Andalusien

Von Granada bis Cádiz

F.A.Z.-eBook 18

Frankfurter Allgemeine Archiv

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher, Birgitta Fella

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de

© 2013 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

Titelbild: © Adivin / iStockphoto.com

ISBN: 978-3-89843-241-2

Inhalt

Vorwort

Städte

Sevilla: Warum nur bist du so schön – Von Jakob Strobel y Serra

Málaga: Immergrüne Multikultur – Von Elisabeth Wellerhaus

Córdoba: Juden, Christen und Muslime – Von Wolfgang Günter Lerch

Granada: Ein siebter Himmel – Von Frederick A. Lubich

Cádiz: Hinter allem steckt Herkules – Von Rolf Neuhaus

Écija: Der Teufel hockt auf dem Dach – Von Rudolf Schmitz

Küsten

Costa de Huelva: Ja, wo hängen sie denn? – Von Rolf M. Moenikes

Costa de la Luz: Im Schutz des Lichts – Von Rolf M. Moenikes

Costa del Sol: Die Vertreibung der Bonzen aus dem Paradies – Von Sven Weniger

Costa Tropical: Im Garten Allahs und der Kalifen – Von Rolf Neuhaus

Landschaften

Fuente de Piedra: Das Liebesleben ist ein akrobatischer Akt – Von Rolf Neuhaus

Ronda: Die Frucht der Götter und Gourmets – Von Alex Westhoff

Wüste von Almería: Was sind schon eine Handvoll Peseten – Von Eva Hakes

Río Guadalquivir: Die Wüste ist voll Wasser – Von Rolf Neuhaus

Guadix: Bescheidenes Leben unter der Haut der Erde – Von Georges Hausemer

Berge

La Alpujarra: Wanderschaft zum Schinkentraum – Von Rolf Neuhaus

Sierra de las Nieves: Die Stürme der Zeit überlebt – Von Rolf Neuhaus

Sierras de Cazorla, Segura y Las Villas: Wir streben zum Meer, was Sterben ist – Von Rolf Neuhaus

Sierra Nevada: Berge wie gefrorene Wellen des Ozeans – Von Rolf Neuhaus

Traditionen

Semana Santa: Die berühmteste Frau Andalusiens – Von Paul Ingendaay

Semana Santa: Party für Gott – Von Jakob Strobel y Serra

Pfingstwallfahrt nach El Rocío – Von Jakob Strobel y Serra

Flamenco: An der Wiege des Urschreis – Von Kersten Knipp

Stierkampf: Geburt eines Matadors – Von Leo Wieland

Rückschau

1989: Die andere Seite von Andalusien – Von Hans Scherer

1965: In andalusische Gassen verliebt – Von Peter Gerisch

1962: Blick von einem maurischen Erker – Von F. W. Pauli

Tipps für die Reise

Buchempfehlungen

Adressen und Internetlinks

Vorwort

Von Birgitta Fella

Andalusien – da denkt mancher an Städte mit maurischen Palästen, Pauschaltourismus an betonierten, aber sonnenverwöhnten Stränden, umjubelte Toreros in der Stierkampfarena, kreischende Flamencosänger und trockenen Sherry. Soweit das Klischee.

Die acht Provinzen der autonomen Region Andalusien warten mit schneebedeckten Bergen, kargen Wüsten, artenreichen Fluss- und Lagunenlandschaften und zahlreichen traditionellen Festen auf. Dieser Vielfalt der Landschaft und Kultur trägt dieses eBook mit vielen abwechslungsreichen Reiseberichten Rechnung.

