Mit Beiträgen von Bernard-Henri Lévy, Martin Mosebach, Juan Manuel de Prada, Karl Kardinal Lehmann u.v.a.
F.A.Z.-eBook 12
Frankfurter Allgemeine Archiv
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher
eBook-Produktion: Rombach Druck- und Verlagshaus
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2012 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher. Titelfoto: Rainer Wohlfahrt / F.A.Z.
ISBN: 978-3-89843-243-6
Von Daniel Deckers
Es ist der 16. April, der Karsamstag des Jahres 1927, als einem bayerischen Gendarmen, der in Marktl am Inn seinen Dienst tat, das jüngste von drei Kindern geboren wird. Vier Stunden später, in der Osternacht, wird Joseph Ratzinger mit dem neu geweihten Wasser getauft. Die Kindheit und die ersten Jugendjahre verlebt er im unsteten Rhythmus der Versetzungen seines Vaters, der als Gegner der 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten keinen leichten Stand hatte. Eine Heimat im engen Sinn des Wortes findet Ratzinger außer in der Familie und in der Kirche nicht. Die bescheidenen Einkünfte des Vaters reichen aus, um Ratzinger im Alter von zwölf Jahren ein Knabenseminar in Traunstein beziehen zu lassen – zur Vorbereitung auf den Priesterberuf.
Wenige Monate später beginnt der Zweite Weltkrieg, aus dem Internat wird ein Lazarett. 1943 werden die Traunsteiner Seminaristen, mittlerweile kollektiv der Hitlerjugend zugeführt, zur Flak nach München kommandiert. Im Herbst 1944 heißt es Reichsarbeitsdienst. Bald darauf wird Joseph Ratzinger eingezogen, aber nicht mehr an die Front geschickt. Am 19. Juni 1945 ist er wieder zu Hause. Sechzig Jahre später wurden englische und amerikanische Zeitungen nicht müde, den neuen Papst als Hitlerjungen abzubilden. Tatsächlich sollte der Geist der damaligen Zeit Joseph Ratzinger zeitlebens prägen. Wie Johannes Paul II., der den Krieg in Polen als Zwangsarbeiter überlebte, hat Ratzinger als ein prototypischer Vertreter der »skeptischen Generation« seine Abneigung gegenüber totalitären Ideologien und einer allzu großen Nähe von Staat und Kirche nie verleugnet. Seine letzten Worte an die deutschen Katholiken, gesprochen zum Abschluss seines Deutschland-Besuchs im September 2011 im Freiburger Konzerthaus, enthielten denn auch die Aufforderung, »Privilegien« zu entsagen und sich zu »entweltlichen«, auf dass das Licht des Glaubens umso heller strahle.
1947 ist die Entscheidung für den Priesterberuf endgültig. Doch wenn Priester, dann nicht Seelsorger, sondern Wissenschaftler im Dienste Gottes und des Menschen. So sollte es kommen. Am 29. Juni 1951 empfängt er zusammen mit seinem Bruder Georg die Priesterweihe, nach vierzehn Monaten als Kaplan kehrt er zum Promotionsstudium nach Freising zurück.
Deutschlandbesuch 2011: Der Teufel trägt Prada – der Papst nicht. Die roten Schuhe des Fischers stammen jedenfalls »nur« von gewöhnlichen vatikanischen Papstausstattern. Links Erzbischof Zollitsch, rechts Camerlengo Kardinal Bertone. F.A.Z.-Foto / Rainer Wohlfahrt.
Wie so viele andere Theologen wird Ratzinger von seinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten geprägt für sein Leben. »Volk und Haus Gottes bei Augustinus«, die Promotion, lässt ihn zum Advokaten einer skeptischen Geschichtstheologie werden. Die Habilitation widmet sich 1957 der Geschichtstheologie des Franziskanertheologen Bonaventura. Bald darauf macht Ratzinger, mittlerweile Professor in Bonn, über seinen Studienfreund Hubert Luthe Bekanntschaft mit dem Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings. Der aber wird zu einer der Schlüsselfiguren des Zweiten Vatikanischen Konzils und Ratzinger, kaum 35 Jahre alt, zu seinem theologischen Berater.
Reform ist das Gebot der Stunde, doch Reform nicht als Anpassung der Kirche an den Zeitgeist, sondern als Rückkehr zu den Wurzeln, zur Bibel und zu den Kirchenvätern. In diesem Geist ist der »Teenager des Konzils« an vielen wegweisenden Interventionen Frings‘ und an der Ausarbeitung vieler Konzilsdokumente beteiligt. Mittlerweile lehrt der Bayer in Münster. Noch voller als die Hörsäle sind dort die Gottesdienste, in denen er predigt. 1966 geht Ratzinger auf Wunsch von Hans Küng von Münster nach Tübingen. Dort setzt er 1968 seine Unterschrift unter eine Erklärung zahlreicher Theologen zugunsten der Freiheit der Theologie. Als er zwei Jahre später zusammen mit weiteren namhaften Kollegen für eine Neubewertung der Vorschrift wirbt, die Diözesanpriestern die Pflicht zu sexueller Enthaltsamkeit auferlegt, ist er schon wieder weitergezogen. Die Studentenunruhen, die 1968 auch Tübingen erfasst hatten, lassen ihn nach Regensburg flüchten, wo sein Bruder Georg mittlerweile Kapellmeister am Dom geworden ist. Von Bayern aus reagiert er zunehmend irritiert auf die »umstürzlerischen« Vorgänge in der Kirche, von der Forderung nach mehr Demokratie bis zu den Experimenten auf dem Feld der Liturgie. Er selbst zieht unterdessen Studenten aus allen Teilen Deutschlands, auch aus dem Ausland, nach Regensburg. Aus dem Doktorandenkolloquium geht im Lauf der Jahre ein Schülerkreis hervor, dessen Mitglieder sich noch im August 2011 in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo trafen.
