiding place against the kingdoms throne

»Kommt schon, macht euch bereit!«

PETER VON SELLERS

Als einer nach dem anderen in die Mitte des Kreises getreten war, hatte Peter ihre Bewegungen mit bemerkenswerter Genauigkeit nachgeahmt. Allein in der Mitte, nimmt er Schritte von jedem auf, der vor ihm an der Reihe war. Peter ist der geborene Imitator und weiß genau, welche individuelle skurrile und unverwechselbare Eigenart er in seine Darstellung von jeder Person einflechten soll. Er traut sich sogar, mich nachzumachen, und ich brülle vor Lachen. Aber ich frage mich, ob der Imitator uns erlauben wird, ihn selbst zu sehen. Um seine Figuren zum Leben zu erwecken, muß er das, was er ist, aufdecken und einsetzen.

People get ready, there’s a train a comin’
You don’t need no baggage, you just get on board

»Hier kommt eine neue Figur!«

BRIGITTE BERRY

Schlank, ausdruckslos, in Sportkleidern – sobald die Musik läuft, fängt Brigitte an, sich virtuos und kraftvoll zu bewegen. In der Mitte des Kreises ist das Mädchen nicht zu bremsen. Ihre Bewegungen sind so stark und anmutig, daß die anderen Teilnehmer im Kreis nicht mithalten können. Tänzerin, Athletin, Kampfsportlerin – was auch immer sie ist, sie hat sich unter Kontrolle, ist diszipliniert und bewegt sich reichlich. Die unzähligen Stunden an der Ballettstange oder im Fitneßstudio haben sich gelohnt.

Brigittes Einsatz ihrer körperlichen Fähigkeiten ist bewundernswert. Aber ihrer Bewegung fehlt die Seele. Ich vermute, daß unter ihrem perfekt kontrollierten und geformten Äußeren ein emotionaler Vulkan auf den Ausbruch wartet.

All you need is faith to hear the diesels humming
You don’t need no ticket, you just thank the Lord

»Noch eine! Konzentriert euch!«

HARRISON COSTNER

Als großer, zur weißen Mittelschicht gehörender Bewohner des Mittelwestens könnte er ein Cowboy oder ein Kennedy sein. Harrison wirkt eingeschüchtert von Leuten wie Dean, die Tränen vergossen, als sie ihren Platz im Zentrum des Kreises einnahmen. Jetzt, da er selbst in der Mitte ist, erfüllt er einfach meine Anweisungen und öffnet sich gerade so weit, daß seine Sexualität und sein Sinn für Humor zum Vorschein kommen.

Außerhalb des Kreises ist er pikiert über die Zurschaustellung starker Gefühle. Innerhalb des Kreises ist er sicher in seinen eigenen Charme verpackt. Das sind zwei Warnhinweise. Ich kann einen flüchtigen Blick auf eine komplexe Psyche werfen, Regungen von Wut und Schmerz, hinter seiner biederen Fassade. Ich sehe meine Aufgabe darin, ihm zu erlauben, den »Kerl« dahinschwinden und sein wahres Ich zum Ausdruck kommen zu lassen.

Die Eingebung

Curtis singt, die Schauspieler betreten und verlassen den Kreis, und ich habe eine plötzliche Eingebung – ein Gefühl, ein klares, intuitives Verständnis für jeden der Leute im Kurs. Ich kann mich auf jeden einzelnen einlassen, auf die Energie der Persönlichkeit und auf die Empfindungen der Lebenserfahrung jedes einzelnen, die aus der Mitte dieses Kreises kommen. Ich bin fasziniert von den Abwehrstrategien dieser Schauspieler. Und ich fühle mich von der Stärke und Wahrheit dessen, was sie bereit sind zu zeigen, ermutigt.

24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche sprechen wir und bewegen uns als eine Figur. Es ist eine Figur, die wir unbewußt und bewußt während unseres ganzen Lebens entwickelt haben. Model, Kellner, Schriftstellerin, Zimmermann, Anwältin, Schönheitschirurg, Hausfrau, Manager – wir alle zeigen ein Verhalten, das die Figur ausmacht, die wir für uns von Kindheit an bis zu unserem Erwachsenenleben geschaffen haben.