F.A.Z.-Redakteur Jakob Strobel y Serra zeigt Ihnen in seiner Liebeserklärung an Sevilla die schönsten Seiten der andalusischen Hauptstadt. Er lässt Sie außerdem an den ausschweifenden Feiern der Karwoche in Sevilla teilhaben und nimmt Sie mit auf eine farbenfrohe fröhliche Pfingstwallfahrt zur Jungfrau von El Rocío. Von der Geschichte Córdobas und dem friedlichen Miteinander der drei Weltreligionen in der maurischen Metropole berichtet der Islam-Experte Wolfgang Günter Lerch. Natürlich fehlen hier auch nicht die Städte Málaga, Granada, Cádiz und eine der schönsten Provinzstädte Andalusiens – Écija.

Auf der Suche nach dem Chamäleon und der besonderen Lichtatmosphäre durchstreift Rolf M. Moenikes die westlichen Küstenabschnitte Andalusiens, während seine Kollegen die Wandlungen an der massentouristisch erschlossenen Costa del Sol verfolgen. In Naturparks, Bergen und Sumpflandschaften war der Spanien-Kenner Rolf Neuhaus unterwegs. Er bringt Ihnen das Liebesleben der Flamingos näher und die Sümpfe des längsten Flusses in Andalusien, dem Guadalquivir. Die besten Schinken findet er auf seiner Wanderung durch die Berglandschaft der Alpujarra, die tiefste Einsamkeit im größten Naturschutzgebiet Spaniens. Schließlich erfahren Sie, warum der höchste Berg Spaniens, der im Süden Andalusiens in der Sierra Nevada steht, die Bewohner Granadas ziemlich kalt lässt.

Letztendlich dürfen die Klischees nicht fehlen: der Ursprung des Flamencos und seine Stilrichtungen sowie ein Stierkampf in Ronda schließen das Kapitel über andalusische Tradition ab. Die letzten drei älteren Reiseberichte der Rückschau sind aufschlussreiche Zeugnisse davon, welche Veränderungen das Reisens, der Tourismus und Andalusien in den letzten 50 Jahren durchgemacht haben.

Zur Vorbereitung Ihrer eigenen Reise finden Sie im Anhang praktische Hinweise auf Reiseführer und Bücher mit Reiseerzählungen aus Andalusien und sowie eine umfangreiche Sammlung mit Adressen und Internetlinks.

F.A.Z.-Karte Levinger

Städte

Sevilla: Warum nur bist du so schön

Was maßlos wirkt, ist doch intim – Liebeserklärung an eine Stadt

Von Jakob Strobel y Serra

Sie sangen vom Tod, immer wieder vom Tod, und vom Verrat, von der Verzweiflung, der Trauer, von der geliebten Schwester, die sie gestern begraben, und dem untreuen Geliebten, den sie in Sevilla erschlagen haben. Es waren Schmerzensschreie, die Bernarda de Utrera, Paquita de Jerez und die anderen Gralshüterinnen des »cante jondo«, dieser reinsten Form des Flamenco, unter den Zypressen der Reales Alcázares sangen. Bebend standen die mächtigen Frauen mit ihren noch gewaltigeren Stimmen auf der Bühne der christlich-maurischen Festung im Herzen Sevillas, die eine Hand zur Faust geballt, die andere auf einen Stuhl gestützt, den sie vor Erregung fast zertrümmerten, das Gesicht verzerrt von der Wut von Jahrhunderten. Sie schleuderten ihre Pein heraus, und sie traf das Publikum ins Mark, das immer lauter »¡Ay!« rief, je heftiger die Klagen wurden, und von den Sitzen aufsprang, lange bevor der letzte, von Blut, Rache, Einsamkeit und Sehnsucht getränkte Ton verstummt war und nur die eine große Frage hinterlassen hatte: Kann Sevilla, die Stadt, in der es soviel Schmerz und Leid zu besingen gibt, kann dieses Sevilla glücklich sein?