Seit den siebziger Jahren ist der konzilserfahrene Ratzinger einer der einflussreichsten Theologen weltweit. Seine »Einführung in das Christentum« wird in Dutzende Sprachen übersetzt. Von dem reformorientierten Mainstream der Kirche hält Ratzinger sich fern. An Pfingsten 1977 wird Joseph Ratzinger zum Nachfolger des früh verstorbenen Münchner Erzbischofs Julius Kardinal Döpfner geweiht. Wenige Wochen später ist er der jüngste Kardinal der römisch-katholischen Kirche. Sein Wahlspruch lautet: »Mitarbeiter der Wahrheit«. Als Johannes Paul II. den Münchner Erzbischof im Herbst 1981 für die Leitung der Kongregation für die Glaubenslehre gewinnen will, sagt Ratzinger nicht mehr nein.
Als Präfekt der Glaubenskongregation hat Ratzinger nicht nur das Privileg, regelmäßig mit Papst Johannes Paul II. zusammenzukommen und so zu dessen wichtigstem Ratgeber in Fragen der Glaubenslehre und der Kirchendisziplin zu werden. Nach außen hin hält es Ratzinger auch in Rom mit dem Kirchenvater Augustinus: »Unruhestifter zurechtweisen, Kleinmütige trösten, Gegner widerlegen«. Für alles sah der Präfekt Anlässe genug. In den achtziger Jahren gilt es, Auswüchse der in einigen Zirkeln in Lateinamerika populären Theologie der Befreiung zu korrigieren. Mit persönlichen Einlassungen oder auch offiziellen Interventionen der Kongregation ist Ratzinger aber auch immer dort zur Stelle, wo er eine »Relativierung« der Tradition zu erkennen glaubt, sei es in dem Versuch der drei oberrheinischen Bischöfe Saier, Lehmann und Kasper, wiederverheirateten Geschiedenen innerhalb strenger Grenzen den Empfang der Sakramente zu ermöglichen, sei es in der angeblichen Aufweichung der unbedingten Verpflichtung, das menschliche Leben zu schützen, durch die Mitwirkung der katholischen Kirche in Deutschland in der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung.
Kritik bis hin zu Anfeindungen scheut er als Theologe ebenso wenig wie als Präfekt der Glaubenskongregation. Er kann einstecken, aber auch austeilen. Das galt für die Maßregelung von Theologen und die Disziplinierung deutscher Bischöfe nicht weniger als für die Akzentuierung der bleibenden Differenzen zwischen der katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen auf dem Höhepunkt der ökumenischen Annäherung durch die »Gemeinsame Erklärung« über einige Fragen der Rechtfertigungslehre. Die Erklärung »Dominus Iesus« der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre vom Sommer 2000 ist für viele ökumenisch gesinnte Christen ein Schock.
Als Papst entpuppt sich Benedikt indes nicht nur als weniger »ökumenisch« als sein Vorgänger. Auch die Amtsführung lässt das unterschiedliche Temperament Ratzingers erkennen. Schon aus Rücksicht auf sein hohes Alter reduziert er die Zahl der Auslandsreisen. Im Apostolischen Palast hatte es mit dem regen Kommen und Gehen von Gästen aus aller Welt mit dem Tod von Johannes Paul II. ein Ende. Und in den annähernd acht Jahren seines Pontifikats veröffentlichte Benedikt nur drei Lehrschreiben. Die aber hatten und haben es in sich: Vor allem die beiden Enzykliken über die Liebe (»Deus caritas est«) und die Hoffnung (»Spe salvi«) sind Früchte einer lebenslangen Beschäftigung mit den Kernaussagen der christlichen Botschaft und Wegweisung über das Pontifikat hinaus. Die Enzyklika »Caritas in veritate« und die darauf aufbauende Rede Benedikts vor dem Deutschen Bundestag wiederum harren mit ihrem Versuch, auf dem Weg über die moderne Ökologiedebatte ein naturrechtlich fundiertes christliches Menschenbild als einzig zukunftsweisend auszuzeichnen, noch ihrer Rezeption.
Gescheitert, weil von Beginn an zum Scheitern verurteilt, ist indes der Versuch des Papstes, eine Wunde zu heilen, die die Rezeptionsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils hinterlassen hatte: die Abspaltung der »Pius-Bruderschaft«. Obwohl Benedikt der – nach eigenem Verständnis einzig wahrhaft katholischen – Gruppe weit entgegenkommt, geht diese bis zuletzt nicht auf das Verlangen ein, unabdingbare Lehren des Konzils anzuerkennen. Dabei geht Benedikt viele Risiken ein, um die endgültige Abspaltung der sektiererischen Pius-Bruderschaft zu verhindern: In Gestalt des Pius-Bischofs Williamson rehabilitiert er – angeblich unwissentlich – einen veritablen Holocaust-Leugner, mit dem vorkonziliaren Messritus restauriert Benedikt in Gestalt der Karfreitags-Fürbitte Relikte des klassischen katholischen Antijudaismus.
Von einer mitunter Freund wie Feind verwirrenden, da auf einsamen Entscheidungen beruhenden Kirchenpolitik zeugen auch Einlassungen des Papstes wie die tendenzielle Ineinssetzung von Islam und Gewalt in der Regensburger Rede im September 2006, die in weiten Teilen der islamischen Welt zur Verschärfung der ohnehin gewachsenen Spannungen zwischen Christen und Muslimen beitrug. Freilich fehlt es in diesen wie in vielen anderen Fällen nicht an interessegeleiteten Versuchen, den Papst als Repräsentanten einer Institution zu diskreditieren, die mehr als alle andere Schuld an vielen Übeln dieser Welt trägt. Missverständliche Äußerungen des Papstes über Kondome dienen als Beleg einer unvermindert repressiven Sexualmoral.
Von den Berichten über die Vergehen von Geistlichen an Kindern und Schutzbefohlenen nimmt noch in der Endphase des Pontifikats von Johannes Paul II. eine Debatte über das moralische Versagen der auf einen rücksichtslosen Schutz der Institution bedachten Hierarchie ihren Ausgang, deren Auswirkungen auf das Ansehen der Kirche vor allem in den westlichen Gesellschaften nicht verheerender sein können.