Im Kreis zeigen die Schauspieler zugleich die Details der Fallstricke ihrer jeweiligen Figuren. Sie zeigen mir außerdem, ob sie dazu bereit sind, ihre eigene Figur loszulassen und sich auf eine andere einzulassen. Die Fähigkeit, sich in das Wesen eines anderen Menschen einzufühlen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Schauspielkunst.

Schauspielen ist ein Handwerk, eine disziplinierte Kunstform, die alles benutzt, was einen Künstler unverwechselbar macht, von der DNS angefangen. Wenn du Freude daran findest, das Gute, das Schlechte, das Häßliche, das Böse und das Außergewöhnliche in dir zu nutzen, um eine fiktionale Figur zu erschaffen, bist du auf dem besten Weg, dieses Handwerk meisterhaft auszuüben. Je eher du dazu bereit bist, die Ereignisse und Empfindungen, die dich zu dem gemacht haben, was du bist, mitzuteilen, desto besser wirst du als Künstler sein. Je mehr du bereit bist, die Wahrheit zu sagen, desto stärker wirst du als Künstler sein.

Schauspielen ist keine Psychotherapie. Es ist persönlich aufschlußreich, aber es ist keine Therapie. Tatsächlich würde ein Therapeut vieles, zu dem ich Schauspieler ermutige, nicht erlauben. Ein Therapeut erwartet, daß du dein Verhalten änderst, kontrollierst oder in Frage stellst. Ich fordere dich auf, ES ZU BENUTZEN! Schauspielen verlangt, daß du das Wilde, Sündige oder Schmerzhafte in dir zelebrierst. Benutze deine Phantasie, um das, was bereits in dir steckt, freizulegen und in die Kunst einfließen zu lassen.

Sich jeden Tag leidenschaftlich dem Schauspielhandwerk zu widmen bedeutet eine nicht endende Verantwortung. Wenn du dieser Verantwortung nicht gewachsen bist, wenn dein künstlerischer Wille, deine Sehnsucht, dein Mut oder deine Charakterstärke es dir nicht möglich machen, durchzuhalten – geh nach Hause! Es ist nicht deine Kunstform – gewiß ist meine Methode nicht das richtige für dich.

Fiktionale Figuren sind am Anfang ihrer Geschichten so wenig lebendig und ganz ausgeformt wie Schauspieler, wenn sie in den Kurs kommen. Es sind die alten Wunden, die tiefen Ängste, die heiligen Hoffnungen, die Taten und Gegebenheiten unseres Lebens, die anzeigen, wer wir sind. Schauspieler untersuchen all diese Dinge in sich und den Figuren, die sie spielen. Ein Schauspieler6 untersucht die Essenz dessen, was uns zu den Menschen macht, die wir sind.

Jede literarische Figur hat drei grundlegende Dimensionen: Public Persona, Need und Tragic Flaw. Jeder Mensch hat die gleichen drei Dimensionen. Um wirklich zu spielen – um einem Text Leben einzuhauchen –, mußt du diese drei Dimensionen in dir finden und erforschen.

5 Marcel Proust: Combray. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg, München 2002, S. 29. (Anm. d. Red.)

6 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)

KAPITEL 2

Das Gesicht

… und Pracht und Festlichkeit und Freudentaumel,

und Maskerade und Aufzug alter Sitte:

solche Darstellungen, wie heitre Dichter träumen

An einem Sommerabend nahe bei einem von Geistern ­besuchten Strohme.

John Milton7

Die Geschichte

Schauspielen ist so alt wie die Steinzeit. Als Mitglieder eines Stammes von Jägern und Sammlern einen Kreis um das Feuer bildeten und die Geschichten über ihren täglichen Kampf und ihre Eroberungen erzählten, waren sie die ersten Schauspieler. Die Zeit verstrich, die Zivilisa­tion entwickelte sich, und der Kreis wuchs. Das Feuer verlosch, aber die Form blieb. Der Kreis wurde zu einem großen Halbkreis mit in den Hang eines Hügels angelegten Sitzreihen aus Stein: das klassische griechische Theater.

