GÜNTHER MOEWES

ARBEIT RUINIERT DIE WELT

Warum wir eine andere Wirtschaft
brauchen

1. Auflage 2020

© Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2020
Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Titelillustration: Andreas Töpfer
Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-939816-74-4
eISBN 978-3-939816-75-1

Inhalt

Vorwort

1. Welcher Reichtum erzeugt Armut?

2. Begleiterscheinungen und Folgen

3. Wirkungen auf Stadt und Land

4. Falsche Vorstellungen von Arbeit

5. Folgen falscher Arbeit

Literatur

Vorwort

Ein Unterschied zwischen notwendiger und vermeidbarer oder gar schädlicher Arbeit wird in der heutigen Ökonomie nicht ernsthaft gemacht. Es gibt dazu auch keine nennenswerte Forschung. Es herrscht das Mantra vor, dass alle Arbeit gut sei und den Wohlstand erhöhe. Die Physik ist da schon weiter. Seit 155 Jahren unterscheidet sie zwischen Arbeit, die Material bewegt und solcher, die keins bewegt. Und ob sie sich fossiler oder solarer Energie bedient. Lediglich die letzte Unterscheidung haben fortschrittliche Teile der Ökonomie bisher zu übernehmen versucht.

Schon 1963 hat Heinrich Böll die Haltung der Wirtschafts- und Wachstumsgesellschaft in einer wunderbaren kleinen Novelle treffend beschrieben (Lit. Kap. 4): Ein westlicher Tourist trifft ganz früh am Morgen in einem Hafen »an einer westlichen Küste Europas« auf einen dösenden Fischer. Auf die Frage, warum er bei dem herrlichen Wetter nicht zum Fischen ausgelaufen sei, antwortet der Fischer, er sei bereits einmal ausgelaufen. Der Fang »war so gut, dass ich nicht noch einmal auszulaufen brauche. […] Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug.« Das regt den Touristen furchtbar auf: »[…] stellen Sie sich vor, […] Sie würden […] nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren […] Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in drei oder vier Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben […] eines Tages würden Sie zwei Kutter haben […] Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren und dann […].« – »Was dann?« fragt der Fischer leise. – »Dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.« – »Aber das tu’ ich doch schon jetzt«, sagt der Fischer.

Besser konnte man 1963 nicht beschreiben, warum die Wirtschaft bis heute unseren Planeten derart ruiniert hat. Dieser Zustand unseres Planeten und seine Ursachen, die seit 2014 in den Beiträgen dieses Buches angesprochen wurden, sind durch die Corona-Krise plötzlich noch deutlicher geworden.

Von einem Tag auf den anderen wird die bisherige Austeritätspolitik über Bord geworfen. Billionen werden locker gemacht. Das legt den Verdacht nahe, dass vieles, was bisher als »nicht finanzierbar« galt, vielleicht doch finanzierbar gewesen wäre. Zum Beispiel ein Grundeinkommen. Und dass das bisherige Mantra einer beschäftigungsbasierten Wirtschaft vielleicht doch falsch ist, wonach Wohlstand nur durch menschliche Arbeit entstehen kann, auch dann, wenn diese überflüssig, sinnlos oder gar schädlich ist. Es waren ja die Auswüchse dieser falschen Wirtschafts- und Arbeitsideologie, die die Ausbreitung der Pandemie zumindest befördert haben:

die Sprengung der planetaren Grenzen durch Übervölkerung infolge Armut

der globale Mobilitätswahn durch vermeidbaren Handel und Tourismus

die Störanfälligkeit der Produktionen durch künstlich verkomplizierte Lieferketten

die globale Entsolidarisierung durch nationalen Egoismus und Wettbewerb.

Ungehemmter Nationalismus, wenn er in der Bevölkerung auftritt mit Recht kritisiert, wird in der Wirtschaft beharrlich als Tugend und Wettbewerbsvorteil dargestellt. Jeder Globalisierungskritik wird die wenig überzeugende Belehrung entgegengestellt, dass jede globale Vermischung regionaler Kulturen, Lebensgewohnheiten, Architekturen, Stadt- und Landschaftscharaktere zu Bereicherung und größerer Vielfalt führe. Das Gegenteil ist der Fall. Die Welt wird zum zivilisatorischen Einheitsbrei. Ihre Vielfalt wird abgebaut. Die verhängnisvolle, antievolutionäre und unumkehrbare Vermischung – in der Physik seit 150 Jahren als »Entropie« kritisiert – wird von Wirtschaft und Politik beharrlich als Fortschrittsmotor dargestellt.