Viele, die in die Stadt am Guadalquivir kamen und die Lieder hörten, glaubten dennoch, das Glück berührt zu haben. Théophile Gautier, der romantische Schwärmer und Apologet Andalusiens, war erschreckt aus Córdoba geflohen, »einem toten Ort, einer Häusergruft, einer Katakombe unter freiem Himmel«, um dann von der Lebenslust Sevillas und seinem »irren Summen« in den Bann geschlagen zu werden. Federico García Lorca, der Dichter aus dem melancholischen Granada, fand in der Stadt nichts als Rausch und Rhythmus. Antonio Machado hütete fern der Heimat im kargen Kastilien als seinen größten Schatz die Kindheitserinnerungen an einen Garten in Sevilla, in dem ein Zitronenbaum unter einem prahlerisch strahlenden Himmel reifte. Und die vielen namenlosen Reisenden trugen ihre Begeisterung in dem Sprichwort zusammen: »Quien no ha visto Sevilla, no ha visto maravilla« – Wer Sevilla nicht gesehen hat, hat die Wunder nicht gesehen.

Und es ist so wahr: Sevilla ist unfassbar schön, eine Kostbarkeit aus Stein und Licht, gefügt aus Kathedralen und Palästen, plateresken Klöstern und goldenen Türmen, aus dem alten Judenviertel Santa Cruz und den Promenaden des Guadalquivir, aus dem warmen Orange der Dämmerung und dem gleißenden Weiß der Mittagssonne, aus hohen vergitterten Balkonen voller Geranien und schweren verwitterten Holztüren, deren Messingbeschläge vom Ruhm der Konquistadoren zeugen. Jedes Haus scheint prächtiger als das nächste sein zu wollen, schmückt sich mit Azulejos, den farbenfrohen andalusischen Kacheln, mit lasierten Dachziegeln, geschnitzten Holzdecken oder bunten Fensterstürzen, Türrahmen und Simsen, um die kalkweißen Fassaden noch strahlender zu machen. Und viele Häuser verbergen hinter schmiedeeisernen Gittern in Form stilisierter Pfauenräder herrliche Patios: kleine Brüder des Löwenhofes der Alhambra oder kleine Kreuzgänge voller Efeu, Farne und Rosen mit marmornen Brunnen in der Mitte und Bodenmosaiken aus Flusskieseln. Es sind Orte, an denen das Glück wohnen könnte.

Das Wunder dieser Schönheit ist ihre Rigorosität. Sie duldet nichts außer sich selbst und achtet auf jedes Detail – selbst darauf, dass die Straßen nicht phantasielos asphaltiert, sondern in einem Rautenmuster gepflastert sind; dass die Straßennamen nicht als langweilige Blechschilder an den Ecken stehen, sondern Buchstabe für Buchstabe als Azulejos in den Putz der Hauswände eingelassen werden; oder dass statt lästiger Tauben lustige Spatzen auf den schmiedeeisernen Laternen hocken. Und wenn ein Winkel im Schönheitswettstreit nicht mithalten kann, überspielt Sevilla das Defizit mit ein paar geschickten Handgriffen. Die Plaza Nueva unweit der Kathedrale beispielsweise ist nicht sonderlich hübsch, um sie herum stehen ein paar Gebäude mit eintönigen Betonfassaden. Doch davon merkt man kaum etwas. Statt dessen sieht man nur Palmen und Platanen, eine freundliche Statue des Königs Ferdinand des Heiligen und zu seinen Füßen plappernde Menschen, die auf verschnörkelten Bänken sitzen und hin und wieder ihre Fußball spielenden Kinder anfeuern. Hätten alle Völker das Talent der Spanier, den öffentlichen Raum zu gestalten, sähe die Welt anders aus.

Das Schönste an der Schönheit jedoch ist ihre Maßlosigkeit. Sie nimmt kein Ende. Man kann Stunden um Stunden laufen und nur darüber staunen, dass diese Stadt selbst dort noch schön ist, wo andernorts schon die trostlosen Vororte beginnen. Man stößt auf die Residenzen von Bischöfen und Herzögen, die sich beiläufig in Seitengassen verstecken, kommt an Universitäten und Tabakfabriken vorbei, die anderswo Prunkschlösser wären, geht unter den Sonnensegeln der Fußgängerzonen entlang, um sich wie in einer Kasba zu fühlen, und wird ständig vom süßen Duft der Orangen umweht, als sei man im Garten der Semiramis. Denn mit Orangenbäumen schmückt Sevilla seine Straßen, und poetischer, fröhlicher als mit den leuchtenden Früchten in den tiefgrünen Kronen kann man dies nicht tun. Wären es Äpfel, man wähnte sich nahe dem Paradies.