Schauspieler erhalten eine große Tradition aufrecht. Wir sind Handwerker, die aus Worten wahres Leben entstehen lassen. Diese Tradition hat ihren Ursprung in der Steinzeit, lebte aber im antiken Griechenland weiter. Wir Schauspieler sind die Kinder von Thespis aus Ikaria – dem Schauspieler, der unser jahrhundertealtes menschliches Ritual als moderne Kunstform neu erfand.

Die Maske

Im 5. Jahrhundert v. u. Z. standen die Griechen an einem Scheideweg des Geschichtenerzählens. Bis zu diesem Zeitpunkt waren ihre Kommunikationsrituale in zwei Lager geteilt. Auf der einen Seite gab es die Epiker, die von Stadt zu Stadt zogen und die Massen mit Solovorträgen von langen epischen Gedichten unterhielten. Es war ihre Lebensaufgabe, diese auswendig zu lernen. Die Epiker trugen ihre Geschichten in der dritten Person vor. Sie gaben den Helden ihrer Geschichten keine eigene Stimme oder liehen ihnen ihr Gesicht; sie beschrieben nur die Reisen ihrer Helden und äußerten sich zu ihrem Schicksal.

Auf der anderen Seite gab es den »Dithyrambos«, eine Art feierliche Hymne, die zu Ehren von Dionysos bei den Dionysien im Frühling im Theater vorgetragen wurde. Der Dithyrambos war heilige Zeremonie, ausgelassene Feier und ritueller »Zauber« zugleich und verband so das Urtümliche und das Formelle. Seine Sänger setzten gemeinsam ihre Stimmen und Körper ein, um als Gruppe und nicht als Individuen eine Geschichte zu erzählen. Zusammen stand dieser Chor für den Willen der Götter oder für eine einzelne Figur, die den Launen der Götter unterworfen war. Der gesamte Chor anonymer Darsteller tanzte und sang die Rollen der einzelnen Figuren, Götter wie Sterblichen, unisono hinter identischen Masken.

Auf der Suche nach einer intimeren Kommunikation mit seinem Publikum, als dies mit diesen beiden rituellen Formen des Geschichtenerzählens möglich war, verknüpfte Thespis, ein Dichter und Schauspieler, beide miteinander. Von den Epikern übernahm Thespis die individuelle Verantwortung dafür, die Geschichte zu erzählen. Vom Dionysischen Chor übernahm er die Ich-Form, die Maske und die Bewegungen. Bei einer längst in Vergessenheit geratenen, antiken religiösen Feier etwa schminkte sich Thespis das Gesicht mit strahlendem Bleiweiß, wodurch er sich vom Rest des Chors unterschied, stellte sich allein in die Mitte der Bühne und interagierte aus der Ich-Perspektive direkt mit dem Gruppen-Chor.

Thespis vereinte die individuelle Präsentation des Epos mit der Gruppenpersonifikation des Dithyrambos-Chors. Mit dem Gesicht und der Stimme einer Einzelperson weckte Thespis die Aufmerksamkeit des ­Publikums mehr, als es die Epiker mit auswendig gelernten Geschichten je könnten. Als Thespis aus dem Chor heraustrat, wurde er für sein ­Publikum etwas Realeres als die symbolische Gruppenidentität des Chores. Thespis war eine Figur geworden. Und seine Bereitschaft, seine Individualität unter der geschminkten Maske durchscheinen zu lassen, machte ihn zum ersten anerkannten Schauspieler. Er galt als der legendäre Erfinder des modernen Dramas.

In Anlehnung an Thespis’ weiße Schminke begannen seine Nachfolger damit, Masken zu entwerfen, um sich in die einzelnen Figuren zu verwandeln, die diese neue Kommunikationsform erforderte. Die Maske eines griechischen Schauspielers wird als Persona bezeichnet. Durch die Ausdrucksformen der Schauspielermaske ließ die Persona das Publikum in Kopf und Herz der Figur sehen. Mit der Weiterentwicklung dieser neu geschaffenen theatralen Kunstform wurden auch die Masken der Schauspieler komplexer und vielfältiger.