Wir erleben, wie von niemandem gewählte Milliardäre immer größere Milliardenbeträge der demokratischen Verfügung durch die gewählten Parlamente entziehen. Kann man das noch »Demokratie« nennen? Die Milliardäre haben eine Welt der zwei Realitäten geschaffen: Auf der einen Seite die offizielle Welt der Sozialprodukte, der Staatshaushalte, der Löhne und Gehälter, der normalen Privatvermögen und der Inflation. In dieser Welt lagen die jährlichen Zuwachsraten vor der Coronakrise bei ein bis zwei Prozent, in einigen Aufbruchsländern wie China vorübergehend etwas höher. Auf der anderen Seite die Welt der privaten Milliardärsvermögen. In ihr lagen und liegen die jährlichen Zuwachsraten bei sechs Prozent. Die Staaten wirken dieser Umverteilungsautomatik von unten nach oben nicht durch angemessene Rückverteilung entgegen. Im Gegenteil: Sie verstärken sie noch, etwa indem sie

in Europa ärmeren Staaten die Abwertungsmöglichkeit ihrer Währung entziehen

mit ihrer Exportwut Wirtschaften weniger entwickelter Ländern zerstören

oder einfach alle staatliche Rückverteilung als »Umverteilung« denunzieren.

Wenn über die Zerschlagung der deutschen Traditionsfirma WMF und die Entlassung tausender Arbeiter nicht mehr vom gewählten Parlament in Baden-Württemberg entschieden wird, sondern vom ungewählten US-Anlageriesen BlackRock in New York – kann man das dann noch »Demokratie« nennen?

Die immer monströsere Ungleichverteilung beschränkt sich aber nicht nur auf Kapital und Vermögen. Sie dehnt sich auf alle Lebensbereiche aus. Etwa auf die organisierte Nichtbeachtung des Einzelnen: In Prolli-Medien und »sozialen« Netzwerken genießen aufgeblasene Scheinpromis eine Überbeachtung, deren gesellschaftlichen Sinn oder Vorbildcharakter man vergeblich sucht. Auf der anderen Seite wird den sozial Abgehängten so lange das letzte Selbstwertgefühl geraubt, bis sie in ihrer sozialen Vereinsamung Amok, Terrorismus und Herostratentum anheimfallen und sich die verweigerte Beachtung gewaltsam verschaffen.

Selbst berechtigte Bevölkerungsproteste verlieren sich im Irrationalen. Deutsche Bauern protestieren – im Gegensatz zu britischen – nicht etwa gegen fortschreitende Agrar-Industrialisierung und Flächenkonzentration, gegen Fastfood und Insektensterben, sondern für das »Recht« auf Einbringen von Gülle. Und das mit Treckern und Diesel.

Regierungen werden bei der Nachsorge manchmal besser, bei der Vorsorge aber immer schlechter. Der Klimawandel ist ja längst unaufhaltsam da. Es wird in Deutschland nicht immer mehr Dürrejahre geben, sondern unter anderem infolge fehlender Gletscher und Höhenwinde fast nur noch Dürre. Anstatt endlich damit zu beginnen, Stauseen, Rückhaltebecken, Moorvernässungen, Flussauen, Bewässerungskanäle und Berieselungsanlagen anzulegen, lässt man Brüssel und die Agrarminister über nachträgliche finanzielle Dürrehilfen für Großflächen nachdenken.

Nicht alle Arbeit ruiniert also die Welt. Präventionsarbeit kann sie retten. Doch je unregierbarer die Staaten werden, desto mehr werden sich die Dinge »natürlich« regeln. Etwa indem die Natur gegen die von einer falschen Ökonomie und Politik ausgelösten Kriege, Klimazerstörungen und Flüchtlingswellen mit immer neuen Pandemien reagiert.

Schon 1998 hatte mich die Frankfurter Rundschau einen »Kulturpessimisten« genannt. Umso mehr danke ich ihr dafür, dass sie meinen eher pessimistischen Betrachtungen dennoch Raum bot. Das ungewohnte Format von etwa 2200 Zeichen erwies sich als ungemein disziplinierend. Die insgesamt 50 Kolumnen und Beiträge wurden in dem Buch thematisch fünf Kapiteln zugeordnet. Dadurch werden naturgemäß die Wiederholungen sichtbar, die infolge des zeitlichen Abstands der einzelnen Kolumnen voneinander notwendig wurden. Sie wurden aus Gründen der Authentizität nicht beseitigt. Der Leser möge mir das verzeihen.