Dann aber, wenn die Zeit der Siesta anbricht, eine bleierne Stille herabfällt und die Menschen von den Straßen vertreibt, wenn nur noch ein einsamer Fernseher durch ein geöffnetes Fenster zu hören ist und selbst der monotone Ruf der blinden Losverkäufer verstummt, dann glaubt man für zwei, drei Stunden den Schmerz Sevillas zu spüren, den der Flamenco besingt, die Abgründe der Seele hinter dem fröhlichen Schein. Doch bevor man sich seiner Ahnung sicher sein kann, erwacht die Stadt wieder und vertreibt die Wehmut wie einen bösen Spuk – und man weiß nicht, obwohl es nicht doch nur einer gewesen ist.

Nach der Siesta nehmen die Bewohner Sevilla wieder vollständig in Besitz. Sie treffen sich in den Straßencafés zum Aperitif oder zum Plaudern auf den Plätzen unter Flamboyants und Bougainvilleas – und sie denken gar nicht daran, die Schönheit ihrer Stadt den Touristen zu überlassen. Vielleicht ist das der größte Zauber: die Alltäglichkeit dieser Schönheit, ihre Selbstverständlichkeit. Sie ist nicht einschüchternd und nicht abweisend, weder arrogant noch distanziert, keine Hülle und keine Kulisse, obwohl sie genau das für ein halbes Dutzend Opern und ungezählte Romane gewesen ist. Sie ist einfach da, Teil des Lebens, wie gottgegeben und gerne angenommen. Man kann in verzauberten Patios zu Abend essen, die in irgendeiner »Exemplarischen Novelle« von Cervantes eine Rolle spielen, in maurischen Gärten Picknick machen, deren Anmut vor Jahrhunderten in den entferntesten Kalifaten gerühmt wurde, oder im Schatten der Lonja Zeitung lesen, der alten Börse mit ihrer Renaissance-Fassade, die einst das Nervenzentrum des spanischen Weltreichs war.

Das Verblüffende dabei ist, wie leicht es Sevilla fällt, mit den Schätzen zu leben, die in dreitausend Jahren Geschichte von den Iberern und Phöniziern, den Römern und Mauren, den Christen und Juden am Guadalquivir aufgehäuft wurden. Sie bauten römisch, romanisch, almoravidisch, almohadisch, neoklassizistisch, neogotisch, schließlich um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in einem eklektizistischen arabesken Jugendstil mit Zuckerbäckerdekorationen aus Stuck – und all das beherrscht bis heute einträchtig das Bild. Andere Städte sind unter einer solchen Last erstarrt oder agonisch geworden, fristen ein Dasein als Freilichtmuseum mit menschlichen Exponaten als Garnierung oder fressen ein Gnadenbrot als Touristenattraktion.