Obwohl Masken und andere Theaterkonventionen kommen und gehen, verwendet man den Begriff Persona noch heute. Sigmund Freuds Schüler C. G. Jung lieh sich das griechische Wort für die Maske des Schauspielers, um die Masken der Persönlichkeit zu beschreiben, die Menschen ihr Leben lang tragen. Jungs Persona bezeichnet das Gesicht, das wir der Gesellschaft präsentieren und das unser wahres Ich verdeckt.

Jung glaubte, daß jeder Mensch eine Persona entwirft und beibehält – eine Maske, die wir tragen und die der Welt das Gesicht zeigt, das sie sehen soll.

Sie zeigt sich in unserem Gesicht, unser Art zu reden, der Art, uns zu bewegen. Wir haben eine Persona. Deine Eltern haben eine Persona; deine Brüder, Schwestern, Nachbarn und der Verkäufer im Videoladen – alle haben eine Persona. Wir alle haben ein Gesicht, das wir in der Öffentlichkeit tragen und das unser privates Ich verdeckt. Das gleiche gilt für fiktionale Figuren. Die innersten Gedanken, Gefühle und Träume einer Figur liegen knapp unter der Oberfläche der Maske, die er oder sie trägt – seine oder ihre Public Persona. Wie Jungs Persona und Thespis’ Maske ist die Public Persona einer Figur die äußere Schicht der Identität, die diese Figur den anderen Menschen in der Geschichte zeigt. Für eine Figur ist die Public Persona nur die erste Dimension.

7 John Milton: Allegro und Penseroso, übersetzt von O. H. von Gemmingen, Mannheim in der Schwanischen Buchhandlung MDCCLXXXII 1782 (Neudruck 1921). (Anm. d. Red.)

KAPITEL 3

Die Public Persona

Daher versuchen wir, in einem langen Prozeß unsere persönliche Wahrheit zu entdecken, die, bevor sie uns den neuen Freiheitsraum schenkt, immer schmerzt.

Alice Miller8

Der Gangster

Auch wenn wir niemals einen Augenblick aus der Kindheit einer Figur gezeigt bekommen oder ein Wort Dialog darüber hören, wächst eine erwachsene Figur, in einer Geschichte wie im Leben, aus dem Samen der Erfahrung der Kindheit. Eine Figur schlüpft beim Erscheinen auf der Leinwand ebensowenig aus dem Ei wie ein Mensch, wenn man ihm das erste Mal die Hand gibt.

Ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, die persönlichen Hindernisse, nachhaltigen Verletzungen und ungelösten Probleme unserer Kindheit bleiben unser Leben lang bestehen. Dieser Schmerz, dieser ungelöste Konflikt und die unerfüllte Sehnsucht bringen uns unbewußt dazu, das zu tun, was wir tun, und die Entscheidungen zu treffen, die wir treffen. Wir erschaffen eine Public Persona, um diese Verletzbarkeit und Schwäche und all das, wofür sie stehen, zu verstecken. Das ist bei einer fiktionalen Figur nicht anders.

In Pulp Fiction9 fährt Vincent Vega in der Gegend um Los Angeles herum, redet blödes Zeug mit seinem Partner Jules, und wenn es ihm sein Gangsterboß befiehlt, ballert er auf jeden, bis sein Magazin leer ist. Vincent ist der ideale Typ für seine Aufgabe, weil er kein Mitgefühl hat für die Menschen, die das Pech haben, ihm ins Visier zu geraten. Es fällt Vincent leicht, Menschen zu verletzen, weil er ihren Schmerz nicht auf der Gefühlsebene erlebt.

Aber nachdem die beiden Killer ohne einen Kratzer einen Kugelhagel überstehen, beginnt Jules für seinen Teil, mehr zu fühlen, als ihm lieb ist. Als sich die Zufallsbegebenheiten in Pulp Fiction häufen, fängt Jules (und der Zuschauer) langsam an zu begreifen, was er und Vincent ihren Opfern antun. Jules fühlt mit und wächst. Vincent nicht.