Vielleicht trägt das Buch ja etwas dazu bei, dass auch ökonomische Laien sich für Ökonomie zu interessieren beginnen.

6.05.2020
Günther Moewes

1. Welcher Reichtum erzeugt Armut?

Jenseits aller Vorstellungen

Die Superreichen sind so vermögend, dass wir uns davon gar kein richtiges Bild mehr machen – und deshalb nicht aufschreien?

Die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen wächst und wächst. Inzwischen besitzen weltweit die 85 reichsten Milliardäre so viel wie die halbe Menschheit. 211 275 Personen verfügen über 30 Millionen Dollar oder mehr. Sie kommen auf ein gemeinsames Vermögen von 30 Billionen Dollar, was im Durchschnitt 142 Millionen Dollar pro Kopf entspricht. Das sind ungeheuerliche Zahlen. Der große Aufschrei bleibt jedoch aus. Selbst die am stärksten betroffene Jugend nimmt die steigende Ungleichheit fast gleichgültig hin. Wie kommt das?

Eine der Hauptursachen: das ganze Ausmaß der Ungleichverteilung wird überhaupt noch nicht richtig begriffen. Es entzieht sich der menschlichen Vorstellungskraft. Wie kann man diese Dimension veranschaulichen? In dem 10-Säulen-Diagramm des DIW zur Vermögensverteilung in Deutschland ist die rechte, reichste Säule 12 cm hoch. Diese reichsten zehn Prozent der Bevölkerung haben ein durchschnittliches Pro-Kopf-Vermögen von etwa 603 000 Euro (50 000 Euro = 1 cm). Das Durchschnittsvermögen aller Deutschen wäre 1,76 cm hoch.

An der äußersten rechten Kante der reichsten Säule läge das Vermögen des reichsten Deutschen, des kürzlich verstorbenen Aldi-Gründers Theo Albrecht, mit seinen 20,7 Milliarden Euro. In meinen Vorträgen frage ich immer: Wie groß müssten diese 20,7 Milliarden in der Grafik sein? Die Zuhörer sagen dann: »Das geht gar nicht mehr auf die Seite!« Tatsächlich müsste der Balken 4,14 km hoch sein.

4,14 km für das größte Vermögen gegen 1,76 cm für das Durchschnittsvermögen – das ist das Ausmaß der Ungleichverteilung in Deutschland! In Wirklichkeit ist der Unterschied noch größer. Denn die ärmere Hälfte der Bevölkerung hat zusammen null Vermögen – und ein Teil davon sogar Schulden.

Das Ausbleiben des Aufschreis hat auch noch eine andere Ursache: Viele Leute glauben, wenn es viele Superreiche gäbe und wenn die sich für ein paar Millionen eine Luxusyacht bauen lassen, schafften sie Arbeit und Einkommen, die ohne sie nicht geschaffen würden. Solche Vorstellungen sind ökonomisch falsch, werden aber von der neuen reichen »Superklasse«, von ihren »Thinktanks« und Stiftungen durch allerlei Pseudotheorien kräftig unterstützt: »Die steigende Flut hebt alle Boote.« »Wenn die Reichen genug haben, tropft für die Armen schon genug herunter.« (Trickle-Down-Theorie) »Wir können den Schwachen nur etwas abgeben, wenn wir genügend Starke haben.« (Regierungserklärung der Kanzlerin)

Richtig ist: Das Sozialprodukt ist zu jedem Zeitpunkt eine feste, endliche Größe und kann nur einmal verteilt werden. Die Superreichen konnten nur deshalb ihre Milliarden anhäufen, weil sie nicht angemessen besteuert wurden und dem Staat nun das Geld für Straßenreparaturen, Polizisten und Lehrer fehlt. Wertschöpfung entsteht nur aus Arbeit. Die Milliarden der Superklasse entstanden zum großen Teil aus der Arbeit anderer. Aus Lohndumping bei ihrem eigenen Personal, aus Preisdumping bei ihren Zulieferern, aus Monopoltricks oder Finanzspekulationen auf Kosten anderer. Aus Abschöpfung, nicht aus Wertschöpfung. Großreichtum entsteht immer aus der Arbeit anderer.

Die gigantische Ungleichverteilung kann grundsätzlich nur durch eine angemessene Besteuerung der Superreichen überwunden werden. Das wäre keine »Umverteilung« von oben nach unten, sondern bestenfalls eine »Rückverteilung« bisheriger Umverteilung von unten nach oben. Die Regierungen verhindern das erfolgreich mit der Wahlkampfparole »Keine Steuererhöhungen«. Gewollt ist in Wirklichkeit: »Keine Steuererhöhungen für Superreiche«.