Sevilla aber ist alles andere als müde, sondern widmet sich seinen Schätzen mit der zärtlichen Hingabe desjenigen, dessen Liebe nie erloschen ist. Und ihren unbescheidenen Stolz auf die eigene Stadt haben sie in dem Leitspruch zusammengefasst: »Como Sevilla no hay dos«, Sevilla gibt es kein zweites Mal – worauf alle anderen Andalusier, enerviert von soviel Lokalpatriotenglück, retournieren: »Gracias a Dios.« Vielleicht liegt dieser nonchalante Umgang mit dem Vergangenen daran, dass Sevilla von der Geschichte immer gehätschelt worden ist. Der Stadt wurde nur gegeben und nie etwas genommen. Und das größte denkbare Geschenk machte die Geschichte ihrem Lieblingskind mit der Entdeckung Amerikas: Sevilla erhielt für zweihundert Jahre das Handelsmonopol für die Neue Welt, wurde dadurch zur ersten wirklichen Welthauptstadt der Historie und unermesslich reich. Wie in Sturzbächen wurden Gold und Silber aus den beiden Amerikas in die andalusische Metropole geschwemmt. Es kam oft nicht viel weiter, sondern wurde umgehend an Ort und Stelle in steinerne Pracht umgewandelt. Auch danach, als die Ströme versiegten, das Monopol nach Cádiz überwechselte und schließlich die Kolonien verlorengingen, verschonte die Geschichte Sevilla mit schweren Prüfungen, sondern ließ es einfach in Frieden. Die Stadt nahm das alles ohne Gram und Verbitterung hin und wird sich gesagt haben, dass jemand, der von der Zeit derart beglückt worden ist, gar nicht unglücklich sein kann – ganz nach dem Motto: »Lo bailado no te lo pueden quitar« – die getanzten Tänze können sie dir nicht mehr nehmen.

Im Sog der Geschichte: Blick über die Plaza de España auf den Nordturm (Torre Norte). Foto: egallardo / Fotolia.de

Die sanfte Hand der Geschichte hat den Sevillanern eine fast provokante Gelassenheit gegeben. Viel entspanntere Städte wird man in Europa nicht finden. Selbst Menschen, die immer in Eile sind – also Geschäftsleute und Mütter mit kleinen Kindern –, schlendern hier statt zu hetzen, finden immer Zeit für ein Bier oder einen Sherry, und wenn irgend etwas nicht funktioniert, parieren sie jede Versuchung der Hektik mit der Standardreplik, dass es Schlimmeres gebe. Mit dem unterschwelligen Neid des pflichtbewussten Ethikers fasste der Philosoph José Ortega y Gasset in seiner »Theorie Andalusiens« diese Blutdruck senkende Haltung in einem Satz zusammen: »Anstatt sich anzustrengen, um zu leben, lebt der Sevillano, um sich nicht anzustrengen.«

Aufreibend ist für die Menschen allenfalls das Spaßhaben, denn es nimmt eine zentrale Rolle in ihrem Leben ein, vor allem das allabendliche Umherziehen von einer Bar in die nächste, wobei man am liebsten mit Dutzenden von Freunden auf der Straße vor dem Lokal statt in ihm steht. Zwar hat die Zentralregierung in Madrid ein Gesetz erlassen, welches das Trinken von Alkohol an der frischen Luft verhindert, doch in Sevilla sieht man solche lebensfeindlichen Reglementierungen von jeher gelassener als anderswo. Und wohl nirgendwo sonst auf der Welt, außer vielleicht in Köln, gibt es einen offiziellen »Katertag«: den berühmten »Día de la resaca«, den Montag nach der Feria de Abril, dem gigantischen Volksfest, zu dem so gut wie jeder des Laufens fähige Sevillaner und dazu noch ein paar Hunderttausend Gäste aus ganz Spanien strömen.

Für die Feria wird auf einem vierhunderttausend Quadratmeter großen Gelände am Rand des Zentrums eine Zeltstadt aufgebaut, um eine Woche lang bis zur Besinnungslosigkeit zu feiern, zu tanzen und zu trinken. Doch wer glaubt, hier gehe es um demokratisches, dionysisches Massenvergnügen, fällt auf eine Täuschung herein. Denn die Feria ist bei aller Gigantomanie ein höchst intimes Fest, so wie die Stadt selbst trotz ihres schönen, ständig lächelnden Gesichts alles andere als offenherzig ist. Bei der Feria de Abril spielt die Musik nicht in den öffentlichen Zelten – sie sind nur das Asyl derer, die nirgendwo dazugehören –, sondern in den privaten »casetas«, in die man nur mit Beziehungen hineinkommt.