Vincents Public Persona ist es, »ein Killer zu sein«, ein gewissenloser Auftragskiller. Aber sein Auftreten als harter Typ, der ununterbrochen Banalitäten von sich gibt und Drogen nimmt, um sich zu betäuben, deutet darauf hin, daß er etwas zu verbergen hat. Seine Public Persona (»ein Killer zu sein«) ist nur eine Hülle, die eine tiefere Verletzbarkeit verdeckt. Es ist nur die äußere Schicht von Vincents Persönlichkeit.

Wie der mächtige Zauberer von Oz sagt uns Vincents Public Persona: »Achten sie nicht auf den Mann hinter dem Vorhang.« Und wie beim Zauberer von Oz ist ein kleiner Mann/ein Kind am Werk, der hinter der Public Persona jeder Figur die Knöpfe drückt. Es gibt eine verborgene, beharrliche, ständig drängende Kraft aus der Kindheit, die Vincents Public Persona verdeckt: sein Need. Vincents Need ist es, »in Sicherheit zu sein«.

Die Public Persona ermöglicht uns, den intimen Einfluß des kindlichen Needs zu verbergen. Ohne die Public Persona wären wir hilflos in einer Welt, die von Kindheit an den Anschein von geistiger Gesundheit und innerem Gleichgewicht erfordert. Stell dir vor, Vincent Vega würde in Pulp Fiction jeden, den er trifft, bitten, ihm das Gefühl zu geben, in Sicherheit zu sein. Klingt absurd? Natürlich. Dennoch ist es das Need, das Vincent in seinem Leben und in der Geschichte von Pulp Fiction antreibt, auch wenn ihm das nicht bewußt ist. Seine Public Persona, »ein Killer zu sein«, überwuchert sein unerfülltes Need, »in Sicherheit zu sein«, wie eine Narbe eine Wunde überwuchert.

Großes Schauspielen geht unter die Maske der Public Persona. Es offenbart und vermittelt die Intimität, die unter der Hülle liegt: das Need. Auch wenn er es vielleicht nicht weiß, jeder Zuschauer hat eine eigene Public Persona, und ein verborgenes Need. Er nimmt das Wirken dieser beiden Kräfte bei einer Figur wahr, auch wenn er sie nicht benennen kann. Um einer Figur mehr als eine Dimension zu geben, muß der Schauspieler das Need der Figur kennen, das von der notwendigen Public Persona verdeckt wird.

8 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes. Eine Um- und Fortschreibung, Frankfurt 1997, S. 4. (Anm. d. Red.)

9 USA 1994, Regie: Quentin Tarantino.

KAPITEL 4

Das Need

Unsere Träume bestehen aus Sehnsüchten und unerfüllten Bedürfnissen.

Sidney Poitier

»Morgen ist auch noch ein Tag«

Es war einmal eine verwöhnte reiche Plantagenbesitzertochter namens Scarlett O’Hara, die in einem fiktiven Südstaat vor dem Sezessionskrieg lebte. Aber verwöhnt ist noch nicht alles: Im Verlauf von Gone With The Wind (Vom Winde verweht)10 intrigiert Scarlett, lügt und betrügt jeden, der den Fehler begeht, sich für sie zu interessieren.

Scarlett ist die Heldin des berühmtesten Hollywoodfilms, der je produziert wurde. Aber heldenhaft ist sie nicht. Diese Frau ist eine »liebe Freundin«, die bereit ist, die Ehe ihrer Cousine zu zerstören, eine Tochter, die den Verzicht und die Großzügigkeit ihres Vater erst anerkennt, nachdem er den Verstand verloren hat, und eine Mutter, die ihr Kind erst lieben kann, nachdem es tot ist.

Aber es gibt einen unerfüllten Ort in Scarlett, der ihre Intrigen und ihre Manipulationen notwendig, verständlich und sogar reizvoll macht. Scarletts Maske einer berechnenden, koketten Frau – ihre Public Persona – verdeckt eine Sehnsucht, die so einfach wie mächtig ist.