Dazu ein einfacher Gedankengang: Da die reichsten zehn Prozent über 70 Prozent der Vermögen verfügen, würde es die Ungleichverteilung am wirkungsvollsten verringern, wenn man nur diese zehn Prozent besteuern würde. Jede Besteuerung der »unteren« 90 Prozent würde demgegenüber die Ungleichverteilung nicht verringern, sondern weiter vergrößern. Eine solche abrupte Steuerstufe wäre allerdings willkürlich und müsste gleitend gemacht werden. Die Überlegung zeigt aber: Sehr viele Steuern verringern die Ungleichverteilung nicht, sondern erhöhen sie noch. Damit müsste eine Steuerreform zuerst aufräumen.

Gastbeitrag aus der Reihe
»Was ist gerecht?« vom 3.12.2014

Automatisch reicher

Warum Geldvermögen exponentiell wachsen

Wieso wird der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer? Man begründet das gern mit der Gier von Kapitalisten und Finanzhaien. Im »Rheinischen Kapitalismus« nach 1948 sei das noch anders gewesen: »Mehr als 60 000 DM im Jahr kann man nicht ausgeben«, sagte Robert Bosch. Politiker predigten »Maßhalten!«. Der Staat hatte keine Schulden, sondern ein Milliardenvermögen. Viele glauben deshalb, man sei damals weniger gierig gewesen als heute.

In Wirklichkeit wird die Auseinanderentwicklung von Arm und Reich in erster Linie von einer gewaltigen exponentiellen Automatik getrieben. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigt in Deutschland und vielen anderen Industriestaaten seit 1950 stur linear: gleichbleibende Zuwächse, ansteigende Gerade. Die privaten Geldvermögen dagegen steigen überwiegend exponentiell: Verdoppelung nach jeweils gleichen Zeitschritten. Jeder Zuwachs erzeugt im Folgejahr einen noch größeren. Ursachen waren zuerst Zinsen, Gewinne und Mieten, später »neue Finanzkonstruktionen«, die Entwertung der Arbeit und reichenfreundliche Steuern.

Weshalb aber gab es diese Auseinanderentwicklung in der ersten Nachkriegszeit nicht? Auch hier ist der Grund mathematisch. 1948 fingen – historisch einmalig – die beiden Kurven von BIP und privaten Geldvermögen ziemlich genau im gleichen Punkt bei Null an, letztere aufgrund der Währungsreform. Exponentielle Kurven beginnen zuerst immer fast horizontal und harmlos. Bis 1975 stieg deshalb das reale BIP schneller als die noch fast horizontale Kurve der privaten Geldvermögen. Starökonom Piketty würde sagen: r (Kapitalrendite) war kleiner als g (Wirtschaftswachstum). Erst danach begannen die Geldvermögen schneller zu steigen als das BIP und überholten es 1987. Heute steigen sie immer vertikaler, während die aufsteigende Gerade des BIP weiter zurück bleibt.

Diese Anhäufungsautomatik verlangt ein stetiges entschlossenes Entgegenwirken des Staates. Der will die aber gar nicht erkennen. Stattdessen hat er schon 1948 aus Komplizenschaft mit den Reichen den Grundstock zur heutigen Ungleichverteilung gelegt: Während Normalbürger bei der Währungsreform nur 40 DM pro Kopf erhielten, durften Milliardäre ihre Sachvermögen ungekürzt aus der Nazizeit herüberretten. Die stiegen dann auch exponentiell. Die Arbeitseinkommen nicht.

Gastwirtschaft, 13.11.2015

Die zwei Seiten der Medaille

Je größer der Reichtum, desto größer die Armut

Wenn Oxfam neue Daten zur Ungleichverteilung bekannt gibt, holen die Mainstream-Medien zum Gegenschlag aus. Kostproben vom Januar 2017: Das Problem sei nicht der Reichtum, sondern die Armut. Wer sein Vermögen im freien Wettbewerb erwirbt, nimmt niemandem etwas weg. Von den Milliardenvermögen profitieren doch letztlich alle. Alles aus der alten Voodoo-Kiste der Bereicherungsökonomie. Schwache wurden noch nie stark gemacht, indem man die Starken schwach macht. Die steigende Flut hebt alle Boote. Wenn man die Reichen nur gewähren lässt, tropft für die Armen schon genug herab.