Als die Debatte über den sogenannten sexuellen Missbrauch in der Kirche im Winter 2010 abermals auf die Kirche in Deutschland übergreift, steht auch Papst Benedikt XVI. im Fokus. Hatte er als Erzbischof von München und Freising nichts erfahren von den zahllosen Vertuschungen und Verharmlosungen, die nach Jahrzehnten offenbar wurden? Und wie hatte er sich als Präfekt der Glaubenskongregation verhalten, nachdem die aggressive Homosexualität des von Johannes Paul II. protegierten Wiener Kardinals Groer ruchbar wurde oder die ersten Hinweise auf den perversen Lebenswandel des aus Mexiko stammenden Gründers der »Legionäre Christi«, Maciel Degollado?
Weder über seine Amtsführung in München noch über seinen Umgang mit Missbrauchsfällen als Präfekt der Glaubenskongregation hat sich Papst Benedikt jemals geäußert. Jedoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass er große Teile des Münchner Klerus einst deswegen gegen sich aufbrachte, weil er für Laxheit in Fragen der persönlichen Lebensführung kein Verständnis heuchelte. In Rom indes dauert es bis zum Jahr 2001, ehe er die Zuständigkeit für die strafrechtliche Verfolgung sexueller Übergriffe von Klerikern an sich zog. Als Papst wiederum versuchte er diejenigen Kräfte in der Kurie zu stärken, die seine Sicht teilen, dass das Fehlverhalten des Klerus einem Missbrauch der geistlichen Macht gleichkommt, die das Wesen der Kirche in seinem Kern bedroht.
Mit wem es Benedikt in seinem prinzipienfesten Kampf gegen Machtmissbrauch in der Kirche oder auch gegen finanzielle Machenschaften im Umfeld der Kurie zu tun bekommen soll, stellt sich im Frühjahr 2012 heraus. Was als »Vatileaks« weltweit Schlagzeilen macht, ist nichts anderes als eine Kampfansage von Kräften in und um die Kurie, die den Papst mit Mafiamethoden wie der Zerstörung der Privatsphäre psychisch zermürben wollen. Lange brauchen sie nicht zu warten. Die Ahndung der Untaten seines Kammerdieners Gabriele durch die vatikanische Justiz ist eine Farce, die Hintermänner bleiben im Dunkeln. Im Herbst 2012 reift bei Papst Benedikt die Erkenntnis, dass er den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, die das Amt an ihn und die Welt an seine Kirche stellt. Am 11. Februar 2012 dann kündigt er an, am 28. Februar um 20.00 Uhr vom Amt des Bischofs von Rom und des Nachfolgers Petri zurückzutreten.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.02.2013
Von Albert Schäffer
Die Kindheit des Gendarmensohns Ratzinger war in einem katholischen Urgrund verankert, in der Region zwischen Inn und Salzach, das jetzt zuweilen »Benediktland« genannt wird. Ein Fixpunkt seiner frühen religiösen Berufung ist Altötting gewesen, nur wenige Kilometer entfernt von Marktl am Inn, wo er am 16. April 1927 geboren wurde. Ratzinger hat die gemeinsamen Wallfahrten mit seinen Eltern und seinen Geschwistern zu diesem traditionsreichen Gnadenort als seine »frühsten und schönsten Erinnerungen« bezeichnet: »Der stärkste Eindruck war natürlich die Gnadenkapelle, ihr geheimnisvolles Dunkel, die kostbar gekleidete schwarze Madonna, umgeben von Weihegeschenken, das stille Beten vieler Menschen, dazu dann der Umgang, in dem Menschen ihr Kreuz sichtbar tragen.« Die religiöse Intensität, in der Ratzinger aufwuchs, mit einem tiefgläubigen Vater, der an Sonntagen dreimal in die Kirche ging, ist im »Benediktland« immer noch spürbar. In seinen Lebenserinnerungen schildert der Papst, dass damals das bäuerliche Leben »noch in einer festen Symbiose mit dem Glauben der Kirche zusammengefügt« gewesen sei. Geburt und Tod, Hochzeit und Krankheit, Saat und Ernte – »alles war vom Glauben umschlossen«. Der Beruf des Vaters brachte einige Umzüge mit sich; entscheidende Jahre verbrachte er in Traunstein als Gymnasiast und Zögling des Erzbischöflichen Studienseminars St. Michael, das er zusammen mit seinem Bruder Georg besuchte.
Als seine »wahre Heimat« hat der Papst Traunstein bezeichnet – das ist auch im intellektuellen und musischen Sinn gemeint. Noch als Kardinal verbrachte er immer wieder Erholungstage im Traunsteiner Studienseminar; mit seinem Bruder streifte er auf den Spuren ihrer Jugend, immer aber auch neugierig auf die nachfolgenden Generationen. Unüberhörbar war die Wehmut des Papstes, als ihm nach seiner Wahl bei seinem Besuch in Bayern die Pflichten des Protokolls ein Wiedersehen mit Traunstein verwehrten; wenn jetzt die Last des Amtes von ihm genommen ist, wird er vielleicht noch einmal für eine Visite zurückkehren können. Traunstein markiert auch das jähe Ende der Jugendzeit, als er im Alter von sechzehn Jahren als Flakhelfer nach München eingezogen und mit den Schrecken des Krieges konfrontiert wurde.
Regensburg ist nach Traunstein der zweite Zentralort der bayerischen Biographie Benedikts. Als er nach Studienjahren in Freising und München und nach Wanderjahren als Seelsorger und Wissenschaftler 1969 an die Universität Regensburg berufen wurde, wollte er in der Bischofsstadt sesshaft werden. Er baute in Pentling, einem kleinen Ort vor den Toren Regensburgs, ein Haus – die Familie Ratzinger hatte einst in einem ähnlichen Zweiklang aus Dorf und Stadt gewohnt, in einem kleinen Bauernhaus in Hufschlag bei Traunstein. In Pentling verwirklichte Ratzinger zusammen mit einem Architekten seine Vorstellung von einem Ort, an dem Gelehrsamkeit und der familiäre Zusammenhalt mit seinem Bruder Georg, der Regensburger Domkapellmeister geworden war, und seiner Schwester Maria, die den Haushalt führte, verbunden werden sollten. Die Regensburger Jahre dürften seinem Lebensideal einer Verbindung zwischen Frömmigkeit und Intellektualität am nächsten gekommen sein.