Auch wenn sich die Stadt nicht im Ausnahmezustand der Feria befindet, existieren in ihr zwei Welten nebeneinander, zwar mit vielen Berührungspunkten, aber auch nicht mehr: die eine ist das Sevilla der schwärmenden Besucher, der Sprachschüler und Austauschstudenten, für die Führungen mit dem Titel »Walking with Carmen through Sevilla« angeboten werden; die andere, viel aufregendere, ist das Sevilla der Sevillaner, ein hermetisches Universum, zu dem man meist nur durch das »ius sanguinis« Zutritt erhält. Die Fremden werden in den seltensten Fällen zu Freunden. Man lässt sie an der Lebensfreude teilhaben, doch teilt sie nicht wirklich mit ihnen. Allerdings macht das nichts, denn es ist genug für alle da.

Die vermeintliche Offenheit, suggeriert durch die Öffentlichkeit des Lebens, ist nicht die einzige Täuschung Sevillas. Die Stadt ist so heiter wie kaum eine andere und gleichzeitig die Heimat der düsteren literarischen Archetypen Carmen und Don Juan, die ihre Lebenslust mit dem Tod bezahlten und Sevilla zum literaturgeschichtlichen Unglücksort par excellence machten. Auch auf die Bruchlinie zwischen Klischee und Wirklichkeit ist hier kein Verlass. Man kann Sevilla als ein grell geschminktes Andalusien aus dem Bilderbuch betrachten, als ein Sammelsurium aus Stereotypen – von » Huelva s« tanzenden Kneipenbesuchern über »Siguiriyas« singende Zigeuner bis zu stierkämpfenden Sherry-Baronen auf edlen Araberpferden. Man kann in eine der zahllosen Bars mit Azulejos-Theken, Dutzenden Jabugo-Schinken an der Decke und schwarzen Manzanilla-Fässern gehen, unter Plakaten von Corridas Tapas essen und sich sagen, dass dieses Lokal eine Überstrapazierung des Klischees ist. Aber so ist es eben: Das alles kommt aus der Seele dieser Stadt. Und es ist keine Touristendekoration, wenn in den Schaufenstern der Calle Sierpes, der eleganten Einkaufsstraße, Mantillas oder Kastagnetten ausliegen. Hier deckt das vornehme Sevilla seinen Bedarf, nicht die Pauschalreisegruppe.

Einmal im Jahr freilich erklärt Sevilla alle Kategorien für ungültig. Dann findet am Guadalquivir das befremdlichste, ungeheuerlichste Spektakel statt, das in Europa zu erleben ist: die Semana Santa, die Karwoche, ein Schauspiel atavistischer Inbrunst und religiöser Archaik, das nur auf dem Humus von dreitausend Jahren Geschichte wachsen kann und im einundzwanzigsten Jahrhundert wie ein verstörendes Wetterleuchten aus jener fernen Zeit wirkt, als Gott tatsächlich noch der Allmächtige war. In dieser Woche ist die Stadt ein einziger Tumult. Dutzende von Jungfrauen-Statuen, Madonnen mit Schmerzensgesichtern wie von Zurbarán oder Valdes Leal gemalt, gehüllt in Brokat, übergossen mit Blattgold, werden in langen Prozessionen durch die Straßen getragen – auf den Schultern von Geißlern und mit Hunderten von Büßern als stummer Eskorte, die schwere Kreuze hinter sich herschleifen, ihre Körper unter wallenden Gewändern und ihre Gesichter unter spitz zulaufenden Kapuzen verbergen. Dann liegt ganz Sevilla tagelang im Widerschein der Kerzen und im Widerhall der Trommeln unter einer Wolke aus Weihrauch. Und immer wieder müssen die Prozessionen anhalten, vor allem die der am heißesten geliebten Jungfrauen, der Macarena und der Trianera, damit die Gläubigen sie frenetisch bejubeln und ihnen ihre Klagelieder darbringen können. Die Unterbrechungen nutzen die erschöpften Träger und Büßer, die alle ihr Gelübde zu erfüllen haben, um – sonst wäre Sevilla nicht Sevilla – in der nächsten Bar schnell laut scherzend ein paar Bier zu trinken.