Diese Sehnsucht ist ihr Need. Scarletts Need ist ein Mangel in ihrem Inneren, der so tief ist, daß sie vollkommen hilflos wäre, wenn ihre Public Persona ihn nicht verdecken würde. Ihre Public Persona ist ein Bewältigungsmechanismus, um in der Welt da draußen, wo ihr tief verborgenes Need unerfüllt bleibt, zu überleben.

Scarletts Need ist es, »beschützt zu werden«. Sie benutzt ihre Schönheit, um die beschützende Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen. Rhett Butler erkennt, daß unter ihrem koketten Charme ein tiefes Need liegt, und sagt ihr das auch: »Du solltest oft und von jemandem geküßt werden, der weiß, wie.« Er weiß, daß Scarlett sich nur in den Armen von jemandem sicher fühlen kann, der so besessen von ihr ist wie sie selbst.

In Gone With The Wind ist jede Entscheidung, die Scarlett trifft, und jede Intrige, die sie spinnt – die Verfolgung von Ashley, ihre Ehen, ihr Weggang und ihre Rückkehr nach Tara, ihre Mutterschaft –, ein Versuch, ihr Need (»beschützt zu werden«) zu erfüllen. Ihr Need ist die einzige, einfache und grundlegende Kraft, die ihre Public Persona (»die Südstaatenschönheit zu spielen«) erforderlich macht. Scarletts Need ist die treibende Kraft für ihre Figur in Margaret Mitchells Buch und David O. Selznicks Film. Vivien Leigh, mit 26 bereits eine sehr erfahrene Schauspielerin, deckt furchtlos die tiefste Dimension ihrer Figur auf: das unter Scarletts lebhafter Public Persona verborgene Need.

Die Wahrheit

Unerfülltes Need ist die allgemeine Wahrheit im Zentrum jeder Figur. Es ist ein unerfülltes Need, »jemand zu sein«, das sich unter überheblicher Grausamkeit (Alonzo Harris –Training Day11 – Denzel Washington) verbirgt. Es ist ein unerfülltes Need, »akzeptiert zu werden«, das den Kern der rebellischen Anarchie einer Einzelgängerin (Lisa – Girl, Interrupted [Durchgeknallt]12 – Angelina Jolie) ausmacht.

Das Need gibt die Public Persona einer Figur vor, nicht umgekehrt. Weil Figuren sich genausowenig ihres grundlegenden, alles beherrschenden Need bewußt sind wie reale Menschen, ist der beste Weg, das Need einer Figur zu finden, ihre Public Persona zu untersuchen. Sieh dir einfach ihre Public Persona an und frage dich, was das Gegenteil dieser ­Public Persona wäre. Welches Need würde diese Public Persona hervorbringen? Was versteckt diese Public Persona?

Howard – The Aviator (Aviator)13 – Leonardo DiCaprio

Need: »bemuttert zu werden«

Public Persona: »keine Grenzen zu kennen«

Leticia – Monster’s Ball14 – Halle Berry

Need: »geliebt zu werden«

Public Persona: »alle wegzustoßen«

Bob – Lost in Translation15 – Bill Murray

Need: »rechtschaffen und anständig zu sein«

Public Persona: »ein Gauner zu sein«

Die Kollision

Das Gleichgewicht zwischen Need und Public Persona ist empfindlich. Das Need treibt eine Figur unerbittlich durch eine Geschichte. Wenn das Need stärker ist als die Public Persona, wenn sich das unerfüllte Need nicht mehr verleugnen läßt und die Public Persona blockiert, zeigt sich die dritte Dimension einer Figur: der Tragic Flaw.

10 USA 1939, Regie: Victor Fleming, Produktion: David O. Selznick.

11 USA 2001, Regie: Antoine Fuqua.

12 USA 1999, Regie: James Mangold.

13 USA 2004, Regie: Martin Scorsese.

14 USA 2001, Regie: Marc Forster.

15 USA 2003, Regie: Sofia Coppola.

KAPITEL 5

Der Tragic Flaw

Wenn eine Indianerin eine Decke webt, hinterläßt sie einen Webfehler, um die Seele herauszulassen.

Martha Graham

Das Chamäleon