Aus der römischen Ferne konnte der Papst verfolgen, wie seine Pentlinger Lebenswelt, in die er bis zu seiner Wahl auf den Stuhl Petri immer wieder zurückgekehrt war, musealisiert wurde. Aus seinem Wohnhaus, sorgsam renoviert von der Regensburger »Stiftung Papst Benedikt XVI.«, ist ein »Ort der Begegnung und der Dokumentation« geworden. Das Zentrum bildet das frühere Arbeitszimmer, in dem maßgebliche theologische Werke Ratzingers verfasst wurden. Für das Zimmer wurde eine Kopie des Schreibtischs gefertigt, der den Papst ein langes Wissenschaftlerleben lang begleitet hat und der gegenwärtig im Apostolischen Palast in Rom steht; er dürfte Benedikt in seinen Alterssitz folgen. Biographisch schloss sich für den Papst ein Bogen, als er im vergangenen Jahr den Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller zum Präfekten der Glaubenskongregation berief – auf die Position, mit der sein eigenes Leben in der römischen Kurie begonnen hatte.
Ein halber Papst im Luftraum über Bayern. In Marktl wissen sie, was sie am berühmtesten Sohn der Gemeinde haben. F.A.Z.-Foto / Wolfgang Eilmes.
München, auf dessen Bischofsstuhl Ratzinger 1977 rückte, ist er seltsam fremd geblieben, nicht nur durch die verhältnismäßig kurze Zeit, die er in diesem Amt verbrachte, bevor er 1981 nach Rom ging. Damals schien er ein Kirchenmann zu sein, der sich in überschaubaren, homogenen Zusammenhängen heimischer fühlte als in einer Großstadt. In seinen Erinnerungen wird deutlich, dass Ratzinger das ländliche Bayern seiner Kindheit und Jugend nicht als Enge, sondern als Weite empfand. Er beschreibt das Dreieck, das Inn und Salzach bilden, als »altes keltisches Kulturland, das dann Teil der römischen Provinz Rätien wurde und immer stolz auf diese doppelte Wurzel geblieben ist«. Für Ratzinger war schon seine bayerische Heimat ein kleines Rom.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.02.2012
Von Frank Lübberding
Natürlich konnte Günther Jauch am Sonntag nicht ahnen, was am Montag passieren würde. Er hatte sich wegen der Reaktion auf seine vorangegangene Sendung entschieden, die Debatte über die katholische Kirche nochmals zu thematisieren. »Die Glaubens-Frage: Wie lebensnah ist die Kirche?« war der Titel. Die Fragestellung zeigt schon die Ambivalenz, welche die Kirche heute erschüttert. Während der Papst den Kardinälen seinen Rücktritt auf Latein erläutert, sitzen bei Jauch Gäste, die ihren Katholizismus nur noch mit pragmatischen Argumenten begründen. Oskar Lafontaine brachte zum Ausdruck, warum er bisher nicht aus der Kirche ausgetreten ist. Allein diese Frage beantworten zu müssen zeigt die Lage des gegenwärtigen Katholizismus, wenigstens in Europa. »Wir leben in einer Gesellschaft mit einem rasanten Werteverfall«, sagte der ehemalige Parteivorsitzende der SPD und der Linken. Daher wolle er Institutionen unterstützen, die diese Werte noch verträten. Für Lafontaine ist das etwa die kirchliche Soziallehre. Zudem empfinde er gegenüber der katholischen Kirche ein Loyalitätsgefühl, weil sie ihm die höhere Schulbildung als Voraussetzung seiner späteren Karriere ermöglichte.
Diese Sichtweise teilten nicht nur die anderen bekennenden Katholiken bei Jauch, wie die NRW-Kultusministerin Sylvia Löhrmann, die Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist, und der Fernsehjournalist Johannes B. Kerner. Es wird die Motivation vieler Menschen sein, die bis heute beiden Kirchen die Treue halten. Der alte Begriff der Diaspora hat mittlerweile eine neue Bedeutung bekommen. War es früher ein Ausdruck für die Minderheitsposition der Katholiken in vom Protestantismus dominierten Regionen, wäre er heute lebensweltlich zu verstehen.
Die katholische Kirche lebt heute nicht nur in Fragen der Sexualmoral in der Diaspora, selbst dort, wo sie noch die Mehrheit stellt. Ihr Wertegefüge wird von den eigenen Mitgliedern nicht mehr geteilt, selbst nicht von einer ihrer herausragenden Laien wie Frau Löhrmann. Ob bei der »Pille danach«, der Wiederverheiratung Geschiedener oder der Sichtweise auf Homosexualität: der Geltungsbereich der Kirche beschränkt sich zumeist auf den eigenen Apparat – und ist selbst dort nicht mehr unumstritten. Bei Jauch sprach der Hamburger Weihbischof Hans-Joachim Jaschke von der Gefahr einer »Kirche ohne Menschen« und dass es »so nicht weitergehen« könne. Die Kirche, so muss man das verstehen, spricht zwar nicht auf Latein, wird aber trotzdem von vielen nicht mehr verstanden. Benedikt XVI. verkündete seinen Rücktritt am Rosenmontag, dem Festtag der Karnevalisten. Wahrscheinlich gibt es in den Zentren des rheinischen Katholizismus unzählige Katholiken, die sich als Nonne, Mönch oder Priester verkleidet haben. Hier findet man durchaus eine Symbolik, die in Rom nicht bedacht worden ist. Die Kirche als Institution überlebte bisher wegen ihrer starren Strukturen. Vom Papst in Rom bis zum Gemeindepfarrer verkörperte die Kirche den Glauben als allein legitimierte Instanz zwischen den Menschen und Gott. Es war kein Zufall, dass der Katholizismus im 16. Jahrhundert als Reaktion auf den Protestantismus den an militärischen Ordnungsprinzipien orientierten Jesuiten-Orden hervorbrachte. Die organisationssoziologischen Grundlagen sind brüchig geworden – vom Anspruch Roms auf weltweite Verbindlichkeit seiner Lehre über den Zölibat bis zur Frage nach der Priesterweihe für Frauen. Der institutionelle Kern der katholischen Kirche wirkt heute bisweilen schon so wie eine sich als Nonne verkleidende Karnevalistin. Ernster nehmen ihn eine Frau Löhrmann, ein Lafontaine oder ein Kerner als Mitglieder ihrer Kirche nicht. Die Katholiken, die das noch anders sehen, sind zu einer Minderheit geworden. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen. So hatte Jauch in seiner ersten Sendung zum Thema den Publizisten Martin Lohmann eingeladen. Er hält unverdrossen an dem Führungsanspruch seiner Kirche als Institution fest – und erntete wütende Reaktionen. Das war einer der Gründe, warum Jauch das Thema am Sonntag abermals diskutierte.