So ist die Stadt: selbst in Momenten des tiefsten Ernstes noch selbstironisch und leichtlebig, so pathetisch wie flatterhaft, mit einem Herz groß genug für Don José und Escamillo, schöne Fischerinnen und steinerne Gäste. Das bekommt auch die berühmte Kathedrale zu spüren, der größte gotische Dom der Erde, die drittgrößte Kirche der Christenheit, ein Gebirge aus Türmen, Zinnen, Streben und Portalen mit Hunderten Heiliger und der halben Bibel im Flachrelief. Doch die Sevillaner haben ihr listig die Monumentalität gestohlen, indem sie den aberwitzigen Koloss mit Häuserzeilen regelrecht umzingelten. Anstatt respektvoll Abstand zu halten, damit die Kathedrale ihre Wucht und Pracht entfalten kann, sind sie ihr derart auf die Pelle gerückt, dass sie nun nicht mehr – wie es ihre Erbauer wollten – der einschüchternde steinerne Triumph der Christen über die Gottlosen ist, sondern nur noch eine sehr schöne, sehr große Kirche mitten im Gewirr der Altstadt.

Und als Gipfel der ketzerischen Respektlosigkeit haben die Sevillaner nicht das Gotteshaus, sondern die viel zierlichere und elegantere Giralda, das Minarett der alten Moschee, das sich unmittelbar neben dem Hauptschiff erhebt, zu ihrem Wahrzeichen gemacht – wahrscheinlich weil es schöner ist. Anstatt den Ungläubigenturm als gute Christen abzureißen, ersetzen sie die Keramikkuppel der Moschee einfach durch einen Glockenstuhl und pflanzten noch ein Bronzefigürchen, die Giraldilla, obendrauf. Das reichte.

Vielleicht spiegelt dieses Ensemble am treffendsten den Charakter der Sevillaner wider: ihre Verspieltheit und Lust am Konterkarieren, ihre Mischung aus Maßlosigkeit und Intimität, ihre undogmatische Nonchalance und das gekonnte Arrangieren des Daseins, so dass am Ende alle zufrieden sind. Und wer könnte es nicht sein, der abends, geblendet vom Glanz der hell erleuchteten Kathedrale und dem Strahlen der ganzen Stadt, angesteckt von der Leichtigkeit ihres Lebens und berauscht von ihrer Schönheit, durch die Straßen voller lachender Menschen streift, um schließlich auf ein letztes Glas für einen letzten Blick den Guadalquivir zu überqueren und sich in Triana in eine der Bars an der Uferfront zu setzen. Viele der besten Flamenco-Sänger Andalusiens stammen aus diesem alten Seefahrerviertel, in dem Kolumbus die Mannschaft für seine Karavellen anheuerte und Rodrigo de Triana lebte, der Matrose, der als erster Amerika sah. Manchmal hört man hier das Klagen des »cante jondo« über den Dächern, laut und schmerzvoll, als wollte es nie verstummen. Doch der Fluss, der einst die Nabelschnur zu den Wundern der Welt war und heute der treue Spiegel für die Schönheit Sevillas ist, trägt die Litaneien fort.

Zurück bleibt eine Ahnung: dass Sevilla die Schmerzenslieder des Flamenco allein dafür braucht, um die Maßlosigkeit des eigenen Glücks ertragen zu können. Vielleicht sind es auch nur die wehmütigen Echos derer, die hier gelebt haben und fort mussten, aus dieser Stadt, die vielleicht die glücklichste der Welt ist. Viel glücklicher als in Sevilla kann man nicht sein.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.2.2003