Aus Benedikt XVI. wird wieder Joseph Ratzinger. Er interpretiert damit das Amt auf höchst moderne Weise. Wo seit 1415 das Amt mit der Person verschmolz, ist es seit heute eine Funktion in einer weltweit wirkenden Institution, vergleichbar weltlichen Organisationen. Man kann sich kaum vorstellen, dass dem Papst diese historische Zäsur nicht bewusst gewesen ist, unabhängig von den persönlichen Motiven seiner Entscheidung. Die Ankündigung eines Rücktritts auf Latein und die faktische Sprachlosigkeit in einer Talkshow – die Krise der katholischen Kirche ist offenbar. Sie ist wohl nur mit den Folgen des Auftretens Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521 zu vergleichen.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.02.2013
Von Günter Bannas
Frau Merkel gab ihre Erklärung während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, ab. Sie versicherte, »im Allgemeinen« sage sie nichts zu innerkirchlichen Entscheidungen. »Allerdings glaube ich, dass es anders ist, wenn es um Grundsatzfragen geht. Ich glaube, es ist schon eine Grundsatzfrage, wenn durch eine Entscheidung des Vatikans der Eindruck entsteht, dass es die Leugnung des Holocaust geben könnte, dass es um grundsätzliche Fragen des Umgangs mit dem Judentum insgesamt geht.« Frau Merkel sagte ausdrücklich: »Das ist nach meiner Auffassung nicht nur eine Angelegenheit der christlichen, der katholischen und jüdischen Gemeinden in Deutschland, sondern es geht hier darum, dass von Seiten des Papstes und des Vatikans sehr eindeutig klargestellt wird, dass es keine Leugnung geben kann und dass es natürlich einen positiven Umgang mit dem Judentum insgesamt geben muss. Diese Klarstellungen sind aus meiner Sicht noch nicht ausreichend erfolgt.« Sämtliche zusammenfassenden Meldungen der Nachrichtenagenturen, Frau Merkel habe Papst Benedikt XVI. und den Vatikan kritisiert und Forderungen erhoben, sind nicht zugespitzt, sondern durch die Äußerungen der Bundeskanzlerin gedeckt. Dass sie diese im Beisein Nasarbajews vortrug, der ein autoritäres Regime führt und Rechte der Opposition einschränkt, ist eine Facette am Rande.
Manche sehen die Äußerungen der Bundeskanzlerin in einer Linie mit ihrem Verhalten in den Fällen Hohmann und Oettinger/Filbinger. Der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger (CDU) hatte seinen Vorgänger Filbinger (CDU) fälschlicher- und naiverweise einen »Gegner des Nationalsozialismus« genannt. Er wurde von Frau Merkel dafür öffentlich gerügt, was das politische Verhältnis der beiden nachhaltig prägte. Angesichts innerdeutscher und innerkatholischer Debatten und Aufregungen über die Rücknahme der Exkommunikation der Lefebvre-Anhänger, über den Holocaust-Leugner Williamson und über das Versagen der Vatikan-Bürokratie hat sie den römischen Papst deutscher Herkunft in diese Reihe gestellt. Sie hat ihn behandelt wie einen CDU-Ministerpräsidenten. Sie hat so getan, als habe es der Papst an Klarstellungen mangeln lassen. Es ging ihr nicht um kirchenrechtliche Einzelheiten, wie die Pius-Bruderschafts-Bischöfe zu behandeln seien, sondern um die »Grundsatzfrage« eines »Umgangs mit dem Judentum insgesamt«. Sie äußerte sich, als gebe es in der katholischen Kirche einen relevant großen Antisemitismus: »Ich sage allerdings als protestantische Christin, dass ich sehr ermutigt bin, dass viele Stimmen aus der katholischen Kirche sehr eindeutig eine solche Klarstellung – in welcher Form auch immer, aber eindeutig – fordern. Das finde ich sehr ermutigend.«
Auf dem CDU-Parteitag hatte Frau Merkel geworben, die deutschen Vorstellungen sozialer Marktwirtschaft in alle Welt zu exportieren. Nun setzt sie möglicherweise darauf, in Wahlkampfzeiten sei es opportun, einen innerkirchlichen Konflikt zu nutzen. Sie hat ihn – in Zeiten wie diesen – damit in eine Auseinandersetzung um das Profil der Parteien und um Wählerstimmen gezogen. Vielleicht ging es ihr um die Klarstellung, in den innenpolitischen Debatten und Machtkämpfen seien jene zu vernachlässigen, deren Loyalität nicht allein darauf reduziert ist, was in Berlin, dem Kanzleramt und dem Reichstag geschieht. Doch auch in den Reihen jener, die als Privatpersonen und Kirchenmitglieder die Politik und die Ausrichtung des Vatikans und des Papstes heftig kritisieren, gibt es das verbreitete Unbehagen, Frau Merkel, die nach der Wahl des Wissenschaftlers Ratzinger zum Papst rasch in Rom gewesen war, habe sich auf verbotenes Gelände begeben. Die katholische Kirche ist älter als die CDU, sogar älter als der deutsche Nationalstaat und jedenfalls nicht mit dem Deutschen Fußball-Bund zu vergleichen.
Es kam, wie es kommen musste. Mit dem Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin werde die Republik »ostdeutscher und protestantischer«, war vor bald zwanzig Jahren in Bundestagsdebatten am Rhein argumentiert worden. Nun, nach der Eröffnung der Debatte durch die Regierungschefin, melden sich auch andere Politiker der ersten und der zweiten Reihe – mit Erklärungen für und wider die Vatikan-Politik und die Reaktion der Kanzlerin. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte, Vizekanzler Steinmeier unterstütze die Haltung der Kanzlerin. Der SPD-Vorsitzende Müntefering, ein Katholik, sagte über den Papst: »Er hat gerade deutlich demonstriert, dass auch ein Papst hier nicht unfehlbar ist.« Gegenpositionen kamen aus der Union, mutmaßlich von jenen, die kein politisches Gewicht haben. Der CDU-Abgeordnete Wimmer kritisierte Frau Merkel, sie habe den Papst »in eine Ecke« gestellt, in die er nicht gehöre. »Es gab überhaupt keinen Anlass, warum eine deutsche Bundeskanzlerin sich so äußert.« Der CSU-Europa-Abgeordnete Posselt warnte Frau Merkel, »sich weiterhin als Lehrmeisterin des Papstes zu gerieren«. Wenn es im Berliner Betrieb so weitergeht, dürfte es – und sei es auf Antrag papistischer Linker – noch zu einer Aktuellen Stunde im Bundestag kommen. »Haltung der Bundesregierung zum Vatikan« müsste nach den Regeln der Geschäftsordnung der Antrag dazu lauten.
In der Tradition des »eisernen Kanzlers«: Die Bundeskanzlerin ging scharf ins Gericht mit der Politik des Vatikans. Benedikt nach seiner Rede vor dem Bundestag 2011. F.A.Z.-Foto / Matthias Lüdecke.
Frau Merkel ließ am Tag danach versichern, sie habe sich nicht in Kirchendinge einmischen wollen, und sie kenne und schätze die persönliche Haltung des Papstes zum Holocaust und zum Judentum. Das sagten andere auch – etwa die CDU-Abgeordnete Fischbach, kirchenpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Sie zog schon andere Schlüsse. Bezogen auf den Papst, sagte sie: »Ich glaube, es geht vielleicht darum, wie er mit Bischöfen, deren Exkommunikation er aufgehoben hat, umgeht. Vielleicht kann man doch Bedingungen daran knüpfen.« Später hat Frau Merkel den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Zollitsch, angerufen. Es war wohl ein Beichtgespräch.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 05.02.2009
Von Albert Schäffer
Unmittelbar nach der Papstwahl war Marktl, der Geburtsort Benedikts, bis in die kleinste Nebenstraße zugeparkt gewesen mit Übertragungswagen. Journalistische Höchstleistungen mussten vollbracht werden, hat Joseph Ratzinger doch nur zwei Jahre (1927 bis 1929) in dem Ort verbracht. Allein mit Bildern des Beckens, über dem der Säugling am 16. April 1927 getauft wurde, und des Geburtshauses ließen sich weder die gängigen Sendeformate noch Zeitungsspalten füllen. Mehr und mehr rückten deshalb die Marktler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, genauer gesagt ihre bescheidenen merkantilen Anstrengungen mit Kreationen wie »Papst-Törtchen«, wahlweise mit Schoko- oder Cappuccinocreme, und »Papst-Mützen« aus Hefeteig mit Rosinen.
Was an Wallfahrtsorten als Ausbund der Harmlosigkeit belächelt wird – etwa Plastikflaschen für Weihwasser mit abschraubbaren Marienköpfen –, wird seither den Marktlern als neoliberales Neuheidentum angekreidet. Kabarettistische Möglichkeiten, die der Name Marktl eröffnet – »Mediamarktl, der Geburtsort des Papstes« –, schürten die Aufgeregtheit auch in bischöflichen Beratungszimmern. Es fehlte nicht viel, und Marktl wäre bei der Planung der Papstvisite als Buße für angebliche Vermarktungssünden aus dem Programm gestrichen worden.
Wer sich jetzt in Marktl umsieht, wird freilich nichts ent-decken, woran sich solche Bestrafungsphantasien entzünden könnten – zumal Bürgermeister Hubert Gschwendtner durch diskrete Gespräche dafür gesorgt hat, dass manche Marketingideen in die Schublade wanderten. Besucher stoßen auf das übliche Sortiment des Devotionalienhandels, nicht anziehender und nicht abstoßender als an anderen vergleichbaren Orten; wer sich unbedingt eine besondere spirituelle Bindung zum Papst von einem miniaturisierten Weißbierglas mit seinem Bild verspricht, kann es in Marktl erstehen. Ein Rummelplatz der Geschmacklosigkeiten ist der Ort mit seinen 2.700 Einwohnern aber nicht geworden, obwohl auf die mediale eine touristische Springflut gefolgt ist.
Wurden bis zur Papstwahl zweitausend Gäste im Jahr gezählt, angelockt durch die Radwege am Inn, lauten vorsichtige Schätzungen für die Zeit danach auf 150.000 bis 160.000 – mit einem hohen Anteil ausländischer Besucher. Gschwendtner, von Beruf Lehrer, versieht die Aufgaben des Bürgermeisters ehrenamtlich; andere an seiner Stelle hätten sich unter Hinweis auf das Verursacherprinzip nach Asylmöglichkeiten im Vatikan erkundigt. Ein Besucherzentrum, ein Busparkplatz, eine zweisprachige Beschilderung, ein mehrsprachiger Internetauftritt – in Windeseile musste ein zeitgenössisches Tourismuspaket geschnürt werden, misstrauisch beäugt von Experten in Fragen der Scheidung von Wahrem und Falschem.
Sie können beruhigt nach Marktl reisen. Es führt keine Kleinbahn namens »Benedikt-Express« von der Kirche St. Oswald, in der das Taufbecken steht, zu seinem Geburtshaus, das von einer kirchlichen Stiftung erworben wurde und dessen Fassade termingerecht zum Papstbesuch restauriert ist. Es gibt kein allabendliches Spektakel »Son et Lumière« auf dem Marktler Sportplatz, in der die päpstlichen Babyjahre in Ton- und Lichteffekte umgesetzt werden. Es wurde kein Musical-Theater errichtet, in dem der junge Ratzinger zusammen mit Mozart und Ludwig II. eine Wallfahrt nach Altötting unternähme.
Dennoch ist es nicht einfach, etwas von dem ursprünglichen Benedikt-Fluidum zu erhaschen, denn auch ein päpstlicher Geburtsort ist nicht aus der Zeit genommen. Die festgefügte dörfliche Gemeinschaft, in die Ratzinger hineingeboren wurde – mit einem selbstverständlich gelebten Glauben und dem Ortspfarrer als unverrückbarer Autorität –, hat nur fragmentarisch überlebt. Der Marktler Pfarrer Josef Kaiser kämpft mit den gleichen Schwierigkeiten wie andere Seelsorger – mit jungen Familien, die sich abschotten, mit Eltern, die Erstkommunion und Firmung nur als Event verstehen, mit Jugendlichen, die mit der traditionellen kirchlichen Jugendarbeit wenig anfangen können.
Ein wenig anschaulicher wird der katholische Urgrund, in dem Ratzingers Kindheit verankert war, wenige Kilometer von Marktl entfernt – in Altötting. Die Familie Ratzinger hat zwar dort nie gewohnt; in einem Beitrag für einen Altöttinger Stadtführer beschreibt der Papst aber, dass die gemeinsamen Wallfahrten mit seinen Eltern und Geschwistern zu diesem traditionsreichen Gnadenort zu seinen »frühesten und schönsten Erinnerungen« gehörten: »Der stärkste Eindruck war natürlich die Gnadenkapelle, ihr geheimnisvolles Dunkel, die kostbar gekleidete schwarze Madonna, umgeben von Weihegeschenken, das stille Beten vieler Menschen, dazu dann der Umgang, in dem die Menschen ihr Kreuz sichtbar tragen.«
Dem heutigen Besucher mögen manche Formen der Volksfrömmigkeit – Ikonen mit dem Antlitz Benedikts – in Altötting einen metaphysischen Schrecken einjagen. Die religiöse Intensität, in der Ratzinger aufgewachsen ist, mit einem tiefgläubigen Vater, der an Sonntagen dreimal in die Kirche ging und der Marianischen Männerkongregation in Altötting angehörte, ist aber noch spürbar. Der Magie der Gnadenkapelle in der Stiftspfarrkirche, der Basilika St. Anna, können die vielen Devotionaliengeschäfte nichts anhaben. Die haben für den Papstbesuch noch einmal aufgerüstet: Wer »kleine Bleistiftsünden einfach wegradieren will«, kann einen »Ratzefummel« mit päpstlichem Konterfei erstehen.
Wem die Altöttinger Mischung aus Erhabenem und Trivialem eher Unbehagen bereitet, sollte nach Tittmoning fahren, am westlichen Ufer der Salzach gelegen. Die Tittmoninger verdienten eine päpstliche Auszeichnung, so diskret gehen sie damit um, dass Ratzinger drei Jahre (1929 bis 1932) seiner Kindheit bei ihnen verbracht hat. Keine »Papst-Törtchen«, keine »Ratzefummel«, keine Benedikt-Ikonen. Tittmoning sei »das Traumland meiner Kindheit« geblieben, schreibt Ratzinger in seinen Lebenserinnerungen und bescheinigt in einem fast Mozartschen Schreibduktus dem Stadtplatz, dass er »größeren Städten Ehre machen würde.«
Nach Tittmoning kommt Benedikt nicht – vielleicht ein nicht nur für Päpste ratsamer Umgang mit einem Traumland der Kindheit, dem er damit auch eine Besetzung durch die Kreuzritter der Neuzeit, die Medien, erspart. Auch die weiteren Orte seiner Kindheits- und Jugendjahre bleiben vom Besuchsprogramm ausgespart – Aschau am Inn und Traunstein. Aschau war die letzte berufliche Station des Gendarmen Ratzinger, der nach den Worten seines Sohnes darunter litt, einer Staatsgewalt dienen zu müssen, »deren Träger er als Verbrecher ansah«. Hier lebte die Familie Ratzinger von 1932 bis 1937; Joseph wurde in dem »behäbigen Bauerndorf«, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, eingeschult und feierte in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt seine Erstkommunion.
Vor dem einstigen Wohnhaus der Ratzingers in Aschau steht ein steinerner Stuhl – ein Denkmal, das den kühnen Bogen schlägt zwischen dem Kind, das auf einem Stuhl in der Küche seine Hausaufgaben machte, und dem Mann auf dem Stuhl Petri. Aschau ist in der öffentlichen Wahrnehmung der Biographie Benedikts an den Rand gerückt worden – ein wenig zu Unrecht. Dort erlebte er mit der Wachheit eines Schulkindes eine Welt, die in dieser Form nicht mehr lange bestehen sollte: »Das bäuerliche Leben war noch in einer festen Symbiose mit dem Glauben der Kirche zusammengefügt«, schreibt er in seinen Erinnerungen: »Geburt und Tod, Hochzeit und Krankheit, Saat und Ernte – alles war vom Glauben umschlossen.«
Der Zentralort des »Benediktlandes« ist Traunstein, wo er als Gymnasiast und Zögling des Erzbischöflichen Studienseminars St. Michael prägende Jahre verbrachte. Die Stadt sei seine »wahre Heimat« geworden, resümiert er in seinen Erinnerungen. Unüberhörbar ist ein melancholischer Unterton in einem Brief, den der Papst an den Traunsteiner Oberbürgermeister geschrieben hat und der in einem Schaukasten im Rathaus ausgestellt ist. Er wage fast nicht zu hoffen, noch einmal nach Traunstein zu kommen, schreibt Benedikt: »Aber man soll ja der Güte Gottes keine Grenze setzen.« Sollte das ein dezenter Hinweis an das vatikanische Protokoll gewesen sein, so wurde er zumindest bei diesem Besuch des Papstes übersehen.
Die Traunsteiner finden sich ohne allzu vernehmliches Murren damit ab. Ohnehin pflegt die Kommune mit ihren rund 18.400 Einwohnern einen gelassenen, wenig plakativen Umgang mit ihrem Benedikterbe. Wer will, kann die Stadt mit Hilfe eines Büchleins oder eines örtlichen Cicerone auf den Spuren Ratzingers durchstreifen. Das kleine Bauernhaus, das die Familie 1937 in Hufschlag bei Traunstein bezog, ist noch das Idyll, das Ratzinger in seinen Erinnerungen schildert: »Wenn wir am Morgen die Vorhänge öffneten, standen vor uns wie greifbar der Hochfelln und der Hochgern, die beiden Traunsteiner ,Hausberge‘.« In der Nachbarschaft ist freilich längst die Baukultur der Vorstädte eingezogen.
1939 folgte Joseph seinem Bruder Georg ins Erzbischöfliche Studienseminar St. Michael auf der Traunsteiner Wartberghöhe. »In einen Studiersaal mit etwa sechzig anderen Buben eingefügt zu sein war für mich eine Folter, in der mir das Lernen, das mir vorher so leicht gewesen war, fast unmöglich schien.« Längst sind zwar die großen Schlaf- und Studiersäle des Internats, die Ratzinger so viel Pein bereiteten, durch kleinere Zimmer ersetzt worden, doch der Tagesrhythmus der Seminaristen ist so festgefügt wie eh und je – keine schlechte Vorbereitung auf einen päpstlichen Terminkalender. Lange währte Ratzingers Zeit auf der Wartberghöhe allerdings nicht; im Krieg wurde das Seminar die meiste Zeit als Lazarett genutzt, und die Seminaristen mussten in Ausweichquartieren oder zu Hause wohnen.
1943 wurde Ratzinger als Flakhelfer nach München einberufen – im Alter von sechzehn Jahren. Damit endete seine Kindheits- und Jugendzeit zwischen Inn und Salzach. Nach Kriegsende kehrte er zwar im Juni 1945 zurück ins Elternhaus in Hufschlag, bezog aber bald das Priesterseminar in Freising. In seinen Erinnerungen beschreibt er das Dreieck, das Inn und Salzach bilden, als »altes keltisches Kulturland, das dann Teil der römischen Provinz Rätien wurde und immer stolz auf diese doppelte kulturelle Wurzel geblieben ist«. Den Kelten im Römer Benedikt zu entdecken könnte eine Herausforderung für Biographen des Papstes werden, zumal wenn sie einen weiteren Fingerzeig in seinen Memoiren für die Spurensuche im »Benediktland« beherzigen: »Manche meinen sogar, auch byzantinische Einflüsse feststellen zu können.«
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 09.09.2006
Von Albert Schäffer
Unmittelbar nach der Wahl Ratzingers zum Papst im April 2005 war das Archiv des Studienseminars noch eine lose Sammlung ohne systematische Ordnung gewesen – mit Schülerakten, Feldpostbriefen und Korrespondenzen. Der suggestiven Wucht von Berichten in englischen Zeitungen, welche die Pflichtmitgliedschaft des Seminaristen Ratzinger in der Hitler-Jugend (HJ) zum Skandalon zu stilisieren suchten, konnten oft nur Erinnerungen von Zeitzeugen entgegengesetzt werden.
Der Kontrast dieser Kampagne mit Überschriften wie »From Hitler Youth to Papa Ratzi« zu den Quellen, die der Archivrat Volker Laube in einer Studie ausgewertet hat (erschienen in der Schriftenreihe des Archivs des Erzbistums München und Freising), könnte kaum größer sein. Ratzinger, Jahrgang 1927, trat 1939 in das Studienseminar St. Michael ein, ein Internat für katholische Knaben, in dem der Nachwuchs für den Priesterberuf gefördert werden sollte. Der Alltag der Seminaristen war zweigeteilt: Am Vormittag besuchten sie das staatliche Gymnasium, der Nachmittag wurde durch Hausaufgaben, Musikunterricht, Sport und religiöse Unterweisung geprägt.
In der Anfangszeit des Dritten Reichs blieb das Seminar, das im Schuljahr 1934/35 von 172 Jungen besucht wurde, von direkten Repressalien der Nationalsozialisten verschont. Das Bayerische Konkordat von 1924 und das Reichskonkordat vom Sommer 1933 boten einen gewissen Schutz. Die Traunsteiner Seminaristen mussten sich aber in einem zunehmend kirchenfeindlichen Umfeld behaupten. Der Stadtpfarrer Stelzle wurde nach einer Predigt am Dreikönigstag 1934, in der er sich gegen den Rassismus der Nationalsozialisten wandte, inhaftiert und erst nach zwei Wochen auf freien Fuß gesetzt. Am Gymnasium, das die Seminaristen besuchten, zog ein nationalsozialistischer Geist ein; der katholisch gesinnte Direktor wurde durch ein NSDAP-Mitglied abgelöst.
Zwei Vorfälle werfen ein Licht auf den Druck, dem das Studienseminar ausgesetzt war. 1934 beschwerten sich Gymnasiasten, die der HJ angehörten, ein Religionslehrer würde sie gegenüber den Seminaristen benachteiligen; der Lehrer wurde in den Ruhestand versetzt. 1937 monierte eine Mutter beim Kultusministerium, es werde im Gymnasium zuviel Rücksicht auf das Seminar genommen, worunter die »Hitler-Buben« und »ihre treuen nationalsozialistischen Eltern« zu leiden hätten.